Helene Böhlau
Halbtier!
Helene Böhlau

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4.

Sie gingen alle mit einander.– Mondschein – Centifolienduft; – der Springbrunnen spielt wie ein in sich selbst versunkener Spielmann in seiner grünen Ecke.

Vom See kam eine feuchtweiche Luft. Das Mondlicht durchfloß die zarten Gewänder der Mädchen, löste sie wie zu einem leichten, weißlichen Nebel auf. Isolde segnete ihre Mutter für diese Kleider.

Mrs. Wendland wurde von Doktor Frey geführt. Er führte sie so vorsichtig wie ein höheres Wesen, von dem er befürchtete, daß die bloße Berührung mit dem Erdboden es beschädigen könnte. An jedem Schritt, jeder Bewegung sah 91 man, daß er vor urwüchsiger, ganz naiver Wonne und Befriedigung nicht ein und aus wußte.

Marie sah im Geist daheim die Mutter sitzen, wie sie mit ihrem Bengel die Schularbeiten machte, und Marie erschrak, wenn sie daran dachte, daß auf die Mutter auch nur ein Tropfen jener Zartheit, Besorglichkeit fallen könnte, mit der der Vater Mrs. Wendland umgab.

Wie würde der Mutter bei so etwas wohl zu Mute sein?

Würde sie darüber lachen oder weinen?

Marie konnte sich das gar nicht vorstellen. Vor ihrem Vater aber fürchtete sie sich, als wäre er sein eigenes Gespenst. Sie mochte gar nicht hinsehn.

Sie schämte sich.

Wer war nun der Rechte, der zu Hause oder der hier?

Gern wäre sie der Mutter um den Hals gefallen und hätte bitterlich um das geweint, um das, was sie lang und unklar empfand.

92 Sie gingen jetzt durch hohen Buchenwald. Der Mondschein flimmerte durch die dichten Zweige. Der Weg führte sanft abwärts.

Sie waren auch alle ganz schön im Sommerzauber drin. Ein jeder spann und sann. Wenigstens gingen sie ziemlich schweigsam durch diese laue, flimmernde Nacht.

Henry Mengersens Atelier lag unten am See. Er hatte sich schon seit Jahren ein kleines Landhaus hier gemietet, das er in den Sommermonaten bewohnte. Das Atelier groß und kahl; die kleinen Abteilungen des Riesenfensters standen zum Teil offen. Das Mondlicht strömte herein. Es lag etwas Kühles, Klares in diesem Raum, als Henry Mengersen die Schraube zum elektrischen Licht aufgedreht hatte und alles bis in den letzten Winkel bestrahlt war.

Hier empfand man nichts Weiches, nichts Ungeordnetes, nichts Beengendes, eine peinliche Ordnung und Sauberkeit.

Wem die Augen über Henry Mengersens 93 Toilette noch nicht aufgegangen waren, dem gingen sie hier auf. Sie war von jener vornehmen, absoluten, eleganten Reinheit und Neuheit, die ein Deutscher schwer erreicht.

Auch Henry Mengersen war Mischling. Seine Mutter stammte aus einer schwedischen Familie.

Die Art, sich zu kleiden, hob ihn über das Gewöhnliche, erleichterte ihm vieles im Verkehr mit den Menschen, wirkte auf gewisse Naturen immer verblüffend, ließ ihn über der Situation stehen und zwar, ohne daß er sich irgendwie dabei hätte anstrengen müssen. Was ein armer tapferer Kerl mit schlecht sitzendem Rock und mit an den Knien ausgearbeiteten Beinkleidern mit Aufbietung aller Kräfte und allen Mutes nicht erreichte, das fiel ihm zu. – Er gebrauchte, um das alles zu erreichen, nur etwas mehr Zeit zu seiner Toilette. Für Frauen war er unwiderstehlich.

Diese jungen, naiven, deutschen Frauen – wie ennuyierten sie ihn seit Jahren schon!

Er verkehrte jetzt allerdings meist nur mit 94 Ausländerinnen, oder wenigstens mit deutschen Damen aus den höchsten Kreisen.

Das war zu ertragen. Eine Frau, wie Mrs. Wendland, schien ihm wirklich erträglich, und auch ein Haus, wie Mrs. Wendland es führte – die ganze Art von Mrs. Wendland stieß ihn nicht ab, trotzdem sie ihre großen Schwächen hatte.

Man konnte mit ihr reden und leben, ohne jemals von Naivitäten belästigt zu werden. –

Mrs. Wendlands Ansicht war:

»Wissen Sie, Henry, man kann thun was man wünscht bei uns. Man muß nur immer in seine Rang bleiben.«

*

Im Atelier hing keine Studie, nichts von seiner oder irgend eines andern Hand.

Große, bequeme, helle Eichenholzschränke standen längs der einen Wand, ein breiter Arbeitstisch nahe dem mächtigen Fenster.

Mengersen ging in den Nebenraum, in das 95 Bildhaueratelier, und bat seine Gäste, einen Augenblick auf ihn zu warten.

In dies zweite Atelier ließ er ungern jemanden eintreten.

