Ida Boy-Ed
Ein königlicher Kaufmann
Ida Boy-Ed

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VII

Am Wahltage schien keine Sonne, aber es regnete auch nicht. Ein etwas beizend heller, grauweißer Himmel stand regungslos. Gegen zwölf Uhr begannen sich in der Hauptstraße vor dem Rathause Gruppen zu bilden; auch in den gewölbten Arkaden, die sich südlich an das Rathaus schlossen, standen Menschen umher. Nördlich vom Rathause, auf dem Kirchhof, warteten die Wagen der Senatoren und der ersten Würdenträger der Bürgerschaft.

Die angenehme Abwechslung, die ein so seltenes Vorkommnis wie eine Senatorswahl im alltäglichen Gange der städtischen Ereignisse bildete, ward von einem bestimmten Kreise Alteingesessener lebhaft empfunden. Die Menschen, aus denen sich die Gruppen der neugierig Wartenden zusammensetzten, gehörten allen Kreisen an. Man sah auch Damen der besten Gesellschaft, Großkaufleute und Juristen neben Ladeninhabern, Handwerkern und halbwüchsiger Jugend. Der Janhagel fehlte ganz.

All die klatschende Weisheit, all das übelwollende Unterrichtetsein, die seit fast drei Wochen an Stammtischen breitmäulig sich ausgesprochen hatten, kamen in einigen Gruppen nochmals zu Wort. Hochfahrend war Jakob Martin Bording – Grüße übersah er und verkehrte fast mit niemand; ein Knauser war er, lehnte Jugendfreunden ab, sie in ihrem Fortkommen zu stützen, hielt seine Hand verschlossen, wo er hätte mit kräftiger Stütze einen Zusammenbruch aufhalten können; ein Spekulant war er und spekulierte nun durch diese neue große Gründung auf die Ersparnisse seiner ärmeren Mitbürger und dachte sich im gleichen Atem populär zu machen. Was nützte sein Geld der Stadt? Was hatten die Gewerbetreibenden viel von ihm? Nicht mal Luxus trieb er. Lächerlich war es, aus ihm so viel zu machen. Da waren die Sanders doch ganz andere Leute. Die lebten und ließen leben.

Aber auch all die Verehrung und die Anerkennung fand in anderen Gruppen beschwingte Reden. Wie konnte man so eng sein, so pfahlbürgerlich verbohrt, um die Bedeutung dieses einzigen Mannes für das Gemeinwesen nicht zu begreifen. Man rechne nur einmal die Steuerquote zusammen, die Bordings und all seiner Angestellten Abgaben ausmachte! Man versuche nur einmal, die Unternehmungen dieses Mannes aus dem Handelsbilde der Stadt wegzudenken! Man höre nur seine Leute: sie waren die bestdotierten, die vornehm gestelltesten von allen. Gütig und menschlich war er mit ihnen, in ihnen seine Mitarbeiter ehrend. Von der offenen Hand, die er für Bedürftige hatte, erfuhren wenige, aber all die Zahllosen, die sich unverschämt an ihn drängten und zurückgewiesen wurden, die erzählten von seinem Geiz. Er war einer von denen, die Blick über das Ganze, über Zusammenhänge haben. Seine organisatorischen Fähigkeiten, die er in seinem eigenen Aufstieg bewiesen, würden dem Staate zugute kommen, wenn er nun Senator würde. Meno Sanders in Ehren – ein tüchtiger und vorsichtiger Mann – aber er hatte sich auf seines Vaters Kontorstuhl gesetzt und war offenbar mehr eine erhaltende als eine vorwärtstreibende Kraft. Das nächste Mal Meno Sanders. Aber jetzt durchaus Jakob Martin Bording.

All diese plaudernden Menschenansammlungen störten mit einer naiven Unbefangenheit den Verkehr, als gehöre ihnen Straße und Stadt. Sie, ein Teil des Kerns der alten hanseatischen Bevölkerung, waren voll Sinn und Interesse für die ehrwürdige und wichtige Feier einer solchen Wahl. Um sie herum aber, an ihnen vorbei ging das übrige Leben der Stadt weiter, das von der neuen Bevölkerung der sich entwickelnden Großstadt gebildet wurde. Und diese neuen Stadt- und Vorstadtbewohner, so sehr sie in der Überzahl waren, hielten sich mit ihren Gedanken kaum bei diesen Zeremonien auf, an denen sie keinen Anteil hatten, mit denen sie keine Überlieferungen verbanden.

Ein nachdenklicher Beobachter aber, falls sich ein solcher auf der Straße befunden hätte, würde sich höchst merkwürdiger und tiefer Betrachtungen nicht haben entschlagen können. Er würde sich vielleicht gefragt haben: Was sind feierliche Gebräuche? Mit ihren ernsthaften und würdigen Gesten heben sie die Geschichte hoch empor, damit sie im Gedächtnis der Gegenwart nicht versinke ...

Vor dem Portal des Rathauses, unter seinem von uralten Säulen getragenen Balkon standen die Wachposten. Und auf dieses Portal richteten sich, je mehr die Zeit vorrückte, alle Blicke. Man kannte ja den Gang der Handlung: im Bürgerschaftsaal hatte sich zuerst die Bürgerschaft unter dem Vorsitz von Doktor Burmeester versammelt. Sodann erkor man dort die sogenannten Wahlbürger, Männer, die mit den ausgelosten Senatoren zusammen drei verschiedene Wahlkammern zu bilden hatten. Jede Kammer wählte geheim für sich. Kam dann aus allen drei Kammern der gleiche Mann heraus, so war die Wahl glatt vollzogen, wählte jede Kammer aber eine andere Persönlichkeit, so fing das Verfahren von vorne an, bis eine Einigung erzielt war. Im Senatsaal, unter dem Vorsitz Seiner Magnifizenz des regierenden Bürgermeisters, ward dann der Name des Erwählten festgestellt und ein Bote an ihn abgesandt, mit der Frage, ob er die Wahl annähme.

Auf diesen Boten nun warteten die Blicke. Für viele war eigentlich er, wenn auch im humoristischen Sinn, durchaus die Hauptperson bei der ganzen Sache. Vor Jahrhunderten hatte er sich zu so feierlicher Botschaft aufs Roß werfen und davon sprengen müssen. Das Pferd hatte sich in nebelhafter Ferne nicht mehr gebräuchlicher Formen verloren. – Der Mann hieß aber immer noch der »Reitendiener« und trug, wie in verschollenen Tagen, roten Frack und gelbe Stulpenstiefel. Er sprang in die für ihn vor dem Portal wartende Droschke, und aus der Richtung, in der sie fuhr, schloß die Straße sofort, wer gewählt sei.

