Ida Boy-Ed
Ein königlicher Kaufmann
Ida Boy-Ed

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IV

In den nächsten Stunden dieses Abends und des folgenden Vormittags handelte es sich nicht um Menschenschicksale, sondern nur um den Verbleib eines veilchenfarbenen Steines, daran eine köstliche Perle hing.

Frau Thora Sanders kam wenige Minuten vor halb sieben in ihrem Hause an. Sie hatte, eine Minute von Bordings Wohnung entfernt, schon einen Taxameter gefunden, so kam sie leidlich trocken heim. Ihre beiden Knaben, die aufgeregt nach ihr ausgesehen hatten, stürzten ihr mit einem großen Aufwand von Geräusch entgegen. Sie wies sie unfreundlich ab.

Ein Gefühl von Leere war in ihr – von Leere! Sie starrte hinein in diese schreckliche Leere ...

Und während sie in Hast in ihrem Zimmer sich das Haar zurechtschob, das Gesicht wusch und mit Puderpapier abwischte, hatte sie die Empfindung, als sei die ganze Zukunft ein Abgrund von Langeweile und Inhaltslosigkeit.

Auf den dumpfen Ton des Gong hin, der, durchs Haus schallend, die Familienmitglieder zu Tisch rief, ging sie hinab.

Herr Sanders war schon in der Garderobe neben dem Flur; sie hörte ihn dort sprechen.

Nach weiteren Minuten saß man im Speisezimmer un den runden Tisch. Der merkwürdigen Dunkelheit wegen mußte das elektrische Licht aufgedreht werden, was den beiden Knaben eine Wichtigkeit war, denn das niedergegangene Unwetter hatte ihre Phantasie schaurig erregt. Sie beobachteten während desselben, wie sich tiefe Rinnsale in den Wegeskies des Gartens gruben, und konnten von ihrem Fenster aus verfolgen, wie gelbe Fluten über ihre beiden Beete strömten, auf denen eben schon alles Gesäte aufzulaufen begonnen hatte. Fräulein Klara konnte sie kaum zu den Schulaufgaben zurückzwingen.

Voll Lebhaftigkeit erzählten sie nun davon und Fräulein Klara ermahnte in kleinen Intervallen: »Kurt, deine Milch wird kalt – Bertoldt, iß ...«

Für die Eltern und Fräulein Klara war es das späte Mittagsmahl; die Knaben bekamen andere Speisen aufgetragen.

Herr Sanders hörte mit Vergnügen den leidenschaftlichen Schilderungen der Jungens zu. Er war von der Intelligenz und dem Temperament seiner Kinder allezeit bewundernd entzückt und dachte: »Ganz die Mutter.« Obschon er hinsichtlich der Intelligenz seines Nachwuchses auch sich einige Verdienste zuschrieb.

»Thora, bist du muksch?« fragte er einmal zwischendurch.

»Nein. Warum?«

»Du machst solch Gesicht. Und ißt fast nichts.«

»Ach, ich hab' Kopfweh.«

»Wieder mal?«

»Papa, wirst du Senator?« fragte Kurt.

»Vielleicht. Wie kommst du darauf?«

»Ach, Lorenz sagte es vorhin zu Trina.«

Der aufwartende Diener wurde rot, als er so sein Gespräch mit der Köchin hier berichten hörte.

Herr Sanders lächelte. Er sah seine Frau bedeutungsvoll an. Er wußte sich ja mit ihr, wie in so vielen Dingen, eins in dieser Frage. Und sein helles Auge wurde immer sonderbar stechend, wenn er mit innerlicher Befangenheit und äußerlicher Leichtigkeit von einer Sache sprach oder sprechen hörte, die ihm sehr wichtig war.

»Als das Wasser so furchtbar brauste, war ich bange um Mama, daß es Mama wegschwemmte,« sagte Bertold.

»Papa, wann wirst du Senator?« fragte Kurt.

Wegen Fräulein Klara und des die Fleischschüssel anbietenden Lorenz sprach Herr Sanders: »Vielleicht wird es Herr Bording oder noch ein anderer, das kann man vorher nicht wissen, das ist oft Zufall.«

Und da ihm in dem Durcheinander der Knabenstimmen, die jede ihr Thema verfolgten, nichts entging, fragte er: »Was – bei dem Wetter bist du aus gewesen?«

»Ich soll doch täglich bei jedem Wetter an die Luft. Und heute, wegen meiner Kopfschmerzen, hatte ich es sehr nötig.«

Er sah sie an, nicht sonderlich gerührt durch die Kopfschmerzen, die, nach seiner Ansicht, nun mal zu Frauen gehörten. Aber ihm fiel was an ihr auf. Und da er einen scharfen Blick für das Detail hatte, fragte er plötzlich: »Ich mein', beim Frühstück heut hattest du dasselbe Kleid an.«

Sie zog sich sonst immer zu Tisch um. Er liebte ihre Eleganz und die große Sorgfalt, mit der sie ihre Erscheinung richtig zur Geltung zu bringen wußte.

»Durch das Unwetter hatte ich so viel Zeit verloren.

Es überraschte mich, als ich auf der Post war. Dort stand ich so lange unter, bis ein Wagen vorbeikam.«

Er fuhr fort, sie anzusehen. Da war irgendeine ungewohnte Kahlheit... ja, richtig...

»Heut mittag hattest du doch den Amethystanhänger um, mein' ich?«

Thora griff an ihren Hals.

»O Gott...!« sagte sie ganz verdutzt.

»Also verloren?«

»Hoffentlich nicht. Das wäre entsetzlich... Lorenz, lassen Sie mal gleich Minna in meinem Ankleidezimmer nachsehen – der Anhänger hat sich vielleicht in meinen Regenmantel irgendwie festgehakt.«

»Na, er wird sich schon finden,« tröstete Herr Sanders optimistisch.

