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Welche Namen und Titel auch immer die kleinen Freundinnen des jungen Dichters getragen haben, ob sie Friederike oder Lili, Annette oder Lotte hießen, – es waren kleine liebe Mädchen, die gaben was sie hatten oder geben durften. Daß aus dem Blondhaar Gold wurde und aus dem Herzen die Flammen schlugen, das geschah nur in der verzaubernden Welt des jungen Dichters und ist im Biographischen dieser harmlos heiteren Geschöpfe nicht zu suchen und nicht zu finden. Im Jahre 1816 empfing Goethe den Besuch einer sechzigjährigen, ziemlich häßlichen, aber freundlich gutmütig blickenden Frau. Sie erbat sich die Protektion Seiner Exzellenz des Herrn Staatsministers für ihre beiden Söhne, den einen besonders, der das naturwissenschaftliche Fach lernen wollte. Die Situation war etwas peinlich, weil die Worte fehlten, und so zeigte Goethe der alten Frau sein Herbarium und bot ihr, um einen Abgang zu schaffen, seine Theaterloge an, mit dem Bedauern, sie dahin wegen anderweitiger Geschäfte nicht begleiten zu können.
Vielleicht erinnerte die alte Dame ihn an seine Wetzlarer Jugend, gewiß aber nicht mehr an ihre eigene. Die alte Frau dachte sicher an ihre junge Zeit, als sie, die damals Charlotte Buff hieß, die Braut des so gesetzten Herrn Kestner war, Sekretär der hannoverschen Delegation, aber in dem kühlhöflichen alten Herrn undurchdringlichen Gesichtes suchte sie vergebens den jungen Kammergerichtsreferendar, der ihr ein einzigesmal einen Kuß raubte, was sie, so erfreut sie auch war, dem feurigen und interessanten Doktor zu gefallen, ihrem Kestner dann beichtete, wie es sich für eine Braut gehört. In ihrem Gefühle ganz Kestners Lotte, fand sie ein Gefallen, aber nicht mehr, an den täglichen Besuchen und Gesprächen des jungen Frankfurter Herrn, und berührte es sie ein bißchen mehr, fand sie immer gleich in ihrer guten bräutlichen Liebe die Kraft, das abzuweisen. Goethe wußte das bald, daß hier für ihn mehr nicht zu hoffen war und daß sich ihm Lotte Buffs Herz nie schenken und daß es ihm auch nie gelingen würde, es zu brechen. Vielleicht, wenn er sich als Heiratskandidat auf die gleiche Ebene mit dem Sekretär stellte, aber ganz fern lag ihm der Gedanke an das Glück eines häuslichen Herdes. Wie lang war es her, daß ihn der Galopp seines Pferdes aus dem idyllischen Pfarrhof und dem Herzen eines Mädchens davontrug, wo man sich seinen Antrag erhofft hatte? Ein paar Monate kaum. Nein, nicht noch einmal solches Fliehenmüssen! Er blieb zufrieden mit dem, was man ihm hier im kinderreichen Hause des alten Witwers Buff gewährte, freute sich der praktisch sorgenden Anmut, mit der Lotte das Hausmütterchen ihrer Geschwister machte, der Gespräche und Spaziergänge mit dem Brautpaar, das ihm Freund und dem er Freund war, und das ihm aufmerksam zuhörte, wenn er von seiner Welt erzählte. Daß es dann doch an einem heißen Augusttag zum geraubten Kusse kam, gab, da Kestner mit dem großen Zartgefühl seiner Liebe die Sache ordnete, der Freundschaft der drei nur größere Tiefe. Kestner wollte ja erst das Opfer seines Verzichtes bringen. Aber Lotte sagte ihm, daß sie nur ihn lieben könne und Goethe bei allen seinen Vorzügen nie einen rechten Ehemann abgebe. Welcher junge Mann aber verträgt, auch bei geringerer Verliebtheit, einen solchen Entscheid des geliebten Wesens, ohne in seinem Männerstolz verletzt zu sein? Unentschieden wußte der Doktor nicht, solle er bleiben oder gehen. Küßte weinend Lottens Hände und genoß das erschlaffende Gefühl des verschmähten, aber vielleicht doch heimlich geliebten Mannes. Da kam der Kriegsrat Merck aus Frankfurt. Sagte kein Wort, daß er das Mädchen charmant fand, tat gleichgültig und riet weiter zu gehen, zu andern Mädchen. Es kam der Tag des Abschiedes und Lotte ließ Goethen die Hand, trotzdem Kestner da war. Aber nur für eine kleine Weile, und entzog sie ihm, als er sie fester halten wollte. Am andern Morgen lasen Kestner und seine Lotte jedes den Abschiedsbrief. Es ist besser so, sagte Lotte.