Wenn er die Breitestraße hinauffahren würde, dann sagte dies: Sanders sei gewählt. Bog er sofort um die Ecke und in den Kirchplatz ein, so wußte man: Bording!

Ob er wohl in seiner Privatwohnung sich aufhielt? War er in seinem Kontor? Vermutlich im Kontor, denn wie man ihn zu kennen glaubte, so hielt ihn die Spannung dieser Stunden nicht im allermindesten von seiner Arbeit ab – wenn er überhaupt so etwas wie Spannung empfand. Es gab Leute, die behaupteten, es würde ihm wohl ganz egal sein. –

Diese nun täuschten sich doch. Wohl hatte Bording mit vollkommener Ruhe gearbeitet und Naumann merkte seinem Herrn nicht die geringste Nervosität an. Ja, er allein schien kalt, während sich in den Kontoren und Speichern ein unverkennbarer Mangel an Sammlung spüren ließ. Alle Leute der Firma, von den Abteilungschefs an bis zu dem letzten Arbeiter hinunter, fühlten sich an dem Ereignis des heutigen Tages beteiligt, jeder war im voraus erbittert, wenn er sich vorstellte, der Herr würde etwa nicht der Erwählte sein. Sowohl das »Kontor« als auch der »Speicher« hatten Vorbereitungen getroffen. Glückwunschdeputationen waren gebildet, die Sprecher einstudiert. Man erwog einen Fackelzug, welcher Gedanke aber, als dem Herrn gewiß nicht sympathisch, fallen gelassen wurde.

Als Bording seine Morgenpost erledigt und einige notwendige Besprechungen genau durchgeführt hatte, war es halb zwölf. Die stumme Uhr, die schweigende und wache Wächterin an der Wand sagte es ihm. Er wußte: die Wahlhandlung hatte begonnen.

Er ging nach Hause. Durch stille Nebenstraßen führte sein Weg, dennoch begegnete ihm ein Bekannter und rief im Vorbeigehen: »Gratuliere im voraus, Bording!« Das war ihm peinlich. Gab einer etwaigen Nichtwahl den Charakter einer Niederlage, während sie in der Tat ein Zufall sein konnte. Dieser taktlose Pränumerando-Glückwunsch schädigte irgendwie seine Stimmung. Plötzlich war er nervös.

Im Vorflur erschien Schrötter in seiner Wachhundpünktlichkeit in der Tür. Der Alte sagte nichts. Er sah seinen Herrn mit treuen, braunen Hundeaugen, die so dunkel im hübschen weißhaarigen Greisenkopf standen, beinahe ängstlich an. Darüber mußte nun Bording doch lächeln, denn er begriff aus dem Ausdruck des alten Gesichtes, Schrötter träfe es mehr als ihn selbst, wenn er nicht gewählt würde.

Er ging in sein Schreibzimmer. Vom Fenster aus sah er die Wagen, die auf dem Kirchhof angefahren waren und warteten, bis in ihnen sich die Senatoren und Spitzen zur Gratulation beim neuen Senator begeben würden. Diese Wagenburg störte ihn. Durchs Rauchzimmer schreitend, öffnete er die Tür, die von dort auf die Diele führte.

Das scharfe, aber nicht strahlende Licht des Tages war von kalter Gleichmäßigkeit, ohne den warmen Reiz, die belebende Gegenwirkung des Schattens. Der hohe Raum schien wohl recht hell zu sein, aber es war kein Sonnenschein mit glänzenden Lichtbändern und schwebenden Stäubchen, die jede Beleuchtung erst traulich machen.

Als Bording hin und her schritt, überkam ihn ein Gefühl grenzenloser Einsamkeit.

Er war, wie fast alle großen Arbeiter, seinen Bedürfnissen und seiner Veranlagung nach ein einsamer Mensch.

Aber er hatte in diesem Augenblick eine merkwürdige Erkenntnis. Er begriff den Unterschied zwischen den Erlebnissen, die sich aus unserem Innern heraus entwickeln, und denen, die von außen an uns herankommen. Die einen werden wir am stärksten in der Einsamkeit bemeistern, die anderen regen das Verlangen nach Aussprache an, die Sehnsucht nach einem verstehenden Freund. Vielleicht war es so. Vielleicht war die ihn selbst überraschende Sehnsucht nach irgend einer Gesellschaft in dieser entscheidenden Stunde eine neue Empfindung in ihm.

Er dachte an Therese. Er fühlte klar: ihre Nähe würde ihm angenehm gewesen sein, wenn sie diese Spannung schon zusammen zu tragen gehabt hätten.

Er kannte sie nun genau. Sie war eine von den wunderbar glücklichen Naturen, denen jede Lebenslage gemäß ist und die jeder gewachsen sind. Bei denen man immer den Eindruck hat, sie dürften nirgendswo anders stehen als da, wo sie vom Schicksal hingestellt wurden. Gar nichts Problematisches war in ihr. Kein pikanter, hin und her spielender Reiz, keine wechselnden Lichter in ihrem Wesen.

Vorbestimmt war sie zur Gefährtin eines Mannes, der weder eine dumme noch eine aufregende Frau brauchen konnte.

Er dachte auch an die andere. Sie hatte sich ruhig verhalten. Keinerlei aufsehenerregender Lärm war von ihr veranlaßt worden. Die Logik der Tatsachen gewährleistete, daß sie nun etwa nachträglich, wenn er und nicht ihr Mann gewählt werden würde, nicht noch tragische Konflikte herbeiführen konnte. Es sähe zu plump nach Rache und Enttäuschung aus. Und würde dann niemand mehr schaden als ihr selbst.

Wie fern war sie ihm doch – wie fern! Daß so rasch etwas völlig aus seinem Leben, aus seinen Empfindungen entgleiten konnte, das viele Jahre darin eine Hauptrolle gespielt! Welche Grausamkeit! Die Natur würde schon ihre tiefen Zwecke dabei haben, daß sie das Herz mit so schneller Heilkraft ausstattet ...

Oder war vielleicht sein Herz niemals beteiligt gewesen?

Nicht einmal das?

Nun – wie immer – vorbei – vorbei –

Schon diese Betrachtung noch zuviel Rückwärtssehen...

Er atmete tief auf.

Er stand still und sah den Merkur an.

