da Boy-Ed
Die Opferschale
da Boy-Ed

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Guda war nicht leer ausgegangen bei dieser Post, sie brachte ihr Unerträgliches, Glückwünsche von Pensionsfreundinnen, von Bekannten und Familienmitgliedern. Glückwünsche, die am Fünften hätten eintreffen sollen zu dem Feste aller Feste, das nicht gefeiert worden war, denn alle diese Briefe waren am zweiten oder dritten August abgesandt; von der Kriegserklärung Englands und der Wendung in Gudas Schicksal wußten sie noch nichts.

Von dem Einen war kein Lebenszeichen dabei! Vielleicht hatte sie heimlich auf eine Depesche gehofft, auf ein allerletztes Liebeswort, ehe er über den Kanal fuhr. Aber wer konnte wissen, ob eine solche Depesche noch den Weg zu ihr gefunden hätte, alles blieb im Ungewissen. Und das Gefühl, für immer und ewig von ihm losgerissen zu sein, stieg in ihr bis zur Sinnlosigkeit.

Sie verließ den Frühstückstisch, unbeachtet von den ganz und gar Beschäftigten. Sie eilte durch den Park. Im Sonnenschein lag er, schwer voll Blüte und Reife. Und ein heißer Wind ging durch seine Wipfel und strich den Linden die silbrig schimmernde Unterseite ihres Grüns nach außen und ließ die blanken, ledernen Blätter der Pappeln heftig zittern, so daß es aussah, als würden lauter grelle Lichtreflexe durcheinander geschüttelt.

Guda kam auf die Aussichtsterrasse. Ein letzter Blick hinaus in die Welt, darin für Glück und Liebe kein Platz mehr. Und weiter. Oben im merkwürdig freudlos finsteren Stückchen Wald ging sie durch das Unterholz, es war ihr, als schreite Er vor ihr her, bis zu der weißen, festen Bank, wo sie so oft sinnlos vor Leidenschaft sich von ihm küssen ließ. Da war die Stelle, sie stand und starrte hinab.

Und ihr Leben, ihr ganzes inneres Leben machte eine Pause, einige Herzschläge lang war sie völlig ohne Gedanken. Wußte nicht, wo sie war, was sie wollte. Dann auf einmal sah sie.

Das dunkle Wasser da unten im tiefen, grünen Kessel war kein Traum der Stille, kein Frieden allem Leid. Trübe und moorig war es... Und ein aufgedunsener Tierkörper, schon haarlos und bläulich prall, schwamm darin, von seinem Rumpfe war ein Stück in länglicher Rundung zu sehen. Wie widerlich das war, und wie grotesk das ihr krankhaftes Wollen verhöhnte. Hätte lieblich durchsonntes, fröhlich sich schuppendes Wasser mit klarer Tiefe sie wirklich gelockt? Wer sterben will, wem kein Ausweg bleibt als der Tod, dem ist keine Flut zu schaurig.

In Guda wallte jäh Beschämung auf. Sie sah es: sie schlug der Würde und dem Sinn ihrer Tat ins Gesicht durch diese fassungslose Hingegebenheit an ihren Trennungsschmerz. Von diesem Höhepunkt ihres Jammers aus gewann sie plötzlich die Kraft zur Haltung. Und sie wußte, was sie wollte.

Als sie zurückging, hinabstieg zur Aussichtsterrasse und weiter dem Schlößchen zu, begegnete ihr Katharina, die Adam vor sich herjagte und tat, als sei es ihr unmöglich, ihn einzufangen. Laut klang sein Jauchzen durch den Sonnenschein.

»Das arme Kerlchen hat sich beklagt, muß jetzt soviel bei Frau Stroblmeyer sein, und sie hält ihn immer an der Hand. Heinzenbergsches Blut will nicht geleitet werden, will allein gehen. Das ist so Art.«

»Ach ja, er ist wohl mehr Heinzenberg als Leuckmer, gottlob«, sagte Guda.

Guda nahm Katharinas Arm. Sie gingen zusammen weiter. Adam hatte einen wunderschönen Stock gefunden und sprengte darauf als Kavallerist in kühnem Galopp voran.

»Höre, Karen. Ich bitte dich, steh mir bei, wenn Papa Schwierigkeiten macht. Hier tut mir alles weh. Laßt mich fort. Ich will mit Tiny reisen. Van Stratens werden mich gewiß aufnehmen.«

»Mit Tiny?« Die junge Frau war betroffen. Hatte sie nicht selbst gedacht: »Könnte ich auch fort.« Und ihre Gedanken hatten auch wohl gewußt, wohin. »Tiny packt schon, glüht vor Unternehmungslust.«

»Sprich du mit Papa«, drängte Guda, »vielleicht wünscht er, in Stille und Sicherheit hier gewissermaßen mit uns im Versteck zu leben.«

Aber es stellte sich heraus, daß Graf Leuckmers Gedanken von Unruhe erfüllt waren und ebenso von hier fortstrebten. Er hatte es nur nicht aussprechen mögen, weil er glaubte, die Verborgenheit bedeute für Gudas Gemüt Schonung.

Unter vier Augen mit Katharina gab er allem Wort, was ihn bedrückte.

»Daß Guda von hier fort will, kommt mir zwar überraschend...«

»Oh, wie vollkommen verstehe ich das. Hier erinnert sie alles an ihr bräutliches Glück, an die schwere Prüfung, die ihrer Liebe auferlegt ist. Trennung aus so furchtbaren Gründen, in einem Augenblick, wo die völligste Bereinigung unmittelbar bevorstand, das ist hart. Sie hat groß gehandelt! Ich denke mir: sie braucht Arbeit, starkes Leben um sich, irgendeinen Inhalt für ihre Gedanken. Und weiter denk' ich, man kann es begreifen, da, bei den van Stratens ist sie dem geliebten Mann gewissermaßen näher, van Straten ist in Verbindung mit ihm, dort hört sie vielleicht viel. Mit der Post, mit Briefwechsel wird's wohl schwer werden, van Straten kann ihr helfen.«

Nichts konnte einleuchtender sein. Und Graf Leuckmer gestand um seine Sorgen.

»Auch mir liegt daran, mit Herrn van Straten mich auszusprechen. Bedenke: fast das ganze Vermögen Gudas ist seit einiger Zeit schon in England angelegt, arbeitet in den Unternehmungen des Lord Multon, in den Industrien des Lightstoneschen Besitzes. Wie hat Thomas Steinmann recht gehabt. Jahre meines Lebens gäbe ich, könnte ich das ungeschehen machen. Nicht, daß ich das Kapital für gefährdet halte, nicht im geringsten. Nie. Aber mach dir das klar: diese Fabriken arbeiten für das englische Heer, die englische Marine. Unser Geld, unser deutsches Geld erhöht die Leistungsfähigkeit unserer Feinde.«

»Ach, Papa«, sprach sie kummervoll, »mir scheint, ja, das ist schrecklich. Aber du weißt, mein finanzieller Überblick reicht nicht viel weiter, als über mein Haushaltungsbuch hinaus. Freilich, das mußte ich alles lernen. Das wurde mir klar, als Bertold mein kleines Vermögen verputzt hatte; wenn er Tante beerbt, will ich wegen Adam mir das meine zurückerstatten lassen und lernen, selbst damit umzugehen. Nur dies frage ich mich: Weshalb wurde mit der Überweisung des Kapitals nicht bis zur Hochzeit gewartet?« »Onkel Leuckmer hatte sein Geld recht wenig vorteilhaft angelegt. Gleich nach seinem Tode traf Steinmann Vorsorge, daß bis zum ersten Juni alles flüssig werde, um es dann in neue, bessere Anlagen hineinzuleiten. Und da kam im April Gudas Verlobung und diese sehr günstigen Abmachungen mit den Lightstones, ich sah ja gar keinen Grund, das hinauszuschieben. Auch jetzt, selbst in diesem Augenblick, denke ich: unbedingt würde ich den gleichen Abmachungen zustimmen, wenn Guda und Percy nach dem Kriege heiraten. Nur daß jetzt, jetzt das Geld drüben arbeitet!«

Die junge Frau sah das ganz naiv an. Ohne die allergeringste Kenntnis von geschäftlichen Bedingtheiten und Anschauungen. Nur vom Gefühl für Ehre und Zartheit geleitet. Und so tröstete sie ihn, der in diesen Dingen nicht sehr viel klüger war als sie.