»Papa, ich möchte aber lieber, daß du Senator wirst,« erklärte Kurt. »Ich bin mit Jakob Burmeester böse, weil er sagt, sein Onkel Bording wird es, und wir haben gewettet.«

»Was hast du denn gewettet?« fragte Sanders lachend. Er lachte, wie fette Leute tun: gutmütig und etwas glucksend.

»Für fünfzig Pfennig Pralinen.«

»Dies sollte Doktor Ziegenhaar hören und er würde sich nicht mehr beklagen, daß beim Nachwuchs kein Interesse für unsere Politik ist,« sagte er behaglich.

Thora aß mit Mühe ein paar Gabeln voll Gemüse.

Sie versuchte sich klar zu machen: »Ich hatte den Anhänger um, als ich vom Hause fortging – ganz gewiß« – denn da hatte sie mit der ausführlichsten Genauigkeit ihr Spiegelbild betrachtet, um festzustellen, ob sie ihren »schönen Tag« habe; denn sie wußte wohl: sie sah sehr verschieden aus. »Als ich mir dort – bei ihm – den Regenmantel zuknöpfte, hatte ich da den Anhänger noch um?« Und immer gewisser schien ihr: nein! Man kann sich mancher Momente, die einem während einer Erregung völlig entgehen, nachher oft ganz deutlich erinnern – sie sind damals nicht vom Auge oder Ohr so eindringlich dem Gehirn rapportiert worden, daß die Gedanken sich sofort dabei aufhielten ... aber das kommt dann zurück, wenn man danach sucht ...

Ja, plötzlich glaubte Thora genau zu wissen: der Anhänger war »dort« herabgeglitten – weil die Kette riß – weil das Schloß sich öffnete – irgendwie – ja gewiß ...

Nun, dann fand »er« schon eine Form, ihn ihr wieder zurückzustellen ...

Lorenz kam und meldete, daß Minna ungefähr das Zimmer von oberst zu unterst gekehrt habe und daß nichts zu finden gewesen sei.

Da brach Thora in Tränen aus. In nervösem Nachzittern der gehabten Erregungen vielleicht – sie wußte es selbst nicht – Es war, als hätte dieser starke Ausbruch bereit gelauert und nur eines Anlasses gewartet.

Sanders war ganz betroffen.

»Nun, nun, nun,« sagte er mitleidig und fast geschmeichelt, daß Thora um den Verlust seines Geschenkes, das der Anhänger gewesen war, so weinte. Sie weinte so selten. Und das dämmte seinen empfindlichen Ärger zurück. Aber seine ersten Worte galten doch dem Preis.

»Zweitausend Mark hab' ich dafür bezahlt. Die Birnenperle war ein gutes Exemplar. Völlig rein. Hatte schönen Atlas. Kostete allein zwölfhundert. Der Amethyst war ein rares Stück. Vollkommen veilchenfarbig, ganz rein, von besonderem Schliff. Dann noch der kleine Brillant zwischen Peile und Stein – na, es wäre doch ärgerlich...«

Fräulein Klara hörte andächtig zu.

»Wir wollen sofort annoncieren – zum Fundbureau schicken – je flinker man handelt, desto mehr Aussicht zum Wiederkriegen. Mancher Finder, der in der ersten Aufwallung selbstverständlich einen Gegenstand zurückbringt, verliebt sich in ihn, wenn er ihn länger bei sich hat, und kann sich dann nicht trennen... Alles schon dagewesen.«

Er stand auf. Er wollte telephonieren.

»Ach,« sagte Thora schwach, »laß doch bis nach dem Essen...«

»Nein, es kann noch in die morgen früh erscheinenden Zeitungen kommen, wenn ich gleich telephoniere. Sag also: welchen Weg...?«

»Die Allee bis Zum Burgtor, die Burgstraße, Breitestraße, Markt, Post, von da zurück mit dem Wagen,« zählte Thora auf und weinte wieder.

»Nun, nun,« tröstete er und tätschelte ihr, fast im Vorbeigehen, die Wange, »es wäre freilich ein ärgerliches Stück Geld weggeworfen... Zweitausend Mark.«

»Und wo es der gnädigen Frau so besonders wert ist, als Ihr Geschenk...« fügte Fräulein Klara hinzu, denn sie sagte immer nur Dinge, die sie nach allen Seiten hin als einen takt- und gemütvollen Menschen erscheinen lassen mußten.

Thora nahm sich mit Gewalt zusammen. Sie war von grenzenlosem Zorn gegen sich erfüllt, daß sie – sie! – sich von Tränen überwältigen ließ. Es war eine Art dumpfer Selbsterkenntnis in ihr, woher ihr die Fassungslosigkeit kam – aber sie wollte es sich nicht eingestehen – wollte nicht ... Sie ahnte den Unterschied zwischen ihrer Stimmung und der des Mannes, der sich von ihr getrennt hatte – Leere war in ihr Leben gekommen – Freiheit in das seine.

Und der Gedanke war wie Peitschen und schlug ihre Eitelkeit blutig.

Sie erbitterte sich daran, daß sie nicht einmal jetzt für sich sein durfte, daß ihr Mann aus dem Verlust des Anhängers so ein Wesen machte. Was lag an dem dummen toten Stein!

Aber sie fühlte wohl: sie mußte jetzt Haltung zeigen.