Es währte nicht lange, da kam er mit einer kleinen Marmortafel wieder und stellte diese auf eine Staffelei, rückte sie behutsam, blickte prüfend zur Lichtkrone und trat dann zurück.

Ein Relief. Mrs. Wendlands Kopf, leicht gelblich getönt, ein Sphynxkopf.

»Also ein Raubtier,« sagte Mrs. Wendland eigentümlich lächelnd.

Sie hatte recht, ein Raubtierkopf, so schön er war. Die Augen hatten etwas Packendes, Zugreifendes. Um den Mund lag ein rätselhafter, urweltlicher Zug: »Das Tier.«

Hier war es geprägt, das Halbtier Weib.

»O, Henry Mengersen,« sagte Mrs. Wendland ruhig, »weil ich bin ganz offen, offen, wie Sie sonst niemanden kennen, weil ich nichts verstecke, nichts Böses und nichts Gutes, 96 machen Sie ein Rätseltier aus mich. – Sonderbar!«

Da lächelte Henry Mengersen überlegen wie ein Richter, vor dem sich einer so eben selbst überführt hat.

»O, ich verstehe,« sagte Mrs. Wendland gleichgültig, »so meine ich nicht. Meine Offenheit ist nicht die Offenheit von ein Tier. Sie irren. Halten Sie mich für naiv? Dann verzeihen Sie, ich muß lachen. Sie verstehen doch, was ein Kunstwerk ist? Raubtiere sind wir alle. Aber Sie meinen damit nicht das: Ich weiß, ich bin Herrn Mengersen ein Dorn, trotzdem er sehr liebenswürdig zu mir ist, weil ich ein wirklicher Mensch bin, lebe wie er lebt und bin so klug wie er ist. Wenn sich Herr Mengersen auch als Raubtier ausmeißelt, bin ich zufrieden.

Ich bestelle mir noch ein Raubtier, es müssen zwei sein.

Und Henry Mengersen ist kein schlechtes Raubtier.«

97 »Eine sehr selbstbewußte Dame, die gute Mrs. Wendland!«

Der moderne Schriftsteller wendete sich flüsternd an Doktor Frey.

Sie gingen mit einander im weiten Atelierraum auf und nieder.

Doktor Frey führte seine zusammengelegten Fingerspitzen zum Munde, machte eine Geste der Verzückung.

»Götterweib!« kam es inbrünstig, unhörbar von seinen Lippen.

»Nee!« dieser Meinung war der moderne Schriftsteller nicht, Hühner und Weiber nur ganz frisch. »Hautgoût! Brr! Künstliches Hautgoût, Fin de siècle - Hautgoût als Parfum für die weibliche Jugend – famos! Schreibe selbst solches Zeug. Verdammt raffiniert so was! Geist beim Weib höchst verdächtig! Hat die gute Dame Kinder gehabt? Geist beim Weib einfach pathologisch. Übermensch, was ist denn dir in die Krone gefahren? 98 Warst doch sonst nicht so? Die Millionen etwa? Nee – nee – da laß ich mir nix vormachen.«

*

Mengersen hatte eine Mappe auf den Tisch gelegt, neue Reproduktionen.

Er sprach mit dem Baron darüber, war mit irgend etwas zufrieden oder unzufrieden. Sie sprachen kühl hin und her über Geschäftliches und so weiter.

Mengersen legte einige Blätter auf den Tisch und zufällig vor Isolden hin.

Und es waren jene Blätter.

*

Mrs. Wendland und Doktor Frey standen am geöffneten Fenster. Der temperamentvolle Prophet und möglicher Weise baldige Reichstagsabgeordnete und so weiter, sprach auf die schöne Frau mächtig ein.

Mrs. Wendland schaute gelassen auf ihn hin. Sie trug, wie stets, wenn sie ihr weißes 99 Hauskleid abgelegt hatte, eine schwarze Toilette und machte einen äußerst vornehmen, in sich zusammengefaßten Eindruck.

Das Porträt, das ihr guter Freund, ohne ihr Wissen, von ihr vollendet hatte, mochte sie seltsam berührt und verletzt haben.

Sie hatte sich ihm offen gegeben. Sie hatte ihm den Genuß geboten, das Weib auf seiner höchsten Stufe, wie sie meinte, das hochentwickelte Weib, ganz kennen zu lernen.

Sie war rückhaltlos zu ihm gewesen, vollkommen wahr, im Vertrauen, wie es ein großer freier Mensch zum andern hat – und er hatte das Tier in ihr erkannt – nur das Tier – das brutale Tier.

Sie hatte im Verkehr mit ihm über das »Tier« Mengersen hinweggesehn und hatte in ihm den Gott gehätschelt, angebetet und geliebt.

Mit ihrer heitern Weisheit und Welterfahrung hatte sie ihm etwas schenken wollen – und er? –

100 »Man ist einsam, ungeheuer einsam!« sagte sie wehmütig.

Doktor Frey wußte nicht, auf was sich dieser Ausspruch beziehen mochte und blickte etwas verblüfft auf sie.

