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Elftes Kapitel

Leben, heißt leiden.
Wollen, heißt streiten!

 

In den folgenden Monaten wichen die Eheleute einander so viel als möglich aus. Kaja ging in der Pflege des Kindes ganz auf und verschloß sich mit Gewalt jedem anderen Gedanken.

Aber da geschah es eines Tages – an einem der ersten richtig kalten Tage des Januar, daß sie, nachdem sie einen erfrischenden Spaziergang den Seen entlang gemacht hatte, plötzlich wie in Gedanken stillstand und über die Schlittschuhbahn hinsah. Sie konnte nicht begreifen, daß es erst zwei Jahre her sein sollte, seit sie so vergnügt hier gelaufen war und vor sich hingesungen hatte:

Schreibe nur zu,
Herrliches Leben du!
Was es mag sein!
Ich schicke mich drein – –!

Den Arm um einen der alten Bäume am Ufer geschlungen, blieb sie stehen und verfolgte die Vorbeigleitenden mit den Augen.

Da fuhr ein junger Mann in flotten Bogen über das Eis. Die kurze Joppe saß stramm auf den schlanken Gliedern, und das lange seidene Halstuch wehte im Winde. Wie ein frischer Windstoß kam er dahergesaust, und die Leute sahen ihm bewundernd nach.

Gerade so war er vor zwei Jahren auch dahergefahren gekommen, als sie dort drüben gesessen und ihre Schlittschuhe angezogen hatte; da hatte er ihre Hand gefaßt, und sie waren miteinander über die glatte Eisfläche hingeglitten – und von der Schlittschuhbahn hinaus auf des Lebens große, gewundene Bahn, wo die kleinen kurzen Strecken ebenso durchlaufen werden müssen wie die großen, und wo es gilt, nicht sich bloß an der Hand zu fassen, sondern ums Herz, wenn man beisammen bleiben soll.

Peter Dam sah in diesem Augenblick noch eben so hübsch aus wie vor zwei Jahren. Die frische Luft hatte seine Wangen gerötet, und die Mütze war so tief in die Stirne hereingezogen, daß man den kahlen Scheitel nicht sah.

Er schrieb ein paar flotte Zahlen auf das Eis und fuhr dann zu einer jungen blonden Dame in einem blauen Kostüm hin – Kaja kannte sie gut, es war eine ihrer Schulkameradinnen. Ungeniert schlang Peter Dam den Arm um sie, und Kaja hörte das leise Lachen der Beiden, als sie an ihr vorüberglitten.

Kaja trat hinter den Baum, neben dem sie stand, und wartete, bis sie zurückkamen; sie that es ganz mechanisch, nicht absichtlich, sondern weil etwas ihren Fuß bannte.

Sausend kamen sie zurückgefahren und hielten ein paar Meter von der Stelle, wo sie, ihnen den Rücken zugekehrt, stand. Und da hörte sie ihn deutlich sagen: »Dann hole ich dich morgen abend um elf Uhr,« Und das Mädchen antwortete: »Aber sei vorsichtig, wenn du kommst!«

Da wendete Kaja sich jäh um und schlug den Weg nach der Stadt ein. Sie hielt ein paarmal an und atmete tief auf, wie um ihre Lungen mit frischer Luft zu füllen.

Ein heftiger Zorn hatte sich ihrer bemächtigt. Schnell und energisch schritt sie weiter, wie jemand, der einen festen Entschluß gefaßt hat. Geradewegs ging sie zu Onkel Franz.

Dieser mußte eben von der Schule heimgekommen sein, denn er stand im Entree und hängte seinen Überzieher auf.

»Onkel Franz,« sagte sie, ohne irgend eine Einleitung. »Ich bleibe keinen Tag mehr unter seinem Dach. Schon allein das Verweilen da ist eine Schmach für mich. Ich will mich von ihm scheiden lassen – hörst du – um jeden Preis.«

Onkel Franz hatte ihre Hand ergriffen und sie ins Zimmer geführt. Dort ließ er sie sich auf das Sofa setzen und blieb selbst schweigend vor ihr stehen. Dies kam so plötzlich, daß er seine gewohnte Selbstbeherrschung verlor. Wie Blitze fuhren die Gedanken durch sein Gehirn. Was war es doch für ein strahlendes Land des Glücks, in das er plötzlich hineinsah? Welch ein Freiheitsjubel, der sich seiner in diesem Augenblick bemächtigte?

Er schaute zu ihr hinab; warm und rotwangig nach der heftigen Gemütsbewegung saß sie da.

»Mich um jeden Preis scheiden lassen!« wiederholte sie.