»Sprich nur mit van Straten. Das muß ein famoser Mann sein, das fühlt man so heraus, wenn Frau und Tochter von ihm reden. Und der wird schon dafür sorgen, daß Percy sofort alles zurückschickt.«

So ganz und gar schien dem alten Herrn das nicht sicher, er seufzte. Am stärksten über sich. Er wußte wohl, in seiner künstlich hingefristeten wirtschaftlichen Lage, in welcher er sich so viele, viele Jahre nur dank des älteren Steinmanns Rat erhalten hatte, lernte er mit Groschen rechnen. Aus solcher Begrenztheit jäh in großen Besitz hinüberzutreten, ist schwer. Er bildete sich ein, Erfahrungen zu haben, weil er Geldsorgen kannte. Nun sah er: jede wirtschaftliche Stufe braucht andere Kenntnisse. Hätte er doch auf Thomas gehört...

Für Reue war Katharina aber nie zu haben. Immer gelassen sich in der neuen Lage zurechtfinden! Das war ihre Art. Also der Papa wollte die beiden Mädchen selbst nach Hamburg geleiten? Ganz famos für Guda, dann muß sie auf ihn aufpassen, schalteten ihre Gedanken hier ein.

»Und ich? Soll ich mit Adam hierbleiben? Stille Feste in der Natur feiern, während die Welt erbebt? O nein, das will ich nicht.«

Sie wollte ihren Anteil am Kriege haben. Aufgaben würden gewiß den Frauen erwachsen, in den großen Mittelpunkten war sicher schon eine riesengroße Bewegung. Sie wünschte nicht beiseite zu stehen. Sie wollte auch mit nach Hamburg! Ganz frei heraus sagte sie es und klaren Gewissens. Jene beklemmende, bang sie durchzitternde Aufwallung war überströmt worden von der großen Flut der Ereignisse. Jetzt begriff sie nicht mehr, wie ihr die Glieder hatten schwer werden können, weil der Knabe sie mit den dunklen Augen seines Vaters ansah, verstand sie nicht, daß sie geflohen war, ohne einen Kuß auf eine Kinderstirn zu wagen. Aber sie freute sich bewegten Herzens und voll Stolz darauf, dem Freund in seinem Soldatenrock zu begegnen.

Und ebenso stark rief noch ein anderes sie nach Norddeutschland zurück. Dort war sie Vater und Mutter und der engsten Heimat näher. Heinzenberg, das alte Familiengut, lag der Insel Alsen fast gegenüber, am hellen Strand des Aarösundes. Und wenn, wenn einem der lieben Brüder etwas geschah, wenn – dann war sie in einem Tage bei den Ihren.

Im Grunde war Graf Leuckmer sehr zufrieden, daß sie mitwollte. Dann war jemand da, der alles fraulich praktisch einrichten würde. Und mit allem, was es zu überlegen gab, war die junge Frau auch rasch im klaren. Schönblick mußte zugeschlossen und der Obhut der alten Gärtnersleute anvertraut werden. Es eignete sich mit seinen, vom neuen Besitzer noch nicht aufgefrischten Räumen und Anlagen nicht zu einem Genesungsheim für Verwundete. An männlicher Bedienung fehlte es ohnehin im Schloß und Park. Man konnte in Hamburg eine Wohnung mieten, recht geräumig. Katharina dachte, ihre in Hannover beim Spediteur lagernde Einrichtung nach Hamburg kommen zu lassen, ihr Schwiegervater mußte das gleiche mit seiner in Berlin verwahrten Habe tun. Man würde schon etwas Behagliches aus den vereinten Sachen zurechtstellen. Und bis das alles zur Stelle sei, suche man Unterkunft in einer Pension. Und der Vater konnte inzwischen seine arme alte Stiefschwester in Berlin besuchen. Ihren Groll, den nur allzu begründeten, gegen diese Verwandte und ihre zerstörerischen Einflüsse hatte sie geradezu vergessen. Alles ging unter in den großen Dingen, die das Gemüt beständig erschütterten.

War es nicht, als schreite ein Erzengel durch die Lande und zerträte mit seinen stählern umrüsteten Füßen, unter denen Funken hervorstoben, alles Trockene, Häßliche, der Vernichtung werte? Er schwang sein flammendes Schwert. Und das war die einzige Bewegung, die man empfand; daran hingen die heißen Blicke, die brennenden Hoffnungen.

Nach ein paar Stunden sehr zweckvoll angewandter Mühen waren die Bewohner von Schönblick reisefertig. Sie fühlten sich mütterlich betreut und somit sicher. Graf Leuckmer dachte wieder einmal: ›Das hilft ihr über die Enttäuschung ihrer Ehe weg, dies Bedürfnis, diese Fähigkeit, vorsorglich für andere zu sein.‹ Adam, der glückselig in der Riesenwelt des Parkes gewesen war, wo es lauter Wunder gab und vielleicht sogar Krokodile im Teich, sprang vor neuer Glückseligkeit, weil mit der Eisenbahn gefahren werden sollte. Seine Stroblmeyer hatte immer nur zu beschwichtigen. Daß sie mitging, gab ihr ein Hochgefühl bayrischer Tapferkeit. Sie hatte sich, nach anfänglichen Besorgnissen, »bei dene Preiß« sehr wohl gefühlt. Daß Hamburg in Preußen läge, war ihr gewiß, da es sich jenseits der blauweißen Grenze befand. Sie hatte gehört, es sei dort das Meer, und sie erwartete, am Ufer stehen und einer Seeschlacht zuschauen zu können. So waren sie eine ganze Gruppe von Menschen, die sich nach Norddeutschland irgendwie durchzubringen trachten wollten.

Und eine Reise begann, die sich phantastisch unterschied von allen glatten und raschen Fahrten, die sonst Menschen von heute hin und her durch die Lande bringen. Schon dadurch wurde sie ein Abenteuer. Jede freudig ertragene Mühe gab ihr immer neues Ansehen. Jeder Eindruck machte sie zu einem unvergeßlichen Erlebnis.

In München rauschten Fahnen. Es blähten sich die breiten blauweißen Streifen. Es wallten die Banner im schweren Faltenwurf, und er brach die kleinen, weiß und blauen schrägen Vierecke in immer neuen Linien. Dicke Quasten hob der Wind und warf sie hin und her mit den Zipfeln der Flaggen, daran sie lasteten. So wogte ein helles Spiel der beiden leuchtenden Farbentöne hoch oben zwischen den grauen Mauern der Straßen. Und vor der Front der Paläste, die die weiten Plätze umschrankten, strich die bewegte heiße Luft das festliche Tuch immer wieder glatt aus. Unten aber, im satten Grün der Anlagen, rannen mit schneeigem Schäumen die Brunnen.

Und auf allen Gesichtern stand ein stolzer, lachender Mut geschrieben... Der Tag von Lüttich...

Und Guda konnte es nicht begreifen, daß alles, was sie an seelischen Kämpfen durchlitten hatte, nur die Spanne Zeit von drei Tagen umfaßte.

Wie erhob sie, was sie sah! Es wandelte ihr Leid in Zuversicht. Die Größe dieser deutschen Bewegung mußte zu den Feinden sprechen und sie beschämen. Und wie würde sie auf den geliebten Mann wirken! Er hatte schon zugegeben, daß er viel erkannt habe. Und das waren nur die ersten Wogen gewesen, die aufbrausten. Die Sturmflut schwoll und ward gewaltiger, als jemals die Geschichte der Menschheit eine gesehen. Oh, er würde zu seinem Volke sprechen, es aufklären, ihm sagen: »Ihr wußtet nichts von Deutschland, sonst hättet ihr seine Hand genommen, anstatt die eure gegen es zu erheben.«

So träumte sie. Und daneben ging auch noch das rührende weibliche Berechnen: drei – vier – fünf Tage der Trennung waren schon überstanden – jeden Abend buchten ihre Gedanken so die überwundene Zeit.