»Bitte, fahren Sie fort,« sagte Mrs. Wendland leicht lächelnd. Der berühmte Schriftsteller mochte ihr irgend etwas vorgetragen haben, was sie überhört hatte.

*

Herr Goldschmitt, der moderne Schriftsteller, machte sich an das schöne blonde Mädchen, an Isoldens Schwester heran und unterhielt sich mit ihr einigermaßen von oben herab; aber durchaus angenehm berührt. Jung, rosig, blond, sanft und diese weiche, hilflose Stimme – köstlich!

Er fühlte sich wie eingelullt von ihrer ausgeprägten, gesunden, molligen Weiblichkeit.

Sie hatte aber trotzdem etwas Träumerisches, Verschlossenes, Kühles.

101 ›Etwas hartmäulig noch‹, dachte der Schriftsteller in seiner Pferdesprache, die er mit Vorliebe bei Beurteilung von Frauen anzuwenden liebte.

Übrigens wußte er weder von Frauen, noch von Pferden etwas Nennenswertes.

*

Isolde aber stand im Bann von Henry Mengersens großer Begabung. Sie sog das, was sie sah, in ihre Seele ein. In seiner nächsten Nähe schlug ein kristallreines Herz zum Zerspringen vor Seligkeit und Anbetung.

Die junge Nonne lag wieder in Verzückung vor der schönen Erscheinung seiner Kunst.

Wie Gottes Sohn empfand sie ihn.

Und ob er schön und elegant, oder häßlich und verschabt war, was ging das sie an.

Wie einen Teppich hätte sie sich vor seine Füße breiten mögen.

Sie war in diesem Augenblick eigenartig schön. Die hingerissene junge Seele durchleuchtete sie.

102 Henry Mengersen kam zum Entschluß, sich mit dem kleinen verrückten Käfer etwas abzugeben.

Er war, wie gesagt, kein Freund der »höheren Tochter«, hie und da aber fand sich doch ein Exemplar, das man sich einmal betrachten konnte.

*

Als sie wieder nach Mrs. Wendlands Villa zurückgingen, bot er ihr den Arm.

Der Mond war untergegangen und der Weg durch den Buchenwald dunkel.

Mrs. Wendland ging mit Frau Lu.

Sie schwiegen beide das längste Stück des Weges.

Endlich sagte sie: »Lu, was ist mit dir? Du bist so still. Ich weiß nicht wie du mich heut vorkommst? Es ist mir, wie wenn man denkt, es ist warm und hat seine Wintermantel ausgezogen und es ist kalt. Sag mir, ist was mit dir?«

103 »Du weißt ja, ich kann nicht von ihm fort sein.«

Die junge Frau schien erregt und bedrückt.

»Wenn ich du wär, ich würde auch nicht einen Schritt von ihm gehn. Wenn man so etwas hat in seinem Leben wie du gefunden, muß man es halten mit den Armen, den Händen, den Zähnen. Weißt du Lu, ich möchte mit deinem Mann in ein Kloster gehn.«

»Das ist ja lieb von dir,« meinte Frau Lu lachend.

»Nein, im Ernst. Es würde eine wunderschöne Zeit, auch für ihn. Bei ihm fühlt man sich nicht degradiert, wie bei die andern Männer, kann mit ihm verkehren wie mit Gott Vater, so ganz sans gêne

»Ja, wahrhaftig,« sagte Frau Lu, »das ist ja auch so. Weißt du, es ist, als wenn ein guter, großer Geist neben mir herginge, in meinem Haus wohnte und mich liebte. Wenn du wüßtest, wie gut er ist, wie reich unser Leben ist. Wie schön es bei uns ist!«

104 »Und«, sagte Mrs. Wendland lächelnd, »wie ich mirs verderbe.«

»Ja, ja – aber wenn du an meiner Stelle wärst.«

»Ich? Nun, wenn ich mich in deinen Mann verliebte, würde er es besser haben als bei dir. Glaubst du, ich würde ihn mit meiner Angst um ihn, immer wie mit Salz die Nerven bestreuen? Wie du? Bei mir könnte er alles thun, was ihm beliebt, krank sein, gesund sein, arbeiten, auch ruhig sterben, wenn es sein soll. In nichts redete ich ihm drein.«

»Du bist kostbar,« lachte Frau Lu leicht.

»Und ich habe das Interesse für diese Alltagsmänner ganz verloren. Mögen sie nun ein Genie sein wie Henry oder nicht. In sich, in ihrem Charakter sind sie so schlecht gezogen, so nicht fertig geworden. Für uns Frauen ist es immer eine Kränkung, gleich, ob sie sind brennend zu uns oder kalt.

Wir haben immer das Brutale. Sie sind 105 alle wie die ganz reichen Leute, die den Armen zu Weihnachten bescheren. Sie selbst gehen in Kleidern von Worth, wo ist jede Naht ein Kunstwerk. Für ihre Mitmenschen aber lassen sie aus grobem häßlichen Stoff Röcke nähen von plumper Façon ohne Sinn und Verstand.

Sie geben so für das allergröbste Bedürfnis der Natur – und damit basta.

