Theodor Birt
Römische Charakterköpfe
Theodor Birt

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Mark Aurel

Auf den Friedenskaiser Hadrian, der im Jahre 138 starb, folgten unter seinen beiden Adoptiverben Antoninus Pius und Mark Aurel vierzig weitere Jahre der Gerechtigkeit und zunächst zwanzig weitere Friedensjahre. Es ist Mark Aurel, dem wir nunmehr uns zuwendenEine Grundlage für die Biographie desselben ist von O. Th. Schulz, Das Kaiserhaus der Antonine, Leipzig 1907, gegeben. Unübertrefflich ist Mark Aurel von Ivo Bruns dargestellt (Vorträge u. Aufsätze S. 291 ff.). Wenn ich von ihm abweiche, so begründet sich das vielleicht mehr aus der Verschiedenheit unserer Temperamente als aus meiner richtigeren Erkenntnis der Tatsachen.: der schönste, edelste Name, den das alte Rom zu nennen hat. Alles, was gut war an der Antike, sammelte sich gleichsam in diesem Herzen: ein reines Menschentum, voll männlicher Kraft und voll Geduld, Ausdauer, Umsicht und aufrichtigster Güte. Ein Vater der Menschheit. Mark Aurel war Kaiser der Welt; aber er ist auch ein Lehrmeister der Frömmigkeit, ein Tröster der Einsamen geworden, und noch im zweiten Jahrtausend nach seinem Tode haben sich viele Herzen an ihm erbaut und aufgerichtet, Herzen, die Standkraft und Frieden suchen in den Wirren und Enttäuschungen des Lebens.Erwähnt sei, daß sogar bei Fritz Reuter »Ut de Franzosentid«, Kap. 9 und 12, in dem mecklenburgischen Nest Stamhagen vom Amtshauptmann und anderen Personen zum Trost Mark Aurel gelesen wird.

Die Darstellungen römischer Porträtköpfe, die ich gegeben, betrafen größtenteils so gewalttätige Kraftmenschen wie Sulla und Antonius oder so bösartige Geschöpfe wie Nero und Domitian. Es sind, ich sehe es mit Schrecken, eigentlich weit mehr abgeschlagene Köpfe als Porträtköpfe, die ich meinen Lesern geliefert. Jetzt aber, im Hinblick auf Mark Aurel ist es so, als sollte meine Darstellung in frommer Betrachtung und in Andacht endigen.

Mark Aurel bildet für uns mit Recht die Schlußfigur, weil gleich nach ihm die Größe Roms geknickt wird und das Provinzialleben alles überschwemmt. Mark Aurel steht noch auf der Höhe Hadrians; gleich hinter ihm gähnt der Absturz, und ein Chaos von Thronwirren beginnt; dazu wirtschaftlicher Niedergang und die Angst vor den Germanen. Dieser Mensch mit der reinen Seele war ein Kämpfer; er hat Rom noch einmal vor den Germanen gerettet. Die Antoninssäule in der Siebenhügelstadt verkündet das aller Welt noch heute, auf der Piazza Colonna, nahe dem Monte Citorio, wo heute das Parlament tagt und über das Geschick des modernen Italien entscheidet. 309 Vor allem aber steht oben auf dem Kapitol Mark Aurels ehrwürdiges Reiterbild in Bronze. Wer kennt es nicht? Michel Angelo hat es dahin gestellt; und wer in dies Gesicht sieht, der fühlt: der Mensch ist nicht schön, aber so onkelhaft gut, von einer so herzgewinnenden Häßlichkeit: wo dieser Landesvater wacht, o Volk Roms, da magst du ruhig schlafen. Er reitet; in der Stadt ritt aber der Kaiser nie. Das Roß zeigt also an, daß er im Kriege ist und im Felde steht.Die Statue gleicht der Reliefdarstellung, die Mark Aurel zu Roß Im Felde zeigt, genau; v. Sybel, Weltgeschichte der Kunst² S. 423. Und er trägt den Philosophenbart, einen Vollbart, der weit länger ist als der Hadrians. Das ist ein Zeichen der Zeit: wie der Bart, so ist seitdem auch die Philosophie gewachsen.

Auf Hadrian folgte zunächst durch Adoption Antoninus Pius, der wieder den Mark Aurel zum Sohn annahm. Antoninus Pius war gleichfalls ein fleißiger und wackerer Fürst. Die Regierungsmaschine brauchte er nur in Gang zu halten; sie war von Hadrian trefflich konstruiert und eingestellt. Der freundlich brave, aber etwas spießbürgerliche Mann stammte aus Nîmes in der Provence. Alle vornehmen Leute, die aus den Provinzen nach Rom kamen und dort in den Senatorenstand erhoben wurden, waren gesetzlich gezwungen, sich auch Grundbesitz in Italien zu erwerben; so besaß dort Antoninus das Landgut Lorium und saß da gern fest. Er war sparsam und reiste nicht. Kaiserreisen kosten doch immer Geld. Mit den Senatsherren aber, die Hadrians wundersam extravagante Natur nicht leiden konnten, stand er andauernd gut und tauschte gern mit ihnen Versicherungen der Wertschätzung und Verehrung. Altrömisch simpel, wie ein Fabricius und Cincinnatus und König Numa (es war damals Mode geworden, das ganz Altrömische wieder aufzuwärmen), so saß er am liebsten auf seinem Bauerngut und fütterte die Hühner; auch das war eine Hofhaltung. Aber er hat da auch den Knaben Mark Aurel an das Landleben gewöhnt und sich väterlich seine Liebe erworben, so daß Mark Aurel späterhin sich nicht genug tun kann, Antoninus' Rechtschaffenheit und nüchterne Besonnenheit zu 310 lobpreisen. Im Sinne des alten Fabricius und König Numa geschah es auch, daß er den Knaben die alten Saliarlieder auswendig lernen ließ, fromme Liturgietexte, die so veraltet waren, daß kein Sterblicher in Rom ihren Wortlaut mehr verstand.

Hadrian hatte diesen Antonin gezwungen, nicht nur den jungen Mark Aurel als Sohn zu adoptieren, sondern auch einen zweiten jungen Mann, den er begünstigte, den Lucius Verus. Der bedächtige Antoninus erkannte jedoch, daß nur Mark Aurel, nicht Lucius Verus den in ihn gesetzten Hoffnungen wirklich entsprach, und als er im Jahre 161 friedlich dahinstarb (75jährig, ein für einen Kaiser selten hohes Alter), bestimmte er nur Mark Aurel zu seinem Nachfolger.

Beide, Antoninus Pius und Mark Aurel, hatten zusammen im selben Palast, im Tiberiushaus auf dem Palatin gewohnt. Die Regierung ging da also, als Mark Aurel Kaiser wurde, nur von einer Stube in die andere über. Dafür war eine Figur der Göttin Fortuna das Symbol; diese goldene Puppe wurde in Mark Aurels Zimmer hinübergetragen; es war das goldene Schicksal, Kaiser Roms zu sein.