Und weiter ging die Fahrt – mit Vorsicht und nach unberechenbaren Gelegenheitsplänen rollte der Zug. Dann gab es unerwartete Pausen von vielen Stunden – Nächte in kleinen Bahnhofshotels, Rast, die zuweilen mehr peinlich als erquickend war. Nicht immer hatte man Möglichkeiten, Hunger zu stillen. Man hielt auf Bahnhöfen, und das Öffnen der Türen war verboten. Man teilte mit fremden Menschen Obst und Schokolade und sprach mit weinenden Frauen und bescheiden-stolzen Freiwilligen. Das Kind, anfangs vor Erregungen nicht zu sich kommend, erschlaffte allmählich und schlief viel auf dem Schoß bald seiner Stroblmeyer, bald seiner Mutter. Graf Leuckmer, dessen zarte Beschaffenheit sonst ein Leben nach der Uhr und die Anwendung von allerhand Tropfen und Umschlägen nötig machte, bestand alles mit einer verklärten, gefaßten Haltung. Er war um vier, fünf Uhr früh voll zäher Geduld mit in der Schar der Reisenden, die Gelegenheit zum Weiterkommen erfragten. Oft wurden sie auseinandergerissen; die einen standen in der gedrängten Fülle mit zehn, zwölf anderen Reisenden in einem Abteil dritter Klasse, die anderen konnten ein Sitzeckchen in der ersten Klasse erwischen. Aufgeregt und beglückt fand man sich dann auf den Bahnhöfen wieder, wo das Gebot ausgerufen ward: »Alles aussteigen!« So wanden sich all die bürgerlichen Menschen durch eine andere, ungeheure, gewaltig bewegte Welt – durch das Volk, das schon in Waffen stand oder zu den Fahnen strömte. Wenn man in die Landschaft hinaussah, beachtete der Blick nicht ihre Hochsommerpracht, er folgte staunend den zu Zügen geordneten, stetig marschierenden Männern. Auf dem weißen Band der Landstraßen, die aus dem Munde grüner Täler sich herauswanden, kamen sie daher. Von Höhen stiegen sie herab – sie schritten auf den Wegen neben dem Bahndamm. In den Städten, in der Morgenfrühe, hörte man ihren Tritt unter dem Fenster des Gasthauses. Sie strömten herbei aus allen Winkeln und verborgensten Dörfern – endlos – unaufhörlich, als seien auf den Feldern statt des Korns Männer gewachsen, als seien die Stämme des Waldes verwandelt und stiegen als starke Gestalten herab.

Und auf den eisernen Schienensträngen der Bahnhöfe: vier-, sechsfach nebeneinander standen Wagenschlangen von unbegreiflicher Länge; andere glitten im Fahren vorüber, und ihr Inhalt betäubte zuletzt das Gehirn, versetzte es in Rausch. Die graue Flut des Heeres schwoll vorbei. Man sah diese Farbe zum erstenmal. Und von ihr ging eine unheimlich bezaubernde Gewalt aus – anfangs angestaunt – bejubelt, dann begriffen als geheimnisvolle Sprache, vor der kleine Menschenlaute in Demut verstummten. Diese Farbe hob die Zahl auf – sie wirkte furchtbar und schreckhaft auf die Phantasie – und sie hob auch die Waffengattungen auf – für den raschen Blick des Laien war es nicht mehr erkennbar, was da vorbeizog. Sogar die Achselklappen waren aufgerollt, um den Spionen die Art und Nummer der Regimenter zu verstecken. Aus allen Himmelsrichtungen kamen diese Züge voll von grauen Kriegern, die sangen und winkten; und die Außenwände der mit grünen Zweigen geschmückten Wagen waren mit Kreide beschrieben – kecke Inschriften voll Humor und Drohungen las man – jedes Abteil schien seinen Dichter zu haben, der ein derbschlagendes Wort gefunden hatte. In einem unbegreiflichen Hin und Her fuhren die Wagenketten, aus Ost nach West, von West nach Ost, gen Norden und gen Süden. Und das Übermaß und das Endlose machte es drückend, furchterregend, gespenstisch. Nein, es waren keine Truppenteile, das war ein Menschenmeer! Eine Einheit, vor der die Völker sich entsetzen mußten, auf die sie stürzte. Die wachgestört zu haben, ein furchtbares Wagnis, die nicht gekannt zu haben, ein Verbrechen gewesen. Und die teuren Lieder erklangen und hallten von einem Zuge zum anderen, Und das Auge, eben von der Träne der Rührung getrocknet, feuchtete sich neu vor Ergriffenheit.

Aus dem rastlosen Durcheinander, vor dem jedes Begreifen erlahmen mußte, das schwindeln machte, das zuerst beängstigte und das Gefühl erweckte, es müsse, müsse irgendwo zu fürchterlichen Zusammenstößen, grauenvollen Stauungen, gefährlichen Knäueln kommen, aus dieser nie erlebten Bewegung trat allmählich als unerhörte Offenbarung etwas heraus, das die Herzen vor Stolz klopfen ließ, das zur ehrfürchtigsten Dankbarkeit und Bewunderung zwang: die Majestät der Ordnung! Jede Linie übersah sie klar und folgte ihr, während ein Chaos durcheinander zu fluten schien. Die große, heilige Ordnung, die der Mantel war, den das Vaterland voll Ruhe um sich schlug... Und unter ihr zog sie mit sicherer Geberde das Schwert aus der Scheide.

Und der Himmel strahlte seine lachende Bläue herab. Und auf den Feldern standen in goldener Schwere die Garben und warteten auf die Helfer, die sich vor die von Mann und Roß verlassenen Erntewagen spannen sollten, zuweilen sah man schon Knaben und Frauen auf den Stoppeln.

Das war ein stolzes Fahren von Süd nach Nord, das ganze deutsche Land, durch das der Jubel der Einigkeit brauste und der fromme Mut feierliche Lieder sang.

So kamen sie an ihr Ziel, fast ohne zu wissen, wie lange die Reise gedauert hatte, fast ohne zu bemerken, daß das landschaftliche Bild, das vorbeirollte, sich geändert hatte. Denn immer und überall umwogte sie die gleiche Stimmung, in die das Klopfen ihrer eigenen Herzen hineinklang.

Es war am Nachmittag, als sie in Hamburg ankamen. Eine Stunde, in der zu anderen Zeiten kein Zug aus der Richtung einlief. Und im Gewühl der Menge, wo Schulter sich an Schulter stieß, wo Brust sich gegen Rücken drängte und Soldaten und Reisende sich schoben, diese belastet mit so viel Handgepäck, wie sie nur eben schleppen konnten, fand Tiny ihre Eltern nicht. Vielleicht waren sie gar nicht da. Dreimal hatte die Tochter depeschieren können, aber ob die Depeschen auch angekommen seien, blieb unsicher. Und eine bestimmte Ankunftsstunde ließ sich im voraus nicht melden.

Aber dies junge Mädchen war ja im Grunde immer beglückt, wenn es ungewöhnlich zuging. Sie geleitete die befreundete Familie erst noch in ein Hotel. Der Bahnhof war, wie überall in der Welt, von Gasthäusern umstanden. Hier aber nicht im geschlossenen Umkreis, sondern in weiter Raumverteilung. Man wählte ein Haus an der Ecke eines sehr großen und nirgends fest umgrenzten Platzes, den viele, durch Anlagen schneidende Verkehrsadern überzogen. Tiny verließ ihre Freunde im Gefühl, daß sie gut untergebracht seien, und versprach abends noch anzutelephonieren.

Sie mußte dann lange stehen, ehe sie ein Auto anrufen konnte. Schwer waren ihre zwei Handkoffer, an denen sie selbst schleppte. Aber das zu müssen war ihr eine Genugtuung. Unterwegs hatte man niemals sehr gründlich Körperpflege besorgen können, auch immer das gleiche Kleid getragen. So sah sie denn ein wenig herabgekommen aus, als sie am Hause ihrer Eltern vorfuhr. Das lag in einer sehr regelmäßigen, stillen, teuren Straße, wo alle Fronten sich fest aneinander schlossen und sich sehr ähnelten. Nach dieser Reise voll brausendem Klang wirkte sie mit herausfordernder Langweiligkeit auf Tiny.

