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Sechzehntes Kapitel

Die so in Treuen zusammen geh'n,
Vom Lenz, bis die Blätter sich färben,
Wissen, daß wenn auch die Tage verweh'n,
Doch Lieb' nicht kann altern noch sterben –
Neu muß ja im Frühling der Wald ersteh'n – –!

 

Kaja meinte, noch nie sei ein Winter so lang gewesen. Die Tage erschienen ihr wie Wochen und die Wochen wie Monate. Es kam ihr vor, als würde der Schnee auf den Dächern niemals schmelzen, obgleich die Sonne jeden Tag darauf schien.

Würde es denn in diesem Jahre gar nicht Frühling werden? Und würde denn der 4. April nie kommen? Sie hatten noch nicht miteinander wegen der Hochzeit gesprochen, aber beide wußten, daß sie am 4. April sein würde – da war die gesetzmäßige Trennungszeit vorüber, und die Papiere waren ja in Ordnung.

Endlich begann auch der Schnee zu schmelzen und in kleinen Lawinen von den Dächern herabzustürzen, zum großen Entsetzen derer, die davon getroffen wurden. Und eines Tages brachte Onkel Franz die ersten Krokusblüten. Er hatte einen seiner heimlichen Abstecher nach dem Höjstruper Strand gemacht und dort schon blühende Krokusse gefunden. Er war vor ihnen stehen geblieben, hatte sie betrachtet und – den Hut abgenommen ob ihrer jungen Schönheit, und die Lerche hatte mit ihren weichsten Flötentönen dazu getrillert. Natürlich hatte er davon gepflückt, und nun stand er unter der Tür mit einem Gesicht, das mit den Blumen in seiner Hand um die Wette strahlte.

»Hast du schon so etwas gesehen?« sagte er und hielt sie ihr hin. »Es ist keine Spur von Schnee mehr da draußen, und überall sprießt es grün hervor. Kann man sich schönere Farben denken! Sieh', die gelben und weißen und die blauen und violetten Töne! Sieh', wie kräftig und gerade die Stengel gewachsen sind! Aber du siehst sie ja gar nicht an, Kind!«

Kaja gab keine Antwort, sie hatte die Hände um seinen Hals geschlungen und seinen Kopf dicht an sich gezogen.

»Ich betrachte den Frühling in deinen Augen,« sagte sie.

*

Onkel Franz hatte den ganzen Winter hindurch furchtbar viel zu tun gehabt. Schon im November hatte es angefangen. Seine Wohnung glich allmählich einem Trödlerladen, so viele alte und neue Sachen hatte er darin aufgehäuft.

Da gab es altertümliche Möbel – da gab es Erbstücke aus der Zeit der Großeltern und alten Krimskram aus seiner eigenen Junggesellenzeit. Von Anfang an war alles verstaubt und alt und schadhaft gewesen; aber wer alles abgestaubt und poliert und erneuert hatte, das war Onkel Franz.

Kein Wunder, daß Kaja, wenn sie die Absicht aussprach, ihn zu besuchen, regelmäßig zur Antwort erhielt: »Noch nicht, es ist so unbehaglich bei mir.«

Das Studierzimmer war die reinste Tischlerwerkstatt geworden. Onkel Franz erkannte bald und sagte sich unverhohlen, daß die einzige Möglichkeit, sich die seltenen Sachen zu verschaffen, mit denen er das Nest ausstaffieren wollte, die war, daß er die Sachen in schadhaftem Zustande kaufe und sie dann restaurieren lasse. Aber die Summen, welche die Kopenhagener Tischler für solche Arbeit verlangten, waren so schwindelerregend hoch, daß Onkel Franz der kalte Schweiß auf die Stirn trat. Mehrere Stunden lang ging er unablässig in seinem Zimmer auf und ab – dann faßte er einen Entschluß.

Am nächsten Tage lenkte er seine Schritte zu einem kleineren Tischlermeister in der Vorstadt. »Wollen Sie mich in die Lehre nehmen?« fragte er.