Kaum war aber das geschehen, als Mark Aurel den Lucius Verus zu sich rief und ihn aus eigenster Entscheidung zu seinem ebenbürtigen Mitregenten machte. Damit begann er gleich: Teilung der Macht! Ein Akt des Vertrauens. Das war offenbar schon Hadrians Idee gewesen. Das Reich war für einen einzigen tatsächlich zu groß. Man denke sich: einen Weltteil vom Umfang Europas soll ein einziger Mann von seinem Palast aus regieren. Wer das gut machen wollte, erlag der Last. Zwei nachweislich so kerngesunde Männer wie Trajan und Hadrian waren unter der Last zusammengebrochen: ihr Körper brach zusammen. Der kränkliche junge Mark Aurel brauchte Hilfe. Verus sollte ihm die militärischen Dinge abnehmen. Aber dieser Plan mißlang, und auch Mark Aurel erlag, in seinem schweren Amt allein gelassen, nur zu früh der Überanstrengung.

Mark Aurel, der Philosoph, so heißt er schon im Altertum, 311 das gern Unterscheidungsbeiwörter setzte (so nannte sich sein Vorgänger Pius wegen seiner Pietät gegen Hadrian). Man muß nur wissen, was das Volk damals unter Philosophie verstand. Auch heut reden alle vom Philosophen Mark Aurel, und man versteht darunter nur zu leicht einen jener Leute, die ihre Lebenszeit mit philosophischen Spekulationen vertreiben, auch wenn nichts als ein Gesäusel von abstrakten Worten dabei herauskommt. Aber der Kaiser, von dem ich handle, war ganz anders; er war ein Mann des Geschäftslebens und der zugreifenden Tat (ganz so wie auch Seneca), und er hat sich nie erdreistet, von seiner kostbaren Zeit etwas für solche tiefsinnigen Luxusfreuden, die sich ein Einsiedler oder ein englischer Großgrundbesitzer gestatten kann, herzugeben, außer dem einen Umstand, daß er in späten Jahren eine Sammlung von Selbstgesprächen niederschrieb, die etwa zehn kleine Foliobögen anfüllen und über die ich hernach berichten werde.

Man sagt gewöhnlich, es sei erstaunlich, daß ein solcher Philosoph sich auch als praktischer Mann bewährt habe. Es muß vielmehr umgekehrt heißen: es ist bewundernswert, daß ein so tatkräftiger Praktiker des Militär- und Zivildienstes auch noch sogenannte philosophische Interessen nährte. Aber diese Philosophie war gar kein LehrgebäudeEr selbst lehnt Logik, Meteorologie usw. ab: I 16. Das sagt auch Herodian I 2, 4: Seine Philosophie bestand nicht in Reden und Lehrsätzen, sondern in seiner Haltung und Lebensführung.; Philosophie ist damals das griechische Ersatzwort für Religiosität gewesen. Die griechische Sprache besitzt kein anderes Wort dafür. Für den Stoiker ist »sophia« das Frommsein, »philosophia« das Streben nach Frömmigkeit. Religion und wieder Religion! Die wahre Religiosität raubt dem Berufsmenschen keine Zeit, sie erfordert kein Studium, sondern sie ist in uns immer gegenwärtig, wenn wir handeln; sie ist die Gotteskraft in uns, die uns in jedem Augenblick leitet. Mit anderen Worten: feste Grundsätze, die auf stoischer Frömmigkeit beruhten, die nährte Mark Aurel in sich, und er sagt von sichBuch III cap. 13., daß er sie ständig bereit hat, wie der Arzt seine Instrumente immer bei sich führt, die Schröpfköpfe und den Katheter.

312 Man denke sich ja nicht, daß Mark Aurel ein kaltblütiger Phlegmatiker oder ein Träumer war. Er war ein Feuerkopf oder besser ein Feuerherz, von rascher heißer Empfindung und hastigstem Tätigkeitstrieb: so sehen wir ihn als Knaben und Jüngling. Denn wir kennen ihn aus seinen Jugendbriefen.

Seine Familie war spanisch, wie die Trajans. Aber er erblickte in Rom das Licht der Welt im Jahre 121 in einem Gartenhaus auf dem Mons Cälius. Als Hadrian stirbt, ist er schon 17 Jahre, hat schon das Alter des Primaners, nähert sich schon der Studentenzeit. Hadrian sorgte dafür, daß er auf das vielseitigste in allen nur denkbaren Fächern unterrichtet wurde. Die Fülle der Bildung ergoß sich über ihn; die vortrefflichsten Gelehrten, die Hadrian auftreiben konnte (sie werden uns alle aufgezählt), wurden seine Lehrer. Das war natürlich nur humanistische Bildung, Gymnasialbildung. Die Realschulbildung war im Altertum für die Knechte. Wir besitzen Briefe des Schülers an den hochvornehmen Redner Fronto. Welcher Fanatismus des Lerneifers zeigt sich da, und welche Schwärmerei für den »Herrn Lehrer« (dominus magister)! Fronto unterrichtet den klugen Prinzen in den kümmerlichen Äußerlichkeiten des Aufsatzschreibens, wie man die Worte wählen und setzen soll. Der ehrgeizige Junge aber hetzt sich so, daß er die Nächte nicht schläft; er nährt sich auch nicht ordentlich (Brot und eine Hand voll Feigen bauen doch den Körper nicht auf); er schreibt sogar einen Aufsatz, eine Stilübung gegen den Schlaf, der uns betrügt und nur Zeit kostet. Fronto muß ihn ermahnen, sich einmal Ferien zu machen, auch einmal gut zu essen (auch der alte König Numa habe sich schon ein gutes Priesteressen gegönnt), und schreibt einen Gegenaufsatz zum Preise des Schlafes, den Gott uns Menschen zum Nutzen ersonnen habe.

Übrigens waren natürlich Philosophie und Rechtswissenschaft die wichtigsten Lernfächer. Ja, Hadrian hielt darauf, daß der Knabe auch in die schönen Künste eindrang; Mark Aurel mußte auch malen lernen. Schon zwölfjährig lief der 313 Junge im Philosophenmantel herum (wie unsere Tertianer in ihren farbigen Mützen) und war darauf versessen, auf der harten Erde zu schlafen: als strammer Stoiker. Dazu Bücher lesen, Bücher und kein Ende! Das war die stürmische Jugendzeit. Und er umfängt dabei seinen alten Magister mit flammender Seele. Der langweilige Fronto hat Gicht in den Fingern, hat Reißen in den Knochen: der kleine Mark Aurel betrübt sich zu Tode darüber, trägt die Briefe seines Lehrers wie ein Kleinod immer mit sich herum und schreibt: »Könnte ich dir doch den schlimmen Fuß pflegen, du schönstes Herz, mein Herr und Meister. Laß es dir gut gehen, du meine Seele. Ich glühe vor Liebe zu dir.« Dann setzt er die Feder ab: »Ich habe kaum noch Atem, so müde bin ich.« Oder ein anderes Mal: »Lebewohl, du meine Süßigkeit, meine Liebe und Wonne« oder: »Mein ersehntester, honigsüßer! ich möchte dich küssen für deine letzte schöne Rede!« »Wenn nur dein Hexenschuß wieder besser wird, dann geht es mir auch besser,« schreibt der Kränkliche. »Ich habe heute ein Bad genommen. Meine Mama grüßt bestens.« In solch glühenden Tönen kann nur ein Südländer, kann nur ein Italiener reden: ardore di amore! Die platonische Liebe lebt sich hier aus. Der junge Mensch nennt sich den »Erasten« seines Lehrers.Fronto p. 223 Nab.