Ihm kam der Gedanke, daß der Renaissancekünstler, der diese leicht hinanschwebende Gestalt geschaffen, eine Vision gehabt haben müsse, darin er den Handel künftiger Jahrhunderte vorausgeahnt habe – über Länder und Meere flogen heute mit dem elektrischen Funken die Unternehmungen – es gab keine Fernen mehr – jeder Weltteil war nebenan. Wahrlich, im brausenden Fluge schwang sich Merkur durch die Lüfte um den Erdball.

Ein brennender Stolz auf seinen Beruf schwoll in Bordings Brust. Er wußte, die Aufwärtsentwicklung der Völker war ohne den Kaufmann nicht möglich. Und er sagte es sich in diesem Augenblick: er hatte es in seinem Beruf zu fürstlicher Größe gebracht ...

Die Tür, welche die Diele vom Vorflur schied, ward aufgerissen.

»Herr Bording,« sagte Schrötter aufgeregt, »ach, Herr Bording« – beinahe hätte er gesagt »Jakob«, denn Jahrzehnte versanken und da stand der liebe, kleine blonde Junge, der so niedlich betteln konnte: »Schrötter, leih mich deinen Hammer mal eben ein klein büschen – ich schlag' mich auch gewiß nich den Daumen kaputt ...« ja, da stand er und war nun ein sehr großer Mann und sollte Senator werden... »Herr Bording, der Reitendiener ist da ...«

Bording fühlte sich von einer tiefen Erschütterung ergriffen. Ganz wehrlos war er ihr hingegeben. Er ward sehr bleich. Und so, stolz aufgerichtet, auf seinen raschen Herzschlag hörend, als könne er ihn durch dieses aufmerksame Hinhorchen meistern, so sah er dem Mann im roten Frack und gelben Stulpenstiefeln entgegen.

Der trat, seinen Dreimaster in der Hand, erhitzt vor Aufregung und Verlegenheit, auf ihn zu und meldete in einer herzergreifend lokalgefärbten Aussprache des Deutschen – was Bording zu völligster Fassung brachte: »Seine Magnifizenz der Bürgermeister und ein Hoher Senat lassen Herrn Bording mitteilen, daß Sie zum Senator der Freien und Hansestadt erwählt worden sind und fragen an, ob Sie die Wahl anzunehmen bereit wären.«

»Sagen Sie Seiner Magnifizenz und einem Hohen Senat, daß ich die Wahl annehme, voll Dank auch gegen Gott und hoffe, mich ihrer allezeit würdig zu erweisen.«

Mit tiefer Verneigung zog sich der rote Mann zurück ...

»Herr Senator!« sagte Schrötter aus tiefster Brust – denn er hatte dabei gestanden – vor Benommenheit dachte er gar nicht daran, sich zurückzuziehen – und er wollte ja auch der erste sein, der es sagte ...

Und nun fing er an zu weinen. Kindertränen, wie sie Greise weinen können, die keine Hemmungen mehr für ihre Rührung in sich aufzubringen vermögen.

Bording gab ihm die Hand. Der Alte mit seinen Tränen machte ihn weich – die ganze Jugend kam zurück – die Eltern – alles Hoffen und Streben – die Arbeitswucht von zwanzig Jahren stand auf einmal vor ihm da – er sah mit einem umfassenden Blick zurück, wie man von Höhen auf einmal alles überschaut.

Und es war seinem Gemüt doch wie eine Liebkosung, daß der Alte, der seiner Kindheit Zeuge und Schützer gewesen, der erste war, der den neuen Titel aussprach ...

Wenige Minuten später fuhren schon die Wagen vor. Sie hatten ja keinen weiten Weg zu rollen gehabt, vom Rathausportal bis hierher ging es fast nur um die Ecke. Für die Herren Senatoren, die zum Gratulieren kamen, war es ein Ein- und Aussteigen nach der Fahrt einer Minute.

Die Dielentür blieb geöffnet – weit stand das Haustor offen. Eine unruhevolle Bewegung füllte das Gäßchen, den Vorflur und die Diele.

Nach der Begrüßung des Senates, wobei kurze, ernste Ansprachen gewechselt wurden, die Mitarbeit zum Wohl der Freien und Hansestadt erbaten und treue Hingabe an die heilige, neue Pflicht versprachen – nach dieser Begrüßung kamen die Spitzen der Bürgerschaft, und Burmeester sprach seinen Vetter und Freund förmlich und feierlich als »Herr Senator« und »Sie« an. Dann strömten Männer aller Bevölkerungsklassen herbei und hunderte von Malen drückte Bording die Hände, die sich ihm glückwünschend entgegenstreckten.

Als sich der Zulauf nach zwei, drei Stunden ein wenig abzuebben begann, erschienen die Deputationen aus den Kontoren und Speichern.

Schrötter nahm die Telegramme an, die nun einzulaufen begannen und sich auf dem Schreibtisch uneröffnet häuften.

Die Unruhe war betäubend. Oben, von der Galerie erlaubten sich zuweilen die Köchin und das Folgemädchen einen Blick hinab auf ihren Herrn und das ihn umgebende Gedränge.

Um vier Uhr schloß Schrötter die Türen. Er fand: nun war es genug. Morgen vormittag setzte sich diese Gratulationscour, wenn auch in sehr abgeschwächtem Maß, noch fort, das wußte er. Nun sollte sein Herr Ruhe haben und etwas zu essen bekommen. Schrötter hatte förmliche Kinderfrausorgen um ihn.

Als Jakob Bording dann in seinem kleinen Eßzimmer saß, fühlte er keinerlei besondere Aufregung mehr, fand sich vielmehr in jenem Zustand einer gewissen Ernüchterung, der einem großen Augenblick zu folgen pflegt. Man glaubt, mit der Lebensveränderung müsse man auch ein anderer Mensch geworden sein, und spürt mit Erstaunen, daß sich in einem und um einen eigentlich nichts geändert hat. Kurz alle Gefühlsaufwallungen waren vorüber und er überdachte ganz nüchtern die Lage.

Er erinnerte sich aus der Unmenge der Gesichter, die sich um ihn bewegt hatten, eigentlich nur an ein einziges: das Meno Sanders'!

Natürlich. Der Ausdruck des unterlegenen Rivalen interessiert immer. Sanders hatte in seiner Eigenschaft als einer der stellvertretenden Wortführer der Bürgerschaft an der feierlichen Beglückwünschung des neuen Senators teilnehmen müssen. Seine Haltung war vollkommen gewesen. Aber sein Gesicht schien sehr erhitzt. Und als sein Blick dem Auge Bordings begegnete, blitzte kalter, erkünstelter Hochmut auf, der sagen wollte: ich mache mir nichts daraus! Auch natürlich – bei Sanders!