Der Tischler betrachtete spöttisch die weißen Hände des Herrn. »Was könnte Ihnen das nützen?« sagte er dann.

»Ich bezahle Ihnen dafür, was Sie verlangen,« erwiderte Onkel Franz kurz; und dann begann der Unterricht.

Jeden Nachmittag von vier bis sechs hobelte und sägte, rieb und polierte Onkel Franz unablässig, so daß ihn der Rücken schmerzte. Aber er ließ nicht nach, und nach Verfluß von ein paar Monaten hatte er so viel gelernt, daß er die Arbeit auf eigene Faust beginnen konnte. Nun verlegte er das Feld seiner Tätigkeit aus der Tischlerwerkstatt in sein eigenes Zimmer, wo es bald tüchtig nach Lack und Firniß roch und die Späne auf dem Boden zerstreut lagen – zur großen Verzweiflung der alten Wirtin, welche die Zimmer nicht mehr rein halten konnte.

»Das ist die sündhafteste Schmutzerei, die ich je gesehen habe,« sagte sie, die Hände fest in die Seiten stemmend. »Und wenn man nur wenigstens begreifen könnte, wozu es gut sein soll! Aber es ist bei Gott eine Sünde, so viel Geld für den alten Kram auszugeben. Oder was meinen Sie denn eigentlich, was man aus so einem alten schwarzen Starenkasten machen könne?« Dabei deutete sie verächtlich auf ein altertümliches Wandschränkchen, dessen geschnitzte Seiten so morsch waren, daß sie zusammenzufallen drohten.

»Warten Sie, bis Sie es in acht Tagen wieder sehen,« entgegnete Onkel Franz mit einem stolzen Blick auf den verachteten Gegenstand. Aber wenn er gedacht hatte, er rufe die Bewunderung der guten Frau hervor, dann hatte er sich doch verrechnet, denn als er ihr acht Tage später das fertige Kunstwerk zeigte, sagte sie mit zerschmetternder Überlegenheit: »Das war wohl auch der Mühe wert, um die Zeit damit zu vergeuden, hier, wo doch vorher Möbel genug sind! Nein, nein, da Sie sowieso schon so viel sitzen müssen, sollten Sie lieber abends ein wenig spazieren gehen, anstatt die ganze Nacht bei dieser Schmiererei aufzubleiben. Und wenn ich nur wenigstens begreifen könnte, warum Sie es tun, oder was Sie damit wollen!«

Aber dann lächelte Onkel Franz so merkwürdig geheimnisvoll, daß die Neugierde der armen Frau fast den Atem raubte. »Soll ich es Ihnen sagen?« fragte er, ihr mit freudestrahlendem Blick zunickend. »Soll ich es Ihnen sagen? Ich diene um Rahel.«

Die Frau platzte beinahe vor Neugier, um zu erfahren, wer Rahel sei – aber in der Art, womit er ihre Fragen beantwortete, lag etwas, das ihr plötzlich den Mund verschloß; etwas Festliches oder eine stille Hoheit. Es war ihr beinahe, als stehe sie in einer Kirche, und sie ging, ohne noch etwas zu fragen.

Aber Kaja sagte ein paar Tage später, als sie ihm zum Abschied die Hand reichte: »Wie merkwürdig hart deine Hände in der letzten Zeit geworden sind!«

»Meinst du?« Und mit verlegenem Blick betrachtete er seine schwieligen Hände. »Ja, das kann schon sein, ich habe diesen Winter das Schnitzen gelernt.«

»Wirklich? Warum denn?«

»Ach, zu meinem Vergnügen.«

Sie stellte keine Fragen mehr darüber, und er arbeitete in aller Stille weiter. Aber je länger die Tage wurden, umsomehr gab es zu tun, was durchaus fertig werden mußte. Und da geschah das, was nie vorher geschehen war – er vernachlässigte Kaja und Helle – er hatte keine Zeit mehr für sie übrig. Wenn er kam, warf er gleich einen unruhigen Blick auf die Uhr und sagte: »Es ist recht schade, aber es wartet so viel Arbeit auf mich, daß ich nicht dableiben kann!«

Beim erstenmal war Kaja nur überrascht, aber beim zweiten- und drittenmal wurde sie eifersüchtig, und beim viertenmal war sie dem Weinen nahe, verbarg es aber, bis er zur Tür hinausgegangen war.