Als er sich dann mit Inbrunst der stoischen Schullehre ergibt, da wimmert sein Schulmeister: »Du vergißt ganz, daß die Hauptsache im Leben ist, gutes Latein zu schreiben!« Vor allem war es ein Römer mit Namen Junius Rusticus, zugleich Stoiker und Praktiker (wie Seneca), der Mark Aurels Charakter gebildet hat. Diesen Rusticus verehrte er auch später noch, als er schon Kaiser war, so sehr, daß er ihn, wo immer er ihn traf, selbst vor der Front des Garderegiments, durch einen Kuß auszeichnete.Auch die Häufigkeit des Küssens ist südländisch und gehörte zeremoniell zu den Gnadenbezeigungen der Kaiser. Von seinen sämtlichen Lehrern aber hatte er vergoldete Standbilder in seiner Hauskapelle stehen; das heißt, er verehrte sie wie Heilige.

Achtzehnjährig war Mark Aurel, als Antoninus Pius ihn 314 adoptierte, und der Adoptivsohn war seitdem fast keinen Tag von dem Kaiser getrennt. Besonders in Personalfragen (Beförderungssachen) war er früh dessen Ratgeber. Er galt also – wenn schon vielleicht mit Unrecht – als Menschenkenner. Aber die angeregten gelehrten Studien gingen noch lange weiter, auch noch, als er, etwa 23jährig, die reizende Tochter des Kaisers, Faustina, heiratete. Ja, Faustina nimmt jetzt mit Anteil an seiner Lektüre, und Fronto interessiert sich jetzt auch pflichtgemäß für die junge Frau und ist entzückt von den Kindern, die sich bald einstellen.

Der Gedanke, er solle einst Kaiser werden, stimmte Mark Aurel zunächst traurig. Das erklärt sich leicht; denn er hatte ja mit angesehen, wie gräßlich Hadrian gelitten hatte, aufgerieben vom Beruf, und wie wenig der Senat dem Hadrian dankte; und er selbst fühlte die Schwäche seiner eigenen Konstitution. Er ängstigte sich vor der ungeheuren Last: als zweiter Atlas den Erdglobus auf seinem Nacken zu tragen.

Herodian, so hieß der emsigste Philologe jener Zeit, der damals ein großes Grammatikwerk in 21 Büchern schrieb. Wovon handelte es? Von nichts als der richtigen Aussprache des Griechischen, von der Setzung der Akzentzeichen und Regulierung der Buchschrift; und er widmete es dem Mark Aurel; dieser aber nahm die Widmung an, d. h. er übernahm gutwillig persönlich die Verantwortung für die Verbreitung des Werkes und Herstellung guter Abschriften.Über diese Bedeutung der Widmungen im Altertum vgl. Kritik und Hermeneutik S. 138 f.; Aus dem Leben der Antike S. 131. Wie friedlich und nervenberuhigend war doch die Kleinarbeit dieser Berufsgelehrten!

Als dann Antoninus Pius wirklich stirbt und ihm Platz macht (im Jahre 161), ist Mark Aurel vierzig Jahre. Er ist gereift, ruhiger geworden, abgeklärt. Das Studium war nur Vorbereitung zum Leben. Er wirft es entschlossen hinter sich. Vor allem: fort mit den Büchern!Man vergleiche in seiner Schrift »an sich selbst« die Stellen II 2; IV 30. Er verachtet sie jetzt in moralischer Vollkraft. Er rafft sich selbst. Welche Energie des Wesens!ἐνέργεια Buch V 1. »Keine Lebensstellung ist für mein religiöses Leben 315 (φιλοσοφία)B. XI 7. so günstig wie mein jetziger großer Beruf,« sagt er als Kaiser befriedigt.Vgl. V 16: »wo immer du lebst, sollst du gut leben. Am Hof? also am Hof.« Aber er gesteht zugleich, daß dieser kaiserliche Beruf nur seine Stiefmutter, daß die stoische Religion seine eigentliche Mutter ist. Er kann seiner Stiefmutter nur dienen, wenn er seine rechte Mutter lieben darf.Buch VI 12.

Vierzig Jahre lang war bisher Friede gewesen. Er hoffte jetzt zweifellos auf eine friedliche Regierungszeit und griff dabei vornehmlich auf Hadrian zurück, dessen eigentlicher Fortsetzer er ist. Das betraf alle Wohlfahrtseinrichtungen bis hinab zur Einschränkung der Gladiatorenspiele; es betraf auch die Landstädte Italiens. In Italien herrschte früher Selbstverwaltung der Kommunen; aber die Kommunen machten bankerott. Hadrian stellte nun in ihnen zunächst die Rechtsprechung unter kaiserliche Aufsicht, indem er Italien zu dem Behuf in vier Distrikte, als wäre es eine Provinz, zerlegte.Die konsularischen Beamten hießen iuridici. Seit dem 3. Jahrhundert werden dann die sog. correctores zur Beaufsichtigung der städtischen Verwaltungen bestellt. Antoninus gab das wieder auf; Mark Aurel stellte es wieder her. So erneute er auch für das Heer das strenge hadrianische Reglement. Und das war sehr nötig. Der Himmel umwölkt sich von allen Seiten. Mars rasselt mit den Waffen. Die Friedensschalmeien verstummen. Mark Aurel sollte sein Leben in Sorgen und Kriegsstrapazen verbrauchen.

Gleich anfangs gab es eine Tiberüberschwemmung in Rom, die die Stadt entsetzlich mitnahm. Dann begannen die unruhigen Parther im Osten den Krieg. Mark Aurel schickt seinen Adoptivbruder und Mitregenten Verus gegen die Parther, aber zum Glück nicht ihn allein. Avidius Cassius ist der römische Feldherr (Legat), der die Fehde im Osten damals in vier Jahren ruhmvoll erledigte, im Jahre 165. Verus aber war einer von den gottvollen Prinzen, die gern wie ein König in Frankreich leben; gar nicht bösartig, aber von der naivsten Vergnügungssucht. Warum nicht mit Geld plempern? und wozu sind die guten Weine da und die edle Kochkunst und die schönen Weiber? Sich amüsieren ist erste Lebensregel. Er hielt sich während des Kriegs wohlweislich weit außer Schußweite in Antiochien und 316 in jenem verführerischen Daphne auf, dem verrufensten und üppigsten Vergnügungsort des syrischen Orients, wohin man planvoll kein Militär legte, weil es dort verlotterte.

Am liebsten wäre darum dieser Verus ganz im Orient geblieben. Mark Aurel mußte ihn zwingen, endlich zurückzukommen. Er hatte sich schwer in ihm getäuscht, und wir merken daran, welch ein Vollblut-Optimist er war. Mark Aurel hatte dem Verus, dem 31jährigen, seine 15jährige Tochter Lucilla zur Frau gegeben und auch sonst alles getan, um ihn zu heben. Er wollte vor Verus an Ehren nichts voraus haben; alles mußte unter ihnen hübsch gleich sein; sogar den Titel »Vater des Vaterlandes«, mit dem der Senat den Mark Aurel ehrte, mußte sogleich auch Verus erhalten; der edelmütige Bruder bestand darauf, und das Vaterland erlebte die Absurdität, daß es so zwei Väter und einen Vater zu viel hatte. Je sparsamer sein Bruder war, um so mehr konnte Verus ausgeben und lebte im phantastischen Luxus des Kalifen.