Während Bording aß, kam der alte Schrötter mit der Meldung, daß Herr und Frau Doktor Burmeester heute den Abend hier zubringen wollten. Sie fragten gar nicht erst, ob es genehm sei.

Man mußte doch beieinander sein – sich aussprechen – nach solchem Ereignis! Und Jakob konnte doch nicht zu ihnen kommen! Hausarrest hatte er nun, gefangen war er – dem alten Brauch und Gesetz nach durfte er seine Wohnung nicht verlassen, ehe er im Rathause auf die neue Würde vereidigt worden war. Er wußte das und hatte schon bei der Beglückwünschung gebeten, daß diese Zeremonie nach Möglichkeit beschleunigt werde. Er konnte nicht lange seinem Kontor fernbleiben.

Grete und Georg Burmeester waren am Abend äußerst vergnügt und wußten schon eine Menge kleiner Geschichten; die, welche Grete vortrug, klangen nach Klatsch, und ihr Mann sagte oft sehr ermahnend »Greteee!!« dazwischen. Sie hatte schon gehört, wie der sich gefreut und jener sich geärgert habe. Und Frau Thora Sanders hätte einen Wutausbruch gehabt, Fräulein Klara sollte es erzählt haben. Und Sanders selber tue, als wenn ihm eine Last erspart sei, während man doch wisse ... Georg Burmeester konnte berichten und im Tonfall äußerst getreu nachmachen, wie der »Reitendiener« Bordings Antwort dem Senat überbracht habe. Nämlich mit den Worten: »Herr Senator Bording bedankt sich vielmals und wär' so frei und nähm' die Wahl an und stellt alles Sonstige dem lieben Gott anheim.«

Und wenn Burmeester erst auf all den Humor kam, der in die republikanischen Formen hineinspielte und natürlich stets unfreiwillig war, fand er kein Ende. Bording mußte Heidsick aus dem Keller holen lassen. Dabei fiel ihm ein, was er den kecken Referendaren zugedacht hatte, die von seinen »Spendierbüxen« so anzüglich gesprochen hatten. Sie sollten einen Korb Sekt hingeschickt erhalten.

Burmeester meinte: »Das wirkt unwahrscheinlich. Den Sekt glauben sie dir gar nicht.«

»Warum?«

»Weil man meint, du verstehst keinen Spaß. Weil es notorisch ist, daß du zerstreut und unaufmerksam in gesellschaftlichen Dingen bist.«

»So, so. Grete, warum hustest du so anzüglich?«

»Gott, Jakob, ich dachte an meinen Geburtstag.«

»Den ich ja wohl immer vergesse? Na ja – zu so was muß man 'ne Frau haben, die einen erinnert oder Vollmacht hat, einen zu vertreten ...«

Da wurden alle still. Und Grete, die warmblütig, raschen Gefühlstempos und in ihren Mann noch immer sehr verliebt war, dachte: »Eigentlich heiratet man ja woll nicht nur zu solchen Zwecken.«

Die Vereidigung des neuen Senators fand schon am übernächsten Tage statt. Bording wurde dazu von dem Jüngsten seiner nunmehrigen Kollegen abgeholt. Um der feierlichen Auffahrt zuzusehen, hatten sich wieder Menschen angesammelt. Vom Balkon des Rathauses wehten die Flaggen in den Hansischen Farben rot und weiß mit dem Adler im weißen Felde. Sie flatterten scharf aus im warmen Ost und am blauen Himmel lachte die Sonne.

Am Abend dieses Tages gab Bording den Angestellten seines Hauses ein großes Fest in zwei verschiedenen Lokalen. Es war sein Vorsatz, sowohl den Schmaus der Arbeiter zu besuchen, als auch bei dem Essen und Ball des Kontors sich sehen zu lassen. Frühzeitig kleidete er sich an, denn er dachte noch einen Brief zu schreiben, den Schrötter austragen sollte, ehe auch er sich zum Fest der Speicherarbeiter begab. Als er in seinem Schubfach neben dem Lederkasten, den Krawatten füllten, die Kassette sah, in der mehrere Etuis mit Orden sich befanden, dachte er: »Was mach' ich nun mit dem Spielzeug?« Er hatte sie schon früher nur sehr selten getragen. Jetzt war es ihm ganz verboten. Der Senator einer Freien und Hansestadt trägt keine Orden – er darf keine annehmen – der schlichte, ungeschmückte Bürgerrock deutet seine Unabhängigkeit an. –

Dann saß er im Frack mit weißer Krawatte am Schreibtisch.

Was er schreiben wollte, stand schon Wort für Wort, in seinem Kopfe fest seit anderthalb Wochen. Völlig klar, ohne die mindeste Erregung, doch in einem ruhigen, guten Gefühl, das man hat, wenn man etwas sehr Vernünftiges tut, konnte er eigentlich nur abschreiben, was fertig in seinen Gedanken war.

Vielleicht schrieb er ein wenig langsamer als sonst ...

»Hochgeehrter Herr Senator!

Diese meine Zeilen bringen Ihnen eine Bitte. Es ist die, mir morgen vormittag halb ein Uhr eine Unterredung mit Ihrer Tochter gestatten zu wollen. Wenn ich Ihnen als Schwiegersohn willkommen wäre, möchte ich Fräulein Therese fragen, ob sie Neigung und Vertrauen genug für mich empfindet, meine Frau zu werden. Sie gewährten mir eine Gunst, hochverehrter Herr Senator, wenn Sie Ihre Tochter vollkommen ahnungslos ließen. Sie begreifen, daß ich mir diese ernste Frage von niemand, nicht einmal von Theresens Eltern vorweg nehmen lassen will. Ich wünschte mich nur vorher Ihres Einverständnisses und der Gelegenheit, Fräulein Therese im Hause anzutreffen, zu versichern.

Bei dieser meiner Anfrage habe ich den Artikel 6 unserer Verfassung deutlich im Gedächtnis. Seine Bestimmungen erwähnen nicht den Stiefschwiegervater, so wenig wie sie zum Beispiel den Schwager erwähnen. Ich preise daher den Umstand, daß Fräulein Therese nur Ihre angeheiratete Tochter ist; um Ihre leibliche Tochter zu werben würde mir verwehrt sein. Nun aber darf ich hoffen, daß einem ernsten, starken Wunsch Erfüllung werden kann. In besonderer Verehrung bin ich

Ihr Ihnen hochachtungsvoll ergebener Jakob Martin Bording.«

Das war der Brief, der die Entscheidung über sein eigenes und noch ein anderes Leben herbeiführen sollte. Daß die Entwicklung der Dinge ihm gestattete, ihn zu schreiben, erfüllte ihn mit Genugtuung.