»Warum geht Vater?« fragte Helle. »Und warum weint Mutter?«

Kaja gab keine Antwort, aber als Onkel Franz das nächstemal mit seinem geheimnisvollen Gesicht an der Tür stand, kroch Helle ihm zwischen die Beine, steckte sein vorwitziges Gesichtchen hindurch und teilte ihm mit großer Wichtigkeit mit: »Mutter weint richtige Tränen jeden Tag.«

Eins, zwei, drei, wurde er auf den Arm genommen. »Wann tut Mutter das?«

»Wenn du gehst.«

Da wurde Helle wieder auf den Boden gesetzt, und Onkel Franz trat mit reuevollem Gesicht ins Zimmer.

Kaja saß am Fenster und nähte. Er ging gerade auf sie zu und ergriff ihre Hand.

»Sei mir nicht böse,« sagte er. »Du konntest dir doch denken, daß ich nur für dich arbeite. Es sollte eine Überraschung sein.«

»Ach ja,« sagte sie und versuchte zu verbergen, daß ihr die Tränen unter den langen Wimpern hervorquollen. »Aber ich halte es nicht für recht, daß du uns die Tage vorenthältst. Und ich – – ich habe so schrecklich Heimweh nach dir!« rief sie heftig aus.

Er sah gleichzeitig so unendlich reuevoll und so grenzenlos befriedigt aus, daß Kaja laut lachen mußte, und Helle stimmte natürlich mit ein, obgleich er offenbar nicht wußte, worüber er lachte.

Schließlich lachte Onkel Franz auch, und Kaja war es auf einmal, als erstrahle das ganze Zimmer in hellem Sonnenschein, von dem alten venetianischen Kronleuchter oben an der Decke an, den er ihr geschenkt hatte, und in dessen kleinen Prismen sich das Licht in tausend Farben brach, bis in den äußersten Winkel des Zimmers, wo sonst nie ein Sonnenstrahl hinfiel.

Aber an diesem Nachmittag blieb er wieder wie sonst bei ihr, und am Abend sang sie, während er hinter ihr stand und leise dazu pfiff:

»Kleines rotes Rosmarein!
Kleines süßes Liebchen mein!
In acht Tagen, denkst du d'ran,
Bist du mein und ich dein Mann!
Kleines rotes Rosmarein!
Kleines süßes Liebchen mein!«

Und da klang ein solcher Jubel durch ihre Stimme, daß er ihr während des Singens den Kopf zurückbeugen und ihr tief in die warmen strahlenden Augen sehen mußte.

*

Aber nun war es April, und es war der Abend vor der Hochzeit – – jener wunderbare Abend, der so viele zarte Stimmungen und so viel leise Wehmut in sich birgt – und der in der Erinnerung immer einen lichten Schein zurückläßt.

Die Sonne hatte den ganzen Tag erwärmend in die Zimmer geschienen, nun war sie untergegangen und hatte, ehe sie verschwunden war, ein wahres Lichtmeer zwischen die Bäume des Parkes ergossen, der in roter, gelber und purpurner Glut strahlte.

Helle schlief ruhig in seinem Bettchen.

Onkel Franz hatte Kaja abgeholt, um ihr die »Überraschung« zu zeigen. Nun stiegen sie Arm in Arm die Treppen zu ihrem künftigen Heim empor.

Als er vor der Tür hielt und den Schlüssel hervorzog, sahen sie einander plötzlich an, und sie gedachten beide des Abends, wo Kaja ihn aus dem Heim hinausgeschlossen hatte, das mit Recht das seinige hätte sein sollen! Und all die Erinnerungen der Vergangenheit kamen herbei und flüsterten ihnen leise zu; aber da legte er den Arm um ihre Schulter.

