Theodor Birt
Römische Charakterköpfe
Theodor Birt

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Die Gracchen

Scipio, der Besieger Hannibals, und sein Gegner Cato, der Zensor, waren gestorben. Sie gehörten einer glücklicheren Zeit an. Es folgt auf sie eine andere Generation, und eine Fülle unternehmender Männer großen Zuges und von starkem Wollen treten jetzt auf einmal ins Licht der Geschichte, die sich gegenseitig bekämpfen und bestreiten; aber der Hintergrund der Zeit wird plötzlich düster, wir nähern uns der Schreckenszeit Roms, dem furchtbaren, blutrauchenden ersten Jahrhundert v. Chr., der Zeit, die nach einem Alleinherrscher, einem König, sucht und ihn nicht finden kann.

Die äußere Politik Roms, der Imperialismus, die Angriffspolitik, hatte vorläufig alle ihre Wünsche befriedigt und war an einem Ziel und Ende angelangt; Rom hatte um das Jahr 140 v. Chr. die Welt so gut wie in Händen: Spanien, Griechenland, Mazedonien, Afrika waren Provinzen; ja, der pergamenische König in Kleinasien war Roms Vasall geworden: Eroberungen, die keineswegs aus dem Expansionsbedürfnis hervorgegangen sind, als hätte Italien an Übervölkerung gelitten, wie heute Deutschland, das nicht weiß, wohin es mit seinen Kräften soll, – sondern lediglich aus Raubsucht, aus unverhüllter Gier nach den Reichtümern des Nachbarn (darin ist Rom Englands Vorbild), und dies ist nirgends besser ausgeführt als in dem Brief des Königs Mithridat an Arsakes, den wir besitzen. Je reicher der Bürger in Rom durch solche Beute wurde, je weniger brauchte er zu arbeiten: man badete, sah Schauspiele, lief in die Volksversammlungen und speiste gut. Darauf lief schon damals das Römertum hinaus. Die Bürger zahlten jetzt auch keine Steuern mehr; denn die unterjochten Länder füllten die Staatskasse.

Man sollte also meinen, das Glück des Schlaraffenlandes sei auf den sieben Hügeln eingezogen. Aber das Gegenteil war der Fall. Jetzt klafften in Rom selbst die Gegensätze auseinander. Die Raubpolitik des Senats rächte sich rasch und unmittelbar. Denn die hohen Herren, Staatsmänner und 53 Magnaten, rissen alle Beute an sich, und nicht nur draußen die wehrlosen Provinzen fluchten auf Rom: das Volk selbst stand, die Proleten standen hungernd und dräuend in Roms Gassen. Vor allem das Landvolk Italiens, Italien selbst fühlte sich getreten und fing an, sein Recht zu fordern. Die soziale Frage nahte rasch und auf einmal: ein Wetterleuchten der gräßlichen Revolution.

Noch regte sich nichts, und da war ein Mann, auf den alles hoffend blickte; man glaubte, er könne ein Wunder tun: das war der junge Scipio, der sich Ämilianus nannte. So hieß er; denn er war kein wirklicher Scipio, kein wirklicher Cornelius, sondern Sohn des Feldherrn Ämilius Paulus, trat aber durch Adoption in die Scipionische Familie über. Durch diese Umstände hochgehoben, war er schon gleich im Alter des Fähnrichs oder des Primaners erster Mann Roms, getragen durch seine Verbindungen, bald auch durch seinen fürstlichen Reichtum; dazu klug, hochgebildet und auch höchst robust. Er stand durchaus seinen Mann. Duelle gibt es im Altertum nicht. Aber im Krieg nahm er die Herausforderung eines wilden Spaniers zum Zweikampf an und schlug den Kerl nieder. Welcher englische Lordsohn oder Baronet läßt es sich heute einfallen, sich mit einem Indier oder Nigger zu boxen?