Wie Goethe sich zurechtlegte, was die ewig widersprechende Welt ihm ungeschickt und verworren aufgedrängt hatte: wie der Schuß des unglücklichen Verliebten das Zeichen gegeben, sein Echo die Lösung im Glase berührte, daß sie alsbald zu dem Kristalle wurde: wie Lotto Züge der Maximiliane, Kestner solche des alten Brentano bekam, Jerusalem sich in den jungen Assessor verwandelte, der aber nicht so resolut ist, freiwillig sich zu entfernen, ehe er durch das Unerträgliche vertrieben wurde, – das steht in allen Literargeschichten ausführlich genug. Von den ersten Exemplaren des Romanes schickt Goethe zweie nach Wetzlar, und Lotte und Kestner, bittet er, möchten jeder für sich das Buch lesen.
Lotte mußte öfter die Lektüre unterbrechen. Das Buch, aus dem es ihr heißer entgegenwehte als sie sich aus der idyllischen Wirklichkeit erinnerte oder erinnern wollte, immer wieder ließ sie es in den Schoß sinken, verwirrt, versonnen. Und wenn sie ihren Blick zurückholte aus dem Träumerischen, dann sah sie ihren Mann, der fiebrig die Blätter schlug, die Stirne voll Falten. Er sah geärgert und verlegen aus. Das bist du nicht, Lotte! Goethe hat nie deinen Zauber begriffen! Und ich soll dieser kalte unempfindliche Albert sein? Ach, Lotte, ich wäre der Werther gewesen, wenn ich dich verloren hätte! So entrüstete sich der honette Kestner über die Umdichtung ihrer einfachen Geschichte in ein tragisches Abenteuer und über das einem fremden Wesen Leibes und der Seele aufgesetzte Gesicht seiner Lotte. Alle Welt würde mit Fingern auf die Kestners zeigen. In solchem Ärger schrieb er an Goethe. Und an alle Verwandten, Freunde und Bekannten, daß sie in der glücklichsten Ehe lebten. Goethe konnte das alles nicht begreifen. Gab ein paar Antworten. Nahm Lottens Verzeihung hin. Und ließ das Paar in seinem kleinen Leben und vergaß es.
Houdons, des Bildhauers, für alle Zeiten definierter boshafter Greisenkopf Voltaires gab einer Legende das Siegel, die nur den alten Voltaire, den dieser Grimasse, kennt und der es unglaubhaft vorkommt, daß Arouet nicht nur einmal jung, sondern jung, hübsch und ein zärtlicher Dichter schöner Verse gewesen ist, nicht nur der ausdauernde Reimer der Henriade, der geistreiche Autor des Candide und der kalte Berechner von Tragödien, sondern ein junger Mensch von zwanzig, ausgestattet mit allen köstlichen Privilegien dieses Alters und als deren vornehmstem: enthusiastischer Freundschaft und fortreißender Liebe, die ja eine Erfindung der Jugend ist.
Die der junge Voltaire liebte hieß mit allen ihren Namen als Tochter respektabler Eltern aus dem Beamtenstande Fräulein Gravet de Corsembleu de Livry und Suzanne mit ihrem neben solcher Großartigkeit winzigen Vornamen. Sie wollte zum Theater und betrübte damit ihre Familie um so mehr, als sie kein Talent hatte. Dem dachte Voltaire damit nachzuhelfen, daß er der schönen Suzanne Deklamationsstunden gab, nicht als ob er sich davon für die theatralische Karriere Suzannes viel versprochen hätte, aber es war der einzige Weg, der der Eltern wegen zu den intimeren Schönheiten Suzannes führte und zu deren Erweckung durch die Liebe.
