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Von diesem Tage an wußte Bording nicht, ob sein Leben ein Siegerrausch oder ein Entsagen sei.
Alles war sein, was er in den ehrgeizigen Plänen seiner Jünglingszeit schon ersehnt. Großer Reichtum häufte sich für ihn auf den Banken und lag fest in wohlbedachten und klug geleiteten Unternehmungen, sich immer noch vermehrend; die höchste Würde, die die Freie und Hansestadt zu vergeben hatte, war ihm geworden; ohne peinliches Aufsehen, im glatten Gang unauffälligen Lebens wickelte sich sein Dasein vornehm ab. Und vor allen Dingen: er hatte einen Sohn, gesund und kraftvoll – einen Sohn und Erben! Er wußte nun, für wen das Haus Jakob Martin Bording so hoch und fest gebaut stand ...
Ja, an all dies zu denken, war berauschend und erhebend.
Aber er hatte keine Frau ...
Dies junge Weib, durch das Wunder der Mutterschaft zu einer unerwarteten Schönheit erblüht, die ihn täglich mehr bezauberte, dieses Wesen voll unbegreiflicher Würde, ging in einer so sicheren und so unantastbaren Haltung neben ihm her, daß er nicht einmal wagte, sich ihr mit zärtlichem Werben zu nahen.
Er wußte es nun: er hatte sie verloren! Oder ihr Stolz war so groß, daß er ihre Liebe niederzuzwingen vermochte.
Jahre seines Lebens hätte er darum gegeben, zu wissen, was in ihr vorging. Er verzehrte sich vor Verlangen danach, einmal, endlich einmal wieder den Ausdruck süßer Glückseligkeit auf ihrem Gesicht zu sehen, wie damals, als sie seine Braut war ...
Aber er wußte auch, aus ihrem klaren, tiefen und reinen Wesen heraus konnte sie jedes Unrecht verzeihen. Nur gerade die schweigende Lüge nicht, in der er einst ihre Liebe hingenommen ...
Und er, der große, kluge, reiche Jakob Martin Bording beneidete seinen armen Sekretär Baumann um das kurze aber gewiß volle und zweifelsfreie Glück, das der seinem kümmerlichen bißchen Leben noch abgewinnen durfte ...
Therese hatte den Wunsch geäußert, im Sommer auf dem Lande zu wohnen. Sie sagte »des Kindes wegen«, und es war möglicherweise die Wahrheit, die jedermann auch als solche einleuchten mußte. Aber Bording dachte erbittert: »Sie wünscht zugleich ferner von mir zu sein!« Und es war ein Trotz in ihm: »Nein, sie soll sich mir nicht ganz entziehen ...«
Er bot alle möglichen Agenten auf, der Makler tor Straten fuhr acht Tage in der Umgegend umher, Geld spielte keine Rolle. So konnte Bording seiner Frau bald mitteilen, daß er ein schön gelegenes kleines Landgut erworben habe, mit einem sehr wohnlichen, geräumigen Herrenhaus. Der parkartige Garten ging an den Fluß hinab, da, wo er sich zu weiten Buchten rundete und sein Wasser sich mit dem der See schon salzig mischte. Wälder grenzten an den Besitz, hundert Morgen alter Tannenbestand gehörte dazu. Es wurde sofort eine Schar von Handwerkern aufgeboten, alles sollte nach Theresens Geschmack aufgearbeitet werden.
Um diese Zeit war gerade Theresens Geburtstag, und als Bording mit ihr im Auto zum ersten Male hinausfuhr, ihr die Besitzung zu zeigen, hörte sie, daß er sie ihr als Festgeschenk zugedacht habe. Er pries auch mit einer gewissen nervösen Lebhaftigkeit den Umstand, daß er ebenfalls hier draußen wohnen und mit dem Auto in fünfunddreißig Minuten im Geschäft sein könne.
Theresens Mienen verloren bei diesen Eröffnungen nichts von ihrer freundlich-höflichen Undurchdringlichkeit. Sie sagte in einem Ton, der seine Ungeduld rasend entfachte, gegen den er aber waffenlos war: »Ich bitte dich herzlich, davon abzusehen. Ich möchte nicht, daß von deinen Besitztümern irgend etwas als mein Eigentum auf meinen Namen überschrieben werde.«
Warum nicht? Aber er unternahm es nicht, dies laut zu fragen. Er beantwortete sich das selbst, mit scharfen, spitzen, unerbittlichen Worten. »Dein Geld ist nicht meines – ich lehne es ab, irgend eine Gemeinschaft mit dir zu haben, weder mit deinem Besitz, noch mit deiner Person – ich gab mich dir aus Liebe und du dachtest vielleicht, dein Geld sei Gegengabe genug für mich – nein, gar nichts Gemeinsames soll zwischen uns mehr sein. Ich tue nur meine Pflicht als Mutter, sie allein hält mich zu einem äußerlichen Zusammenleben an deiner Seite fest.« Ja, so etwas dergleichen konnte ihm Therese antworten, wenn er fragte ...