Und während es ihr gelang, sich zu fassen und eine Art trotzige, entschlossene Selbstbeherrschung zurückzugewinnen, telephonierte Herr Meno Sanders an die Expeditionen der verschiedenen Blätter, daß morgen und fett der Verlust angezeigt werden solle. Der Gegenstand wurde beschrieben, der Weg, auf dem er verloren gegangen sein mußte, ebenfalls. Bei der Verheißung des Finderlohns zauderte Herr Sanders ein paar Sekunden. Zehn Prozent war Gesetz, glaubte er sich zu erinnern. Wenn man fünfzehn versprach? Aber um das zu würdigen, müßte ja der Finder das Objekt taxieren können. Und kurz entschlossen verhieß er – fünfzig Mark. Das war auch schon sehr nett. –

Diese Anzeigen wurden am folgenden Morgen von der halben Stadt gelesen. Vielleicht einer der ersten, der sie las, war der alte Schrötter.

Der Tag fing verhältnismäßig früh an im Hause Bording. Weil die ihn immer umdrängenden Ansprüche von Menschen und Dingen ihm sonst nie eine regelmäßige Bewegung in frischer Luft gegönnt hätten, ritt Jakob Bording jeden Morgen von halb sieben bis halb acht ins Freie, und nur bei sehr schlechtem Wetter und bei Eis und Schnee oder zu langen Morgendunkelheiten ritt er in der Bahn. Dann nahm er sein Bad und ein Viertel nach acht frühstückte er in dem kleinen Eßzimmer, das im ersten Stock lag und wirklich nur für einen Einsiedler bestimmt schien, so eng und einfach war es.

Während des Rittes seines Herrn reinigte Schrötter das Rauch- und Schreibzimmer und trug dann, unterdes sein Herr im Bad war und sich ankleidete, die Lokalzeitungen nebst der geringen Privatpost hinauf auf den Frühstückstisch, den die weiblichen Dienstboten herrichteten.

An diesem Morgen sperrte er weit, weit die Fenster auf, um den kühlen Hauch hereinzulassen. Allen Staub und jede Unreinigkeit aus der Luft hatten die gestrigen und noch in der Nacht andauernden Regengüsse niedergeschlagen. Der Himmel war blaß und rein. Die mächtigen Kirchtürme standen in einem so leichten, feinen Licht, daß sie förmlich gesellig und vergnügt wirkten, wie sie da so nebeneinander in die Luft ragten. Die scharfen Schatten, die auf der östlichen Seite des Platzes lagen und die dorthin gewandten Mauern der Kirche wie mit dunklem Tuch überwarfen, zeigten, daß eine kräftige und unverhüllte Sonne hinter jener Seite der Stadt im Hochstieg sich befand.

Schrötter war Pedant. Teils aus angeborener Neigung zur Genauigkeit, teils aus Respekt vor allen Dingen, die seinem Herrn gehörten – das heißt, er sagte natürlich »unsere« Sachen – machte er von Staubbesen und Wischtüchern einen ebenso gründlichen wie behutsamen Gebrauch.

Und so fand er, als er mit dem Handfeger von Piassavafäden unter die baumelnden Fransen fuhr, die den dunkellila, in die Ecke gepolsterten Sofa unten herum verzierten und abschlossen – so fand er ein glitzerndes, hübsches Ding: einen lila Stein, daran eine Perle hing.

Er erschrak. Er war sehr unglücklich. Er begriff auf der Stelle: das konnte er nicht ins Feuer werfen, wie jenes Taschentuch. Das hatte wahrscheinlich Wert: Vielleicht zwanzig, dreißig Mark? Er hatte keine Taxe. Er erinnerte sich: Sonntags, wenn die Köchin ausging, trug sie solcher Art Stein in ihrer Brosche, bloß viel heller. Aber er meinte doch gleich: dies wird wohl was anderes und von anderem Wert sein.

Er fühlte, er konnte es nicht seinem Herrn in die Hand geben. Nein, er konnte – konnte nicht – ihm war, als wär' das zu genant für den Herrn und für ihn selbst. Er hätte ja den Herrn nicht gerade dabei angucken können.

»Wenn ich das Ding auf den Schreibtisch lege?« erwog er. Unmöglich! Wenn dann die Mädchen ins Zimmer kamen, wie sie manchmal taten, um sich einen Bogen Papier zu stibitzen oder die Gardinen nachzusehen und sonst dies und das! Aus seiner vieljährigen Lebenserfahrung wußte Schrötter, daß Menschen immer gerade dann und dorthin kamen, wenn und wo man sie durchaus nicht brauchen konnte.

Seine Unschlüssigkeit war nicht so einfach. O nein. Wichtig und undeutlich zugleich fühlte er, daß hier etwas von ihm gefordert ward.

Das Wort »Takt« stand natürlich nicht in seinem Sprachgebrauch, aber die Empfindung lebte, unetikettiert durch eine Benennung, gesund in seinem Gefühl.

Plötzlich ging schlaue Freudigkeit über sein Gesicht.

Er legte den Anhänger in die kleine Rubinglasschale. Auf ihr ruhte noch das Häuflein Pralinen, die nicht gegessen worden waren. Daneben fand der lila Stein und die Perle noch Platz; wie ein Schlänglein sank die dünne Platinkette in sich zusammen.

Da konnte die Besitzerin, wenn sie wiederkam, ihr Eigentum dann selbst »finden« – so lange lag es da sicher, denn die Rubinglasschale stand mit den anderen Teegerätschaften in einem alten Kunstschränkchen, an der Wand im Rauchzimmer, unter dem Heidebild. Und das Schränkchen hatte gar keinen Schlüssel, man drückte es zu, eine Feder sprang ein. Sollte die Tür sich öffnen, so mußte man den Daumen sehr stark gegen eine der kleinen fünf Halbkügelchen pressen, die in der Schnitzerei als Mittelpunkt stilisierter Blumen sich befanden.

Daß jener geheimnisvolle Gast hier niemals wieder Tee trinken würde, ahnte Schrötter ja nicht.

Er sah sich noch um. Alles in Ordnung? Und ob!

Erleichterten Herzens ging er hinaus.

Im Briefkasten an der Haustür sah er die Zeitungen und schloß sie heraus.