Und dieser schreckliche Jüngling, dieser Herr Goldschmitt! Statt eine Seele oder ein Herz hat er ein kleines Ferkel in sich, glaub ich.«

*

Inzwischen ging Isolde an Mengersens Arm zaghaft und in höchster Erregung. Sie wollte etwas sagen und fand kein Wort.

Er schwieg auch, um zu sehen, was die Kleine vor hätte. Ihm schwante etwas, schon bei der ersten Bekanntschaft mit ihr.

»Sie sind so glücklich,« sagte Isolde nach langem leidenschaftlichem Kampf mit sich selbst.

106 »So? Bin ich? – Und weshalb mein Fräulein?«

Das klang banal, so gar nicht als sagte es Henry Mengersen. Aber das war ja kindisch von ihr, zu erwarten, daß er wie ein Gott sprechen würde.

Natürlich, er war so durch und durch Gentleman; wenn sie daran dachte, wie er sich kleidete, wie er sich betrug, wie er verwöhnt war, konnte er ja gar nicht anders antworten.

Oder konnte er es? Sie wußte selbst nicht, was sie eigentlich verlangte. Es war doch ganz das Richtige. Man sprach so. Und was sie gesagt hatte, war dumm und lächerlich.

Sie errötete tief.

»Nun und weshalb bin ich so glücklich?« fragte er noch einmal zugänglicher. Es war doch eine gewisse Neugier in ihm wie das Hühnchen mit ihm anzubinden gedachte.

Isolde sagte irgend etwas, stockend, abgebrochen, hastig. Sie wußte kaum was. – So etwas: ›daß er könnte, was er wollte.‹

107 ›Oho‹, dachte Mengersen, ›die kapert so. Was sind diese jüngsten weiblichen Raubtiere doch schon gerieben und schlau! Einer »höheren Tochter« kommt darin nichts gleich. Was für ein Lärvchen hat das Ding und dahinter schon die volle Gier nach anständiger Versorgung. Was ist gegen so ein Hühnchen der schlaueste Börsianer! . . .

Ja wohl, mein Fräulein, sie kommen ganz an den Rechten.‹

Er lächelte.

»Also eine Kunstenthusiastin; sehen Sie mal an! Malen wohl selbst, Porzellan – ›Schmücke dein Heim!‹ Natürlich!«

»Nein, ich kann gar nichts,« sagte Isolde.

»Aber man hat Ihnen gesagt, daß es sich nett macht, wenn eine gebildete junge Dame über Kunst spricht, nicht wahr?«

»Man hat mir gar nichts gesagt.«

»Nun, die Tochter eines berühmten Schriftstellers aus einem schöngeistigen Haus ist doch 108 in dieser Beziehung mit allen Hunden gehetzt.«

»Wie denn?« fragte Isolde.

»Der Herr Papa wird Sie doch in so manches eingeführt haben?«

»Papa?« wiederholte Isolde erstaunt.

»Na, oder Mama denn.«

»Mama!« sie lachte etwas. »Ach Mama« – ein Seufzer. Allerlei Bilder gingen ihr durch den Kopf.

Henry Mengersen war ein wenig aus dem Concept gebracht. »Meine Sachen gefallen Ihnen also?«

»Unaussprechlich«, sagte das Kind Isolde mit einer Inbrunst und Wärme, als antwortete sie ihrem Richter auf eine Frage um Leben und Tod.

*

Zwei Tage später.

Der Vater hatte Marie nach Hause gebracht, kam aber selbst jeden Tag nach Starnberg hinausgefahren.

109 Der Familie Frey stand ein Todesfall bevor.

Die Mutter war zu einem schwer erkrankten Bruder nach Berlin gerufen worden, der mit der Familie seiner Schwester sein Lebtag kaum in Beziehung gestanden hatte.

Vor Jahresfrist ungefähr hatte Mama ihm eine Photographie ihrer beiden Mädels geschickt und darauf einen warmen verwandtschaftlichen Brief erhalten.

Der Onkel schrieb, daß er sich die beiden schönen Nichten nächstens einmal einladen würde.

Diese Einladung war nicht erfolgt. Und die nächste Nachricht war eine Depesche, die Mama schleunigst an das Sterbebett ihres seit Jahren ihr fremd gewordenen Bruders rief.

Doktor Frey war gehobener Stimmung. Er wußte zwar von seinem Schwager Apotheker nicht viel mehr, als daß dieser wie ein altbürgerlicher Junggeselle gelebt hatte, bescheiden, aber solid.

Angenehm war es auf jeden Fall, daß er 110 seine Schwester bedenken würde. Darauf war eigentlich mit Sicherheit zu schließen. Doktor Frey hoffte, daß es etwas ausgeben würde.

*

Henry Mengersen wandelte auf der Terrasse vor Mrs. Wendlands Speisezimmer, schaute den blauen Wölkchen seiner Cigarrette nach und ließ die Blicke über den See hinschweifen, der bleich wie eine metallene Scheibe ausgebreitet lag und den weißgrauen Himmel wiederspiegelte.

Nahe dem Hause ging Isolde. Sie hatte die Arme auf den Rücken zusammengelegt, stieß mit dem Fuß nach kleinen Steinen und glaubte sich unbeobachtet.