Da war auch noch ein Herzensfreund, Taugenichts wie Arouet selber, und Freundschaft dieses Alters kann verliebtes Glück nicht verschweigen. So kam es, daß der junge Lafuère de Genonville an den Unterrichtsstunden seines Freundes teilnahm, dann auch an den andern Zusammenkünften, in denen nichts mehr gesprochen wurde, weil die allzu bedrängte Brust nur mehr seufzen kann. Genonville wurde Suzannes zweiter Sprachlehrer und etwas mehr.
Et j'aurais pu m'en courroucer,
Mais je sais qu'il faut se passer
Des bagatelles dans la vie,
wie es in dem schönen Gedichte Voltaires an den verstorbenen Freund heißt, das er zehn Jahre nach dessen Tode schrieb, der mitten in diese seine Liebe zu Suzanne fiel, schmerzlich, aber immerhin etwas erleichternd, was diese Liebe selber betraf. So wenig pathetisch man auch damals die Liebe nahm und so sehr man sich der Freundschaft verpflichtet fühlte, von den Bagatellen des Lebens gering zu denken, als welche auch allzu starke Teilnahme des Freundes an der Liebe gilt, – ganz läßt sich doch die Eifersucht dem Zeitstil nicht opfern und erst gar wenn man zwanzig Jahre alt ist.
Suzanne wurde keine Schauspielerin, sondern heiratete sehr vornehm den Marquis de la Tour-Du-Pin de Gouvernet und wurde eine fromme Dame. Ihre Liebesgeschichte lag schon einige Zeit zurück, als Voltaire die Marquise besuchen wollte. Aber der Türschweizer ließ ihn nicht vor. Madame la Marquise fühlte keinerlei Bedürfnis, den Herrn Voltaire zu empfangen. Der rächte sich in einer impertinenten, aber gar nicht weiter bösartigen gereimten Epistel Vous et Tu.
Eine Zeit, die sich hundert Jahre lang an der pathetischen Liebesromantik infiziert hat, tut sich leicht, wenn sie solchen Beziehungen den Charakter der Liebe abspricht, dem romantischen Idol einer »wahren Liebe« zuliebe, das im Flor der Tränen steht oder in der Blutlache des Selbstmörders. Es könnte aber immerhin als Beweis für ein starkes Gefühl gehen, daß der letzte Besuch des lorbeergekrönten Voltaire, jenes des Houdon, im Jahre 1778 seiner ersten Geliebten galt, welche die Liebe verraten oder verleugnet und trotzdem sie dieses getan hatte. Nach der Aufführung der Irene, der Segnung von Franklins Enkel, nach allen Ansprachen und Reden ließ sich der sterbende Achtzigjährige nach dem Hause der längst verwitweten Marquise von Gouvernet tragen, der Philis seiner Epistel aus der Zeit, da er noch François Arouet und noch nicht der Gott Voltaire war. Diesmal wies ihn kein Schweizer ab.
Im Salon Suzannes sah er wieder, wovon sich die Marquise bei aller Frömmigkeit nicht getrennt hatte: sein von Largillière gemaltes Porträt, den zwanzigjährigen Arouet in blauer Seide, strahlend, jung und schön. Darunter saß die Marquise, am selben Tage wie Voltaire geboren, nun achtzigjährig wie er selber. Nichts mehr von Suzanne, nichts mehr von Philis, sondern ein Gespenst wie er selber.
Als man ihn von diesem Besuche nach dem Quai des Théatins zurückgebracht hatte, sagte er: »Ah, meine Freunde, ich komme vom einen Ufer des Cocytus ans andere.«
Im selben Jahre starb Voltaire. Und einige Monate nach ihm Suzanne, seine erste Entzückung, seine letzte Erschütterung.