In einer ganz besonders harmonischen Stimmung begab er sich zu den Festen.

Als er ziemlich spät in der Nacht von ihnen zurückkam, war diese Stimmung fast bis zu einer Erhobenheit gesteigert. Die hinter ihm liegenden Tage mit all den außergewöhnlichen Anforderungen, die den geregelten Gang unterbrochen hatten, rächten sich. Nicht, indem sie Abspannung hinterließen. Vielmehr dadurch, daß eine nachzitternde Erregung alle Empfindungen noch lebhafter und eindringlicher machte als sonst. Er hatte auf den Festen von seinen Leuten sich in begeisterten Toasten anfeiern lassen müssen und die Echtheit der Verehrung gefühlt. Das riß ihn hin, da und dort in ausführlichen Reden zu sprechen, ihnen viel von den Pflichten und Lasten der großen Arbeitgeber zu sagen, sich ihnen verständlich zu machen, warum er fern von ihnen über ihnen stehe und doch ihnen nahe mit all seinen Gesinnungen sei. Mitarbeiter seien sie alle miteinander. Aber für ihn, den Einen, die große Verantwortung; die Sorgen; die Notwendigkeit durch immer neue, der fortschreitenden Wissenschaft, dem sich rasend entwickelnden Verkehr folgende und sich anpassende Ideen die Unternehmungen auf der Höhe zu halten; für ihn die Möglichkeit der Verluste; für ihn die Pflicht, einzutreten, wo Krankheit und Tod in die Familien der Mitarbeiter ihre Schrecken hineintrügen. Und er hatte seine Rede mit dem Zitat geschlossen:

»Hört der Bursch die Vesper schlagen,
Meister muß sich immer Plagen.«

Da hatten sie ihn jubelnd umdrängt ...

Mit dem Nachhall dieses Jubels im Ohr kam er heim.

Er dachte gar nicht daran, daß vielleicht schon auf seinem Schreibtisch eine Antwort des Senators Landskron liegen könne, oder daß im Briefkasten etwas dergleichen stecke. Er ging sofort hinauf und zu Bett.

Aber als Schrötter in einer niedlichen, immerhin ziemlich deutlichen Beschwipstheit glückselig nach Hause kam – bis an die Türschwelle von einem der Vorarbeiter, der sein Neffe war, sorglich geleitet – da wurde sofort seine pedantische Ordnungsseele wach. Und die war gewohnt, vor Schlafengehen daran zu denken, daß noch mal im Briefkasten nachgesehen werde.

Richtig, da war eine ganze Menge. Stadtpostsachen. Wohl meist Glückwunschkarten. Und noch ein Brief, der keine Freimarke hatte, also von einem besonderen Boten in den Kasten gesteckt worden war. Schrötter sah, daß ein Siegel ihn schloß und dachte schon: »Aha, einer von den Briefen ...« Aber bei genauer Betrachtung in seinem Zimmer erkannte er dann: das war eine andere Handschrift und ein großes Wappensiegel.

Und dieses Schreiben mit dem Landskronschen Patrizierwappen fand Bording am anderen Morgen oben auf dem großen Berg von Zuschriften und p.f. Karten. Aber er blieb seiner Gewohnheit treu: das Nichtigste zuletzt! Mit raschen Fingern öffnete er Brief um Brief, warf Karten in eine bereitgestellte Schale und zerknüllte Umschläge in den Papierkorb. Er frühstückte dabei – fast in Seelenruhe. Das heißt, er zwang sich, eine merkwürdige Spannung, die sich beinahe zur Unruhe steigern wollte, nicht aufkommen oder doch nicht Herr über ihn werden zu lassen.

Dann erst, als dies Vorspiel seines Tagwerks beendet war, las er, was Landskron ihm schrieb. Es war dies:

»Hochverehrter Herr Senator!

Bewegten Herzens danke ich Ihnen für die Ehre, welche Sie willens sind, meinem Hause zu erweisen, indem Sie um die Hand meiner Stieftochter Therese sich zu bewerben denken. Es kann Ihnen nicht verborgen geblieben sein, daß ich Ihnen die lebhaftesten Sympathien entgegentrage, und Sie werden sich darum keinerlei Zweifel hingeben, daß Sie mir als Familienmitglied herzlich willkommen sein würden. Ich sehe voraus, daß Theresens Mutter, deren zweiter Gatte ich bin, wenn sie gleich mir erst die Freude haben wird, Sie näher kennen zu lernen, die Partnerin meiner Empfindungen für Sie werden dürfte.

Ich nehme Gelegenheit Ihnen zu erklären, wie es meine Pflicht ist, daß Therese nicht über ein Vermögen irgend welcher Art verfügt, noch nennenswerte Erbschaften zu erwarten hat. Von der Mutter meiner Frau, der jetzt fast achtzigjährigen Frau Wollwarth, dürfte meiner Frau und nach ihr Therese noch einmal ein kleines Kapital überkommen. Ich selbst bin, wie Sie wissen, kein wohlhabender Mann.

Zu dem von Ihnen angezogenen Artikel 6 unserer Verfassung kann ich allerdings nur zustimmend sagen, daß er dem Wortlaut nach uns nicht hindert, in ein so nahes verwandtschaftliches Verhältnis zu treten. Aber ich will Ihnen ehrlich sagen, daß ich meine Therese so ganz als mein eigenes Kind empfinde, daß ich das Gefühl, als ließe ich mir eine Gesetzesumgehung schuldig werden, nicht zu unterdrücken vermag. In dieser Frage wird sich aber ein Ausweg finden lassen. Ehe ich zum Senator erwählt wurde, war es mein heimlicher Wunsch, in der juristischen Karriere zu bleiben und dereinst Präsident des Gerichtes zu werden. Im Grunde genommen hat mich der starke Wunsch meiner Frau, mehr als eigene Neigung, bestimmt, die Wahl in den Senat anzunehmen. Meine Würde niederzulegen, wenn mir ein anderer, hochansehnlicher und mir tiefsympathischer Wirkungskreis eröffnet werden könnte, kostete mich kein Opfer.