Henry Mengersen blieb jetzt stehen und sah auf das Mädchen.

Es freute ihn, zu sehen, wie harmlos das Ding sich bewegte.

Ihre junge Schönheit beschäftigte seine Sinne angenehm.

111 Welch verhaltene frische Kraft lag in den Gliedern. – Und welche Vornehmheit in der ganzen kleinen Bestie! –

In ihr war das Stilvolle; das würde sich später erst recht entwickeln. Wie selten traf man doch solch ein Weib! Mrs. Wendland mußte in ihrer ersten Jugend ähnlich gewesen sein.

Mrs. Wendlands Sohn war gestern spät abends angekommen, ein achtzehnjähriges Bürschchen, junger Kosmopolit.

Sie hatte ihn aus irgend einem Grunde nach Wien gesteckt und er war eben auf dem Weg, in Paris seine Studien fortzusetzen.

»Köstlich, den über Weiber reden zu hören, diesen Fratz!«

Henry Mengersen lächelte in der Erinnerung daran.

›Aber ich bitt' Sie, Henry, man kommt doch nie über diesen lendemain hinaus,‹ hatte er zu ihm gesagt.

›Immer dieselbe Situation. Ihren Kopf 112 an meinem Busen und ich grinse über sie hinweg.

Die Psyche des Weibes giebt mir nichts Neues mehr, Henry, es hat mir noch keine »nein« gesagt. Eine einzige – und ich wäre dieser Frau dankbar.‹

– Teure Mistreß, da hast du dir ja etwas Famoses »ausgebrütet«.

Henry Mengersen amüsierte sich, seine Gedanken spazieren zu lassen.

Er entsann sich eines Ausspruchs Mrs. Wendlands: »Mir geht es so wohl, Henry; wenn ich wieder zur Erde komme, werde ich wieder als unabhänglige Witwe geboren. Ich bin ein freier Mensch. Leider mein einzigen Tyrannen hab ich mir selbst ausgebrutet.«

Damit meinte sie also dieses Söhnchen. – Alle Achtung!

Und sie glaubt sich von diesem Söhnchen angebetet. ›Menschen untereinander!‹ – dachte Henry Mengersen. ›Jetzt sitzt er bei seiner Mama. 113 Was sie wohl miteinander reden? Natürlich durchschaut er sie. Sie ihn? – No! Mütter sehen nun einmal ihre Söhne immer wie in der zweiten Stunde nach der Geburt.‹

Henry Mengersen warf seine Cigarrette fort und drehte sich eine neue. Es lag eine so köstliche Stimmung in der Luft. Ein feuchtwarmer Wind wehte vom See. Man war wie eingehüllt in solche Luft. Es dachte sich so leicht und angenehm in dieser Atmosphäre, so kühl objektiv.

Isolde war inzwischen langsam dem Walde zugegangen.

»Weißt du, mein Schatz, weshalb nicht? Wenn ich ein weniger vorsichtiger Mann wäre – aber deine Basen, Väter, Onkels und Mütter – nee – weißt du!« und Arthur Wendland trat auf die Terrasse. Ein fabelhaftes Männchen. Gegen ihn schien Mengersen fast philiströs in seiner ganzen Erscheinung. Da war Rasse bis in das Taschentuch, übertriebene Rasse.

114 ›Mein Mann und ich waren eine gute Mischung,‹ hatte Mistreß Wendland gesagt.

»Was Mama für eine sonderbare Frau ist!« Arthur warf sich in einen der indischen Lehnsessel. »Ich soll offen zu ihr sein, sie will ein wenig ›Mama‹ spielen. Wozu man nicht alles herhalten muß! Ich bin Mama übrigens dankbar; in allem, was sie thut, ist sie chick. Ich hatte mir das früher als höchst ennuyant vorgestellt, Mamas Eingriffe in das Leben eines jungen Mannes. Mama ist Gottlob aber eine Dame von Welt, man kann mit ihr reden!«

»Ja, Sie werden von Ihrer Mutter nicht geniert, junger Mann,« sagte Mengersen.

»Wir sahen die kleine Person, die Isolde da unten gehen, Mama und ich. Mama sagt: Sie ist first class. Ich sagte: für ein ›Nein‹ ruiniert man sich mit hundert ›Ja‹.«

Nach diesem Ausspruch dehnte sich der kleine Arthur Wendland in seinem Stuhl. »Man sollte etwas Boot fahren,« sagte er, erhob sich und 115 schickte sich an zu gehen. »Würden Sie geneigt dazu sein, Henry?«

»Augenblicklich nicht, ich fühle mich hier sehr angenehm.«

*

Etwas später hatte Henry Mengersen ein Gespräch mit Mrs. Wendland.

»Nun, Henry, wie gefällt Ihnen mein einziger Sohn? – eine nette Karikatur? Vor der Hand Snob. Aber er wird mir einmal danken, daß ich ihn habe par force über die schlimmsten Jahre gebracht. Sie sind ein sehr kluger Mann, aber die Klugheit von einer Frau, wissen Sie, das ist etwas ganz anderes. Ich habe ihn jetzt hier, weil er sich soll in Isold verlieben. Sie ist ein sehr herbes Mädchen und es ist jetzt Zeit, daß er eine unglückliche Liebe bekommt. Heiraten, mon Dieu, so einen Unsinn wird er in Ewigkeit nicht denken – und Isold wird ebenso wenig einen andern Unsinn denken.