Aber er war leider zu edel, dieser Scipio, und von einer unbeschreiblichen Vortrefflichkeit. So sagen alle Zeugen. Es ist ja herrlich, gut zu sein, aber in den Ständekämpfen, wo immer der Roheste Recht behält, nützt es nichts. Die Römer sprachen diesen Scipio selig, als er starb – man glaubte, daß die Seligen nach dem Tode körperlos und als Geister verklärt im Himmel auf der Milchstraße hausten: vielleicht haust Scipio dort oben noch jetzt. Aber in den Büchern unserer Geschichtschreibung wird er als politische Größe unerbittlich verurteilt. Wo alle schlemmten und pokulierten, war er mäßig bis zur Abstinenz.abstinens: Panätius lobt ihn deshalb; Cicero de off. 2, 76. In Anlaß seiner früheren Siege war er lange Zeit der mächtigste Mann der Stadt, aber er trat immer vor anderen bescheiden zurück 54 mit unendlicher Verbindlichkeit: »bitte sehr, nach Ihnen, gehen Sie voran!« Als Feldherr bewährte er sich wunderbar, und darum setzte auch der alte Cato seine Hoffnung auf ihn. Denn Scipio Ämilianus ist es, der Karthago zerstörte, er ist es, der hernach auch die feste Stadt Numantia in Spanien nahm. Aber auf Feldschlachten ließ er sich nicht ein. Dazu war er zu methodisch, zu pedantisch. Er belagerte nur. Er war ein gelehrter Stratege, benutzte die griechischen Bautechniker und Ingenieure ausgiebig und steigerte die Belagerungskunst des römischen Heeres mit Laufgräben, Schirmdächern, Türmen, Geschützen, Maschinen usw. bis zur höchsten Leistungsfähigkeit. So hat er die feindlichen Städte mit Bauten eng eingeschlossen und langsam ohne alle Gemütserregung erdrosselt und ausgehungert. Von den Belagerungsbauten und befestigten Feldlagern Scipios sind in Spanien ausgedehnte Reste noch zu sehen; eine archäologische Expedition unter deutscher Führung hat sie dort wieder aufgedeckt – in der Tat eine außerordentlich großartige, bewunderungswürdige Sache.

Das Volk huldigte ihm anfangs abgöttisch; obgleich er das gesetzlich vorgeschriebene Amtsalter noch lange nicht besaß und der Hochadel des Senats sich heftig widersetzte, hatte das Volk ihn zum Konsul und Oberfeldherrn gewählt. Scipio ließ sich die Wahl gefallen. Aber weiter ging er nicht.

Er mußte wissen, welche Not herrschte, welche Wünsche das Volk bewegten. Er rührte sich nicht. Er versenkte sich statt dessen in die griechische Literatur und lebte von den hervorragendsten griechischen Männern umgeben; der Geist Athens gab ihm die Politur: ein attisch polierter Römer! Es ist im Grunde doch unendlich denkwürdig: Scipio war der erste große Vertreter der Humanität in Rom, und das berühmte Wort »homo sum« stammt aus seinem nächsten Umgangskreise. In dem Volk der Raubtiere und Selbstsüchtlinge war Scipio der erste, der Güte und Selbstlosigkeit auf sein Programm schrieb, voll Ernst und voll Ehrlichkeit: der Mann mit den milden Händen 55 und dem leutseligen Blick, der nie böse und wütig wird und immer nur freundlich und vernünftig zuredet. Des großen griechischen Geschichtsschreibers Polybius nahm er sich an und ließ ihn auf seinen Feldzügen nicht von sich. Daher stammt die wunderbare Weltkenntnis und der politische Weitblick dieses Polybius; das dankte er dem Umstand, daß sein liberaler Protektor ihm in alle römischen Verwaltungsdinge freien Einblick gewährte. Der griechische Weltweise Panätius war des Scipio A und O, sein täglicher Gewissensrat, sein Seelsorger. Jedes kleine Lob des Panätius, wenn Scipio sich gut geführt, beglückte ihn mehr als ein gewonnener Feldzug; und da handelte es sich eben um stoische Tugend: edel sei der Mensch, hilfreich und gut, aber vor allem ohne Leidenschaft! Wie schön, aber wie ungünstig! Hatte Scipio einen Funken von Temperament, so wurde er ihm durch diese fromme Lehre ausgeblasen.