Sie wurde mit Aufregung, Schluchzen, Fragen empfangen. Sechsmal waren seit gestern die Eltern am Bahnhof gewesen. Jedesmal erschöpfter und besorgter heimgekommen! Feindliche Flieger waren über Nürnberg gewesen. Wie leicht konnten sie Bomben auf die Bahnhöfe und fahrenden Züge abwerfen. Und nun gerade, wo die Tochter wirklich ankam, war kein Mensch an der Bahn. Und Ludwig war einberufen, und beide Autos, alle beide, hatte man requiriert. Was Frau van Straten von neuem in Tränen ausbrechen ließ. Ob es nicht schrecklich sei. Und wie alles werden würde.

Aber Tiny sagte, sie sei halb blödsinnig vor Ermüdung und sie wolle erst baden und dann furchtbar viel und sehr, sehr gute Sachen essen. Diese Befehle bewirkten, daß die Mutter und die Dienerschaft hin- und herstürzten, um nur rasch alles zu leisten, was verlangt wurde. Das »Dinner«, sonst nach englischer Sitte um acht Uhr angesetzt, wurde auf halb sieben befohlen. Unterdessen hatte Herr van Straten, der heimlich auch um seinen Augapfel, das einzige Kind gezittert, sich völlig in seine gewohnte, immer vorzügliche Stimmung zurückgefunden. Mit Vergnügen sah er die Leckerbissen auf dem Tisch, und den Appetit, mit dem Tiny ihnen zusprach.

Er war ein großer, breiter Mann, mit einem so merkwürdig offenen Gesicht, daß auch nicht der leiseste Zug von Hinterhältigkeit darin hätte unentdeckt bleiben können. Wer mit ihm sprach, mochte ihn gleich leiden. Er hatte ja zwei Eigenarten, die seiner Frau noch neben dem Proletarierbedürfnis zur Arbeit eine schwere Prüfung bedeuteten: er konnte so kurz und schallend auflachen. Freilich sagten seine Bekannten, daß vor diesem Auflachen sich jegliche Angst und jeder etwaige Zweifel auflöse. Und außerdem hielt er bei wichtigen Gesprächen die Hände in den Hosentaschen und wühlte dort zwischen allerlei metallischen Gegenständen herum, daß es ein leises Klirren gab. Und wenn seine Frau ihm die an der Kette vereinigten und sich in die Tiefe der Tasche bergenden Kleinigkeiten fortnahm, kaufte er sofort Zigarrenabschneider, Schreibstift, und was es sonst war, neu ein. So gab sie es endlich auf, um keine Sammlung solcher Dinger sich aufspeichern zu lassen.

Jetzt aber war er selbst mit Messer und Gabel beschäftigt und fragte nun endlich zwischendurch:

»Warum denn, um Gottes willen, bist du nicht in Schönblick geblieben?«

»Weil Leuckmers hierherreisten. Ich wär' aber auch allein hergekommen.«

»Guda ist verrückt!« bemerkte Frau van Straten dazwischen. »Percy war vorgestern hier, mit Miß Mildred und der Dienerschaft, sie haben eine Nacht bei uns logiert.«

»Hier?« schrie Tiny.

»Na – ja – er hatte wichtig mit mir zu sprechen«, sagte der Vater.

»Wie war er denn?«

»Sehr bleich, sehr ernst. Er ist ja nicht der Mann, zu verraten, was er fühlt. Aber Miß Mildred war empört. Worin ich ihr nur beistimmen konnte. Unsere Freundschaft hat sich noch befestigt. Das kann ich wohl sagen. Sie küßte mich beim Abschied. Das brauchst du aber Guda nicht wiederzuerzählen.«

Tiny dachte: »Das tue ich ja doch!«

»Auch Graf Leuckmer hat wichtig mit dir zu sprechen.«

Ihr Vater sah sie so fragend an, daß sie gleich hinzusetzte:

»Ich glaube wegen Gudas Geld.« »Na, das muß er unbefangen nehmen!« meinte van Straten mit gemütlichem Ton. »Aber ich werde morgen früh mal gleich zu ihm gehen.«

»O Gott, o Gott! Wie ist alles schrecklich! Man weiß ja gar nicht, wohin man gehört!« klagte seine Frau. Tiny legte ihre Gabel hin. Fest sah sie ihre Mutter an und sprach:

»Das wissen wir wohl! Wir sind Deutsche!«

»Kind, du bist in Birmingham geboren!« rief die Mutter.

»Und wenn ich auf den Malediven oder in Patagonien geboren wäre! Vater ist Friese, du bist Hanseatin, reineres deutsches Blut kann es gar nicht geben! Oder ist Vater nicht in Cuxhaven geboren? Oder hatten deine Eltern nicht auf'n Grasbrook 'n Kramladen?«

»Du bist manchmal entsetzlich! Dein Vater hat sich naturalisieren lassen. Das hat seine deutsche Staatsangehörigkeit aufgehoben!«

»Staatsangehörigkeit! Na ja. Unbezweifelbar. Das ändert ja aber das Blut nich, da hat ja unsere Tiny recht. Und ich bin der Letzte, der ihr das verwehren will, sich deutsch zu fühlen. So ganz simpel is die Sache für unsereinen ja nich, wo man all seinen Wohlstand in England gemacht hat, und da den einen und anderen Freund sich weiß, und noch viel an Werten aushängen hat. Aber so in meinem Herzen. Und wenn ich noch dran denke, wie das war, als ich zum erstenmal ein deutsches Kriegsschiff sah und die deutsche Flagge wehen, Gott verdamm' mich, aber man stand auf der ›Alten Liebe‹ und schrie und hatte nasse Augen...«

Und die hatte er auch jetzt, seine Tochter sah es wohl.

»Papa, ich hab' es selbst gehört, wie du mal zu einem Geschäftsfreund, einem Herrn vom Rhein, sagtest, ich glaub', er machte dir 'n leisen Vorwurf, daß du dich nur aus Geschäftsgründen habest naturalisieren lassen, weil das viel erleichterte.«

»Ja, mein Deern, du hast immer naseweise Ohren gehabt, so'n unzukömmliches Aufhorchen. Aber was wahr ist, soll wahr bleiben. Was tut man nicht ums Geschäft.« Dies war der Augenblick, wo Tiny ihren Entschluß verkünden mußte.

»Ich beabsichtige, mich als Schwester ausbilden zu lassen. Ich will mich den Verwundeten widmen und mit ins Feld.«

Mit solcher Ruhe sagte sie es, daß ihr Vater sie ganz perplex ansah. Aber die Mutter schrie auf und begann mit Rufen, Reden, Klagen einen Widerstand, der ganz gewiß aus ihrem tiefsten Herzen kam. Ihr einziges, vergöttertes Kind! In Gefahr und Schrecknissen! Es würde Cholera ausbrechen, Pocken, Typhus. Alles konnte sie bekommen. Und draußen im Felde konnte sie verwundet werden, elend umkommen. Bei den modernen Kriegsmitteln war ja nicht einmal mehr Sicherheit hier im friedlichen Bürgerhaus, gleich im nächsten Augenblick konnte eine Fliegerbombe hereinfallen und sie alle töten. Wieviel schrecklicher war die Gefahr in den Feldlazaretten.

Herr van Straten steckte seine Hände in die Hosentaschen, und man hörte das leise Klirren. Er sagte ernst:

»Kind, du bist zwanzig Jahre alt, da war ich schon von der Heimat weg und im dollsten Lebenskampf, hätt' mir auch so mit zwanzig Jahren von keinem Menschen mehr was vorschreiben lassen. Aber immerhin, bist ein Mädchen, klein büschen anders is das ja doch. Ich mein': das läßt du bleiben! Du, alte Deern. Wir haben ja bloß die eine.«

Er war gerührt. Ihren Vater weich zu sehen, war für Tiny immer überwältigend, sie sprang auf, legte ihren Arm von rückwärts um seine breiten Schultern und ihr feines, keckes Köpfchen Wange an Wange gegen sein großes Haupt. Beinahe war das, was in ihr aufwallte, die Versuchung, ihm nachzugeben, der Wunsch, mit ihm liebevoll zu beraten...