116 Sie verstehen?«

»A la bonheur« sagte Henry Mengersen. »O, liebe Mistreß Wendland.«

›Sonderbar, Frauen kennen einander nie‹, denkt er, ›haben nicht das geringste Urteil, wenn es sich um eine ihres Geschlechts handelt‹.

»Also Fräulein Isolde ist so außerordentlich herb?« fragt er belustigt.

»Und rein, wie eine junge Quelle,« sagt Mrs. Wendland.

»Wir können über das alles reden; Sie werden sich in Isolde nicht verlieben. Sie ist arm, Sie wissen und aus einem anständigen Haus. Sie werden Sie so wenig heiraten, wie ich den Baron.

Was soll ich mit dem fremden Mann in mein Haus?

Und so ist mit Isolde, was sollen Sie mit das kleine Mädchen? Sie wär auf alle Fälle schade vor Sie.

Was werden Sie einmal Ihrer Frau geben?

117 Vom ganzen Souper haben Sie nur noch den Dessert.

Bei Ihnen möchte ich nicht oft soupieren, Henry.

Und ob der Dessert gut geraten ist?

Doch bei einem Halb-Deutschen – sehr fraglich.

Ich hab etwas von Ihr Dessert gekostet – damals war es ganz gut – aber kein Meisterwerk; aber auch von Ihr Dessert haben seitdem viele gegessen.«

So sprach Mrs. Wendland zu Henry Mengersen, der einmal wie berauscht von ihr gewesen war, in einer Zeit, in der sie sich beide geliebt hatten.

Ja, sie war souverain.

Und das mochte es sein, was ihn noch immer an sie kettete?

Sie war so überraschend.

Ein für ihn bequemerer Übergang von Liebe zu Freundschaft ließ sich nicht denken.

Sie hatte ihn geleitet, wie mit Feenhänden.

118 Ja, er mußte es sich selbst sagen: dieser Übergang gehörte zu seinen angenehmsten Erfahrungen. Er wünschte allen Frauen, daß sie dies so vorzüglich verstehen möchten. Und heute sagte er irgend etwas Derartiges zu Mrs. Wendland und führte ihre gepflegte zarte Hand an seine Lippen.

Sie lächelte gedankenvoll.

»Ja, es war Ihnen sehr bequem, Henry, und deshalb lassen Sie es gelten.

Aber daß ich eine große Künstlerin bin, verstehen Sie nicht. Dazu sind Sie zu philiströs. An eurer Kunst hängt ein großes Stück Philistertum. Es muß alles gezahlt werden mit Gold und Diplomen und so weiter. – – Doch, lassen wir das!«

»Ewig schade, daß Sie ein Weib geworden sind, Mary!«

Henry Mengersen schnippte die Asche von seiner Cigarrette mit dem kleinen Finger über die Balustrade.

119 »Du weißt wohl nicht, mein Freund, wie grob du bist?« entgegnete sie liebenswürdig. »Jeder Geist an einem Weib ist Verschwendung! Es ist was ich sage: Ihr habt die deutschen Frauen zu Kühen gemacht. Eine Kuh bekommt ihr Junges ohne Geist und ist dazu ein sehr nützliches Tier.

Weshalb soll eine Frau dazu Geist haben, was ohne Geist zu thun ist!«

»Ach! Ach! Ach! Ach!« rief Henry Mengersen und hielt scherzhaft beide Hände auf die Ohren, die eine nur andeutungsweise, denn seine Cigarrette brannte noch.

»Verehrteste, teuerste, liebste Mary, verschonen Sie einen Armen, der das Unglück hat, ›Mann‹ zu sein und etwas zu leisten!«

»Lassen Sie Ihre Ironie, Henry, – gehen Sie ein wenig spazieren. Zu Abend speisen wir auf der Veranda unten. Sie kommen doch?«

Henry Mengersen küßte ihr die Hand.

*

120 ›Ennuyant‹, dachte er. ›Wenn sie das doch lassen wollte!‹

Dann schlenderte er dem Walde zu, denselben Weg, den Isolde gegangen war. Über ihm rauschten die Buchenkronen im ersten Abendlüftchen. Was war das? Er blieb stehen.

Eine junge Stimme schmetterte ungeschult und laut aus dem Walde heraus – so frisch – so falsch die Töne, so aus der ersten Jugendkraft heraus.

Henry Mengersen lächelte.

»Das junge Tier, das durch den Wald läuft in Liebessehnsucht. O, gute Mistreß, hören Sie nur diese Stimme, meine sinnlich übersinnliche Mistreß! Lehren Sie mich doch diese Stimme verstehn.«

Henry Mengersen stand noch immer und horchte. Es war, als hielten die ungezügelten Laute ihn im Bann.

Isoldes Gestalt stand ihm vor Augen.