Männer wissen sonst mit kleinen Kindern wenig anzufangen. Bording aber hatte eine fanatische Zärtlichkeit für sein Kind und er konnte es lange und in einem ängstlich glücklichen Gefühl betrachten – ihm war dabei, ohne daß er es sich geradezu eingestand, als werbe er um die Mutter ...
Mitte Mai zog man hinaus. Zu des Alten unnennbarer Freude kam Schrötter mit. Er wäre sonst vor Sehnsucht und Kummer eingegangen, meinte Therese. Denn sein ganzes wichtig-gemütliches Greisenleben hatte einen neuen Mittelpunkt bekommen: das kleine Kind. Der Sohn und Erbe des Hauses, dem er bald fünfzig Jahre diente. –
Bording hatte unbestimmte Hoffnungen an den Landaufenthalt, an die veränderte Umgebung, an den Frühling, an die Einsamkeit gehängt ...
Als er die von Therese angeordnete Einteilung der fertiggestellten Räume sah, begriff er ...
Sie hatte für sich, das Kind und die Wärterin Zimmer bestimmt, die von den seinen weitab lagen.
Und so wurde zur erhöhten Qual, was eine Erlösung hatte herbeiführen sollen ...
Wenn er, um sechs Uhr das Geschäft verlassend, in dem rasenden Tempo hinausfuhr, das ihm die Nerven beruhigte, malte er sich jeden Tag eine andere Möglichkeit aus, die es ihm erlauben konnte, sich Therese zu nähern. Vielleicht schien sie verstimmt oder abgespannt, vielleicht war sie von einer unnötigen Sorge um das Kind geängstigt, vielleicht war sie von einem allzu einsamen Tag ermüdet und hatte Sehnsucht nach ihm empfunden. Und sie kam zu ihm mit Klagen, er vielleicht konnte fragen, trösten – o wie viel Wege öffneten sich dann, auf denen er vorsichtig tastend sich an ihr Herz heranschleichen konnte ... Aber er fand sie immer in jenem Gleichmaß des Wesens, durch das sie einst sein Vertrauen erworben. Nur daß es jetzt nicht mehr von der stillen, feinen Heiterkeit durchsonnt war, sondern einen undurchdringlichen Ernst zeigte. Wie jemand ihn haben mag, der mit sich im klaren ist, der Unabänderliches in stolzer Haltung und in den Formen des Friedens zu tragen denkt.
Und er litt, wie er nie von sich geglaubt hatte, daß er so leiden könne ...
Es war zu Beginn des Sommers, daß aus Ostafrika eine schlimme Nachricht kam. Auf der Borgwardtschen Plantage, die der Kern des ganzen Baumwollunternehmens gewesen war, sowie auf den sonst schon kultivierten und bebaubaren Ländereien der Gesellschaft hatte sich der Baumwollsamenwurm gezeigt. Ein Unheil, das das Unternehmen schwer schädigen und auf Jahre hinaus zu einem resultatlosen Kampf gegen unbezwingbare Mächte werden lassen konnte.
Und beinahe schien es, als sei diese böse Wendung Bording willkommen.
Er belebte sich daran. Seine eigentlichste Natur reckte sich auf, seine Tatkraft sprühte von raschen Entschlüssen.
Immer hatte er nach dem alten Hansenwort gehandelt »Koplüd – Loplüd« – und wenn irgendwo auf seinen Faktoreien ober in seinen Filialen sich bedrohliche Kluft auftat zwischen dem hineingesteckten Kapital und der Verzinsung, die berechnet und erwartet worden war, reiste er unverzüglich an den Schauplatz dieser Sorge oder Unklarheit. So war er im Lauf der Jahre in vier Weltteilen herumgekommen, überall dorthin, wo die Firma Jakob Martin Bording ihr stolzes Schild zeigte.
Er wußte auch auf die Mitteilung des Direktors der Baumwollplantagen sofort, was zu tun sei.
Und am gleichen Abend sagte er es seiner Frau. Voll Unruhe, gespannt bis zum äußersten, fuhr er hinaus. Jetzt endlich hatte er ein Mittel, sie aus ihrer Unberührbarkeit herauszulocken.