Fragend sah er sie an. »Und wenn er Anspruch auf das Kind erhebt?«

»Ich weiß, daß er es tun wird,« sagte sie bitter, »er hat es mir zum voraus gesagt. Aber er kann mir nicht verwehren, es zu sehen, so oft ich will. Und wie es auch immer sein mag, jetzt kann ich es nicht mehr aushalten. Ich will nicht noch mehr ertragen, als ich schon ertragen habe. Es soll doch wohl nicht so weit kommen, daß ich mich selbst verachten muß, weil ich nicht den Mut habe, ihn zu verlassen.«

Noch nie hatte Onkel Franz Kaja in solchem Aufruhr gesehen.

Und er war im Begriff, sie in seine Arme zu ziehen, sie an sich zu drücken und zu sagen: »Bleib', bleib' sofort! Du weißt, daß du immer eine Heimat bei mir hast!« Aber da war es ihm, als höre er in der Ferne einen Notschrei, es war ihm, als strecke ihm das Kind, mit dem er sich auf so merkwürdige Weise verwandt fühlte, plötzlich die dicken Ärmchen entgegen und flehe ihn um Hilfe an. Er sah es so deutlich vor sich – wie es mit seinen Händchen nach dem Rand der Badewanne griff, um sich festzuhalten, und wie es ihn mit seinen großen runden Augen ansah, wie wenn diese alles von ihm erwarteten. Ja, einfach alles! Nicht ein kleines Almosen – sondern alles, alles!

Sollte er tun, als ob er es nicht verstünde – – als ob er nicht wüßte, daß es sich im Augenblick darum handle, es über Wasser zu halten?

Onkel Franz fuhr sich mehreremale durch das dichte Haar, als wolle er gewissermaßen auf diese Weise seiner Gedanken Herr werden, und dann setzte er sich still neben Kaja. Noch nie in seinem Leben war er einem wilderen Sturm ausgesetzt gewesen, und es war ihm, als risse er ihm die Seele in Stücke.

Das Leben des vollen Lenzes sang in seinem Blut und brannte in seinem Herzen. Das junge Weib, das neben ihm saß, es war sein, er durfte es besitzen – es wollte ja selbst die Scheidewand niederreißen, die zwischen ihnen stand. Und dann kam so ein kleines Kind in seiner Wiege und verlangte von ihm, daß er das Glück zurückstoßen solle! – Wieder war etwas in ihm, das sich gegen das Opfer aufbäumte – und wieder war etwas da, das sich unter die vier kleinen starken Worte – »Fordre alles, gib alles!« still beugte.

»Hast du vergessen, was du sagtest, als du damals von dem Besuch bei deiner Mutter heimkamst?« fiel es leise und gedämpft von seinen Lippen.

Sie fuhr zusammen und sah ihn mit einem fast versteinerten Ausdruck an.

»Du sagtest zu dem Jungen: »Wie glücklich bin ich, daß ich dich habe – du sollst nie deine Mutter vermissen!« Onkel Franz wagte Kaja gar nicht dabei anzusehen; er fühlte, wie die Worte ertötend auf ihr und sein Glück fielen.

Mehrere Minuten herrschte vollkommenes Schweigen; nur die alte Uhr über dem Sofa ließ ihr langsames, regelmäßiges Ticken hören, und ein Gassenjunge pfiff drunten durch die Finger.

Dann stand Kaja langsam auf:

»Du hast recht, Onkel Franz,« sagte sie, »du hast immer recht.« Damit wandte sie sich ab und ging langsam nach der Tür.

»Du bist mir doch nicht böse?« fragte Onkel Franz mit einem unbeholfenen Versuch, zu lächeln, während er sich den Schweiß von der Stirne wischte.

Da wandte sie sich ihm wieder zu und legte die Hände auf seine Schultern, wie es ihre Gewohnheit war.

»Böse?« sagte sie. »Ach, Onkel Franz, du weißt ja wohl, daß ich auf dich nicht böse sein kann!«

Rasch ging sie die Treppe hinunter, aber auf dem ersten Absatz hielt sie an. »Besuche mich in der nächsten Zeit nicht!« sagte sie, ohne aufzusehen. »Ich glaube – ich glaube, ich kann das Leben besser ertragen, wenn ich dich nicht sehe.«

Er konnte nicht antworten; schweigend lehnte er sich über das Geländer und folgte ihr mit den Augen. Dann hörte er, wie die Tür hinter ihr ins Schloß fiel, und es war ihm, als habe er sie für immer verjagt.

Vom Fenster aus sah er sie langsam – ach, so langsam – die Straße hinuntergehen! Und er wußte, daß sie nie wieder kommen würde.

Und damals ergraute Onkel Franz' Haar in einer einzigen Nacht.


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