Höchst gemütlich nahm er sein Dienerrecht vorweg und las, bei seiner Riesentasse Kaffee, die die Köchin ihm inzwischen nebst vielen dick mit Butter bestrichenen Semmeln hingestellt hatte, erst mal seinerseits ein bißchen in der Zeitung. Das Gefühl: wie hat man es doch schön! überkam ihn jeden Morgen. Er saß am Fenster, las, trank, aß, öffnete zwischendurch, wenn's klingelte, von seinem Platz aus den mechanischen Türschluß, sprach ein wohlwollendes Wort mit dem Schlächter, der durchs Zimmer kam oder erörterte mit der Gemüsefrau die Nässe des Frühlings, voll gönnerhafter Herablassung zu ihren kleinen Sorgen.

Und heute, während er Schluck um Schluck, mit seiner Hitze kämpfend, den Kaffee trank, den er um keinen Preis hätte abkühlen lassen mögen, heute sah er auch erst mal zu, was sich denn so in der Stadt begeben habe. Beinahe zufällig ging sein Auge über die Rubrik »Verlorene Sachen«. Da stand eine Anzeige, fett und groß gedruckt...

Ein Anhänger war verloren gegangen... Lila Stein – eine Birnenperle...

In das alte Männergesicht stieg Glut bis in die Augen hinein, die sich anzufüllen schienen...

»Abzugeben bei Frau Thora Sanders. Dem Wiederbringer fünfzig Mark Belohnung.«

Schrötter trank immerzu Kaffee und aß voll Eile seine Semmel und würgte daran, und sein Hauptgedanke war ganz unlogisch und ganz verbohrt eintönig: »Hätt' ich man bloß nich in die Zeitung gelesen...«

Er faltete sie hastig zusammen und schob sie von sich, als stecke Unheil in ihr.

Lange dachte er gesammelt nach. Und der Schluß und das Resultat seiner Grübelei war: »Ich weiß von nichts.«

Daß er nun erst recht nicht seinem Herrn den Anhänger geben konnte, war gewiß. Noch weniger konnte er ihn zu Frau Thora Sanders tragen und sich fünfzig Mark geben lassen. Er war nicht gewandt und so verfiel er nicht auf den Ausweg anonymer Zusendung.

Die Knie zitterten ihm, als er die Zeitungen hinauftrug.

»Wenn ich nicht schon immer so was gedacht hab'! Aber ich weiß von nichs – nee, gar – gar nichs weiß ich ...«

Jakob Bording kam rasch aus seinem Ankleidezimmer und setzte sich mit Hast an seinen Frühstückstisch – langsame Bewegungen hatte er nur in feierlichen Momenten.

Merkwürdig frisch und mutvoll war ihm. Die herbe Morgenluft hatte wie ein Stahlbad auf ihn gewirkt. Er aß und trank mit Appetit. Zwischendurch überflog er die Depeschen in den Morgenzeitungen. Für den sonstigen Inhalt hatte er keine Zeit; er legte die bedruckten Blätter auf den Tisch, sie ihrer Widerspenstigkeit wegen zusammenfaltend, wie es gerade kam. Und da geschah es, daß sein schneller Blick auf dem einen Blatt die Worte »Thora Sanders« sah ... sie sprangen ihm förmlich entgegen aus den vielen, vielen Ziffern, Buchstaben, Über- und Unterschriften all der zahllosen Anzeigen, die Spalte neben Spalte sich lang von oben nach unten auf dem Druckpapier hinzogen ...

Er las die Anzeige. Seine Stirn zog sich zusammen – in Nachdenken – in Ärger.

Jawohl, er entsann sich genau: sie hatte den Anhänger umgehabt, als sie kam. Das Schmuckstück stand ihr so besonders gut.

Sie liebte es oft, mit sich selbst kokettierend, Paraphrasen über ihr Wesen zu sprechen, denn sie war ja unaufhörlich mit sich und ihrer Wirkung auf andere beschäftigt. Und von diesem Amethystanhänger plauderte sie einmal: er ist ein wenig symbolisch – ich bin vielleicht auch nur ein Halbedelstein, wenn auch ein rarer und von Tiefe und Schliff – und eine Träne hängt auch an meinem Leben, aber es ist eine schöne Träne ...

Dessen erinnerte er sich jetzt, und auf einmal fand er, daß diese Art Koketterie so billig, so durchsichtig gewesen war ...

Er versuchte sich vorzustellen: hatte sie den Anhänger noch um, als sie fortging? Er konnte sich kein Bild davon machen.

Eilig ging er in sein Rauchzimmer hinab und schloß sich ein. Er wollte suchen – – Er hatte keinen Verstand davon, daß seine Zimmer mit einem Reinlichkeits- und Ordnungsfanatismus ohnegleichen gut gehalten waren, daß Schrötters Auge nicht eine tote Fliege und nicht ein gummiertes Streifchen Freimarkenabfall entgangen wäre. Er fühlte nur im allgemeinen die Behaglichkeit.

Nun wollte er suchen. Wenn der Anhänger hier verloren worden war, durfte Schrötter ihn um keinen Preis finden. Aus dem Umstand, daß der alte Diener ihm einen solchen Fund bisher nicht ausgeliefert hatte, schloß er, daß nichts entdeckt worden war.

Er ging Schritt vor Schritt im Zimmer hin und her, schüttete das schwarze Fell aus, das über das Fußende der Chaiselongue geworfen war, und schlug diese und jene Teppichecke um.

Nichts.

Vielleicht unter dem Ecksofa – unter der Chaiselongue – unter dem antiken Schrank mit den Zigarren und Aschbechern – unter dem kleinen Kunstschrank, über welchem die sonnige Heidelandschaft an der Wand hing ...