Aber die Sorge wuchs. Erst erhoben sich die Marokkaner; d. h. die Mauren machten von Marokko aus Einfälle in Südspanien. Zugleich kamen Mißernten über das Reich und eine gewaltige Hungersnot, die schlimme Krankheiten erzeugte.Ilberg in den Neuen Jahrb. XV S. 304. Es war gerade so wie unter Titus, unter dem auch eine Landplage nach der anderen über die Menschheit niederfuhr. Und schon regten sich die Germanen. Sie durchbrachen den Limes nördlich der Donau, überfluteten das ungeschützte römische Pannonien, das ist das heutige Nieder-Österreich und weiter Steiermark und die Gegenden von Laibach und Ödenburg bis nach Ofen, durchbrachen die Ostalpen, nach Süden, und Todesangst war auf einmal in Rom. Sie standen schon in Norditalien bei Aquileja, dem Hauptbollwerk, das Rom schützte, am Golf von Triest, am Rand der venetianischen Ebene. Die Barbaren sind da! Die Zeit der Cimbern und Teutonen kehrt wieder, und kein Marius schützt uns! An der Spitze des Reichs steht ein Philosoph und ein Schlemmer. Es war das Jahr 168.

317 Bei den in unendlich viele Stämme zersplitterten Germanen war schon öfter der Trieb erwacht, sich zu einen. »Wollen wir die Germanen niederhalten, so müssen wir ihre innere Zwietracht nähren; denn gottlob, sie sind ein Volk der Zwietracht!« so hatte ungefähr einst Tacitus geschrieben, und Trajan hatte den Rat noch mit Glück befolgt. Hermann der Cherusker und Marbod, Hermanns Gegner, hatten unter den Deutschen dereinst schon Einigungsversuche gemacht. Jetzt erlebte Mark Aurel, wie sich die beiden großen Völker der Markomannen und der Quaden zusammentaten und sich, mit noch anderen verwandten Stämmen vereint, aggressiv raublustig auf das Reich warfen.

Ohne Zaudern entsetzte Mark Aurel die Stadt Aquileja. Er zwang Verus mitzukommen. Seine Truppenmacht war gering; aber der Feind wich trotzdem sogleich und gab Entschuldigungen und Versprechungen. Verus war mit dem Erfolg hoch zufrieden und wollte sofort nach Rom zurück. Mark Aurel aber erkannte, wie einst Trajan im Dakerkrieg, daß es galt, den Feind in seiner Heimat aufzusuchen und dort zu erdrosseln. Schon diese Idee zeigt den echten Feldherrn. Als solcher begann jetzt Mark Aurel sich zu zeigen.

Da brach ein neues Unglück herein, die Pest. Es war gleich im Winter 168/169, ein epidemisches Massensterben. Aus der Gegend von Babylon war die Pest im Vorjahr durch das Heer verschleppt worden, und sie fraß um sich in den Städten und in Rom selbst, wo ganze Quartiere ausstarben und ganze Karawanen von Lastkarren die Leichenhaufen zum Tor hinaus in die Massengruben schafften. Das Altertum stand solchen Epidemien ebenso wehrlos gegenüber wie noch unser 18. Jahrhundert. Man denke nur an das nächste, an die Pest in Preußisch-Littauen im Jahr 1739, die Friedrich der Große als Prinz erlebte, wo 300 000 Menschen starben und hunderte von Dörfern verlassen standen. Was nützte die so außerordentliche Sauberkeit der Lebensführung, die das Altertum auszeichnete? das 318 Kloakenwesen, das großartige Bäderwesen, die Riesenthermen Roms? Nur die Götter konnten helfen, irgendein Gott! Alle Religionen bot Mark Aurel auf – nur nicht die christliche, die er mißachtete.Buch XI 3. Umsonst. Auch das Heer zerfraß die Seuche. Ganze Regimenter starben weg. Damals wurde der große Arzt Galén nach Aquileja von Mark Aurel als Leibarzt (archiater) berufen; aber er floh, wie auch Mark Aurel selbst, aus dem Lager nach Rom.Ilberg in den Neuen Jahrb. XV S. 295 f. Galén wurde dann Leibarzt des Sohnes Commodus. Alle Ordnung löste sich auf. Und sogleich steigerte sich wieder der Andrang der Germanen und ihrer Verbündeten.

Wir hören da bekannte und unbekannte Völkernamen: außer Markomannen und Quaden drängen die Sueben, die Osi und Bessi heran, die Langobarden mit den langen Bärten, die Costoboci, Bastarnen, und vor allem auch die Jazygen und andere Sarmaten, berittene Nomaden. Die Quaden verschleppten aus Pannonien 50 000 römische Ansiedler nach Mähren, die Jazygen gar 100 000 in ihr Donauland. Welch entsetzliche Zustände! Ja, die politische Aktion ergriff die ganze römerfeindliche Welt: auch in England regt sich Aufstand; auch die Parther beginnen mit einzugreifen. Das Schlimmste war, daß die Germanen inzwischen viel von der römischen Taktik und Kampfweise gelernt hatten. Die Schüler maßen sich jetzt mit ihren Lehrmeistern.

Da starb Verus, im Jahre 169, an einem Schlaganfall, der ihn, als er mit Mark Aurel im Wagen fuhr, ereilte. Damit fiel eine Last von Markus ab. Er hatte jetzt die Arme frei.

Das römische Heer war stets zu schwach. Der Kaiser mußte die Zahl seiner Regimenter vermehren. Nicht nur die Prätorianer, die Gardetruppen, nahm er aus Rom mit, sondern auch die Gladiatoren aus den Fechterkasernen, die mit ihren blutigen Spielen sonst nur das Gassenvolk in Rom unterhielten, und die Stadt hatte jetzt keine »Schlachtfeste« mehr. Mark Aurel plante von vornherein, diesen grausamsten Sport einzuschränken, und nun schmollten die Pflastertreter in Rom und riefen hinter ihm her: »er will uns alle zu Philosophen machen.«Vita 23, 5. 319 Auch Sklaven bewaffnete er, denen allen hernach als Lohn die Freilassung, eine freie bürgerliche Existenz winkte. Ja, er nahm auch ganze deutsche Stämme in Dienst (so wie die Engländer im 18. Jahrhundert hessische Regimenter kauften), und es ist eine traurige Tatsache; so ist der Deutsche immer gewesen: er verkaufte sich an Rom und focht gegen seine eigenen Landsleute.

Aber der Staatsschatz war durch diese Organisationen bald erschöpft. Mark Aurel brauchte Geld. Da veräußerte er den ganzen kaiserlichen Hausrat, sogar die gewiß wunderherrliche Gemmensammlung Hadrians (so wie Friedrich der Große in der Not das silberne Tafelgeschirr einschmelzen ließ, das der üppige Friedrich I. angeschafft hatte). Das brachte in der Tat Riesensummen ein. Das römische Publikum kaufte wirklich; es war noch kaufkräftig. Späterhin hat dann der Kaiser die meisten Wertsachen wieder zurückerworben.

Auf der Antoninssäule in Rom sind die Siege Mark Aurels im Relief in 116 Bildern dargestellt.In 128 Tafeln herausgegeben von E. Petersen u. a., München 1896. Aber diese Kriegsgeschichte ist trotzdem nicht sehr anschaulich; sie ist vor allem undramatisch. Trajan hatte einen großen Gegner, den intelligenten und machtvollen Dakerkönig Dekebalus. Anders in Mark Aurels Markomannenkrieg; da tritt uns kein heroischer deutscher Held, keine einzelne Siegfriedgestalt, nach der wir uns umsehen, entgegen. Der Quadenkönig, der gefangen wird, hieß Ariogaesus; Jazygenfürsten sind Banodaspus und Zanticus; der Markomannenkönig hieß Ballomarius. Was nützen die Namen? Auch fehlt es sonst an allem drastischen Detail.