Als Casanova in Grenoble weilte, empfahl man ihm das Haus eines Advokaten Morin, den man ihm als Onkel einer hübschen Nichte bezeichnet hatte, und solches machte ihm einen Onkel immer beachtenswert. »Endlich erschien die hübsche Nichte. Ihre Seidenhaut war von blendender Weiße, was das tief schwarze Haar noch hob. Ihre Gesichtszüge waren von vollendeter Regelmäßigkeit, ihr Teint leicht gefärbt, ihre dunklen, schön geschnittenen Augen konnten lebhaft sein und dann wieder weich und schwärmerisch. Schön gezogene Brauen, ein kleiner Mund, regelmäßig gesetzte Perlen von Zähnen und zartrote Lippen, auf denen das Lächeln der Grazie und der Scham lag«, beschreibt er etwas im Zeitstil die Schönheit der jungen Nichte Anne Couppier und ihre Moral: »Ihr Betragen war so natürlich und so reserviert, daß sie meinen Scharfblick blendete.« Das junge Fräulein tat sehr tugendhaft, was Casanova nicht hinderte, auf seine Weise familiär zu werden. Aber als sie allzugern und allzuoft darauf zurückkam, daß all ihr Ehrgeiz sei, »einen netten und genügend reichen Mann zu finden, der es einem nicht an dem Nötigsten fehlen lasse«, dachte Casanova wohl an den Rückzug. Das ist natürlich ein Schwindel, was er in seinen Erinnerungen erzählt, die er ja schrieb, als ihm das weitere Schicksal des jungen Fräuleins bekannt war. Er wird eben einfach weitergegangen sein, wenig von den Heiratsabsichten der jungen Dame zur Fortsetzung eines Abenteuers befeuert, das solche Gefahren in seinen Falten barg. Denn auch der Abenteurer kann schwache Stunden haben, wo er von der Vision eines häuslichen Herdes entzückt eine Dummheit begeht. In den Erinnerungen aber erzählt er, daß er dem Onkel, der Tante und der jungen Dame erklärte, wie er sich vor dem in den Sternen vorgezeichneten Schicksal der jungen Nichte beugen und ein Opfer bringen müsse und auf das eheliche Glück verzichten, wenn es ihm auch das Herz breche. In den Sternen sei nämlich geschrieben, daß Anne Couppier ein weit höheres Los bestimmt sei, als Madame de Saintgalt zu werden. Daß sie nach Paris gehen würde, um hier »die Mätresse ihres Herrn zu werden«. »Wäre solches Los nicht Ihrer Nichte bestimmt,« sagte er der Tante und küßte ihr die Hand, »niemand wäre glücklicher als ich, um die Hand Ihrer Nichte anzuhalten. Um nicht gezwungen zu sein, Ihnen Vorschläge zu machen, die das große Glück zerstören, das Ihre Nichte erwartet, bin ich entschlossen, morgen abzureisen.« Die Tante, eine Frau von liebenswertestem Wesen, war entzückt von solchem Heroismus.
Von Anne Couppier, die als Mlle de Romans zur Zeit der Pompadour eine Geliebte des fünfzehnten Ludwig wurde, gibt es ein Porträt des beliebtesten Schönmalers Drouais, der Nattier noch weit darin übertraf, aus den einfachsten Bürgermädchen Versailler Göttinnen zu machen. Von Casanovas etwas schematischer Beschreibung, selbst von ihr ist nicht viel zu sehen auf diesem Bildnis, das aus einem schwer lastenden Hermelinmantel besteht, aus einem zu ihren Füßen schlummernden Eros, dem die Romans die Flügel beschneidet. »Das ist kein Fleisch«, pflegte Diderot vor den Bildnissen Drouets zu sagen, die königlich staffierte Puppen waren. Aber bei dem Fräulein von Romans hat der Maler mit seiner Kunst das psychologisch Richtige gerade dadurch getroffen, daß er eine großartig staffierte, glücklich-dumme Puppe malte. Denn das war sie. Das böse Maul der Sophie Arnould, das keine weibliche Schönheit verschonte, bemerkt über die Romans: »Bei dieser extraordinären Person gefiel sich die Natur ihre guten Geschmacksregeln aufgebend darin, eine große Übertreibung zu schaffen. Für sich betrachtet war Mlle de Romans wie ein Abguß ihrer selber als Ganzes und in allen Teilen ganz richtig und proportioniert. Aber sie war so kolossalisch, daß sie in Gesellschaft alle andern Frauen um Bedeutendes überragte in allen Dimensionen der Breite und Höhe. Neben ihr war der König, der eher groß war, nur ein Halbkönig.