Er kniete nieder. Er lag fast mit der Brust auf der Erde und schob seine Rechte, streichend, abtastend unter die Möbel.

Und dabei kam ein elendes, ein schmachvolles, ein beschämendes Gefühl über ihn, wie er dergleichen in seinem ganzen Leben noch niemals empfunden.

Diese unerhörte Lächerlichkeit – diese ironische Lage – demütigend war das – daß ihm der Mund voll Bitterkeit schien und sich verzerrte...

Niemand sah ihn. Verschlossen waren die Türen...

Aber er fühlte sich durch ein Fegfeuer von Scham und Ärgernissen gepeitscht. Und ihm war, als stehe er nackend auf dem Markt und alle Welt schrie ihn an...

Hier kroch er auf der Erde herum, bänglich suchend, damit seine Dienstboten nicht fänden, was groß und breit in der Zeitung beschrieben stand, mit dem Namen der Eigentümerin darunter...

Wie das seine ganze Persönlichkeit entwürdigte...

Wie wenig das zu seinem hochfahrenden Männerstolz paßte...

Wie die Notwendigkeit dieses lächerlichen Herumsuchens von selbst eine Kritik des Vergangenen ward...

Und abermals sprangen von der großen heißen Leidenschaft, die gewesen war, Vergoldungen ab – noch mehr schillernde Schleier sanken – was gestern in den Staub gefallen war, aber von dorther doch noch wehmütig und schön heraufzuglänzen schien, ward nun eins mit ihm – in Niedrigkeit lag alles... Jahre voll Rausch – Jahre voll Selbstbetrug – gestohlene Jahre...

Und das Nachspiel: Bitterkeiten, Lächerlichkeiten ...

Die Empörung brauste so kochend durch ihn hin, daß er aufsprang.

Sein Gesicht ward rot.

Nein. Er hatte nichts gefunden. So mochte sie das Ding doch wohl auf dem Heimweg verloren haben.

In der Stärke seines Zorns gegen sich – gegen sie ballte er die Fäuste.

Er sah hinaus. Da floß so gütiger Sonnenschein über die roten Backsteinmauern und das junge Laub der Linden war wie von grünem Glas. Die stille, weltabgeschlossene Freundlichkeit dieses Anblicks beruhigte ihn langsam.

Aus der sonnigen Höhe herab kamen allerlei Klänge, in unklarem, zögerndem Rhythmus ... Das Glockenspiel der Kirche ließ die Töne eines Melodienbruchstückes zur Halbstunde in die Luft hineinfallen – und sie tändelten durch sie hin, als gehörten sie unter sich gar nicht zusammen.

Das weckte Jakob Bording auf.

Er hob herrisch den Kopf und er dachte an seine Arbeit.

Für die Welt die Früchte meiner Arbeit – für mich selbst ihre entsühnende Kraft – fühlte er.

Und in fester Haltung verließ er sein Haus. – –

Wenn das Interesse an dem bißchen Kleinen nicht wäre! Das ruht die angestrengten Köpfe aus und die leeren füllt es, und deshalb gab es tausend Menschen, die sich beim Morgenkaffee mit dieser sie gar nichts angehenden geringen Tatsache beschäftigten, daß Frau Thora Sanders einen Amethystanhänger verloren habe, bei welcher Gelegenheit denn gleich alles besprochen und beklatscht ward, was von dem Sandersschen Ehepaar sich nur irgend an Lebenszuständen darbot. Sein Vermögen, sein Geschäft, sein stadtbekannter Wunsch, Senator zu werden, die Möglichkeit oder Aussichtslosigkeit dazu. Ihre mehr wechselnde als regelmäßige Schönheit, der Geschmack ihrer Kleidung, ihre rastlose Zerstreuungssucht.

Auch im Hause des Senators Doktor Landskron kam der Amethystanhänger als Gesprächszuspeise auf den Frühstückstisch.

Vater und Tochter unterhielten sich auf eine gewissermaßen sanfte Art, im friedlichen Gleichmaß der Sprache und des Ausdrucks über ein Buch, das sie beide kannten, dessen Lektüre Therese eben, als Nachleserin des Vaters, beendet hatte. Das kluge und angenehme Gesicht der Tochter hatte als auffallenden Reiz die sehr schönen Farben und die dunklen, blauen Augen. Wenn sie sprach, war eigentlich ihr Ausdruck mehr Sicherheit als Lebendigkeit. Sie hielten zusammen, Vater und Tochter – es war aber ein unbewußtes oder doch ein uneingestandenes und manchmal fast sorgsam verborgenes Bündnis. Sonst hätte es die energischen Gattin- und Muttergefühle der Senatorin leicht ein wenig verletzen können. Denn obgleich sie fortwährend und gegen jedermann rühmte, daß die Empfindungen ihres Gatten für die Tochter, die sie ihm in die Ehe gebracht habe, denen eines wirklichen Vaters in gar nichts nachständen, zeigte sie doch zuweilen eine Art Eifersucht auf ihren Mann. Es war, als habe sie eine dumpfe Erkenntnis davon, daß Therese geistig völlig sein Kind geworden sei und ihm näher stehe als ihr, was sie, in manchen Stimmungen, als eine Beeinträchtigung ihrer natürlichen Ansprüche an die Liebe der Tochter empfand.

Sie saß in dieser Morgenstunde ein wenig grollend, in angeborener Wuchtigkeit aller Gebärden, in ihrem Korbstuhl. Man frühstückte in der Veranda hinter dem Hause und konnte in das kleine, grünschummerige, von ein paar Obstbaumwipfeln fast überdachte Gärtchen hineinsehen.