Aber da ließ sich die Mutter von ihrer Angst über Grenzen wegpeitschen, die sie sonst der Tochter gegenüber, aus Furcht vor deren übler Laune, nie überschritten hätte. Die größere Sorge siegte eben, und ihr war jedes Mittel recht, das Kind von Gefahren zurückzuhalten.

Mit heißem Gesicht und spröder Stimme sagte sie: »Dich reizt nur das Abenteuerliche dabei. Du denkst an interessante verwundete Offiziere. Und an junge Ärzte. Sonst bist du doch nicht so aufopfernd. Davon hab' ich nie was gemerkt, wenn ich mal Kopfweh habe und so... Weil du mit all deinen ewigen Verliebtheiten immer noch keinen Mann gekriegt hast, denkst du, da findet sich schon einer. Und schließlich kommst du uns noch mit Gott weiß wem an, gar mit einem Kriegskrüppel.«

Und sie weinte.

Tiny wurde leichenblaß. Der Zorn machte sie stumm. Ihr war übel zumut, denn vielleicht, vielleicht war da in ihrem begehrten Herzen eine leise Unterströmung, vor sich selbst verleugnet. Und nun wiesen plumpe Worte darauf hin und – trafen. Ja, sie trafen. Mit trotziger Haltung ging sie hinaus.

Van Straten aber warf seiner Frau bitter grollend vor: »Na, damit hast du's glücklich ganz verpatzt! Nun hält kein Gott sie mehr! Ich kenn' doch meine Tochter!«

Und er stand auch auf und ging zornig hinaus.

So saß sie denn allein und weinte Tränen tiefster, aber ungeschickter Liebe und war unglücklich, halb über die Tochter, halb über sich selbst.

Die Frische, nach solcher Reise gleich die nächste Umwelt in Bewegung und Aufregung versetzen zu können, wie Tiny das vermocht, besaß von der Familie Leuckmer niemand.

Sie kamen auch nicht in ein wohlgeordnetes Heim, sondern mußten in einem fremden Haus, darin auf den Treppen Kommen und Gehen von Ordonnanzen war, sich leidlich zurechtfinden. Drei Schlafzimmer brauchten sie und einen Wohnraum. Das Kind wollte sein Recht und weinte vor Erschöpfung. Nach den ersten Worten, die mit der Hotelverwaltung gewechselt waren, wandte sich die Bedienung mit jeder Frage an die junge Frau. Denn alle fühlten sofort, daß sie die Dinge in der Hand hielt. Es dauerte lange, bis sie zu einem einfachen Abendessen kamen. Und fast schweigend saßen sie um den Tisch. Der alte Herr sank jetzt förmlich in sich zusammen. Guda war blaß und matt. Katharina mußte ihre Nerven anspannen, um alle zu stützen. Sie spürte: man lehnte sich an sie. Und abgespannt, wie sie, besonders auch durch die Fürsorge für ihr Kind und seine bei guter Stimmung zu erhaltende Pflegerin, war, überkam sie ein Staunen, dem es nicht an leiser Bitterkeit fehlte. Es mußte wirklich irgendwo in den Sternen geschrieben stehen, daß sie zur Vormünderin aller bestellt sei, die ihr im Leben nahekamen. Sie dachte an eine verstorbene alte Verwandte, die war sehr großmütig und schenkfreudig gewesen. Zuletzt vergaßen alle Empfangenden, daß die Gaben Gunst waren und standen ihr immer mit Erwartung, Kritik und Forderungen gegenüber. Wahrscheinlich ging es im Seelischen ebenso. Wer dazu neigt, sich selbst hintanzusetzen, dem wird zuletzt nicht mehr das Recht vergönnt, an sich zu denken. Und durch ihre Seele, die jetzt die Flügel hängen ließ, weil der Körper müde war, zog eine weiche, tiefe Sehnsucht. Wonach? Sie wußte es selbst nicht klar. Vielleicht nach ein wenig Liebe, in der sie sich ausruhen könne.

Sie schrak zusammen. Das Zimmertelephon ließ seinen schwirrenden, hellen Ton erklingen. Auch Guda wachte förmlich auf aus ihrem stumpfen Grübeln.

Das mußte Tiny sein.

Guda, etwas belebt, nahm den Hörer und sprach in das Mundstück hinein. Und man hörte jene wunderlich abgerissenen Sätze, die doch sogleich erraten ließen, was der unsichtbare Sprecher ungefähr sage.

»Ja – ich – Guda – ja – ganz ordentlich sind wir untergebracht – natürlich – Haus fast voll Militär – dein Papa will uns morgen vormittag um elf Uhr besuchen? – Papa wird sich sehr freuen – du kommst mit? – Schön – was? Rote-Kreuz-Schwester? Ja, das glaube ich... Was sagst du? Hier? – Hier? Oh – laß – Schluß – ja, Schluß...«

Ihr Wesen war wie auferstanden. Es glühte, bebte, war voll Leben, voll Jammer, voll Glück.

Hier war der geliebte Mann gewesen! Vorgestern noch! Diese Luft hatte er geatmet! Über diese Straßen war er geschritten! Über diese Mauern, diese Bäume, dieses Menschengewühl war sein Blick hingeglitten. Hier, wo sie sich gefunden hatten, wo ihre Liebe in Flammen emporschlug. Wo alles zu ihm von seligen Erinnerungen sprach. Hier! Und sie sah ihn nicht mehr. Er war schon weit. Dieses Wissen zerriß sie wie ein nochmaliger Abschied.

Aber in diesen Tumult fiel eine Erleuchtung, groß, schön, ihre ganze Seele mit Helle füllend. Sie sprach berauscht, gläubig: »Vorgestern noch war er hier! Oh, begreifst du? Dann hat er alles erlebt, was wir erlebten. Er hat gesehen, was wir sahen! Wie Deutschland aufgestanden ist. Und die grauen Heere. Und er hat gehört – all die Lieder gehört – alles Jauchzen – Soldaten und Volk. Es hat ihn überwältigt, gewiß, auch ihn. Und er wird es in seinem Lande verkündigen, wie groß, wie stark wir sind. Er hat den deutschen Mut gesehen! Er wird es in England sagen!«

Sie fiel der jungen Frau um den Hals. Unklar erhoben von erschütternd törichten Phantasien. Als könne, als werde der geliebte Mann aus stark erwachter Ehrfurcht vor Deutschland dem Rade des Krieges in die Speichen greifen.

So außer sich war sie.

Und der jungen Frau feuchteten sich die Augen – in Rührung – in ahnungsvollem Mitleid.

Am anderen Morgen punkt elf Uhr wurden Tiny und van Straten gemeldet. Guda stürzte sich förmlich auf die Freundin – auf sie, die vom Geliebten wußte, von seinen letzten Stunden in Deutschland! Van Straten mußte sich selbst bekanntmachen; aber in seiner gemütlichen Art konnte er auch gleich freundschaftlich dem Grafen Leuckmer die Hand schütteln und der Gräfin Katharina herzlich vertraute Worte sagen. Er meinte, die nahe und langjährige Freundschaft der beiden Mädchen habe die Familien in die genaueste Verbindung gesetzt und so völlig übereinander unterrichtet, daß man über Vorreden glatt hinweggehen könne. Auch habe der Ernst der Gegenwart für unnütze Förmlichkeiten keinen Platz mehr gelassen.

»Wir müssen uns wohl zurückziehen?« fragte die junge Frau; »es soll doch von Geld und Geschäften gesprochen werden.«

»Mit Erlaubnis des Herrn Schwiegerpapas wäre ich dafür: die Damen bleiben. Es soll doch von Komteß Gudas Vermögen geredet werden. Das ist so 'n Unglück in den deutschen Familien – falsche Taktik – die Frauen wissen nie was von ihrem Hab und Gut, und wenn sie dann mal auf sich allein gestellt sind, stehen sie da wie Hühner, wenn's donnert – bitt' um Verzeihung – is aber meist so.«

So gruppierte man sich denn um den Mann herum, der immer, wo er auftrat, etwas von einer Hauptperson an sich hatte.