Sie saßen am Tisch auf einer Terrasse, von welcher aus man die Landschaft übersehen konnte. Sanft senkte sich der Garten zum Ufer hinab, durch wohlbedachte Beschneidungen von Büschen und Baumwipfeln war dem Blick eine gerade Gasse gebahnt. An ihrem Abschluß stand ein schönes, weites Bild: eine schuppige Wasserfläche, belebt von den roten Signalen der Schiffahrtstraße; drüben ein anmutig gewelltes grünes Gelände, von schwerem Dickicht alter Baumgruppen und der ruhevollen Farbennote grauer Strohdächer wohltuend und malerisch gefleckt.
Zuweilen zog ein Dampfer in vorsichtiger Fahrt über das sichtbare Stück Wasser. Hohl klang sein Sirenenpfiff durch den Abendfrieden und die langausgezogene Rauchfahne hinterließ einen schwärzlichen Dunst, der lange wie ein Schleierstreif in der feuchten Luft stehen blieb.
Bording erzählte Therese von dem bedrohlichen Zwischenfall, der das vor Jahresfrist gegründete Unternehmen gefährden könne.
»Diese, man möchte sagen, dämonischen Überraschungen der Natur werden für immer aller Kultur in den Tropen etwas Zufälliges, Unsicheres, Unausgeglichenes geben. Gleichmaß und Verläßlichkeit für Zivilisation ist nur im gemäßigten Klima möglich. Aber dann liegt wohl. grade ein Teil des Reizes, den die heiße Ferne für uns hat. Im rechten Hanseaten steckt so etwas vom Kondottiere: Herrentum, das erobern will und im tiefsten Grund vielleicht noch gern über Sklaven herrschte.«
»Was denkst du zu versuchen?« fragte Therese.
Er sah sie fest an, so durchdringend, daß ihr Herz zu klopfen begann und sie warnte: nimm dich zusammen ...
»Ich habe sofort an Professor Fehlbrunn depeschiert, du weißt, der berühmte Botaniker. Er ist jetzt in Berlin. Ich habe ihn eingeladen, mit einem seiner Assistenten mich nach Ostafrika zu begleiten ...«
»Dich ...?«
»Ja, ich denke in acht Tagen dorthin abzureisen!«
Eine Pause.
»Sie ist blaß geworden!« dachte er. Seine Nasenflügel bebten. Sein ganzes Wesen war leidenschaftliche Erwartung.
Jetzt – jetzt würde sie die gesenkten Lider heben und er würde eine Träne in ihrem Auge sehen – der Schreck, daß er sie verlassen wollte, nahm ihr die Maske ab ... Jetzt würde ihre Stimme zittern und sie würde, sie mußte sich verraten ...
Und er konnte sie in seine Arme reißen und ihr mit heißen Küssen sagen, was verzehrend in ihm brannte ...
Was war all die flammende Unruhe gewesen, in der er einst jenem dunkeläugigen, abenteuerlichen Weibe entgegenfieberte? Nichts als ein Rausch – eine Suggestion – eine Verführung – eine Krankheit –
Was war es gewesen, gegen diese drängende und dennoch wunderbar erhebende, gegen diese begehrliche und dennoch andachtsvolle Sehnsucht nach ihr, nach seinem Weibe ...
Er wartete ...
Da hob sie die Lider, unter denen sich lange, seltsam lange der Blick verborgen, sah ihn ruhevoll an und fragte: »Jetzt, im Sommer? Nach Afrika im Sommer? –«
Weiter nichts als dies ...
So hart fühlte er seine qualvoll überspannte Erwartung niedergeschlagen, daß er Zeit brauchte, sich zu fassen.
Gerade kam auch der Diener aus der Tür, um die auf der Terrasse speisende Herrschaft mit dem Nachtisch zu bedienen.
Bording brachte es über sich, einen Löffel voll Crême auf seinen Teller zu legen, und er sprach, etwas heiser und eilig: »Nach dem Süden sollte man im Sommer, nach dem Norden im Winter reisen; das wird dir jeder Erfahrene bestätigen. Man ist immer am besten gegen die Beschwerden eines Klimas da geschützt, wo die Einwohner die Erfahrung und Tageseinteilung haben, ihm zu begegnen.«
Nun fragte Therese noch: »Mit welchem Schiff und welchen Weg?«
Und da wußte er, dieser Überfall, der wie mit einem überraschenden Schlag die Verschlossenheit ihres Herzens hatte zertrümmern sollen, war zurückgewiesen ...
Oder war ihr Herz gar nicht verschlossen? War es nur ganz leer und tot? ...