Und doch trug er sich im Geheimen mit einem gewaltigen Traum, König, Diktator, der Alleinherrschende in Rom zu werden. Wenn die Not am größten, da wollte er der Retter sein.

Er studierte daher die griechischen Lehrschriften und Theorien über die beste Staatsverfassung und kam dabei so etwa auf das Ideal dessen hinaus, was wir eine konstitutionelle Monarchie nennen, ein Ideal, das in Rom später immer wieder auftaucht.

Aber wie sollte er dazu kommen, Diktator zu werden, seine Ideale zu verwirklichen? Er hielt vortreffliche Reden, wollte aber durchaus keine gewagten Mittel! beileibe nicht! keine Gewalt! und saß und wartete, als sollte sich die Sache durch irgendeine Wendung von selbst machen. Das Volk wurde flau, die Vornehmen zuckten die Achseln, Jahr um Jahr verging, und man fing an, ihn zu vergessen.

Aber es gab noch glühende Herzen in Rom; zwei vornehme Jünglinge lebten und sahen aus nächster Nähe diesem unechten Scipio zu, zwei echte Nachkommen des großen Scipio Africanus, des Besiegers des Hannibal: das waren die Gracchen, die Söhne 56 der Cornelia. Und hier haben wir sie selbst genannt, Cornelia, die Mutter der Gracchen.

Cornelia, des großen Scipio Tochter, heiratete ziemlich spät, und zwar einen beträchtlich älteren Mann, den Tiberius Sempronius Gracchus, einen Politiker von entschlossen und energisch zugreifendem Charakter, der in vielen Punkten in der Weise wie Cato, der Zensor, den Geist des strengen Römertums zu retten suchte. Ihre Ehe war glücklich. Zwölf Kinder gebar Cornelia dem Manne, – auch Niobe, die Tochter des Tantalus, war Mutter von zwölf Kindern! –, und neun verlor sie früh durch Krankheit. Als sie Witwe, hatte sie nur noch zwei Söhne und eine Tochter. Um so größere Hoffnungen setzte sie auf die drei. Ihre Tochter gab sie keinem Geringeren als dem jungen Scipio Ämilianus zur Ehe, und Scipio war somit der Schwager der jungen Gracchen.

Die zwei Söhne hegte sie wie ihr Augenpaar, mit einem Fanatismus des Mutterstolzes; denn sie sah ihre außerordentliche Begabung, erzog sie auf das sorglichste und zwar in jenem reinen Geist griechischer Humanität, griechisch-philosophischen Feinsinns und Edelsinns, in dem auch Scipio groß wurde. Viele geistvolle Griechen gingen in ihrem Hause aus und ein, und sie blickte dabei mit halber Geringschätzung auf den Scipio hin; darum hat man ihr den Ausspruch angedichtet: »Dereinst im Buch der Zukunft soll man mich nicht Schwiegermutter des Scipio, man soll mich Mutter der Gracchen nennen.« Eine Adlermutter, die auf den Ausflug ihrer Adlerbrut wartet mit Ungeduld.

Ihr älterer Sohn Tiberius war, wenn wir einer Schilderung folgen, die etwas sentimental zugestutzt scheint, aber die Hauptzüge doch aus älterer Überlieferung genommen haben mußZur Überlieferung über die Gracchen vgl. E. Kornemann in Klio, Ergänzungsband I, Heft 1. ein stiller, in sich gekehrter Junge, wie so oft die sinnigen Knaben sind, eine Gelehrtennatur, sanft und herzgewinnend im Sprechton, mit verträumtem Blick, schlicht und anspruchslos in der Lebensweise. Das griechische Evangelium der Menschlichkeit, 57 der Selbstveredelung durch die Bemühung um andere, steckte ihm tief im Herzen. Im wüsten Verkehrsleben Roms zeigte er eine tadellose Führung und galt darum, wie Scipio, als ein Wunder der Sittlichkeit. Er stand diesem Scipio ohne Zweifel anfangs persönlich ganz nahe. So war er auch Zeltgenosse Scipios im Krieg gegen Karthago, im Jahr 146. Echt römisch war dabei doch aber der altmodische Wunderglaube, dem Tiberius zeitlebens nachhing. Es war alte Sitte, die Vögel zu beobachten; das geschah von Staats wegen. Aus der Art, wie gewisse Vögel, die man sich hält, fliegen, fressen oder schreien, deutete man die Zukunft. Tiberius Gracchus wurde selbst Augur oder Vogeldeuter, und er legte Wert darauf.