»Wie Sie mich hier sehen, wenn ich morgen die Augen zumach', weiß meine Alte Bescheid. Kein Papier, was sie nicht kennt, keine Anlage, von der sie nicht weiß«, erzählte er, indem er sich setzte. »So 'ne Kraftmenschen wie mich streckt ja mal plötzlich was hin. Während Sie als zarte Konstitution die bekannte Methusalem-Anwartschaft haben. Trotzdem und obenein weil nun alles 'n büschen verzwickt gekommen ist, unser Komteßchen muß Bescheid wissen.«

Er nickte ihr liebevoll zu, denn er war ihr erklärter Gönner. Und Guda strahlte. Sie war so gewiß, nun Stolzes, Beruhigendes, Vornehmes von dem Geliebten zu hören.

»Ich bin in keiner Weise besorgt, daß das Kapital verlorengehen könne...«

Ein schallendes Auflachen unterbrach den Grafen Leuckmer.

»Verlorengehen?! Vermehren wird es sich! Und das tüchtig! Sind mit Aufträgen überhäuft! Haben sehr, aber sehr vorteilhafte Kontrakte mit der Heeresverwaltung und der Marine.«

Graf Leuckmer wurde sogleich etwas verwirrt. »Vorteilhafte Kontrakte? Wann abgeschlossen?

Es ist mir, ganz sicher auch Guda und meiner Schwiegertochter – ja, eine entsetzliche Empfindung ist es – unser Geld – in feindlichen Unternehmungen – als wär's Landesverrat.«

»Verehrter Graf«, sagte van Straten beruhigend, »wo Geschäfte anfangen, hören die Empfindungen auf.«

»Hier nicht. In diesem nicht. Ich hoffe, Percy wird es begreifen. Er ist ein Ehrenmann.«

»Der vollkommenste Gentleman, den ich kenne!« sprach van Straten mit feierlicher Hochachtung, ganz und gar von Anerkennung für Percy Lightstone durchdrungen.

»Dann«, meinte Leuckmer und hatte schon ganz heiße Bäckchen vor Aufregung, weil er seine Unsicherheit diesem Manne mit dem gänzlich abgerundeten und nirgends angreifbaren Wesen gegenüber fühlte, »dann wird sich mit Percys Entgegenkommen auch ein Ausweg finden – das Kapital könnte inzwischen irgendwie – ich möchte sagen – neutralisiert werden – zum Beispiel – ich hab' mir gedacht – in Holland deponiert – später, bei der Heirat, dann wieder...«

Van Straten war ein paar Augenblicke förmlich starr. Von nun an sprach er schonend, geradezu liebevoll mit dem Grafen. Denn daß der auch nicht die geringste Ahnung von Geschäften hatte, lag für ihn auf der Hand. Gerade wollte er etwas sagen, da erhob sich Gudas Stimme, etwas bebend, aber heftig, bestimmt, hochfahrend.

»Du brauchst es nur durch Herrn van Straten sagen zu lassen. Percy selbst wird es erwünscht sein, so zu handeln.«

Da kam wieder das schallende Auflachen. Es war ihm selber unangenehm, daß er es eben nicht unterdrücken konnte. Aber diese Menschen! – Köstlich – wie Kinder waren sie.

»Nein, Komteßchen, das wird und kann Percy nicht, und am allerwenigsten jetzt, wenige Tage nach Kriegsausbruch.«

»Sie nannten ihn eben selbst den vollkommensten Gentleman, den Sie kennen«, sprach sie. Und man spürte, wie sie in Aufruhr war.

Van Straten wurde ganz betroffen. Die holde, liebe Guda in all ihrem Unverstand tat ihm so leid.

»Ja, was hat denn das mit Geschäft und Politik zu tun?« sprach er. »Das ist ja ein ganz anderes Feld! Aber die Deutschen – freilich – das sind so schnurrige Kerls – sind in gewissen Lagen imstande, Gefühl ins Geschäft zu mengen.«

»Und du, Papa?« rief Tiny aufgeregt. Er wurde etwas verlegen.

»Du Naseweis! Na ja bei mir hat's drolligerweise immer so gepaßt, daß sich keine Konflikte ergaben. Hab' den Engländern, glaub' ich, manchmal Spaß gemacht, nahmen mich als fröhlichen alten Burschen. Vielleicht gerade, weil ich nicht von ihrer Art war. Na, aber genug, Percy Lightstone kann das Geld jetzt nicht abstoßen, wo sollt' er in diesem Augenblick anderes Kapital hernehmen? In Friedenszeiten, ja, bei der Solvenz des Hauses und bei normalem Betrieb. Aber jetzt, wo der Betrieb versechsfacht ist! Hab' selber 'n guten Batzen drin...«

»Ich denke, die Lightstones sind Großkapikalisten?« sprach Leuckmer. Er litt sehr schwer. Das Gespräch war ihm fürchterlich. Er sah, wie die Augen seines Kindes brannten.

»Schätze sie auf etwa dreißig Millionen. Ein großes Haus. Aber kein Welthaus. Es dazu zu machen ist Percys Ehrgeiz. Und ich taxiere: es gelingt. Die Konjunktur, die für Lightstones gerade der Krieg mitbringt, ist enorm. Man wird sie auszunutzen verstehen. Nun müssen Sie aber nicht denken, daß so ein Haus immer viel überschüssiges Barvermögen disponibel hat. Das Kapital steckt in sehr vielerlei Unternehmungen. Als das Haus im Mai die riesigen Kontrakte mit der Regierung abschloß, mußte es alle Betriebe kolossal vergrößern und alles Kapital dazu flüssig machen, auch noch fremdes Geld aufnehmen. Ihr Kapital, verehrter Graf, bedeutete immerhin auch 'n paar willkommene Blutstropfen in dies verzweigte Adernsystem. Strömt alles während des Krieges wieder herein. Und nachher wird sich das Gesamtvermögen vielleicht als verdoppelt erweisen, auch Ihr Anteil; wird Percy große Genugtuung sein Ihnen gegenüber...«

»Sie sagten – im Mai?« brachte Guda heraus.

»Freilich, ganz Europa rüstete ja, warum sollte die englische Flotte es nicht tun? Schließlich ist es ja nun ein paar Wochen früher losgegangen, als es wohl gerade Percy lieb sein konnte, was sich in einer Hinsicht begreifen läßt.«

Er stockte. Er wollte nicht mit deutlicher Hand an die Wunden des lieben, armen Komteßchens streifen. Er verstand durchaus ihre Tat. Und doch war's ihm leid. Der stolze Mann hatte nicht gut ausgesehen! Mit Unnahbarkeit war er wie bewaffnet gewesen. Die drohte förmlich: Wage nicht, mit mir davon zu sprechen! Und seine hellen Augen schienen fast ohne Glanz. Es hatte einen sehr bedeutenden Eindruck auf van Straten gemacht.

Jetzt fühlte er sich von einem beklemmenden Schweigen umgeben.

Und die Guda – ja, wahrhaftig – leichenblaß war sie. –

Gutmütig tröstete er: »Ich rate Ihnen ab, sich Gedanken zu machen. Wirklich – ist völlig überflüssig – Ihr Geld – oder anderes – darum ändert sich die Produktion nicht im geringsten.«

Immer noch schwiegen sie, wie Geschlagene. Van Straten erhob sich.

»Unnötig zu sagen: Wenn Sie mich brauchen, Graf – jederzeit, zu jeder Form von Rat und Tat bereit – selbstredend auch in Geldsachen – bin stets zu Ihrer Verfügung mit jedem Betrage. Aber immerhin. Will Ihre Gedanken an Percy Lightstone mitteilen. Wir haben einen Weg zum Austausch verabredet – über Holland.«

Der alte Herr stand mit Haltung da. Eine feine, leise Würde sprach ans seinem Wesen. Er fühlte die aufrichtig gute Meinung des anderen. Aber der hatte in seiner Jugend und in seinem Geschäftsleben Dinge und Menschen mit so derben Händen anpacken müssen, daß ihm darüber wohl die feinsten Tastempfindungen verlorengegangen waren.