So reiste er denn nach Afrika. Er wollte sich wehren gegen die Gleichgültigkeit, die sie gezeigt, sich vielleicht rächen, sich selbst quälen oder betäuben. Kurz, er tat, als sei es nicht viel mehr als eine Fahrt nach Berlin oder Paris. Er schien in den letzten acht Tagen in Geschäften förmlich zu versinken und hatte für nichts Zeit.
Nicht einmal dazu, seinen Schwiegereltern einen Abschiedsbesuch zu machen, was bei der Senatorin Landskron einen »Umschwung« hervorrief.
Den vierten oder fünften. Aber diesmal war sogar der Senator Landskron ein wenig gekränkt. Nicht nur, weil es für ihn immerhin noch eine bemerkenswerte Sache war, wenn jemand nach Afrika reiste. Vor allen Dingen auch, weil sein Austritt aus dem Senat, seit anderthalb Jahren geplant und vorbereitet, nun Tatsache werden sollte und die Formalitäten sich in den nächsten Wochen abwickeln würden. Es hätte Landskron schließlich doch wohlgetan, wenn Bording dafür ein erinnerndes, vielleicht sogar bedauerndes Wort gehabt hätte.
Und wie viel Reden, Anzüglichkeiten, Vorträge und Empörungen hätte ein solches Wort voll Rücksicht verhindert. Aber eben weil es ausblieb, erregte sich die Senatorin immer von neuem.
Die Eltern waren auch erstaunt und traurig, daß Therese sie nicht zu sich einlud für diese Zeit. Die Senatorin vergötterte ihr Enkelkind und war so eifersüchtig auf ihr näheres Anrecht, daß sie ihrem Mann verschiedentlich vorhielt, er könnenicht solche Liebe fühlen, während er überzeugt blieb, er fühle sie doch. An der Wiege vergaß sie Würde und Weisheit, war glücklich ohne Aufwand von Standeszutaten und vergaß alle klagenden und vorwurfsvollen Gespräche über ihres Mannes neue Lebensgestaltung.
Aber nun erachtete sie sich für verletzt und erklärte es für unschicklich, daß eine junge Frau allein auf dem Lande wohne. Der gute Landskron hätte seine ethischen Anschauungen sehr erweitern und bereichern können, wenn er genau allen Lehrsprüchen zugehört haben würde, die seine Frau an ihn, als an ihr ehekontraktlich gesichertes Publikum, hinsprach. Aber er hörte nicht zu, sondern dachte immerfort bekümmert darüber nach, daß Therese ihren Gatten nicht auf den Bahnhof geleitet hatte. Denn er, der Vater, hatte sein bißchen Empfindlichkeit über den unterbliebenen Abschiedsbesuch niedergeschluckt, war zur Abreisestunde an den Zug gegangen, um – Therese tröstlich nahe zu sein ... Denn er dachte an Abschiedstränen und Trennungskummer ... Und auf seine vorsichtige Anfrage nach Theresens Gemütszustand hatte Bording kühl geantwortet: »Aber ich bitte dich, Papa – es ist doch weiter kein Aufhebens davon zu machen, daß ich auf acht bis zehn Wochen nach Ostafrika reise.«
»In acht bis zehn Wochen kann sich viel begeben,« sagte Landskron und wollte eigentlich schüchtern damit auf die Tatsache hindeuten, daß in diese Zeit sein Austritt aus dem Senat falle. Er hoffte auf irgend eine herzliche Äußerung – ach, nicht seinetwegen. Aber es wäre so angenehm gewesen, mit einigen Abschiedsliebenswürdigkeiten von Bording in der Tasche heimzugehen und berichterstattend zu sagen: »Jakob war so warm, so teilnehmend.«
Doch Bording verstand diese Andeutung nicht – er war ja wie beherrscht von dem einen Gedanken – zerstreut, fast kalt nahm er Abschied.
Trotzig sagte er sich, als er davonfuhr und der alte Herr mit den roten Bäckchen und der bekümmerten Miene auf dem Bahnsteig zurückblieb: »Wie Therese will!«
Er erinnerte sich, daß er aus seinem Verstande heraus einst die Kraft gehabt hatte, sich von Thora Sanders zu trennen, genau in dem Augenblick, wo er es für angebracht hielt, wo er diese Leidenschaft als störend für seinen Lebensgang erkannte. Und so wollte er jetzt auch die Kraft haben, sich innerlich frei zu machen von dem beständigen Gedanken an Therese ... Sein herrischer Hochmut kam seinem Verstand noch zur Hilfe ... Er bäumte sich dagegen auf, der hoffnungslos Werbende zu sein; er wehrte sich dagegen, immerfort diese Unruhe und diese Bitterkeit in sich zu finden, wenn er der völligsten geistigen Freiheit für seine Geschäfte bedurfte. Ja, Kopf und Herz sollten ihm wieder unabhängig werden.
