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Zwanzigstes Kapitel

Der Schmerz ist ein Heiligtum, das man nicht mit anderen betritt. Es ist die Stätte der einsamen Seelen – eine Stätte, wo man im Verborgenen ist – –

 

Wenn Kaja zu jener Zeit mit irgend jemandem sprach, fiel es ihr immer auf, daß ein bestimmter Satz von den allerverschiedensten Lippen stets wieder ausgesprochen wurde, und dieser Satz lautete: »Sie haben ja die Erinnerungen, von denen Sie zehren können.« Wußten denn alle diese Menschen, die gar nichts verstanden, nicht, daß für den, der Heimweh hat, der Trost der Erinnerung Tantalusqual ist? Wußten sie nicht, daß all die verzehrende Sehnsucht der Seele dadurch nur noch größer wird?

Sie mußte lachen, wenn sie die Menschen so sprechen hörte – denn sie wußte es! Sie wußte, daß dieses »von den Erinnerungen zehren« nur eine Phrase war; die Liebe der Freundschaft kann sich dabei erwärmen, die Treue kann dadurch gestählt werden, aber der Mensch selbst kann nicht von Erinnerungen leben. Er verlangt etwas Positives, er verlangt die Gewißheit eines Wiedersehens, dort, wo die Gefilde größer sind und der Horizont höher ist!

Manchmal war es ihr, als müsse sie vor Heimweh sterben; aber sie lebte doch weiter; denn der Mensch stirbt nicht, so lange er die Hoffnung auf ein Wiedersehen hat.

Aber ab und zu war es ihr, als ob all das Leid, das sie um Helles willen mit Gewalt eindämmte, sie beinahe ersticke, und da meinte sie, sie müsse sich um jeden Preis Luft verschaffen.

Dann konnte sie wohl alte Bekannte auf der Straße anhalten, nur um sich aussprechen zu dürfen.

Aber nur so lange der Schmerz neu ist, erweckt er die Teilnahme der Unbeteiligten, später geht es dann, wie es in dem Liede heißt:

Es sinkt ein Schiff, die Wogen,
Sie schlagen darüber zusammen –
Und das Meer sieht aus wie zuvor
Es stirbt ein Mensch, die Schollen
Des Grabes, sie decken ihn zu –
Und die Welt sieht aus wie zuvor.

Als ihr zum ersten Male eines dieser leeren Worte gesagt wurde und sie dem kühlreservierten Blick begegnete, der eine vollkommene Verständnislosigkeit verrät, zog sie sich wie die Schnecke in ihr Haus zurück, und sie begann zu verstehen, daß der Kummer ein Heiligtum ist, das man nicht mit anderen betritt – daß es die Stätte der einsamen Seelen ist – eine Stätte, wo man im Verborgenen weilt.

Wenn sie mit Helle an der Hand die Straße hinabging, und der oder jener stehen blieb, um mit ihr zu sprechen, dann war ihr Gesicht ruhig wie früher und ihre Augen nicht mehr feucht von Tränen, die jeden Augenblick hervorzubrechen drohten. Ein schwarzer Rand hatte sich unter ihren tiefliegenden Augen festgesetzt und ein schmerzlicher Zug um ihren Mund: die Sehnsucht nagte unaufhörlich an ihrem Herzen: aber niemand sah es ihr an, sie drückte nur Helles Händchen noch fester, wenn sie sich verabschiedet hatte, und ging so ruhig und aufrecht durch die Straßen, wie sie ruhig und aufrecht durchs Leben ging. Aber daß sie diese Seelenstärke errungen hatte, das hatte seinen Grund hauptsächlich in einem inneren Erlebnis.

Gegen das Ende des Frühlings war sie eines Abends zu Onkel Franz' Grab hinausgegangen. Ein kleiner Kamerad hatte Helle zu sich geholt, und zum ersten Male ging sie allein zu dem Grabe.

Da überwältigte sie der Kummer wie noch nie – es war, als erfriere etwas in ihr.

Aber plötzlich drang ein Flötenton, zart und fein, weich und tief, frühlingsartig bezaubernd durch die Luft. Vor ihr in der Traueresche, die ein Grab neben ihr beschattete, saß ein Star und zwitscherte von Liebe. Er sperrte seinen gelben Schnabel im Abendsonnenschein weit auf, und die kleine Kehle bewegte sich unaufhörlich, während die Flügel in bebender Freude zitterten.