›So etwas will eben leben‹, dachte er, ›keine Ahnung von Wohllaut!

121 Daß ein Weib je solch lebendige Frische in sich haben kann! Wie ein Bergstrom lärmt sie!‹

Er horchte – horchte. – »Nein unerhört! Eine nackte Stimme!«

Es war ihm, als sähe er auch das Mädchen wie eine griechische Nixe nackt im Walde laufen und schreiend singen, Liebesklage und Wonne, ein wildes, ursprüngliches Durcheinander.

Da hatte er die geheimste Weiboffenbarung!

In seinen kühlen, beobachtenden Augen glimmte es.

Er war unbedingt erregt; als Mann und als Künstler erregt. Er empfand das wilde, verlangende Geschöpf so deutlich, diese jauchzende Naturkraft.

In ihm war ein neues Werk entstanden. Nach einer matten, schaffensunlustigen Zeit, die erste lebendige Stunde.

Vorsichtig wie ein Jäger, schlich er näher. Er wollte, mußte sie sehen, wie sie saß, stand oder 122 was sie that während dieses tollen, lärmenden Gesanges.

– Und da sah er sie vor sich in ihrem grauen Lodenkleid; die Arme über dem Kopf gefaltet, stand sie an einen Buchenstamm gelehnt und wie hypnotisiert von ihren eigenen Tönen.

In nächster Nähe gellten sie ihm schrill in die Ohren.

Ja, das war etwas Urweltliches; und so etwas lief in modernen Kleidern umher, ließ sich höhere Tochter nennen, benahm sich ganz ehrbar, wie andere auch. – Wie sie dastand! – Die verkörperte Liebes- und Lebenssehnsucht. So, in dieser Gefühlssituation hatte er das Weib noch nie gesehn. Das war ihm neu.

*

Er war selbst überrascht, als er ihren Namen rief, wie ihm der Name »Isolde« laut über die Lippen kam.

Da zerriß der Gesang wie mit einem Sprung.

123 Als hätte eine Kugel sie getroffen, zuckte sie zusammen.

Er sah in ein ganz erbleichtes, starres Angesicht. Kein Wort kam von ihren Lippen, kein Lächeln. – Sie schaute fassungslos.

Und er?

Als wäre er mit einem leichtsinnigen Sprung mitten in einen Wasserstrudel hineingesprungen.

»Isolde!« Was war ihm eingefallen! Dieser verhexte Name! Einen andern hätte er nie gerufen. Aber: »Isolde! – Isolde!«

Wie einen Liebeswonneschrei, solch einen Namen zu tragen!

»Isolde!« sagte er noch einmal; aber tonlos.

Da kam Bewegung in sie.

Aus ihren Augen leuchtete ein ganz seliger Glanz – etwas so traumhaft Seliges. Wie von etwas ganz Unfaßbarem aus dem Schlaf geweckt, stand sie vor ihm; hilflos, rührend, wie vernichtet – und wieder wie eben erst zum Leben erwacht.

124 Nie hatte er solch eine träumerische Verwirrung auf einem Gesicht gesehen.

Ja, und er, der so vielfach Gelangweilte, Abgekühlte war selbst erregt und verwirrt.

Was hatte er da angerichtet!

Da stand sie und bot ihm ihre Liebe auf eine so süße, kinderhafte Art, so unverhüllt, so durchsichtig, so widerstandslos. . . .

Ja, da war etwas was ihn ergriff.

Er mußte den Arm um ihre Schulter legen, mußte sie an sich ziehen. »Das ist doch nicht möglich?« sagte sie bebend.

Und ein Thränenstrom brach aus ihren Augen, so heftig, – so glückselig wild.

Im Nu war der Regenschauer über ihr Gesicht hingegangen und sie sah ihn mit leuchtenden Augen fragend an.

Der große, forschende Blick irritierte ihn wie ein Sonnenstrahl. Ihr Kopf ruhte jetzt an seiner Brust. Da mußte er an Arthur Wendland denken:

125 ›Ihren Kopf an meiner Brust und ich grinse über sie hinweg.‹

Ihm war zu Mute wie einem reichen, satten Menschen, dem ein anderer mit fanatischer Wonne sein einziges Besitztum, nach dem er gar kein besonderes Verlangen trägt, zu Füßen legt.

Er fühlte sich unendlich belastet. Dieses zitternde vor Seligkeit hinsterbende Geschöpf im Arme, das von ihm alles forderte, das ihm unbewußt alles bot, bedrängte ihn.

Was sollte er thun?

Sie war sein, das fühlte er. Sie hatte sich ihm auf Gnade und Ungnade ergeben.

Sie glaubte an ihn.

Jetzt sah sie zu ihm auf.

Diese Augen – diese fordernden, glaubenden Augen!

»Daß du mich liebst!« sagte sie tief träumend wie von Glück übergossen.

Er drückte sie fester, inniger an sich. ›Armes Ding‹, dachte er, ›müßte ich jetzt nicht der 126 Vorsichtige, Bedenkliche sein, wärst du – – was du bist – einfach ein verliebtes Mädel . . .‹

Er schloß sie fest, fest an sich. Sie erschauerte tief. Er empfand es. Er drückte einen Kuß auf ihre halb geöffneten Lippen.