Sie las, kauend, die Anzeigen. Aus ihrem Inhalt konnte sich kein Widerschein geistiger Angeregtheit auf ihrem von Natur zur Fläche bestimmten Gesicht zeigen. Aber wenn sie auch von Meuchelmorden, Kanzlerstürzen und Luftschiffreisen gelesen hätte – sie war nicht die Frau, sich zu erregen über Dinge, die sich ohne ihr Dazutun in der Welt begeben hatten.

Ab und an meldete sie in das Gespräch der Ihrigen hinein eine Tatsache. Daß bei Doktor Brahm Zwillinge geboren seien. Daß die Wohnung, wo Fräulein Meyer wohne, als zu vermieten annonciert stehe. Man könne schon Stachelbeeren zum Einkochen bekommen, es sei doch ungewöhnlich früh. Frau Konsul Breithaupt suche schon wieder ein Folgemädchen an Stelle einer Erkrankten. Und höflich fragten und sagten bald der Senator, bald Therese: »Knabe und Mädchen?« – »Da will Fräulein Meyer wohl umziehen.« – »Ach, wirklich?« – »Schon wieder?« – Und fuhren in ihrem Gespräch fort, denn sie waren es gewohnt, wie Fahrende Chausseegeld hinauswerfen in den Beutel des Wärters, ab und an Wortbrocken darzureichen, um ungestört weiterzukommen.

»Ach, hört mal zu!«

Rücksichtsvoll sahen Vater und Tochter die Lesende an, die ihrer nun für eine Mitteilung als Publikum bedurfte.

Und sie trug den Verlust des Anhängers vor, das Malheur von Thora Sanders schien ihr bedauerlich.

»Ach,« sagte Therese ungerührt, »sie hat so viel Schmuck. Und es sind ja reiche Leute.«

»Aber es kann ein altes Stück, ein teures Andenken sein!«

»Auch nicht,« sagte Therese. »Gerade vor ein paar Tagen erzählte Thora auf dem Tee bei Flügges, daß sie ihrem Mann habe tüchtig die Cour machen müssen, ehe er sich entschloß, ihr den Anhänger zu schenken. Sie wird ihm schon Ersatz abschmeicheln, wenn sich das Ding nicht wiederfindet«

»Therese,« sprach die Mutter in milder, doch nachdrücklicher Mahnung, »ich bemerke zuweilen eine Kälte des Tones an dir, wenn du über deine Mitmenschen sprichst. Darin liegt Kritik. Man muß sein Herz vor Kritik hüten, damit es nicht scharf werde.«

Darauf fuhr sie fort zu lesen, im Gefühl, einen sittlichen Ausspruch getan zu haben.

Die dreiundzwanzigjährige Therese ließ die Mahnung an sich vorbeigehen. Sie und ihr Vater, sie waren ja was gewöhnt an Sentenzen...

Als ihr Gespräch zu Ende und ihr Frühstück abgegessen war, überließen sie, wie alle Tage, die Frau des Hauses dem sich weit hinaus in den Morgen dehnenden Genuß ihres Anzeigenstudiums.

Therese folgte ihrem Vater in sein Studierzimmer, das voll von Büchern und gemütlich verräuchert war. Hier kam er in Frieden zu seiner Morgenzigarre, ohne Anmerkungen und Aussprüche.

Während seine Tochter ihm das brennende Zündholz hinhielt, sagte er: »Laß noch, Kind – und sieh da!«

Er nahm einen Brief aus seiner Brusttasche.

Sich seiner Veranlagung zur Unschlüssigkeit wohl bewußt, hatte er den Ausweg gefunden, seiner Frau Dinge zu verschweigen, zu denen er keine Vorträge, Randglossen und Weisheitssprüche von ihr wünschte. Auch hatte sie immer irgendeinen mit der Sache selbst gar nicht zusammenhängenden Grund, um dessentwillen sie zu dieser oder jener Entscheidung riet. Wenn ihr die Nase eines Mannes oder der Hut seiner Frau nicht gefiel, konnte sie sagen: »O Gott, laß doch den Menschen nicht das Amt kriegen.«

Aber der logische Verstand seiner Therese, ihre klare, ruhige Art fing von Jahr zu Jahr mehr an, ihm Wohltat zu werden. Daß sie nicht sein eigenes Fleisch und Blut war, kam ihm zuweilen wie eine unglaubhafte Sache vor, wie eine Geschichte, die ihn nichts anging. Seit ihrem zweiten Lebensjahr gehörte sie ihm, seine Ehe war kinderlos geblieben. Alle stille Zärtlichkeit, alle seine Güte, deren er fähig war – und sein Wesen floß eigentlich von so zarten Strömen über – hatte er von je Theresen gewidmet. Wenn Menschen, die nicht wußten, daß sie sein Stiefkind sei, ihm als leere Redensart sagten, seine Tochter sähe ihm ähnlich, hatte er eine fast kindliche Freude. Therese liebte ihn mit unbegrenzter Hingebung. Das »Stief«verhältnis war beiden total aus dem Gefühl, oft fast aus dem Gedächtnis verschwunden.

Sie war auch gewohnt, daß der Vater ihr Dinge mitteilte, die er mit seiner Frau nicht besprach. So nahm sie auch mit der in solchen Fällen sogleich in ihr aufsteigenden Neugier den Brief. Mit Erstaunen las sie dann:

»Hochverehrter Herr Senator!

Der ergebenst Unterzeichnete gibt sich die Ehre, Sie zu einer Besprechung einzuladen, betreffend eine für die merkantile und industrielle Fortentwicklung unserer Stadt vielleicht wichtige Gründung. Gefälligst Donnerstag, den 12. Mai, 2 Uhr, im Konferenzsaal meines Kontorhauses, II. Stock.

Hochachtungsvollst
Jakob Martin Bording.«

Therese wurde langsam sehr rot. Das war ihr ebenso überraschend wie unangenehm. Warum erröten, wenn man unter dem mit lila Schreibmaschinenschrift geschriebenen Brief von schwarzer Tinte die sehr großen, in schöner Ebenmäßigkeit ohne jeden Schnörkel hingesetzten Namen las? So viel einfache Kraft war in der Unterschrift – schien ihr ...