Aber diese Dinge wollen und müssen wir einstweilen in der Schwebe lassen, nicht nur aus Schonung für die Empfindungen meiner Frau. Wir werden und können abwarten, wie sich der Senat, die Bürgerschaft und die Bevölkerung zu der Sache stellt, immer vorausgesetzt, daß das Bündnis, welches Sie erstreben, vollzogen werden wird. –

Ihrem Wunsche, unsere Tochter Therese in Unkenntnis über Ihre Absicht zu lassen, wird entsprochen werden. Auch treffen Sie sie um die von Ihnen benannte Stunde sicherlich im Hause an.

Ich glaube so weit in dem Herzen meiner Tochter Therese Bescheid zu wissen, daß ich auf einen glücklichen Ausgang dieser Angelegenheit zu hoffen mich nicht unberechtigt fühle.

Mit dem Ausdruck vorzüglicher Hochschätzung bin ich, sehr verehrter Herr Senator, Ihr ganz ergebener

Aug. Landskron, Dr. jur.«

Mit lächelndem Behagen las Bording diese Zeilen, die so charakteristisch waren, daß er den vorsichtigen, zögernden und vornehmen Menschen fast zu sprechen hören meinte.

Also heute ... Plötzlich errötete er in der Einsamkeit seines Zimmers. Es war doch ein überwältigendes, ein ergreifendes und auch ein wenig beklemmendes Gefühl, einem Mädchen sich so zu nähern ...

*

An diesem Vormittage präsidierte der Senator Doktor Landskron einer Kommissionssitzung. In irgend einem Verwaltungsgebiet hatten sich Mißstände und Verbesseungsbedürftigkeiten ergeben; man beriet die zu ergreifenden Maßnahmen und gesetzgeberischen Beschneidungen oder Erweiterungen bestehender Paragraphen. Was die Kommission dann in ihrer Weisheit als das richtigste herausfinden würde, ging später an die Bürgerschaft, die in parlamentarischer Verhandlung über Annahme oder Ablehnung der Kommissionsbeschlüsse sich herumzuschlagen hatte – versteht sich nur in Redeschlachten.

Außer Landskron befand sich noch einer seiner Kollegen bei der Kommission. Es war der Großkaufmann Senator Hüpeden, der mit auf der Brust verschränkten Armen dasaß, das Lordgesicht mit den englischen Bartstreifen hatte einen Ausdruck so vertieften Ernstes, daß sich, hiervon ausgehend, allen Anwesenden ein Gefühl für die ungeheure Wichtigkeit des verhandelten Gegenstandes suggerierte. In der Tat aber dachte Herr Senator Hüpeden angestrengt darüber nach, ob die Reichsbank den Diskont wirklich herabsetzen würde, was seinen geschäftlichen Plänen im Moment nicht willkommen gewesen wäre. Der gute Landskron nahm sich aber ein Beispiel an diesem Ernst, denn er war sich seiner – ach nur zu begreiflichen – Zerstreutheit wohl bewußt!

Außer den beiden Senatoren liehen den Beratungen dieser Kommission noch sechs ehrenwerte Mitglieder der Bürgerschaft ihre erprobten Kräfte. Da war der Bauunternehmer Lüttjohann, mit dem Kopf voll krauser Mauermannshaare, die trocken und negerartig werden vom Kalk. Er hatte sich aus einem fanatischen sozialdemokratischen Maurergesellen zum wohlhabenden, staatserhaltenden Mann – emporentwickelt oder herabverkümmert, von welcher Seite man dies nun ansehen wollte.

Wenn er in den Bürgerschaftsverhandlungen einmal das Wort ergriff, kurz und selten, so pflegte er, sei es infolge seiner Verlegenheit, sei es wegen angeborener Undeutlichkeit seiner Aussprache, nicht genau verstanden zu werden. Man erzählte sich, daß einmal anderen Tags der Stenograph zu ihm gekommen sei und um den Text seiner Rede gebeten habe, worauf Herrn Lüttjohanns Antwort gewesen sein sollte: »Ach, schreiben Sie man unfäständlich, ich weiß nich mehr, was ich gesagt hab'.«

Aber in den Kommissionsberatungen stand er seinen Mann, und was er vorbrachte, hatte Hand und Fuß.

Auch der Konsul Breitenfeld streckte in der länglich rund um den grünen Tisch sich hinreihenden Versammlung sein kleines Köpfchen mit den Maikäfer-Augen vor und kämpfte nervöse Kämpfe mit seiner Kneiferschnur, während er alles töricht fand, was alle sagten.

Kurz, breit, entschlossen saß der Schlossermeister Busekist da, sich seines gesunden Verstandes und der mannigfachen Resultate, die er mit diesem erzielt, wohl bewußt, ohne Furcht vor den schrecklichen Klippen, der deutschen Sprache, doch von Ehrfurcht für sein Amt erfüllt.

Konsul Gundlach gehörte zur Kommission, nahm oft das Wort und erinnerte dann alle daran, indem er sich erhob, daß er ein Sitzriese war. Er wendete das Haupt mit dem pompösen weißen Bart und dem goldgefaßten Kneifer nach rechts, nach links und setzte sich, sowie er gesprochen hatte.

Der junge Dr. jur. Stammer mit dem zerhauenen Korpsbruderantlitz, der das Küken der Bürgerschaft war, oder ihr Benjamin, wie man auch sagen konnte, spielte in der Kommission die Rolle des Volkstribun, der die Interessen, Rechte, Bedürfnisse der »breiten Schicht« vertrat. Sein Eifer in der Debatte war groß, seine Kritik scharf, seine Forderungen unerfüllbar. Er wollte dereinst mal selber Senator werden und hatte sich dazu ein Programm gemacht: einige Jahre rücksichtslose Kritik und kühner Liberalismus, dann, wenn man populär, langsames Hinüberschwenken zur Senatspartei.

Von dem sechsten Mann war nicht viel zu sagen. Der Kaufmann Schäfer, blond, wohlfrisiert, mit raschen, aufmerksamen Bewegungen, wie sie Leute haben, die hinterm Ladentisch leben, war eigentlich mit allem einverstanden, was alle sagten, und nickte zustimmend, wenn Stammer sprach, der sein Kunde war, aber er neigte auch wohlwollend das Haupt, wenn Busekist sprach, der ebenfalls sein Kunde war.

»Meine Herrens,« sagte Busekist am Schluß eines längeren und sehr verständigen Vortrags, den er gehalten hatte, »das is dja färückt – eben waren die Fäordnungens bekannt gegeben, da kommen die Leute bei und machen es allens fäkehrt! Was nutzen mich die Fäordnungens, wenn der Disziplin nich da is – meine Herrens, auf den Disziplin kömmt allens an. Das is die ganze Geschichte, damit lösen Sie die Frage.«

»Sehr richtig,« sagte Herr Senator Hüpeden, der sich inzwischen aus seinen Gedanken über den Diskont der Reichsbank losgerissen hatte und aufmerksam der Debatte folgte. Busekist war überdies sein Mann: eine treue Stütze des Senates.