Sie schloß die Augen.

»Du, Mensch aller Menschen!« flüsterte sie wie damals als sie vor dem Schädel lag.

»Wie, mein Herz?«

Sie antwortete nicht. Sie war wie erstarrt.

Mit einem Mal kam Leben in sie. Sie hob den Kopf, machte sich zaghaft und rührend sanft aus seinen Armen los und erzählte ihm von ihm selbst – von jenem Tag als sie zuerst seine Kunst verstanden hatte.

»Ja,« sagte sie, »es war als wäre das alles mein eigen, von mir selbst geschaffen, was du schaffst – mehr könnte ich es nicht lieben, mehr könnte es mir auch nicht sein: So wie ich dich, versteht dich kein Mensch. Weißt du, ich bin gar nichts. Ich kann nichts, – ich weiß nichts – 127 man hat mich nichts gelehrt. Aber deine Kunst wohnt seit jenem Tag in mir. Sie ist mein Bestes, mein Einziges, das Gute in mir. Weißt du, ich sehe die Welt, wie du sie siehst.

Ich thue alles mit dir.

Und deshalb liebe ich dich auch so sehr,« sagte sie einfach.

Er hatte da ein wunderbares Abenteuer.

Wie sie sich selbst betrog! Liebte seine Kunst! Er lächelte, nahm ihr Köpfchen und strich mit der Hand über das lockige Haar.

»So ein krauses Köpfchen.«

Sie sah ihn ernst an. »Was ich dir sage, ist was ich weiß.«

Ihre Augen hatten etwas unergründlich, leidenschaftlich Ernstes.

Da kam ihm ein Gedanke. »Isolde,« – sagte er und wieder goß dieser Name seinen Zauber über ihn. »Sag mir, willst du mir etwas zu Liebe thun?«

»Ja,« sagte sie.

128 Er blickte sie forschend an. »Du standest vorhin so an dem Baum, die Hände über dem Kopf und sangst. Willst du mir so ein einziges Mal stehen, daß ich dich zeichnen kann?«

»Ja,« sagte sie. »Sogleich wenn du willst.«

Sie war ganz bereit.

Da schloß er sie wieder in die Arme, fest, innig, ganz gerührt. – Und er flüsterte ihr ein paar Worte ins Ohr.

Sie lag einen Augenblick darauf matt, wie verwundet, schwer in seinem Arm.

Es war ihm, als sei sie nicht bei Bewußtsein.

»Isolde,« flüsterte er.

Sie hob sich, sah ihn ruhig ernst an und sagte: »Ja wenn ich dir wahrhaftig damit helfen kann.«

Jetzt reichte sie ihm die Hand. Sie sagte nichts; aber er fühlte, er sollte jetzt gehen.

Es war etwas Ermattetes in ihr. Er war besorgt, sie könnte sich nicht auf den Füßen 129 halten, aber sie stand ruhig und bleich und sah ihn an.

»Du kommst also zu mir, Isolde, in der ersten Stunde, in der es uns möglich ist.«

Ihre Augen sagten es ihm zu. Sonst war sie ganz unbeweglich.

Er ging, und zwar in wunderlicher Erregung; machte einen weiten Gang um ruhig zu werden.

Hier hieß es, Vernunft beieinander halten. Das war ja eine ganz gefährliche Geschichte, die in den Rahmen seiner gewohnten Liebesabenteuer nicht passen wollte.

›Sie wird doch nicht!‹ dachte er erschreckt, als er sich das erste Wiederbegegnen mit Isolde in der Gesellschaft ausmalte. ›Sie wird in ihrer Naivität sich doch nicht als Braut betrachten! So eine höhere Tochter in ihrer Weltfremdheit weiß nichts als Verlobung und Heirat und Heirat und Verlobung. Wie ihr das beibringen?‹

Zuerst meinte er, er wollte sich an diesem Abend zurückziehen, um sie nicht in Versuchung 130 zu führen, ihn und sich zu kompromittieren. Dann verwarf er diesen Plan. Es war besser sie im Auge zu behalten. Und so geschah es.

Er behielt sie im Auge und sah an diesem Abend ein stilles, rührend schönes Kind, das in seinem duftigen Kleid einer großen, weißen, träumerischen Blume glich.

Er sah, wie sich Arthur Wendland um sie bemühte – und wie sie nichts bemerkte, nichts sah und verstand, was um sie hervorging.

Schon bei seinem: »Guten Abend, Fräulein Isolde,« war er fürs erste wenigstens über ihr Betragen beruhigt.

An diesem Abend wurde verabredet, daß alle miteinander Frau Lu am nächsten Morgen nach Hause begleiten und erst am Abend zurückkehren sollten.

Als Henry Mengersen zu später Stunde seine ausführliche und sorgsame Nachttoilette machte, mochte seine Phantasie genug Beschäftigung haben.

131 Ob er wohl eine Ahnung davon hatte, welch süßes, reines, ganz entflammtes Herz heut an seiner Brust geschlagen? 132

 


 


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