»Ich bitte Sie«, sprach er, »Percy gegenüber unser Gespräch nicht zu erwähnen. Nach allem, was Sie erklärten, muß ich annehmen, daß er mich nicht verstände.«

Nun endlich sprach auch die junge Frau noch in den Abschluß des Gesprächs hinein. Tröstliche Worte, an die sie in ihrem Herzen selbst nicht glaubte. »Wir können vielleicht doch hoffen, daß Percy deine und Gudas Empfindungen errät, ähnliche hat und aus eigenem Antrieb Auswege findet. Wir sollten es mit Geduld abwarten.«

Sie dachte frohe Zustimmung zu finden, ein aufleuchtendes Auge zu sehen. Aber Guda blieb blaß und stumm.

Herr van Straten sagte noch zu seiner Tochter, als sie fortgingen:

»Es sind famose Menschen, die Leuckmers. Aber es sind unpraktische Menschen. Wie das mal mit Percy und Komteßchen endet, na, da würd' er selbst ja wohl keine Wette drauf annehmen, völlig unberechenbar. Große Liebe. Aber ungünstige Konjunkturen. Wenn Deutschland siegt, verzeiht er das nicht. Und wenn England siegt, verzeiht sie das nicht.«

»Was glaubst denn du, wer siegt?«

»Du hast einem schon immer Löcher in 'n Kopf fragen können. Wie sollte es möglich sein, daß Deutschland siegte? Total unmöglich ist es.« Er bückte sich ein wenig zu ihr hinab und raunte: »Aber, Gott verdamm' mich, mir schwant, es tut es doch!«

»Und, Gott verdamm' mich«, jauchzte Tiny, seinen Ton nachahmend, »das täte dir himmlisch wohl!«

Sie hing sich an ihres Vaters Arm, und einträchtig gingen sie zusammen bis an die Schwelle seines Kontors, das im lautesten und düstersten Teil Hamburgs lag, nämlich in der Neustädter Fuhlentwiete. Da fühlte er sich am deutlichsten an die Umwelt seines Kontors in Birmingham erinnert, wo er ohne viel Luft und Licht im Gedränge lauten Geschäftslebens sich sein Vermögen erkämpft hatte.

Das Gemüt des Grafen Leuckmer war nach dieser Unterredung noch belasteter als vorher. Auch er glaubte nicht an die Möglichkeit, daß Percy sich peinlichen Gedanken hingäbe. Allerlei unklare Sorgen schwebten ihm vor. Das Geld eines deutschen Staatsbürgers konnte und durfte doch niemals dazu verwendet werden, Waffen gegen das Deutsche Reich herzustellen, den Krieg gegen das Vaterland mit zu ernähren. Er wollte sich über die Rechtslage unterrichten. Er beschloß, an Thomas Steinmann zu schreiben. Wahrscheinlich befand sich dieser noch in seiner Garnison. Man durfte es annehmen.

Katharina aber blieb nicht einen Tag müßig. Auch Guda zeigte einen festen, unermüdlichen Willen. Sie wollte dienen. Wer konnte von ihr verlangen, daß sie es mit leuchtenden Augen tue? Niemals wagten die Ihren, auf jenes Gespräch über das Geld in England zurückzukommen. Auch nicht, als Wochen und Monate dahingingen, ohne daß Percy Lightstone jemals ein Wort darüber verlor.

Neben der Aufgabe, ein behagliches Heim für die Familie zu gründen, ein Heim, von dem man nicht wußte, ob es für Monate oder Jahre Obdach gewähren sollte, galt es jetzt, Anschluß an die gewaltige Bewegung der Kriegshilfe zu suchen. Guda dachte nicht daran, dem Beispiel ihrer Freundin zu folgen. Tiny war schon nach wenigen Tagen Teilnehmerin eines Kursus, der zunächst theoretische Ausbildung gewährte. Und wirklich, sie war doch immer noch die frühere Tiny: sie vertraute Guda an, daß der unterrichtende Arzt entzückend sei, total war sie in ihn verliebt, der Kursus war brennend interessant. Guda fürchtete alles, was sie in zuviel Berührung mit Menschen bringen mußte. Sie ahnte auch, ohne es selbst Karen gegenüber auszusprechen, daß der Anblick schwerer Leiden ihr zerrissenes Gemüt widerstandslos fände. Es kam jetzt auf standhaftes Mitleid an. Weinendes Mitleid durfte sich nicht zeigen!

Die beiden Gräfinnen Leuckmer, die bescheiden und dienstwillig mit offenen, gebefreudigen Händen erschienen, fanden überall offene Türen. Es zeigte sich rasch eine Tätigkeit für Guda, die sie mit stiller Entschlossenheit auf sich nahm, eine, die nicht nach außen besonders bemerkt werden konnte und keine laute Bewunderung eintrug, die eine zähe, selbstlose Ausdauer verlangte und in der es selten erhebende Aufwallungen gab, die zur Entschädigung hätten werden können.

Wie ein grauer, endloser Strom flossen diese Aufgaben an unzähligen Frauen des ganzen Landes vorbei, der Strom des Unglücks, der Trauer, der Sorge. Und mit nie ermüdenden Händen versuchte liebevolle Tatkraft ihn auszuschöpfen.

Von früh bis spät, außer einer festbegrenzten Mittagspause, saß Guda mit anderen weiblichen Wesen in einem Hinterzimmer eines großen Saalbaues, der, sonst Festen dienend, jetzt eine der Arbeitsstätten des Roten Kreuzes war. Hinter einem Geländer saßen sie an Pulten, als seien sie Kontoristinnen und müßten gebückt bei düsterem Licht Tag um Tag atemlos arbeiten, um ihr bescheidenes Brot zu haben. Und an dem Geländer schob sich, mit Aufenthalten voll Klagen und Erklärungen, der endlose Zug von Frauen vorbei, deren Männer keine Arbeit hatten oder ins Feld gezogen waren. Ungeduldige und Törichte, die nicht vertrauensvoll die schon im Fluß befindliche Hilfe des Staates abwarten mochten oder sich mit den klaren und genauen Vorschriften der Behörden nicht zu benehmen wußten; Eifrige und Tapfere, die Verdienst suchten und mit allen Kämpfen und Entbehrungen mutig fertig werden wollten, wenn man ihnen nur zeige wie, denn sie wußten: Deutschland dürfe nicht zugrunde gehen. Unaufhörlich waren Personalien in Listen einzutragen, Vorschriften zu erläutern, Anweisungen auszufüllen.

Und wenn Guda so saß und den Bestand und die dringendsten Bedürfnisse einer kinderreichen Familie eintrug, in der Krankheit und Not herrschten, ob dann zuweilen ein Traum davon durch ihre Seele zog, daß sie in eben diesen Tagen mit dem geliebten Mann das erste Glück der Vereinigung hatte erleben sollen? Ob vor ihrem geistigen Auge der alte, efeuumsponnene Herrensitz erstand, hoch über dem steilen Ufer der weißen Kalkfelsen von Southdowns, gegen die die grauen Wogen des Kanals wühlten? Dies romantische, von stolzen Sagen umklungene Schloß, wo glühende Liebe sie auf einen Thron erhoben hätte? Wo durch den silbernen Mondschein von fernher die Flöte des Hirten erklang, der gelassen unübersehbare, grauwollige Herden zu den Hürden trieb? Wo man nachts aus den Fenstern in der schwarzen Finsternis an den rauschenden Wassern von weither die Blinkfeuer der Leuchttürme aufblitzen sah?

Und später, als sie einer anderen Schreibstube zugeteilt ward, wo weinende Frauen um Nachricht flehten über ihre Männer oder Söhne, die als vermißt gemeldet waren. Später, in der Zeit, wo das Leid zur Erweckerin der Phantasie auch in den nüchternsten Herzen einfacher Frauen wurde. Wenn sie jammerten, daß ihr Geliebtester vielleicht einsam, zerrissen von Wunden, hilflos zwischen Büschen und Erdschollen verkommen sei oder, grausamsten Martern anheimgefallen, in Frankreich oder Rußland nach Erleichterung schmachte. Wenn Weinende ihren Gram bis zu Schreikrämpfen steigerten, weil sie den Tod des Teuersten nicht glauben wollten, sich verschworen, daß Namensverwechslungen vorlägen. Wenn von den helfenden, geduldigen Herzen das Unmöglichste gefordert ward. Wenn kein Wort der Vernunft und des Trostes mehr ausreichte, vielfach Beraubte aus ihrer Verzweiflung zu erheben.