»Herr Doktor Stammer hat das Wort,« bestimmte Landskron.

Stammer, mit sehr hohem Hemdkragen, untadelig aufrechter Haltung, saß vornehm da, seine wohlgepflegte Hand arbeitete spielend mit dem Bismarckbleistift, während er sprach: »Mein verehrter Herr Vorredner mit der gründlichen Beherrschung der Materie, die er immer bemeistert, ehe er sich eine Ansicht bildet und uns vorträgt, hat uns gesagt, daß der ganze Komplex von Vorgängen, deren Bedauerlichkeit wir einstimmig festgestellt haben, nur möglich gewesen sei, weil die Verstandesschulung des Publikums sich als lückenhaft erwiesen habe, während ich im Gegenteil der Ansicht bin, daß die Verordnungen von einer sehr bemerkenswerten Illogik waren und daher nichts anderes zu zeitigen vermochten als Verwirrung. Mein verehrter Herr Vorredner wollte, glaube ich, auch zum Ausdruck bringen, daß durch blinden Gehorsam der in Betracht kommenden Bevölkerungskreise die Frage am einfachsten zu lösen sei. In Parenthese erlaube ich mir zu bemerken, daß man Rätsel löst, Fragen aber beantwortet. Gesetze, die mit dem beschränkten Untertanverstand als Hauptfaktor rechnen müssen, um glatt funktionieren zu können ...«

Die sonore Rednerstimme ging immer so im forschen Tempo weiter; gewandt wurden Sätze aufgebaut, ineinander geschachtelt, entwickelt ...

Landskron mußte sich sonst schon Mühe geben, dem raschen Sprecher und seiner fabelhaften Wortflüssigkeit zu folgen.

Aber heute war es besonders schwer ... Immer schweiften seine Gedanken ab und gingen nochmals durch, was sich seit gestern abend um halb sieben Uhr begeben hatte ...

Da wollte er gerade das Haus zu einem kleinen Spaziergang verlassen. Seine Therese war zu einer Freundin zum Nachmittagstee geladen; um sieben Uhr würde sie wohl von dort zurückkehren, er dachte sie halbwegs vielleicht zu treffen.

An der Gitterpforte des Vorgartens kam ein kleiner alter Mann in einem drolligen, altfränkischen Bratenrock auf ihn zu. Der Mann sah aus wie ein Kleinbürger, den zu einem Fest will. Er fragte: Herr Senator selbst? Jawohl. Und gab einen Brief ab von Senator Bording ...

Nicht gerade ahnungsvoll, aber doch in schnell aufwallender Neugier erbrach Landskron den Brief und las ihn, im Vorgarten stehend, den Stock wagrecht unter den linken Arm gepreßt, den Hut auf dem Kopf.

Er kehrte mit roten Bäckchen sofort ins Haus zurück. Ihm war auf der Stelle klar, daß diese Sache seiner Frau nicht vorenthalten werden konnte. Besaß sie doch von Natur aus die näheren Anrechte an Therese. Aber er hatte eine große Sorge vor den Aussprüchen, Meinungen und Entscheidungen seiner Frau. Es war ihm bekannt, daß sie aus kleinlicher Empfindlichkeit auf Bording herabsah, der sie oftmals nicht gegrüßt oder nicht beflissen umhuldigt hatte. Sie nannte ihn anmaßend, geizig, kaltherzig und war voll abfälliger Kritik, daß er und nicht der bei ihr hoch in Gunst stehende Sanders Senator geworden sei.

Und dann der Artikel 6! Landskron war ja, in Theresens Interessen, entschlossen, noch nicht von fern darauf hinzudeuten, daß die Bestimmungen dieses Artikels ihn doch beengten. Er wollte vielmehr zunächst betonen: daß ein Senator der Stiefschwiegervater des anderen werde, ist nicht vorgesehen und deshalb nicht verboten.

Er sah ja ohnedies schon Szenen voraus – Theresens Liebe gegen die Abneigung der Mutter in Waffen! Ach und er liebte den Frieden so! Man konnte doch nur denken, studieren, arbeiten, wenn im Hause Frieden herrschte.

Aber in der Veranda, wo er seine Gemahlin fand, die Füße in den Zeugstiefeln auf einem Schemel, die Knie breit auseinander, mit außerordentlicher Würde in der Haltung an einer rot-weiß-grauen Decke stickend – da erlebte er eine Überraschung, von der er sich noch nicht ganz erholt hatte.

Als die Senatorin den Brief gelesen, wobei auf ihrem breiten, flachen Gesicht keine Mienenveränderung erkennbar war, dachte sie eine Weile stumm nach. Dann fragte sie kurz, fast scharf: »Geht denn das überhaupt? Ich meine von Verfassungs wegen?«

Er sagte ihr den Artikel 6 her.

Wieder schwieg sie ein paar Sekunden. Und dann sprach sie, mit einem wahrhaft monumentalen Umschwung ihrer bisherigen Urteile: »Welches Glück. Ich dachte schon, Therese bliebe sitzen. Es war die höchste Zeit. Eine glänzendere Partie kann sie ja nie machen. Von ihm ist es sehr klug. Er sucht das einzige, was ihm fehlt: Anschluß an eine erste Familie. Woraus man wieder sieht, was für ein bedeutender Mann er ist.«

»Also du bist einverstanden?« stammelte er fast. Sie fragte nicht, weder jetzt noch in den nächsten Stunden und Tagen, ob denn er einverstanden sei, und sprach sentenziös: »Eine liebevolle Mutter darf sich dem Glücke ihres Kindes nicht entgegenstellen.«

Nach einer Weile sagte er, bittend, mit einer ganz vorsichtigen Ermahnung im Hintergrund seiner Gedanken: »Wir wollen uns aber doch zusammennehmen, damit Bordings Wunsch entsprochen wird und Therese ahnungslos bleibt.«

Da erhob sie das Haupt und sprach voll abweisender Würde: »Diese Hindeutung war mindestens überflüssig!«

Er glaubte, daß Bording wahrscheinlich, von liebender Ungeduld und Spannung verzehrt, in seinem Hause sitze und die Minuten zähle, bis die Antwort käme. Diese Ansicht sprach auch seine Frau aus, und so schrieb er noch vor dem Abendbrot die Antwort, und Elise, das Folgemädchen, mußte sie hintragen.