Nach der ersten großen Schlacht geht's von der Donau aus die March hinauf, nach Mähren hinein und weiter über das Böhmerland hin in wildfremdem, straßenlosem Terrain, durch Walddickichte und Ströme, bis an unsere schlesische Grenze: gewiß ein schweres Operationsfeld. Pompejanus, sein Schwiegersohn, dessen Bild uns die Säule häufig zeigt, ist immer um den Kaiser, ein Syrer von Herkunft, mit semitischem Gesichtstypus; so aber mutmaßlich auch seine Frau Faustina, die sich 320 hier augenscheinlich vortrefflich bewährte und beliebt war im Heere wie er. Sie erhielt von Mark Aurel amtlich den Titel »Mutter der Heerlager« (mater castrorum), also etwa Soldatenmutter, so wie er selbst Vater des Vaterlandes hieß. Schon im Jahre 173 kehrte er siegreich heim, um gleich danach einen zweiten größeren Feldzug zu eröffnen. Mit den Jazygen wurde da mitten im Winter auf dem Donaueis gefochten. Einmal schleppten die Barbaren gegen das römische Lager eine gewaltige hölzerne Maschine heran; Mark Aurel betet, und ein Blitz fährt im Unwetter vom Himmel, der die Maschine zerstört. Ein andermal verdursten seine Truppen in der Dürre des Hochsommers und sind dazu noch vom Feind umstellt. Der Kaiser fleht wieder zum Himmel, und ein gewaltiger Platzregen prasselt hernieder, der den Römern Erquickung, dem Feinde Verderben bringt. Das ist das Regenwunder – vergleichbar den Bibelwundern des Alten Testaments –, das das Altertum lebhaft beschäftigt hat, weil es über den Ausgang des Feldzuges entschied, und auch in eindrucksvollen Bildern ist es dargestellt und verbreitet worden. Die Christen brachten später, erfinderisch wie immer, die Legende auf, eine Legion, die aus lauter Christen bestand, habe den Regen herabgebetet, und der Christengott habe geholfen.

Mark Aurel

Mark Aurel

Kopf der Bronzestatue auf dem Kapitolsplatz in Rom. Nach Photographie Anderson

Mark Aurel griff derb zu, aber gegen die gefangenen Feinde war er milde; er verkaufte sie nicht in die Sklaverei, ließ sie auch nicht, wie Trajan es mit den gefangenen Dakern machte und wie es auch sonst üblich gewesen, in blutigen Fechterspielen umkommen; sondern er verpflanzte große Scharen als Kolonisten oder »Kolonen« in die Provinzen, auch nach Norditalien: der erste großartige Versuch im Altertum, die Sklaverei einzuschränken, die sich sonst stets aus den Kriegsgefangenen ergänzte. Humanität und Nützlichkeitsgründe wirkten dabei zusammen. Aber der Kaiser dachte trotzdem nicht hoch von diesen Dingen. »Wir sind alle Räuber,« sagte er; »so wie die Spinne im Netz Jagd auf Fliegen macht, so fängt sich der Bauer seine 321 Kaninchen, der Fischer Sardellen, der Waidmann fängt Bären, und ich fange Germanen oder Sarmaten. Ich bin nicht besser als sie alle.«Buch X 10.

Ob er ein großer Feldherr war? Wir haben keinen Anhalt, das zu verneinen. Julius Cäsar hat, um das doch viel wegsamere und für die Verpflegung der Truppen ergiebigere Gallien zu erobern, neun Jahre gebraucht. Mark Aurel brauchte ebenso viel Zeit, um Böhmen und Mähren zu nehmen: wer will entscheiden, wo die größere Spannkraft, Klugheit und Umsicht war? Dabei hatte es Cäsar auch insofern viel leichter gehabt, als seine Gegner auf die römische Kampfweise noch nicht eingeübt waren. Wie anders die Gegner des Mark Aurel! Jedenfalls war es klug, daß er seine Feinde spaltete und erst die Quaden niederwarf, so daß die Völker der Markomannen und Jazygen isoliert waren und unter sich die Fühlung verloren. Und er selbst hat sich ohne Zweifel für nicht geringer gehalten als Trajan; denn Mark Aurel selbst hat die Antoninssäule mit ihren Reliefbildern als Siegesdenkmal in Rom zur Aufstellung bestimmt und entwerfen lassen, in Konkurrenz zur Trajanssäule und in gleicher Größe.

Seine Gesundheit war stets zart. Er nahm seit Jahren täglich Theriak ein, die Modearznei gegen Diätfehler, fieberte leicht und war immer von einem Schwarm von Leibärzten umgeben, die ihm den Puls fühlten.Ilberg in den Neuen Jahrb. XV 297 f. Er litt an kalten Füßen, und seine Füße wurden massiert. Aber er schonte sich nicht. Wie die Bilder zeigen, ist er überall dabei, ob Winter, ob Sommer, trägt gelegentlich den schweren Panzer, reitet Galopp, stürmt mit der Garde eine Anhöhe hinauf in den Feind, detachiert Offiziere, fragt Spione und Boten aus, verliest im freien Felde Armeebefehle, reitet bei einer Parade die Front der Garde ab.Vgl. hierzu das Bild 74. Er ist ein rechter Soldat gewesen; sonst hätten ihn auch die Soldaten nicht so geliebt, wie es uns bezeugt wird. Durch Einöden, durch den dicken böhmischen Urwald ist er mit ihnen gezogen. Es waren jene Urbestände von Buchen, von schwarzen 322 Fichten und Edeltannen, wo erst im späten Mittelalter, im l5. Jahrhundert, gerodet worden ist.

Auf einmal geht durch die Welt die Nachricht, er ist gestorben! Sofort erhebt sich in Syrien Avidius Cassius, der Feldherr, und wirft sich zum Kaiser Roms auf. Die Nachricht war aber falsch, Mark Aurel lebte, und er muß nun von der Donau nach dem Osten eilen, um Cassius zu bekämpfen. Zum Markomannenkrieg soll jetzt noch der Bürgerkrieg kommen. Es war das Jahr 175.Vgl. Archiv für Papyrusforschung VI S. 214.

Cassius war ein ganz gewaltiger Kriegsmann, aber klotzig-brutal und unverschämt; den Mark Aurel nannte er das alte fromme Weib, den verstorbenen Verus hatte er mit mehr Recht den üppigen Pajazz genannt. Brutal sein Strafverfahren. Soldaten, die plündern, schlägt er auf der Stelle ans Kreuz, Deserteure aber tötet er nicht; er verstümmelt sie lieber an den Beinen und sagt: »es ist besser, daß sie so als warnendes Beispiel weiterleben.«

Mark Aurel hatte ihn bisher gewähren lassen; denn für das sittenlose Syrien schien er ihm just der rechte Mann. Jetzt hatte er ihn zum Gegner. Auch Antiochien huldigte dem Cassius. Kaum aber wurde bekannt, daß Mark Aurel heranziehe und lebe, so wurde Cassius von seinem eigenen Militär erschlagen. Mark Aurel vergab allen, die seinem Gegner gehuldigt. Es war auch entschieden das Vernünftigste, dies Intermezzo als ungeschehen zu betrachten; aber der optimistische Kaiser lebte überdies der Überzeugung, daß, was im Leben als Bosheit erscheint, in Wirklichkeit nichts ist als Irrung und Unverstand.