« Mlle de Romans hatte sich zu einem Riesenweib ausgewachsen und entwickelte auch den Appetit eines solchen. Vor der Eifersucht der Pompadour in einem Hause zu Passy verborgen gehalten, paßte ihr das nicht. Sie hatte Lust auf die ganze königliche Torte, nicht nur ein Stückchen davon. Sie wollte ihre Chance ausnützen. Mit allen Mitteln. Auch dem des Kindchens, das sie vom König hatte. Vor allem Volke gab sie in den Tuileriengärten dem Säugling – dem späteren Abbé de Bourbon – die Brust, die mächtige. Trug dabei einen Kamm aus Diamanten im Haar. Das Volk drängte erstaunt und amüsiert, denn das Kind war schön, die Mutter eine Riesin und des Königs Geliebte, das Ganze ein Schauspiel. Und die Mutter schrie erschreckt: »Aber meine Damen und Herren, erdrücken Sie doch das königliche Kind nicht! Sie nehmen ihm ja die Luft, dem königlichen Kind!«
Der Hofstaat der Pompadour hatte eine hübsche längst gesuchte Gelegenheit, die Romans unmöglich zu finden. Das fand dann der König auch. Schickte seine Bogenschützen, die der Romans das Kind wegnahmen und ließ die Mutter ausweisen. Diese heiratete schließlich doch noch einen Herrn von Soundso, einen netten Mann und reich genug, daß es einem nicht an dem Nötigsten fehlt.
Aber zur Zeit, da sie noch als »seine Große« des Königs Geliebte war, sah sie ihren Sterndeuter aus Grenoble wieder, der sich schmeichelte, durch seinen großmütigen Verzicht zu ihrem Glücke beigetragen zu haben. Nachdem die ersten Küsse des Wiedersehens getauscht waren, gestand ihm die Favoritin des Königs, daß sie nicht glücklich sei. Sie habe ja Diamanten und Spitzen und ein schönes Haus und Wagen und hundert Louis Nadelgeld im Monat und liebe den König, der höchst höflich sei und gut und zärtlich und schön und nachgiebig, aber: »kann man glücklich sein, wenn man seine Selbstachtung verloren hat?« fragt sie, das Grenobler Bürgermädchen. Und Casanova schließt: »Wir trennten uns nicht, ohne Tränen vergossen zu haben.« Die Unschuld des Fräuleins von Romans weinte sich am Busen des weisen und wissenden Casanova aus. Vielleicht waren es nicht einmal hypokrite Tränen. Sondern jene aus dem Heimweh nach einer verschwundenen Kindheit, eng und klein und ärmlich, aber so fest und sicher.
In den Bekenntnissen, dem einzigen lesbaren und gelesenen Buche des sonst ganz Figur und Begriff gewordenen Rousseau, und in der langen Reihe der Frauen, von denen er bis auf eine einzige in diesen Konfessionen indezent erzählt, steht, in einer freundlichen Nische nur, nicht auf einem pompös ausgezeichneten Altar, das zierliche Persönchen der Madame de Larnage. »Ich danke ihr, nicht gestorben zu sein, ohne das Vergnügen gekannt zu haben«, lautet das gute Zeugnis, das dieser bis zur schamlosen Aufrichtigkeit verlogene Mann ihr ausstellt und das sie sich um ihn in seiner jungen Vagabundenzeit verdiente, in der er frech und furchtsam, ungeschickt und gerissen war, ein Ingénu und ein Gil Blas. »Und wenn ich hundert Jahre alt werde, nie werde ich mich ohne Vergnügen an diese reizende Frau erinnern«, und zählt nachgenießend auf, was er bei ihr genossen hat.