Dachte Guda dann wohl daran, daß sie eben in dieser Zeit als junge, von jedem Luxus umgebene Frau auf den Landsitzen der höchsten britischen Aristokratie Tage voll Festen und Glanz hätte genießen dürfen?

Sie sprach niemals davon. Ihr Gesicht war weiß und still. Aber es schien auf ihrer Stirn die Weihe der Zufriedenheit zu liegen, als sei ihr geheimstes Wesen voll Sicherheit darüber, daß sie einem heiligen Gebot folgte, als sie ihr üppiges Glück in die große Opferschale legte. Sie wußte bald, erfuhr es tausendfach, andere Frauenherzen mußten größere Opfer bringen.

Und was sich auch begab in den nächsten Monaten, ihr und der Ihren Dasein erschütternd, immer und mit der stetigen, zähen Kraft wie in den ersten Tagen erfüllte sie die übernommenen Aufgaben der genauen Ordnung, auch in Trost und Hilfe. Wie ein Weg war diese Arbeit, den man sicher dahinging, während sich rings Abgründe öffneten und Vulkane donnerten.

Gräfin Katharina mußte erst noch andere Aufgaben erfüllen, ehe sie die von ihr erwählte und dem dafür zuständigen Ausschuß auch schon angemeldete Arbeit auf sich nehmen konnte. Sie wollte zwölf Knaben ernähren, an ihrem Tische speisen, sich erzieherisch, mütterlich um sie bemühen.

»Meine Neigung, auch vielleicht ein bißchen Begabung liegt so in der Richtung«, sagte sie. »Aber ich bin arm wie eine Kirchenmaus, Papa, und du mußt es erlauben und mir das Geld schenken. Daß Bertold mir von seiner Kriegsgage was schickt, darf ich kaum hoffen. Und wenn auch, das sind ja bloß Kleinigkeiten.«

»Ich habe dir nichts zu schenken. Du hast zu fordern, Und wir sind deine Schuldner.«

Aber da war vorher und auch gerade mit für dieses Teilchen Kriegshilfe eine eigene Häuslichkeit herzurichten. Die Umzugsgüter hatte sie sogleich von Berlin und Hannover herbefohlen. Von der Eisenbahn durfte man jetzt gar nichts verlangen. Die hatte nur die eine gewaltige Aufgabe. Aber die junge Frau hoffte, daß es wohl überall ein paar kriegsuntüchtige Gäule gäbe, die noch imstande seien, auf gute, vorzeitliche Art Lastwagen die Landstraßen entlang zu ziehen, und alte Fuhrleute, die mit Hü und Hott und der Peitsche gemächlich daneben herwandern mochten.

Aber die Wohnung! Da war denn die Gelegenheit für Frau van Straten, auch hilfreich zu sein, ohne sich nach der deutschen oder englischen Seite zu weit vorzuwagen, was zu vermeiden sie in der possierlichsten Weise bedacht war. Sogar ein ganzes Haus konnte sie in Vorschlag bringen. Und sie erzählte Gräfin Katharina, vor leidenschaftlicher Mitempfindung oft fröstelnd und mit Tränen kämpfend, von der Familie Möhring. Möhring, Lister & Comp. Am vierten August morgens waren sie noch als mehrfache Millionäre aufgewacht. Am fünften morgens wußten sie nicht, ob sie noch irgend etwas besaßen, das ihre Zukunft sicherte. Sie hatten große Kokosplantagen in der Südsee. Es stand bestimmt zu erwarten, daß England, durch Australien oder wie immer, sich dieser Kolonie bemächtigen würde. So gab es viele, sehr viele große Häuser in Hamburg. Sie wußten nicht: Kam Zusammenbruch? Oder handelte es sich nur um einen Zwischenzustand? Aber auch ein solcher bedeutete in jedem Fall ungeheure Einbußen an Vermögen. Und er mußte überwunden werden, mußte es, ohne Kredit. Denn der, ein unsichtbares, aber fast das schätzbarste Gut großer Häuser, war sogleich dahin, wie weggeblasen von der englischen Kriegserklärung. Frau van Straten konnte es nicht fassen, sie fand es heroisch! Aber ob man dies nun glauben wolle oder nicht: Die Möhrings hatten kein Wort der Klage gehabt! Weder Mann noch Frau noch die verwöhnten Töchter. Sie sagten: Auf uns kommt es nicht an, wenn nur Deutschland sich durchschlägt. Und die völlige Veränderung ihrer wirtschaftlichen Lage sei nicht auf Spekulationen, Verschwendung oder sonst schimpfliche Ursachen zurückzuführen. Die Ehre des Hauses, selbst wenn es fallen müßte, sei unangetastet. Jetzt gäbe es für sie nur eine Art von Haltung, nämlich, ganz einfach zu leben. Und sie dachten sofort mit Klarheit und Ruhe nach, wie sie sich ganz bescheiden einrichten konnten, um auch eine lange Kriegsdauer bestehen zu können und dennoch Mittel für Hilfszwecke flüssig zu haben. War es nicht fabelhaft? Sie, Frau van Straten, fürchtete von sich, daß sie sich zu solcher Fassung im gleichen Fall nicht würde aufraffen können, das gestehe sie offen. Also die Möhrings wollten ihr Haus vermieten und einige Kunstwerke verkaufen. Sie besaßen viele. Frau van Straten hatte ihnen gleich zwei Gemälde abgekauft. Aber es schien ihr unsicher, ob sie scheußlich oder großartig seien. Das Urteil über solche Dinge wechselte doch so sehr mit der Mode. Deshalb sollten sie erst mal in den Fremdenzimmern aufgehängt werden.

Sie erzählte alles sehr aufgeregt. Katharina spürte wohl: sie erlitt die Angst, daß auch ihr großer Vermögenswandel bevorstehen könne, obschon ihr Mann ihr vorgerechnet hatte, daß ihnen das gar nicht passieren könne. Sie wußte es überdies auch selbst. Aber es war so ein unbestimmtes Gefühl in ihr, daß sie auch irgendwie mit einer Angst kokettieren müsse. Und zwischendurch schimmerte die Genugtuung heraus, daß sie Leuten aus so altem Hause, so guten Familien habe helfen können.

Die Möhrings waren jede Stunde zum Auszug bereit. Ein wenig erschrak Katharina vor dem großen Mietpreis. Aber ihr Schwiegervater hatte ihr freie Hand gelassen; sie kannte seine Einkünfte, und sie dachte auch an ihren Knaben. Sein Gesichtchen war schon etwas weniger frisch, seine Munterkeit ließ nach. Das Möhringsche Haus, dem van Stratenschen gegenüber, hatte doch einen schmalen tiefen Hintergarten mit alten, etwas dünn hochgeschossenen Bäumen. Da konnte Adam sich besser ausleben als auf den Wegen der Anlagen, wo Frau Stroblmeyer ihn nicht von der Hand ließ und beständig zu beschwichtigen hatte.

Inmitten all ihrer Tätigkeit dachte Katharina wohl an den Freund. Bei jedem Soldaten, den sie entgegenkommen sah, hoffte sie: Das ist er! Aber der nächste Schritt des Herankommenden belehrte sie dann schon: Er ist es nicht. Sie hatte ihm noch nicht geschrieben: Ich bin hier, ich freue mich auf Ihren Besuch. Wenn sie an den Mann dachte, der sie beschäftigte, wie noch kein Mensch sie gefesselt hatte, war in ihr eine frohe, dankbare Sicherheit. Welche Bereicherung: Es gab eine Seele, mit der ihre Seele sich auf seltsam beglückende Art verstand. Genügte dies Wissen nicht? Es eilte nicht so sehr, seine Hand zu drücken. War sie ihm nicht nahe in ihren Gedanken?

Er sollte erst kommen, wenn die Häuslichkeit eingerichtet war. Es schien ihr, als würde in ihrem Rahmen sich sogleich die Stimmung wiederfinden, die zwischen ihnen schwebte, als die große, durchsonnte Stille der Natur um sie war.


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