»Wir wollen alles vergessen, was hinter uns liegt, und nur an das denken, was vor uns ist.«

Er drehte den Schlüssel im Schlosse um. »Tritt' über deine Schwelle, mein Lieb!« sagte er; und mit glühenden Wangen trat sie ein.

Onkel Franz hatte, ehe er wegging, dafür gesorgt, daß alle Zimmer erleuchtet waren.

In dem hübschen kleinen Flur brannte eine gelbe Ampel, und im Wohnzimmer leuchteten Kerzen in alten Wandleuchtern aus Messing.

Kaja konnte einen Ruf der Bewunderung nicht unterdrücken, als sie die »Überraschung« sah. Ihre strahlenden Augen wanderten von dem einen der alten, geschnitzten Möbel zu dem anderen.

»Nun, habe ich meine Zeit nicht gut angewendet?« fragte er. »Du siehst, daß ich kein ganz schlechter Tischler bin.«

»Du! Ach, du bist ein vollkommener Meister!« rief sie, ihm lächelnd in die Augen sehend. »Ich wußte ja wohl, daß du im allgemeinen recht geschickt bist, aber das hätte ich doch nicht erwartet.«

»Nein, da siehst du's nun.«

»Und wie dir das Zimmer so ganz und gar ähnlich ist – ja, mir übrigens auch.«

»Das will ich meinen – du bist ja nicht aus meinen Gedanken gewesen, so lange ich alles einrichtete.«

»Und dann das Eßzimmer, du! Mit den Wandbrettern fürs Porzellan und dem netten Schnellkocher auf dem Tische.«

Sie wandte sich um. »Sollen wirklich wir beide in diesem wunderschönen Heim wohnen? Sind wir nicht zu glücklich, Franz? Glaubst du wirklich, daß es dauernd sein kann?« fragte sie mit plötzlich aufsteigender Angst, und er fühlte ihre zarten Schultern unter seiner Hand erbeben.

»Jetzt sollst du nur glücklich sein,« sagte er, »froh und sicher.«

Ein Lächeln, einem flüchtigen Sonnenstrahl gleich, flog über ihr Gesicht. »Arme Mutter!« sagte sie. »Zu ihr kam der Prinz niemals. Und nun habe ich hier den Prinzen und das ganze Königreich dazu. Das ist fast zu viel für mich. Ich verdiene es nicht. Weißt du nicht mehr, daß ich dich damals, als Helle krank war, um seinetwillen opferte?«

Ein schmerzlicher Ausdruck trat in sein Gesicht.

»Warum willst du daran rühren?« fragte er. »Du hast mir doch versprochen, nie wieder daran zu denken.«

»Sei nicht böse,« sagte sie. »Es ist nur, weil ich es nicht wage, an mein Glück zu glauben, es scheint mir zu groß zu sein. Mir ist, als gehöre ein ganzes Leben dazu, um es fassen zu können.«

»Dann ist es ja gerade recht, du bist jung und hast viele Jahre vor dir,« sagte er scherzend und goß Wein in die Gläser, die auf dem Tische standen. »Darf ich die gnädige Frau hier willkommen heißen?«

Sie stießen miteinander an und küßten einander; dann stießen sie noch einmal an und gingen Arm in Arm in der Wohnung umher, besahen alles und prüften alles. Sie setzten sich zusammen aufs Sofa, um zu untersuchen, wie weich man darauf saß, und nahmen einander gegenüber am Eßtische Platz, um zu sehen, wie es sei, »wenn man die Füße unter den eigenen Tisch setzte«. Sie taten, als seien sie bei einander zu Gast, und zündeten noch mehr Lichter an. Ihre Gedanken trafen sich wie rasche Blitze, ihre Herzen klopften schneller, und ihre Augen strahlten.

Aber schließlich saßen sie ganz still Hand in Hand auf der kleinen Holzbank am Ofen, und die merkwürdige Stimmung dieses Abends überkam sie mit ihrer tiefen Wehmut, ihrer stillen Erwartung, mit ihrer mächtigen, großen, glanzvollen Hoheit!


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