Da traf ihn der harte Schlag, daß ihm auf der Reise im Orient seine Gattin Faustina starb, ohne die er nicht sein konnte. Sie war in ihrer Jugend schön und liebenswürdig, aber auch leichtlebig gewesen. Der Stadtklatsch sagte ihr allerlei Übles nach, und sogar die Komiker auf der Bühne leisteten sich die frechsten Anspielungen. Aber Mark Aurel verhielt sich so, als wäre nichts geschehen; er bedachte gerade die angeblichen Verführer 323 seiner Frau mit seiner Gunst und hohen Vertrauensposten, um jeden Verdacht abzulenken. Faustina war Mutter seiner zahlreichen Kinder, und ihre Nähe tat ihm wohl. Schon ihr Vater, der alte Antoninus Pius, hatte von seiner Tochter gesagt, sie sei so lieb im Umgang: »lieber in der Wüste allein mit ihr, als im Kaiserpalast ohne sie!« Nun mußte Mark Aurel sie begraben, mußte ohne sie im Dezember 176 in Rom einziehen (denn er feierte jetzt einen großen Triumph, gewiß mit Grundsteinlegung der Siegessäule). Dann ging er pflichtgemäß wieder in den Norden, um seine Erfolge in Böhmen zu sichern; denn der Feind, der zwar unterworfen war und dessen Berge römische Kastelle beherrschten, knirschte doch noch in seinen Ketten.

Aber der Klimawechsel, aus Nordeuropa in das heiße Syrien, war gewiß zu gewaltsam gewesen, und ihm fehlte jetzt vor allem die pflegende Hand seiner Frau, die ihm bisher geholfen. Seine Gesundheit litt mehr und mehr.Herodian I 3, 1. Trotzdem wirkte er in großem Zug weiter, bei aller Schwäche, und der Schimmer der Heiligkeit, der Schimmer der Göttlichkeit, der ihn umgab, wurde immer lichter, goldiger und reiner. Denn jene Zeit nannte das göttlichMark Aurel sagt IV 16: wer sich heiligt, erscheint den Menschen schon in 10 Tagen ein Gott, wenn er vorher auch als Tier gegolten., was wir heut sittlichen Adel nennen.

Er verachtete zwar, wie er uns sagt, die gemeinen Vergnügungenτὸ ἀφιλήδονον V 5., aber er war durchaus kein Hypochonderτὸ ἀμεμψίμοιρον V 5., auch kein einsamer Träumer, nein, nein; er blieb Optimist von reinstem Wasser bis an sein Ende. Und was ihn froh erhielt, war eben die Arbeit.II 6; III 12. Das Evangelium der Arbeit, das schon Seneca gepredigt hatte, erfüllte ihn ganz. Im Feldlager in Mähren und Böhmen, bei den Quaden und Sarmaten, da hat er seine berühmten Ermahnungen an sich selbst geschrieben, die uns erhalten sind, in stiller Nacht, wenn die Wachtfeuer loderten, der Schnee den Urwald bedeckte und nur der Anruf der Patrouillen durch die Einsamkeit scholl. Da schaute der Herrscher einwärts in sich selbst, wie er sich ausdrückt.Buch VI 3.

Wir aber denken daran, daß in demselben Böhmerland späterhin ja auch Friedrich der Große seine berühmten drei 324 Kriege um Schlesien geführt hat; und auch er hat da im Feldlager, um sich die Zeit zu verkürzen, philosophiert, meditiert, Gedichte geschrieben. Auch Friedrich ist dort unter Waffen zum Stoiker geworden, und sein herrlicher Ausspruch »es ist nicht nötig, daß ich lebe, wohl aber, daß ich tätig bin«, klingt so, als hätte er ihn aus Mark Aurel genommen. Denn er kannte Mark Aurel genau.

Aber bei Mark Aurel war es Andachtsbedürfnis, ein Sichzurückziehen auf Gott, dessen sein Herz bedurfte. Dabei redet er zwar von den Göttern in Mehrzahl»Überall sind Götter, auch im Jenseits«, III 3. In seinen letzten Büchern wird der Singular ϑεός, τὸ ϑεῖον häufiger; vgl. XII 5., nach der Gewohnheit des Alltags; diese herkömmlichen Götter waren für ihn etwa dasselbe, was für viele Christen die Seelen der Heiligen im Himmel der katholischen Kirche sind. Aber was ihn beschäftigt, ist nur der eine Gott. Das Weltall selbst ist es, zu dem er betet.IV 23. Denn das All selbst ist Gott, und Gott ist das All (Pantheismus!). Aber auch in jedem Einzelmenschen haust ein Gott oder guter Dämon.II 17; III 5. Dieser Gott in uns ist die menschliche Vernunft.XII 26. Aber der Gott in uns ist nur ein Teil des Gottes, der das All ist, unsere Vernunft nur ein Teil der Weltvernunft. So sind wir mit dem All verwachsen wie die Welle mit dem Meer, und unser Tod ist ein Ausfließen unseres inneren Gottes in den Gott, der das All ist.

Vergänglichkeit alles Irdischen! Habe den Mut, deine eigene Nichtigkeit dir klar zu machen. Im unendlichen All sind Asien und Europa nur Winkel, und in der Ewigkeit wechseln die Generationen wie fliegender Staub.VI 36. Gib dich, Mensch, keinen Illusionen hin.Vgl. VI 49: »Ärgerst du dich, daß du nur 100 Pfund wiegst und nicht 300? ärgerst du dich, daß du nur 70 Jahre alt wirst und nicht 300?« Mark Aurel hatte sich zwar, wie Hadrian, in die eleusinischen Mysterien aufnehmen lassen, die da ein Elysium oder ein Himmelreich verhießen, wo sich einmal wie in Dantes Paradies alle Guten zusammenfinden. Aber er redet mit keiner Silbe davon. Er sagt nur: im Tode tritt eine Trennung einIV 21.: so wie der Körper zur Erde wird, so geht die Seele beim letzten Atemzug in die unendliche Luft ein, zu der sie gehört; denn aller Geist ist Lufthauch, Pneuma. Unser 325 Leben ist nur ein einziger Atemzug und alle irdischen Dinge wie die Spatzen, die vor dir auffliegen.VI 15. Wozu nach ihnen greifen? Sie sind schon vorbeigeflogen. Und was ist der Ruhm? Vergessenheit im Auge des Ewigen. Alexander der Große ist ein Häufchen Asche, und sein Maultiertreiber ist es auch. Du stirbst: ein Freund setzt sich auf dein Grab, der um dich weint; dann versiegen seine Tränen; denn er ist auch gestorben, und die Grabstätte ist leer. Vergessenheit! Solche Aussprüche finden sich zahllosObiges nach IV 3 u. 32; VI 36; IV 46 ff. Ablehnung des Lobes IV 19 f. »Ich will mich nicht aufspielen wie Alexander« IX 49.; Mark Aurel mußte sich das immer wieder sagen; sein eigenes lebhaftes Temperament war offenbar ganz anders gerichtet! Daß sein Herz in Wirklichkeit nach Ruhm, nach edlem Ruhm verlangte, das zeigt ja die Antoninssäule in Rom, die er doch selbst hat errichten lassen.

Ist das nun eine trostlose Lehre? O nein! Worin das Glück besteht, hören wir erst jetzt; es besteht in der Tätigkeit für andereOft, z. B. II 6; III 12.; es besteht zudem in der Bewunderung Gottes oder des All.z. B. IV 49; II 6; VII 16; III 2.