Sie dachte in einem Gemisch von Enttäuschung und starkem Interesse an ihre Begegnungen mit Bording. Sie wußte ja so viel von ihm und hatte ihn auf der Straße, bei den seltenen Malen, daß sie ihn gesehen, immer mit Neugier betrachtet. Alle Menschen sprachen von ihm, und jedes Urteil seiner Neider und Feinde schlug dem Urteil seiner Bewunderer geradezu ins Gesicht. Sie aber sah sein Wesen, wie es die Naumanns beschrieben. Bei diesen einfachen und herzensgeraden Menschen, mit denen sie Kindheitserinnerungen und eine Art patriarchalischer Gönnerschaft verband, hörte sie ihn preisen: wie unerbittlich viel Arbeitsleistungen er von sich selbst erzwang, aber auch von allen seinen Angestellten forderte; wie er beständig für ihre wirtschaftlichen Lebensbedingungen sich interessierte: Zulagen anordnete, wo reichlicher Kindersegen kam; regelmäßige Ferien in strengem Turnus für jedermann eintreten ließ; Badereisen schenkte, wenn er sah, daß Kräfte an den Ansprüchen, die das Geschäft stellen mußte, sich zerrieben hatten. Sie sah Größe und Güte, vereint mit einem volkswirtschaftlichen Überblick und Pflichtgefühl in dem allen.

Und hatte längst, in aller Harmlosigkeit, ein Mannesideal für sich aus ihm gemacht.

So freute sie sich brennend, als sie im März, auf der Silberhochzeit von Burmeesters Schwager, mit dem wiederum Landskrons vervettert waren, neben Jakob Bording sitzen durfte. Sie kümmerte sich kaum um ihren eigenen Tischherrn, saß gewissermaßen immer gewärtig einer Anrede Bordings. Und hatte ein kleines Programm sich zurechtgelegt, um gleich in ein ordentliches Gespräch, über das bißchen leere Tischunterhaltung hinaus, mit ihm zu kommen. Von Baumann, seinem Privatsekretär, wollte sie reden, und davon ausgehend ihn auf allerlei soziale und kulturelle Fragen bringen, die nach ihrer Meinung mit dem Berufsleben des modernen Großkaufmanns zusammenhingen.

Ihre Enttäuschung war dann sehr herbe. Herr Jakob Bording sprach ein paarmal ganz offensichtlich zerstreut und aus erzwungener Höflichkeit mit ihr, so daß sie vor Beklommenheit nicht recht auf seine ganz allgemeinen Bemerkungen eingehen konnte. An jenem Tage mußte er wohl ganz große, wichtige Dinge im Kopf gehabt haben, denn auch seine eigentliche Tischdame schalt nachher: »Wenn Bording keine Sammlung und Stimmung für Gesellschaft hat, soll er lieber wegbleiben, als einen langweilen und dadurch blamieren, daß die ganze Tafel sieht, man bringt ihn nicht in Schwung.«

Theresens Mädchengefühl war nicht verletzt, auch nicht, als er schon nach wenig Tagen ohne Gruß, sie nicht wiedererkennend, an ihr vorüberging.

Sie war so wenig eitel. Sie hielt sich so sehr für bloßen »Durchschnitt«, daß sie nichts an besonderer Beachtung verlangte. Auch hatte sich in ihr neben der anspruchsvollen Mutter eine besondere Art Bescheidenheit ausgebildet – als Gegensatzwirkung sozusagen. Wie es auch manchmal geschieht, daß die tobende Heftigkeit eines Familienmitgliedes in einem anderen geradezu Gelassenheit züchtet.

Anstatt also durch seine Geistesabwesenheit an jenem Fest und durch sein totales Vergessen ihrer Person gekränkt zu sein, entzündete sich vielmehr ihre Phantasie daran und umspielte mit bewundernden Gedanken die Wichtigkeit seiner Geschäfte.

Da begab es sich, daß man sich gestern auf der Straße traf und sprach. Und daß er sie so genau und unbefangen stetig ansah, daß dieser sein forschender Blick zur Unbescheidenheit wurde – zu einer herrischen Freiheit, die an Unmanier grenzte. Unwille brauste in ihr auf und sie wies seinen Blick zurück – sie hoffte wenigstens, daß sie es getan habe – und war ein bißchen stolz darauf – so, als habe sie den Mut gehabt, Göttern zu trotzen. Der Stolz war immerhin voll Unruhe ...

Und nun dies? Was bedeutete es?

Er wollte ihren Vater in eines seiner gewaltigen Unternehmen hineinziehen? Wozu ja Vater weder das Geld noch die geistigen Dispositionen hatte. Denn Therese wußte, daß ihr Vater eine feine, gelehrte Analytikernatur sei; und bei den Ratsetzungen, die alljährlich in immer wechselnder Verteilung die Senatoren verschiedenen Verwaltungs- und Regierungszweigen zuwiesen, war ihr Vater noch niemals in die Finanzkommission oder in die für Handel und Schiffahrt gekommen.

Der Senator sah mit wachsendem Erstaunen, daß seine Tochter erst stark errötete und dann in ein lang sich ausspinnendes Nachdenken verfiel. Er schonte stets die Nachdenklichkeit anderer. Er wußte, wie das ist: wenn ein Wort zu früh oder plump in solch ein Filigrangefüge von ganz dünn ineinander hängenden und sich auseinander heraus entwickelnden Gedanken fährt – den klaren Abschluß gefährdet das, lenkt auf Nebenziele hin ...

Ihm fiel auch die Begegnung von gestern morgen ein und jener unverwandte Blick des Mannes ...