Ganz wie der eitle Casanova detailliert er sein Glück. Aber über einen Umstand schweigt er, nennt ihn nur: daß eine Bizarrerie ihn veranlaßt habe, sich Madame de Larnage als einen Engländer auszugeben.
Auf der Straße nach Montpellier trennen sie sich. Sowie er von seinem Polypen kuriert sei, wolle man sich, so beschloß man, in Bourg-Saint-Andéol treffen. Er verfehlte das Rendezvous. Er besucht den antiken Pont du Gard, verliert sich in Gedanken über römische Größe und Erhabenheit, bedauert kein Römer gewesen zu sein, fühlt sich klein wie ein Insekt inmitten solcher Größe und etwas erhebt ihm außerordentlich das Gefühl. Zerstreut und träumerisch wurde er, »und diese Träumerei war nicht günstig für Frau von Larnage«. Dieser von der Größe der Römer an- und dadurch von seiner Geliebten abgezogene Mann war fünfundzwanzig Jahre alt. Man hat also einigen Grund, das Aquädukt für einen Vorwand zu halten. Die, der er so nie zu vergessendes Vergnügen dankte, hatte sich auf der Straße nach Montpellier nicht von einem sentimentalen Jüngling verabschiedet. Wenn er auch jetzt gern diese Gelegenheit benützt, von seiner Tugend zu sprechen und von der Angst, sich an dem verabredeten Orte in die Tochter der Frau von Larnage zu verlieben. So bricht er mit heroischem Getue ab. Aber aus den getürmten Wolken des Pathetischen bricht ein dünner scharfer Strahl und gibt Licht auf diese Begebenheit und ihre bizarre Komik. Er hatte sich als einen Mr. Dudding aus England vorgestellt, und »es brauchte in diesem Bourg-Saint-Andéol nur eine einzige Person sein, die in England gewesen oder englisch sprechen kann, und ich bin demaskiert.« Das war der Grund, der den Abenteurer abhielt, das schöne Haus der Frau von Larnage kennenzulernen und seiner Liebe weitere Kapitel zu geben, das schöne Haus, in dem die von ihrem Gatten Louis-François d'Hademar de Monteil de Brunier geschiedene Frau Suzanne lebte, nachdem sie diesem Gatten, der Generalleutnant der Armee des Königs war, zehn Kinder geschenkt hatte und ihm trotzdem untreu war. Und mit vierundvierzig Jahren dem Fünfundzwanzigjährigen das gab, dessen er sich noch mit hundert Jahren erinnern wollte: das Vergnügen der Liebe, die Vergnügen ist, und um dessentwillen er der Frau eine größere Jugend gab als sie besaß. »Sie war, die Liebe machte sie dazu, charmant. Denn sie war weder schön noch häßlich noch alt. Aber sie hatte nichts in ihrem Gesichte, das ihrem Geiste und ihrer Grazie Hindernis gewesen wäre, alle ihre Effekte zu zeigen. Im Gegensatz zu andern Frauen war es ihr Gesicht, das am wenigsten frisch war. Ich glaube, die Schminke hat es ihr verdorben.« Sie war kürzer gesagt eine nicht mehr junge, aber um so erfahrenere und verliebte Dame.
In der Einsamkeit ihres Sterbens suchte sie Trost und Unterhaltung in alten vergilbten Liebesbriefen. Einige von einem jungen Engländer namens Dudding waren darunter. Sie erinnerte sich. Auch daran, daß sie diesen hübschen jungen Mann vergeblich eine Zeitlang erwartet hatte. Es war so hübsch gewesen, diesen jungen Engländer zum Mann zu machen, ihm das beizubringen. Während sich so Madame de Larnage erinnerte, etwa im Jahre 1756, und ein imaginäres Wiedersehen feierte aus vergilbten Briefen, war der sie schrieb der bewunderte und umstrittene radikale Philosoph geworden, der Verfasser des Discours sur l'Inégalité. Daß der jakobitische junge Engländer Dudding und dieser M. Rousseau ein und dieselbe Person waren, das wußte sie nicht und hat es nie erfahren. Einmal ist Jean-Jacques um nichts als seiner körperlichen Schönheit willen geliebt worden, und da war er ein Mr. Dudding gewesen.