Aber er mußte begreifen: weder sein Hochmut noch sein Verstand waren stark genug, irgend etwas auszurichten.
Immer war seine Unruhe mit ihm, immer dies drängende Verlangen nach Umkehr. Immer wieder ertappte er sich darauf, daß er die Tage zählte.
Das Schiff trug ihn durch den Suezkanal; bleichgelb und orangefarben, knochenblaß und graurot geströmt dehnte sich von seinen Ufern die Wüste hin. Vor dem Hintergrund ihrer ungeheuren Einsamkeit zeigte sich ab und an am Saum des Wasserlandes eine menschliche Ansiedlung. In brennender Glut, beizend grell besonnt lagen die rotweiß quergestreiften flachen Bauten der Kanalbeamten da, Palmen mit kargen, zerzausten Wedeln ragten neben ihnen und standen fahl vor dem krassen Blau des Himmels. Grauschwarze Negerkinder warfen ihre blankglänzenden Leiber ins Wasser und schwammen bettelnd neben dem Schiff.
Bording dachte: »Wie lebhaft hätte Therese dies alles angesehen ...«
Die strenge Hitze des roten Meeres schwälte salzdunstig tags um das Schiff, und in den lauen Nächten, die sich einatmeten wie beruhigende Liebkosungen, funkelten die Sterne am leuchtend blauschwarzen Himmel, als seien sie große Brillanten, und ihre Bilder hatten sich phantastisch verschoben; des jungen weißsilbernen Mondes Sichel stand nicht auf ihrer Spitze, sondern lag auf ihrem gerundeten Bogen.
Und Bording fühlte: »Dies wäre ein Nachtbild gewesen, daran Therese sich entzückt hätte ...«
Er landete und betrat zum ersten Male in seinem Leben die üppige, schwüle, blaugrüne Tropenwelt der Kolonie, mit ihren bedrohlichen Schönheiten und ihrem wucherischen Reichtum des Wachsens und Vergehens, des Werdens und Verderbens.
Er sah alles, wie Therese es gesehen hätte – –
Mit klugen Männern verbrachte er seine Tage, und von ihnen lernend, mit ihnen Ansichten erwägend, sah er die gedeihliche Tätigkeit, die aus dem Zusammenwirken ihres Wissens mit seinem Gelde und seiner praktischen Begabung erwuchs und die für die Plantagen sichere Rettung und Segen bringen mußte.
Und er wußte: Therese mit ihrer beweglichen Frische, ihrer raschen Intelligenz hätte das Zusammensein mit solchen Männern und zu so wichtiger Kulturarbeit unerhört genossen. –
Er schrieb ihr oft. An allem ließ er sie teilnehmen, in seiner klaren, kraftvollen Art schilderte er ihr, was er sah und was erzielt wurde.
Von Liebe aber und von Sehnsucht stand kein Wort in seinen Briefen. Als reifer Mensch, der er war, hatte er das schmerzliche Wissen: von Liebe und Sehnsucht zu einem Herzen sprechen, das nicht wiederliebt, heißt sich vor diesem Herzen zum Bettler herabwürdigen.
Als er sich endlich auf dem Heimwege fand, reiste er mit jener unaufhaltsamen Eile, die zähe Willensmenschen aushalten können, wenn ihr Ziel sie reizt. Er depeschierte Therese von Neapel aus, daß er dort angekommen sei. Alles übrige ließ er unausgesprochen. Sie mochte sich seine Reiseroute ausdenken wie sie wollte, über den Gotthard oder den Brenner, über Frankfurt oder Berlin. Sie würde ganz gewiß annehmen, daß er sich unterwegs da oder dort eine Nachtruhe gönne und eine nochmalige Depesche erwarten, die Tag und Stunde seiner Ankunft zu Hause anzeige. Und so müßte sie dazu kommen, sich auszudenken, daß er in fünf Tagen etwa bei ihr eintreffen könne.
Er aber reiste Tag und Nacht. Er hatte den Glauben, die feste, fanatische Gewißheit: was mir der Abschied verbarg, muß nun ein unvermutetes Wiedersehen offenbaren.
An einem Morgen in der Mitte des August kam er in Hamburg an. Anstatt den nächsten Zug zur Weiterreise zu benützen, beschloß er, die letzte Strecke mit einem Auto zu machen.