Seine Frau gab sich auch Sorgen hin: Therese hatte einen törichten Idealismus, war leider zuweilen untöchterlich selbständig! Wenn sie nein sagte! Landskron mochte nicht bekennen, daß er glaube, ja wisse, Therese liebe Bording. Denn das hätte seine Frau verletzt und sie würde gesagt haben: »Eine Mutter ist die Nächste zum Herzen der Tochter, ich sehe Undank darin, daß Therese dir mehr als mir vertraut – dir, dem Stiefvater!«

Dann kam Therese heim und fragte gleich: »Papa, was hast du? Du hast deine roten Bäkchen – ich bin in sie verliebt, aber die zeigen mir: du hast Aufregung.«

Er konnte nicht lügen und hatte sich auf solche Frage nicht vorbereitet. Deshalb plinkte er nur Therese zu: sei still. Denn er wußte ja: wenn er sie so ansah, fragte sie nicht mehr.

Seine Frau aber nahm das Wort zu einem Verweise.

»Mein liebes Kind, man fragt Eltern nicht. Eltern teilen sich von selbst mit, wenn sie es angebracht finden.«

Worauf Therese ihren Vater mit dem »Spießgesellenblick« vergnügt ansah.

Nachher bei Tisch erkundigte seine Frau sich bei der Tochter nach den Neuigkeiten, die etwa auf dem Tee erzählt worden seien und wie man sich unterhalten habe.

»Ach, es waren überflüssige Stunden: Gespräche über Reisepläne und Kleideranschaffungen, ein bißchen Klatsch und das Gerücht, daß neulich, auf dem Fest bei Hedenbrinks, der Oberleutnant von Jagsthagen sich mit Laura Dören verlobt habe, daß ihre Eltern aber dagegen sind.«

Da hatte seine Frau gelächelt. Gewissermaßen huldvoll – wie ihr selten vorkommendes Lächeln stets wirkte.

»Und du, du denkst gar nicht an Verloben?«

»Mich hat ja noch keiner gewollt,« antwortete Therese ganz gleichgültig.

Landskron hatte, vor Angst mutig, seine Frau unterm Tisch mit dem Fuß angestoßen. Aber es half nichts. Sie fragte weiter. Es trieb sie eben unwiderstehlich.

»Wenn nun aber mal ein sehr reicher Mann käme und dich wollte?«

»Den nähm' ich nicht! Kannst dich drauf verlassen, Mama! Ich heirat' nur aus Liebe und will geliebt werden.«

Hierauf war seine Frau in sichtliche Unruhe geraten und hatte ihn bedeutungsvoll angesehen, so bedeutungsvoll, daß er noch ängstlicher wurde und rasch von dem baldigst zu erwartenden Ableben der alten Großtante, Fräulein Therese Boß, zu sprechen begann.

Später im Schlafzimmer hatte seine sonst durchaus nicht phantasievolle Frau sich in den erregtesten Vorstellungen ergangen, welch ein Wahnwitz, welche Unbegreiflichkeit, ja Albernheit es sein würde, wenn Therese etwa den Antrag nicht annähme.

Er selbst begriff ja Theresens Antwort nicht – war sie so ahnungslos?

Aber was half es. Man mußte warten, bis die Nacht und der andere Vormittag verstrichen waren – bis man erfahren würde ...

Ehe er heute morgen dann in die Kommissionssitzung gegangen war, hatte er Therese gebeten: »Sei von zwölf ab zu Haus, ich denke gleich nach zwölf zurückzukehren und stelle dich dann vielleicht zum Abschreiben an.«

Es kam ja manchmal vor, daß Therese für ihren Vater als Sekretär wirkte; einen natürlicheren Vorwand hatte er also nicht finden können.

Die Spannung war sehr schwer zu bemeistern – wenn das Lebensglück der einzigen, geliebten Tochter sich entscheiden soll ...

Das alles dachte Landskron, während die sonore Rednerstimme den Raum füllte, dessen westliche Wand ganz hell vom Sonnenschein war. Und der Sonnenschein wuchs langsam über den Estrich weiter, auf den Tisch zu und mit einem Male hatte dessen Tuch zwei Farbenhälften: die eine golden hellgrün, die andere tiefsatt dunkelgrün, in schräger Linie, haarscharf voneinander unterschieden. Und diese durchstäubte Sonnenflut, die sich als sehr längliches Dreieck über die Tischplatte legte und das volle, rötliche Gesicht Busekists sowie die schmale Gestalt und den kleinen, vorgestreckten Kopf Breitenfelds mit in ihren Glanz nahm, sagte allen, daß es ungefähr zwölf sein müsse.

Jetzt schloß Doktor Stammer, von einem zustimmenden Kopfnicker Schäfers anerkannt.

Sofort erhob sich der Konsul Gundlach.

»Ich beantrage Schluß der Debatte und Abstimmung.«

Und setzte sich wieder.

Alle waren für den Schluß.

Das Gewissen Landskrons kam in einen schrecklichen Zustand: er hatte die Verhandlungen sozusagen mechanisch geleitet, ohne ihren wechselnden Inhalt wahrhaft in sich aufzunehmen; er durfte, er konnte es nicht vor sich verantworten, daß die Angelegenheit als geklärt angesehen werde.

Er hatte sonst ein sehr ernstes psychologisches und lokalpolitisches Interesse an solchen Sitzungen. Daß Männer aus so total verschiedenen Bildungsgegenden berufen waren, sich über praktische, das Gemeinwesen angehende Fragen verantwortlich auszusprechen, erschien ihm immer als ein Hauptvorzug der republikanischen Verfassung.

Nun nahm er das Wort, legte die Notwendigkeit einer nochmaligen Sitzung dar und beraumte für diese den übernächsten Tag an ... fast mit entschuldigenden Worten.

Konsul Breitenfeld, der während der Sitzung gar nichts gesagt hatte, fand es töricht, daß man alles noch mal durchkauen müsse, und äußerte sich in jeder Weise abfällig über Landskrons lächerliche Gründlichkeit – aber natürlich gab er diese Kritik erst auf dem Heimwege gegen Schäfer ab, der weder zustimmen noch widersprechen mochte.

Schließlich war es doch ein Viertel vor eins, als Landskron sich auf den Heimweg machen konnte.

Ihm war nicht sehr männlich zumut. Sein Vaterherz war sozusagen nicht wetterfest. Was seine Therese anging, erschütterte es bis in die letzten Tiefen.

Und nun vielleicht, gerade in diesem Augenblick, entschied sie über ihr Leben ...


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