Lebe mit den Menschen und sei wahr gegen sie. Wahrheit!ἀληϑές, ἀλήϑεια oft. Habe keine Geheimnisse, außer in Staatsgeschäften.II 1. Handle immer so, daß der Tod dich in jedem Augenblick abrufen kann.II 11. Frägt dich jemand: was denkst du eben? so mußt du es ohne Verlegenheit sagen können.III 4.

Religiosität aber ist nichts anderes als den inneren Gott in acht nehmen und hüten.II 17. Und dieser Gott will die Vernichtung des Egoismus.z. B. IV 60; XII 29. Tue alles, was du tust, für die Menschheit, und zwar rastlosIV 26.: kein Moment soll verloren gehen.

Die Gemeinnützigkeit ist das Programm.τὸ ποινωφελές III 4. Jeder Mensch soll ein Priester sein, d. h. jeder von uns soll ein Helfer Gottes sein.Vgl. IV 49; V 1. So zu leben ist Wonne und Glückseligkeit. O ich Glücklicher! Soll ich mürrisch sein, wenn ich morgens aufstehe und ans Tagewerk muß, zu dem ich doch geboren bin? Der Balletttänzer, der Bildhauer, jeder Handwerker müht sich bis zum Äußersten, um es gut zu machen, und der Staatsmann, der Kaiser wollte es nicht? Tue das Gute ohne Dank»In Erinnerung an Gott von einer gemeinnützigen Tat zur andern«, VI 60., so wie der 326 Weinstock, der immer wieder Trauben trägt.V 6. Das aber ist die ganze Weisheit: laß dein eigenes inneres Gesetz einstimmen mit dem Gesetz des Alls.»Folge deiner φύσις und der φύσις des Kosmos«, geht durch alles hindurch, z. B. V 1 ff.

Dadurch entsteht die Meeresstille im Herzen, nach der er sich sehnt: die »Galene«!VII 68; V 2; VIII 28; XII 22.

So denkt er denn auch an seine eigene KrankheitV 8.: sei ergeben; sie liegt in Gottes Plan; du mußt krank sein, damit das All gesund sein kann, und du störst den Frieden des Weltalls, wenn du mißvergnügt bist.Vgl. das mit den Göttern leben V 27. Bisweilen kommen auch tief melancholische Töne. Wann wirst du ganz glücklich sein, meine Seele? d. h. wann wirst du ganz bedürfnislos sein?X 1. Du hast es gut gemeint, und sie freuen sich doch, wenn du stirbst.X 36. Pessimistisch auch IX 3: Nichts würde mich im Leben zurückhalten außer dem Zusammensein mit Leuten von gleicher Überzeugung; nun aber, Tod, komm schnell! Offenbar spät abgefaßt, angesichts der Entartung des Commodus. Auch der alternde Friedrich hat sich mit diesem melancholischen Gedanken getragen, daß man auf seinen Tod wartet. Im ganzen aber siegt und frohlockt der fromme Optimismus.»Genieße das Leben, indem du ein Gutes an das andere fügst« XII 29. Vgl. über Eudaimonie, Freude IV 49; II 6; VII 17; VII 67; IV 49; VIII 39; III 2; VI 48; VIII 26. Ich habe keinen Anlaß, mich selbst zu betrüben, denn ich habe wissentlich nie einen anderen betrübt, VIII 42 (das war auch die Gesinnung des Titus). Fasse das Unglück fest ins Auge, um darüber zu stehn und froh zu sein: VIII 31. Freue dich an der Harmonie des Weltplans.V 30. Freue dich an allem, was du schon erlebt hast. Wahre deinen inneren Rhythmus, wenn von außen dich etwas erschüttert.VI 11. Reue ist nichts; mach' es besser.VIII 47. Fliehe vor allem den Menschenhaß und die Isolierung.XI 8. »Heiter« ist das Wort, das hindurch geht: heiter erwarte dein Geschick. Mit dem Wort»heiter« klingt die ganze Schrift aus: »Nun geh' heiter von dannen«.ἵλεως V 33; vgl. VIII 47. ἵλεως τῷ σεαυτοῦ δαίμονι διαβιῶναι XII 3. εὔμοιρος V 36. Schluß: ἄπιϑι οἶν ἵλεως.

Daher nun aber endlich auch seine Toleranz gegen die SchlechtenVgl. Seneca de ira. So lesen wir VII 70: Du zürnst doch auch nicht dem, der schlecht aus dem Munde riecht. Vgl. auch VIII 14; IX 42., ja sein Wohlwollen gegen die, die ihn schmähen.IX 27. Es ist das »liebe deine Feinde« in anderer Gestalt. Differenzen müssen eben sein. Ein Steuermann darf sich nicht wundern, wenn es Sturm gibt. Was nützt es, das Unwetter zu hassen? Sonne und Regen sind Gegensätze, und sie wirken doch zusammen zum Heil des Ganzen: so auch du mit deinem Gegner. Und die Schlechten? die Götter dulden sie, also auch ich: d. h. ich will kein Henker sein.VII 70. Schlechte können nur Schlechtes tun: wer von ihnen anderes erwartet, ist verrückt.V 17. Daher auch die Nachsicht gegen die Vergnügungssucht der schwächlichen Naturen: VII 3. Belehre sie oder ertrage sie.VIII 99; 18. Die beste Abwehr ist, es nicht ebenso machen wie sie.VI 6. Aber die Vernunft wird siegen: so wie das 327 Sonnenlicht einen grenzenlosen Ausdehnungstrieb hat, so auch die Vernunft.VIII 57.

»Nun geh' heiter von dannen,« so schloß Mark Aurel, wie gesagt, seine Selbstermahnungen. Der Markomannenkrieg war so gut wie erledigt, als er, noch nicht ganz 59 Jahre alt, am 17. März 180 starb. Er starb in Wien, fern von Rom. Bald hernach führten seine trefflichen Generäle den Krieg völlig zu Ende, und Rom hat jene Markomannen und Sarmaten nie wieder zu fürchten gehabt. Der Erfolg war also vollständig. Aber des Kaisers Tod war dennoch in Trauer verschattet. Denn an seinem Sterbebett stand sein neunzehnjähriger Sohn Commodus, und Mark Aurel wußte, daß dieser Sohn zu den Schlechtesten der Schlechten, deren Existenz er geduldet hatte, gehörte.