Unsicher und mit der Welt und ihren tausend Zettelungen immer ein bißchen in scheuer Unordnung, wie er war, witterte er irgendwelche ihm unbekannte und unbegreifliche Dinge hinter dem allen.

Seine Frau hätte wieder gesagt: »Ganz einfach, Bording will Senator werden und zieht dich plötzlich an den Haaren heran, damit du für ihn stimmst.«

Aber das war natürlich Unsinn. Wie so viele stille und zartgeistige Menschen hatte er den Beobachterblick! Und er wußte: Jakob Bording ist eine großzügige Natur; er kann vielleicht mit der Faust dreinschlagen, aber schmeichlerisch jemand umwerben kann er gewiß nicht!

Hing das vielleicht irgendwie mit Therese zusammen?

Er bekam rote Bäckchen und strich sich über sein glattes Blondhaar.

Ja – ja – seine Therese ...

Und er fühlte aus den Untergründen seines Gemüts irgendeine unbestimmbare Rührung aufsteigen.

»Vater,« sagte Therese jetzt voll Entschlossenheit, »ich meine: geh da hin! Du hörst, um was es sich handelt und bist dadurch noch durchaus nicht verpflichtet, dich an dem Unternehmen zu beteiligen.«

Aber in ihm war doch noch eine Verlegenheit.

»Sieh mal, mein' alte Deern,« sprach er beinahe schuldbewußt, indem er genau das Deckblatt seiner Zigarre besah, »wir haben meine vierzehntausend Mark Senatorsgage, wir haben die hübsche kleine Rente aus dem Landskronschen Familientestament und die Zinsen von fünfunddreißigtausend Mark, die ich von meinen Eltern erbte. Deiner Mutter alte Mutter lebt ja noch und von der Seite hast du noch mal ein wenig zu erwarten – aber im Moment habe ich bar disponibel doch eben bloß die Fünfunddreißigtausend, die in Konsols und Staatsanleihen angelegt sind und die ich niemals bei einem industriellen Unternehmen wagen darf. Sterb' ich mal und meine Senatorsgage fällt fort, so habt ihr nur die Rente aus dem Testament, die Zinsen der Fünfunddreißigtausend und die kleine Witwenpension von Mutter. Du weißt, der Staat sorgt nicht für die Senatswitwen, es ist eine Privatwitwenkasse der Senatoren unter sich und es kommt immer auf die Zahl der gerade vorhandenen Witwen an, wie viel auf jede fällt. Wenn das von Vording geplante Unternehmen nun von allen anderen zu der Konferenz geladenen Herren durch stattliche Zeichnungen gestützt wird? Und ich soll dann sagen – auch wenn mir das Unternehmen wohl scheint – du weißt, es ist nicht mein Gebiet, diese Gründersachen ... es ist fatal, in meiner Stellung zu sagen, man hat nicht die Mittel ...«

»Gar nicht fatal ist es!« sprach Therese flink. »Wir können nicht alle Jakob Martin Bording sein. Fatal muß den Männern zumute sein, die großspurig diese wie jede Unternehmung unterstützen, um im Vaterstädtischen große Männer zu scheinen – du weißt wohl, es gibt hier solche! Ehre von den Mitbürgern haben! Immer vorneweg sein – Einfluß suchen und üben und dabei heimliche Sorge im Kopf um das eigene Soll und Haben! Aber wenn 'n Ehrenmann still und fest sagt: dies ist wohl groß und schön, allein ich muß beiseite stehen, denn ich bin kein Krösus – das finde ich nicht fatal, sondern anständig. Glaub mir, Vater: Jakob Bording versteht so was und achtet so was ...«

»Ja, kennst du ihn denn so genau?« fragte der Senator verdutzt.

»Ach – man macht so seine Schlüsse ...« murmelte Therese.

Dann umhalste sie ihren Vater, drückte ihren Kopf gegen seinen und wiegte ihn ein bißchen hin und her, als sei er ein Kind, das man begöschen müsse.

»Denk doch nicht, daß Bording nicht unsere Verhältnisse genau kennt! Hier weiß ja immer einer vom anderen bis auf 'n Pfennig genau, was er hat – wenn es nicht aus guten oder vielmehr aus schlimmen Gründen künstlich vertuscht wird. Bording kennt doch auch die Geschichte deines Geschlechts und wird wohl nicht vergessen haben, daß es ein Senatoren- und Richtergeschlecht ist seit mehreren Generationen. Na, und da sagte er sich von selbst, daß bei dir die disponiblen Tausende nicht einfach bloß so aufs Angelegtwerden warten. Und wenn er dich trotzdem einlädt, hat er einen anderen Grund, als Absichten auf dein Geld. Und um dieses anderen Grundes willen, von dem ich im voraus überzeugt bin, daß er wichtig und für dich schmeichelhaft ist, gehst du hin!« »Wir kennen seine Ansichten zwar nicht, aber wir billigen sie,« scherzte der Senator und war zu blindem Gehorsam für den Wunsch der Tochter gewonnen.

»Ja,« sagte Therese mit Nachdruck, »das tun wir, denn wir gehören nicht zu denen, die ihn ohnmächtig beneiden, sondern zu denen, die stolz darauf sind, daß wir so einen Mitbürger haben.«

Und hierauf ging sie hinaus, in beinahe großartiger Haltung, vergnügt, wie man es ist, wenn man seinen Enthusiasmus ohne Gefahr von Mißverständnissen frei heraus hat sagen dürfen. –

Es versteht sich, daß nach diesem Gespräch Senator Doktor Landskron in einer gewissen spannungsvollen Erregung – die er vor sich selbst als unlogisch immerhin feststellen mußte, sich gegen zwei Uhr nach dem Kontorhause der Firma Jakob Martin Bording begab.


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