Es war noch sehr früh. Die Nachtkühle hatte sich nur da vertreiben lassen, wo die Sonne die Landschaft überhellte und trocknete. Im Schatten bewahrte die Luft noch feuchte und von Kräuterduft durchwürzte Frische. Auf goldenen Haferfeldern rauschte die Sense, vom schweren Armschwung schräg hingereihter Mäher geführt. Im dichten Schwarzgrün der Knickbüsche hingen die langfingrigen, schwül duftenden bleichen Blüten des kletternden Geißblattes. Blaßgelbe Stoppelbreiten, schon von der Roggenernte entblößt, zeigten sich von rotbraunen, ruhevoll schreitenden oder lagernden Kuhherden belebt.
Aus den sanftgewellten Linien des Landes wuchsen schlanke Spitzen empor, das Auto sauste auf die Richtung zu, die sie wiesen. Sie hoben sich und rückten immer höher, nadelscharf, grün vor dem blauen Himmel. Auf dem einen oder anderen dieser vielen Türme brannte oben ein Brillantpunkt. Da traf die Sonne die messingenen Turmkugeln.
Das waren die Türme seiner Heimat, die in lang sich hinziehender Linie wie aufgereiht, meilenweit übers Flachland hinaussahen; diese Türme, die niemand, der in ihrem Schatten geboren oder aufgewachsen war, wiedersehen konnte, ohne daß eine merkwürdige, aus Freude und Stolz, aus Wehmut und Resignation seltsam verwirrt zusammengesetzte Gemütsaufwallung ihn übernahm –
Bording erinnerte sich des Tags, da Therese und er sie vom Fenster des Wagenabteils gesehen, als sie von der Hochzeitsreise heimkehrten –
Damals war Therese noch gläubig und glücklich gewesen – sie, die Reine, die Unerfahrene, sie hatte noch nichts begriffen ...
Und damals hatte er noch gedacht, sie werde immer gläubig und glücklich bleiben ...
Woraus ihr das schmerzliche Wissen erstanden war, er wußte es nicht – vielleicht nur aus der Fülle ihrer Liebe heraus – mit jenem feinen Sinn der Frau, die eines Tags zu ahnen beginnt, daß ihr nur Achtung, Herzlichkeit, Rücksicht geschenkt wird, anstatt Leidenschaft ...
Niemals erwog er die Möglichkeit, daß zu diesem inneren Erkennen und Erraten noch ein Eindruck, eine Erfahrung, ein Wissen gekommen sein könnte ...
Er war sich ja von jenem Tage an, wo Therese seine Braut geworden war, einer völlig ehrenhaften Haltung ihr gegenüber bewußt. – –
Näher rückten die Türme. Zwischen dem Grün der Landschaft blinkten die Wasserbänder auf, und auf ihrem langgestreckten Hügelrücken buckelte sich die rote Stadt hin, aus deren Dächer- und Giebelgehocke die vielen schlanken, hohen Türme mit ihren spitzen, grünen Dächern ragten. Über Brücken raste das Auto; durchsauste die Stadt; nahm wieder eine Brücke, unter der tief im schuppigen Wasser ein Schleppdampfer breite, flachbedachte Oberländerkähne als Riesenschweif zog; rollte auf seinen Gummiwülsten fast lautlos tiefschattige Alleen entlang, huschte über Landstraßen durch tröstlich ruhevolle Buchenwälder, erschütterte den Boden eines freundlichen Dorfweges, fuhr zwischen dem öden Spalier von Chausseebäumen hin und hielt endlich unfern des hohen Drahtgitters, das die Buschumzäunung des Parks noch sichernd umklammerte.
Bording atmete auf. Angekommen! Er entstieg dem Auto, dessen Fenster grau von Staub geworden waren. Noch ein paar Worte mit dem Chauffeur, der dann langsam dem Gutshof zulenkte.
Und Bording ging schnellen Schrittes durch den Vorgarten, der dem stattlichen Herrenhaus gleichsam einen freundlichen Auftakt gab, durch Blumenfülle und Rasensamt.
Es war gegen neun Uhr. Das Haustor stand weit geöffnet, eine Frau lag auf den Knien im Flur und scheuerte die schwarzweiß gewürfelten Marmorfliesen. Schrötter setzte gerade eine blinkend geputzte Lampe auf den Kaminsims. Im Spiegel darüber sah er seinen Herrn, wie der über die Schwelle kam. Mit klirrendem Bumbs bekam die Lampe noch eben ihren festen Stand.
Ein bißchen zittrig, sehr aufgeregt und verwirrt vor der Menge dessen, was er sofort glaubte alles tun zu müssen, sagte Schrötter immer nur: »O Gott – Herr Senator – nee – wahrhaftig – und mit einmal – wir dachten – frühestens übermorgen – –«
»Wo ist meine Frau?« fragte Bording.