Dieser Star rief ihr jenen Morgen ins Gedächtnis zurück, wo Onkel Franz an der Tür des Fischerhäuschens gestanden und plötzlich die Arme um ihre Schulter gelegt und mit seiner tiefen, innigen Stimme gesagt hatte: » In einem einzigen Tag ist so viel Glück mein eigen geworden, daß ich in meinem ganzen Leben nicht mehr arm werden kann

War dies bei ihr nicht auch so? War ihr nicht dasselbe Glück zuteil geworden wie ihm? Und war es nicht reich genug, um ein armes, langes Leben zu füllen? Hatte sie denn nicht den Höhepunkt des menschlichen Glückes erreicht, an dem Tage, wo sie mit Onkel Franz in das gelobte Land einzog? Obwohl sich das Land wieder vor ihr geschlossen hatte, sie war doch mit ihm zusammen drin gewesen, und sie traf ihn dort wieder, ebenso sicher, wie der Star dasaß und in unsinniger Freude über seine Gefährtin zwitscherte.

Würde sie vielleicht mit einem einzigen dieser Menschen, denen sie so oft begegnete, tauschen wollen? Mit ihnen, die sich nie auf dem Rücken der höchsten Wogen getragen gefühlt und sich auch nie in Verzweiflung in die Tiefe des Meeres hinabgeschleudert gefühlt haben? War sie nicht so reich, so reich in dem Bewußtsein, daß sie eine große, ganze Liebe besessen hatte, ja, daß sie sie noch besaß und in alle Ewigkeit besitzen würde? Sie hatte immer gefühlt, daß ihr etwas fehlte, nämlich das, was Onkel Franz »den Menschen zu einer Persönlichkeit zusammenfassen« nannte. Sie hatte das Zerstreute in ihrer Natur wohl gefühlt, nun sammelte es sich unter der schweren Hand des Leids, unter der Hand, die die Menschenherzen formt, wie der Bildhauer den Ton, und die da tiefe Furchen zieht, wo die Freude nur einen Strich gemacht hat.

Seit Onkel Franz' Tod hatte Kaja das Frühjahr gehaßt, sie hatte nur immer gewünscht, daß es Winter wäre, düsterer Winter ohne Sonnenschein. All dies sprossende Leben, das in der Luft um sie her sang, war ja wie ein einziger schneidender Hohn auf ihr totes Glück. Sie, die allein wandelte, mußte den ewigen Hochzeitsjubel in der Natur anhören! Sie hatte sich die Ohren verstopft, wenn sie einen Vogel singen hörte, und die Vorhänge zugezogen, so lange die Sonne schien. Geflohen war sie vor all diesem Licht, das über sie herflutete vom frühen Morgen bis zum späten Abend. Aber nun wandte sie plötzlich das Gesicht der Sonne zu. Hatte sie nicht selbst gesagt:

»Schreibe nur zu,
Herrliches Leben du!
Schwer oder leicht,
Groß oder klein,
Was es mag sein,
Sturm und Wetter –
Nur nicht die leeren,
Weißen Blätter!«

Sie durfte die starken, warmen, sonnigen Tage nicht vergessen, weil sie nun entschwunden waren. Und dann waren die andern gekommen:

Von Angst erschüttert,
Von Sorge und Kummer,
Leid durchbebet –
Doch alle, alle,
Hab' ich gelebet!

Sie mußte den Kummer und die Freude ganz nehmen. Es nützte nichts, daß sie sich selbst tausendmal am Tage sagte, sie könne nicht allein sein – sie mußte – sie mußte – und noch überglücklich sein, daß sie Helle hatte.

Sie stand auf. All die tausend Stimmen des Frühlings ließ sie durch ihre Brust dringen, bis es nicht mehr weh tat. Und sie ging hinein in die große Einsamkeit – sie, die wohl die Freude, nicht aber den Reichtum aus dem Leben wegnimmt – sie, die langsam eine Seele vorbereitet auf die letzte Einsamkeit vor der Tür zur ewigen Jubelgemeinschaft.

Alle kleinen Sorgen und alle kleinen Freuden und die großen Erwartungen und die großen Enttäuschungen, sie waren nun wie Sandkörner, die ihr zwischen den Fingern zerrannen. Und also erreichte es sie, nur eine Freude zu haben, die, in das gelobte Land hineinzuschauen – und nur einen Schmerz – den, daß die Tage so lang waren ...

*

So sah ich sie an jenem stillen Juniabend, der fast unmerklich in die helle Nacht hinüberglitt.

Die Musik war längst verstummt, und die Lichter waren ausgelöscht, aber sie saß noch immer an derselben Stelle.

Was kümmerte sie sich darum, daß jeder Laut um sie her verstummte, während der Leuchtturm in der einsamen Nacht aufflammte, und daß die Stille da draußen bei den lebenden Menschen sonderbare Vorstellungen erweckt, von einem Totenschiff, das mit schlaffen Segeln lautlos über das Meer gleitet! Für sie hatte der Tod kein Grauen. Lauschend saß sie da, vorgebeugt – – Sie sah an allem vorbei, sah durch alles hindurch – – Mit brennenden Augen starrte sie hinein in das Zauberland ihrer Jugend ...!

Ende

 


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