Warum hatte das Schicksal ihm einen Sohn gegeben? Von dem Adoptionsverfahren in der kaiserlichen Erbfolge, das sich bisher so trefflich bewährt hatte, mußte er abgehen. Dieser junge Commodus war es, gegen den sich Avidius Cassius im Orient erhoben hatte. Commodus sollte nicht Kaiser werden. Mark Aurel aber hatte von früh an alles dafür getan, daß Militär und Senat seinen Sohn als Thronerben, ja, schließlich als seinen Mitregenten anerkannten. Er hatte überdies auch alles getan, ihn zum Guten zu lenken.Herodian I 2; auch Dio Cassius. Aber die Erziehung mißlang ihm, wie dem Seneca die Erziehung des Nero, vollständig. Vielleicht lag dies daran, daß die stoische Moral den Zorn verbietet. Vielleicht hat er dem Commodus nicht genug den väterlichen Zorn gezeigt.Warum schrieb Mark Aurel Ermahnungen an sich selbst? er hätte sie lieber an Commodus richten sollen! Einige Kapitel sehen wirklich so aus, als wären sie an Commodus gerichtet, über die untätige ἡδονή s. V 1 und VI 13; IX 1; XI 18. Oder war Commodus gar ein unechter Sohn? hatte Faustina, wie man munkelte, wirklich auch mit Matrosen und Gladiatoren verkehrt? Ein Scheusal und Bluthund, das war der junge Kaiser Commodus, und der Satz bewährt sich auch hier, daß die Dynastien im alten Rom meist schon im zweiten Glied degenerieren. Es war, als ob alle durch fünf gute Regenten zurückgedrängte Niedertracht jetzt endlich wieder frei würde. Der Palast in Rom, in dem die edlen Antonine gehaust, wurde zum schmutzigsten Harem, das 328 tyrannische Morden wieder Tagesordnung, und Commodus selbst stieg in die Arena hinab und focht, focht vor dem Volk als Gladiator: die schnödeste Verhöhnung seines edlen Vaters.

Es folgte die gänzliche Zerrüttung des Reichs und das Chaos. Jene zahllosen Militärkaiser folgten jetzt, die fast immer nur an den Reichsgrenzen stehen und sich gegenseitig befehden, die da auftauchen und untergehen wie die Schaumköpfe auf den Wellen. Zunächst Mark Aurels Generäle selbst, Pertinax, Julian und der gewaltige Septimius Severus, der noch einmal die Reichseinheit rettete. Aber die eigentlichen Fortsetzer seines Geistes, das waren vielmehr die großen römischen Juristen, die zum Teil zugleich Gardepräfekten und die nächsten nach dem Kaiser waren, Papinian, Ulpian, Paulus und Modestinus, die damals, um das Jahr 200, das römische Recht mit den sittlichen Idealen und mit der Humanität erfüllten, durch die es bis in unser 19. Jahrhundert ein Vorbild und ein Erzieher der christlichen Menschheit geblieben ist. Das ist festzuhalten, und die Menschheit darf es nie vergessen: das römische Recht ist in seiner Vollendung das sittliche Erbe des 2. Jahrhunderts und der Kaiser Hadrian, Antoninus Pius und Mark Aurel gewesen. Insbesondere die Erinnerung an Mark Aurel beherrschte noch das ganze folgende Jahrhundert; ja, als Gott, der nach seinem Tode zum Himmel geflogen und jetzt dort oben Gefährte und Beisitzer der Götter ist, ist er noch lange verehrt worden. »Kein Schmeichler kann sich einen solchen Kaiser ausdenken, wie dieser war.« Alle lieben ihn wie ihren Vater und Bruder, aber niemand weint um ihn, da er ja nun Gott ist. Für gottlos gilt, wer sein Bild nicht in seinem Hause aufstellt; aber auch in Tempeln wird ihm von Priestern Dienst erwiesen.Herodian I 4, 8 u. 5, 6; Vita des Verus, Ende. Um das Jahr 300 ist noch Diokletian, im 4. Jahrhundert ist noch Kaiser Julian, der Apostat, Mark Aurels Bewunderer. In Julians Göttergastmahl treten alle verstorbenen römischen Kaiser besseren Namens bis auf Konstantin den Großen auf, und jeder muß sagen, was das Ziel seines Lebens war. Julius Cäsar nennt da die Freude an der Macht oder in allen Dingen der erste zu sein, Oktavian Kühnheit und Glück und die Sicherung der Dynastie, Trajan ein Allbesieger zu sein wie Alexander der Große. Konstantin will nur sich selbst bereichern und seinen Launen und Leidenschaften frönen. Mark Aurels Ideal dagegen ist »die Götter nachzuahmen«, d. h. es an Fürsorge für die Menschheit den Göttern gleich zu tun.

Der so wundervoll gesunde Körper des Römerreichs starb langsam dahin; er starb durch drei Jahrhunderte. Die Germanen und Parther waren seine Zerstörer. Die Alemannen und Franken am Rhein, endlich gar die Völkerstämme der Goten drangen 329 über die Grenzen in unüberwindlicher Jugendkraft, als die intelligentesten Schüler und zukünftigen Erben des Altertums. Um das Jahr 300 hatte der Kaiser Diocletian, der Sklavensohn aus Illyrien, die längst notwendige Teilung der Reichsregierung in ein Ostrom und Westrom endlich vollzogen. Konstantin hob diese Teilung nur zeitweilig wieder auf; er ist es vor allem, der im Jahre 330 Konstantinopel gründete und dem Osten eine neue Hauptstadt gab, die sich besser bewährte als das Alexandrien als Hauptstadt Mark Antons. In Diocletian erlebte die griechisch-römische Welt den ersten großen Sultan und Götzen auf dem Thron, im perlengestickten Ornat, der die Bürokratie, die Hadrian geschaffen, ausbaute und in ein engmaschiges Verwaltungssystem mit gesteigerter Kontrolle umwandelte, und Konstantin setzte dies System – man kann es »das starre System« nennen – fröhlich fort; zudem aber wagte Konstantin den großen Schritt, dem Christentum selbst, das den Kaiserstaat alten Stils bisher bekämpft hatte, die Hand zu bieten, auf das Christentum den zerrütteten Staat zu stützen, es regierungsfähig zu machen. Aber der Schritt mißlang; denn die christlichen Kaiser haben in der Folge nicht mehr geleistet als ihre Vorgänger.

Seitdem kommt im Orient der despotisch byzantinische Geist zur Herrschaft, und Rußland, das Rußland Peters des Großen ist, wenn wir durch die Jahrhunderte blicken, der Nachfolger dieses byzantinisch oströmischen Reichs geworden; Moskau das slawische Byzanz. Daher eben herrscht in der russischen Kirche die griechische Orthodoxie, und der »Zar«, der nun verschwundene, bedeutet ja nichts als »Cäsar«, das ist der Kaiser.

Ganz Westeuropa dagegen wurde seit dem 5. Jahrhundert germanisch. Nicht nur Österreich, Deutschland, Skandinavien, auch England ist heute noch echtes Germanenland; halbwegs auch Frankreich; denn die französische Sprache ist zwar lateinisch, das Blut der Franzosen aber hat fast nichts von Rom; es ist gallisch-fränkisch, wie schon der Name Frankreich, la France, 330 besagt. Frankreich ist ebensowenig romanischen Bluts wie Frankfurt. So wurde für den Occident Karl der Große, es wurden die fränkischen Karolinger, die Germanenfürsten waren und in dem Gallien des Altertums saßen, für Westeuropa die Erben der alten römischen Kaisermacht, und dieses antike Kaisertum sahen wir endlich, modernisiert, auch noch in unserer jüngsten Zeit im glorreichen Deutschen Reich lebendig. »Alles, was ist, ist Same des Zukünftigen,« sagt Mark Aurel.Buch IV 36. Die Preußenkönige auf deutschem Kaiserthron Mark Aurels Nachfolger! Aus dem Samen der Antike ist in der Tat nach Jahrtausenden langsam unsere Gegenwart erwachsen, und zwar vom Trivialsten bis zum Erhabensten: unsere Ernährung in Küche und Keller, unser Straßenwesen, unsere ästhetischen Vergnügungen, unser Recht, unsere Religion und unsere Moral; so auch unser Herrscherideal, wie es Seneca vorgezeichnet und Mark Aurel verwirklicht hat.

 


 


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