»Na, ja,« dachte Schrötter, »wie sollt' er auch an was anderes denken ...« Nichts sonst: keinen »Guten Tag« und »Wie geht's?« und gar nichts ... Nur nochmal und sehr ungeduldig – in dem scharfen Ton, vor dem alle flogen: »Wo ist meine Frau?«
»Im Garten, Herr Senator – jawoll – mit dem Kleinen –«
Bording machte eine Handbewegung, die genügte, um den alten Schrötter förmlich festzunageln neben dem Kamin – denn eigentlich wollte er ja vorauslaufen und es melden. Er wußte ja, wie still und ernst und traurig »sie« gewesen war. Und nun dachte er: »O, wie sie sich freut – wie sie sich woll freut ...«
Bording ging durch das Zimmer, aus welchem eine Tür auf die Terrasse führte ...
Leer lag sie, überdacht von gelb und weiß gestreifter Markise, umgeben von der dichten, niederen Blütenmauer der blaßrosa Hortensien, die in ihren Kübeln wucherten.
Sein lascher Schritt klang auf dem steinernen Estrich wieder.
Hinab in den Garten. Er lag im stillen Glanz des Sommermorgens, Sonnenschein grellte auf Wegen, Rasen und den Oberflächen der Gebüsche, und selbst in den Schatten war keine schwere Tiefe, sondern eine braungoldene Wärme.
Bording erinnerte sich, daß Therese einen Platz liebte, den eine große, dichte Busch- und Baumgruppe vom Hause schied, einen Platz, von dem aus man den weiten Blick in den Frieden der Landschaft hatte. Da standen Korbstühle um einen Tisch. Da war Schatten und Frische.
Er ging vorsichtiger. Er horchte. Aber er hörte nur den dumpfen, schnellen Schlag seines Herzens.
Nun war er am Rande des dichten Gebüsches ...
Nun noch zwei Schritt ... Und er sah sie ... Wie man in einer einzigen, jagendraschen Sekunde sehen kann – wenn das ganze Leben sich in diesen Blick zusammendrängt.
Sie stand, schlank und hell, und neigte sich ein wenig zu dem Kinde herab. Das lag im Hemdchen oben auf den Decken seines flachen Wagens – runde kleine Arme und Beine strampelten – das blonde Köpfchen ruhte auf einem Kissen.
Sein Weib, sein Kind – ein Bild holdester Anmut – nein – nicht sein Weib – nicht mehr sein Weib –
Nun hob sie das Haupt – nun sah sie ihn ...
Ihre Augen wurden groß – ein Blitz von Glück, sinnlos, überwältigt, strahlend ging in ihrem Antlitz auf – und erlosch – noch ehe er bei ihr war.
»Du!« sagte sie, »du?« Und hielt sich mit klammernd Händen an dem nächsten Stuhl fest.
Er aber riß sie an sich – er hatte ja das Aufleuchten gesehen – ganz gewiß, er hatte es gesehen. –
»Therese!«
Er küßte sie ... Ihre Stirn, ihre Augen, ihren Mund ... Sie hielt still und alles in ihr schien tot zu bleiben.
Er ließ sie wieder und wandte sich dem Kinde zu und seine Augen feuchteten sich ... wie war es gewachsen und rundlich – schon ein Menschlein, dem man Gesundheit und Lieblichkeit ansah – Und ihm so ähnlich – ganz sein Sohn – sein Kind –
War es nicht, als ob diese schon so beredte Ähnlichkeit davon heilige Kunde gäbe, wie alle Gedanken der Mutter, da sie das Kind trug, nur ihm gehört? ...
»Therese,« sagte er, schmerzlich und glückselig – zornig und bittend, leidenschaftlich und demütig zugleich, »Therese – ist das mein Willkommen, wie es mein Abschied war? Fremdheit! – Was hab' ich dir getan?«
Sie sah ihn an, fest und traurig. Eine große, würdige Ruhe war in ihr und ein Stolz, der ihr half, ihren Schmerz zu verbergen.
»Ich dachte nicht,« begann sie, »daß du mir Vorwürfe zu machen hast. Warum hast du mich geheiratet? So weit ich die Gründe begreifen kann: Du wolltest eine friedliche Häuslichkeit und du wolltest einen Sohn. Ich habe dir beides geben dürfen ...«
»Therese! Ja, das suchte ich damals ... das – nicht mehr als das, damals ... Ich weiß aber jetzt ...«
Sie unterbrach ihn. Höher noch hob sie das Haupt.
»Ich,« sprach sie, »ich hatte mich dir aus Liebe gegeben. Und wenn du ein erfolgloser Kämpfer, und wenn du arm und ein Unglücklicher gewesen wärst –ich hätte mich dir gegeben, denn ich liebte dich! Du aber, du hast geglaubt, mit deinem Gelde und vielleicht mit deiner Persönlichkeit sei meine Liebe – bezahlt ...«
»Vielleicht, Therese, hab' ich das gedacht – ich bin sehr schuldig vor dir; aber deine Liebe, dein Wesen, dein Wert ist stärker gewesen als alles ...«
Er machte eine Pause – es war nur wie ein Atemzug ... ein letztes Besinnen vor dem Großen, was er sagen wollte.
»Therese – ich liebe dich!« sprach er mit heißer Bitte.
Sie stand unbeweglich. Ihr Blick ruhte fest auf ihm.
» Vielleicht gab es noch einen anderen Grund zu heiraten – zufällig mich – weil ich dir gerade in den Weg kam – weil du meine Liebe spürtest und sie dir recht war, als Mittel zu deinem Zweck ...«
Was wollte sie sagen? Er wartete, atemlos vor Schreck.
»Vielleicht war da eine andere Frau ... Und du wolltest dich dem Unrecht und ihr und einem gefährlichen Abenteuer entziehen ...«
»Was ... was denkst – du?« fragte er völlig unbeherrscht.
Nun vermied sie seinen Blick und sah an ihm vorbei ins Unbestimmte.
Sehr langsam sprach sie, jedes Wort suchend und abwägend, um mit äußerster Vorsicht an den Dingen vorbeizusprechen und doch alles erraten zu lassen ...
»Ich denke an einen lilafarbenen Stein, daran eine Perle hing – ich fand ihn in deinem Schrank – ich denke daran, daß ich diesen selben Stein einige Wochen später am Halse einer anderen Frau funkeln sah.«
Er war sehr blaß geworden. Da war sie wieder, diese tausendmal verwünschte Vergangenheit und höhnte hinein in sein Leben und wollte ihre zerstörerische Kraft noch spät an ihm erproben. Sein Gefühl wehrte sich dagegen. Er nahm sich fest zusammen.
»Für das, was früher war, hast du selbst das Wort gefunden: Abenteuer,« sagte er sehr ernst. »Ich schwöre dir aber ...«
Sie machte eine abwehrende Bewegung – Keine Schwüre, hieß es vielleicht – was für Wert können sie haben, von dir, für mich? ...
Wieder sah sie ihn klar an.
»Du hast keine Liebe in unsere Ehe mitgebracht,« sprach sie, »hast du sie wenigstens rein und heilig gehalten?«
»Ja!«
So einfach, so feierlich und laut klang dies Ja unter den grünen Wipfeln durch die Morgenstille, wie es damals vor dem Altar gesprochen worden war.
Ein Manneswort.
Was ging in Therese vor? Sie stand mit geschlossenen Augen. Zitterte in ihrer Erinnerung dies Ja nach? Hörte sie wieder die Orgel brausen und im Kirchenschiff in Schall und Widerhall Töne zwischen den Säulenbündeln umherjubilieren?
Er wartete ...
Bis sie die Lider hob und ihn ansah.
Da erkannte er aus ihrem Blick: sie glaubte ihm.
Sie mußte ihm auch die andere, die große heiße Wahrheit glauben! Er trat näher an sie heran.
»Therese,« sagte er leise und ergriff ihre Hand, »ich liebe dich – ich liebe dich mehr als alles, was ich habe und bin – ich liebe dich, anders und heiliger, als ich je ein Weib geliebt habe – –«
Sie entzog ihm die Hand. Hastig bückte sie sich über den Wagen.
»Ich habe mein Kind,« flüsterte sie und küßte das kleine pausbackige Puttengesichtchen.
Er sah – Abwehr lag in dieser hastigen Bewegung –
Er stand erschüttert. Und dennoch erhob sich ihm aus dieser Erschütterung freudige, gläubige Zuversicht ...
Eine deutliche und starke Empfindung sagte ihm: diese Abwehr war die letzte Waffe eines Stolzes, der schon in Liebe und Verzeihung hinsank ...
Er hatte ja ihr glückseliges Aufleuchten gesehen, als er unvermutet vor sie hintrat ...
Und da lag ja ihr Kind – sein Kind. Mit seinen Augen sah es sie an, mit seinen Zügen sprach es zu ihr ... Und warb für ihn – mit jedem Lächeln – jeder Träne. – –