Im Jahr 146 war er in Afrika vor Karthago. Da wurde der starke Geist seines Großvaters in dem sanften Menschen wach; als erster von allen hat er beim Sturmlauf Karthagos Mauer erstiegen. Dann kam er nach Spanien, wo die ewigen Kriege vor Numantia nicht abrissen, als Verwalter der Kriegskasse (oder Quästor), und hier ergab sich zwischen ihm und Scipio der erste Zwiespalt, der den jungen Gracchus zwingen mußte, von seinem berühmten Schwager gering zu denken. Wer weiß nicht von dem Todesmut Numantias? Mit dieser heldenhaft-siegreichen Stadt war notgedrungen ein Vertrag, der ihren Bestand sicherte, geschlossen worden; der römische Senat kassierte nun diesen Vertrag auf das perfideste (so perfide ist kaum England gewesen wie Rom), und Scipio fügte sich dieser Senatsentscheidung, die Tiberius Gracchus als unehrenhaft verwarf.

Da löste sich sein anschmiegendes Gemüt von Scipio und von jeder Autorität. Tiberius sprang auf seine eigenen Füße. Er erhob sich selbständig und ganz allein zu einer Tat des Wohlwollens, deren Folgen er nicht absah, mit einer Zielsetzung, die seit langem unerhört war: Kriegsruhm und Siegesfanfaren waren für ihn nichts. Es handelte sich um die Ernährung des Proletariats, es handelte sich um den Volkswohlstand, das wirtschaftliche Gedeihen Italiens. Er trat vor das Volk mit einem 58 Ackergesetz und entrollte damit die soziale Frage. Es war das Jahr 133.

Hier ist es, wenn wir den Hergang verstehen wollen, notwendig, uns über die Reichsverwaltung und über die ganz eigenartige Verfassung Roms zuvor etwas klar zu werden. Es waren durchweg die unhaltbarsten Verhältnisse, und ein Zusammenbruch mußte irgendwann einmal eintreten: je eher, je besser.

Man denke sich: Rom, eine einzige Stadt von etwa 300 000 Bürgern, soll ein Reich von annähernd einer Million Quadratmeilen beherrschen, verwalten mit seinem städtischen Personal! Man denke sich, Berlin allein sollte mit seinem Magistrat zwei Drittel von Europa unterjocht halten und verwalten. Es war sinnlos, ein Unding. Aber diese Mißstände waren ein fettes Fressen für die Herren Senatoren, und die wollten daran nichts geändert wissen.

Die Senatoren saßen lebenslänglich im Senat; sie konnten also wirklich regieren; alle Magistrate dagegen, wie die Konsuln oder Bürgermeister, wechselten alljährlich: immer andere Gesichter; man hatte Angst, bei mehrjähriger Amtsdauer könnte sich solch ein Konsul zum Alleinherrscher machen. Daher waren es nun alljährlich auch andere senatorische Beamte, Landesverwalter, die in die Provinzen abgingen, und eine Stetigkeit in ihrem Wirken fehlte überall vollständig. Man wollte gar keine geregelten Zustände. Es war ja viel schöner, daß jeder Statthalter die betreffende Provinz aufs neue wieder ausplündern konnte; und sein Gefolge half ihm dabei. Jede Kontrolle fehlte. Sie brachten in die Provinz unzählige volle Weinfässer, tranken sie da leer, füllten sie mit geraubtem Gold und Silber und brachten die Fässer so wieder nach Hause, als wenn sie einen guten Wein importierten.Plutarch Gaj. Gracchus 2. Erst unter dem römischen Kaisertum sind die Provinzen aufgeblüht. Verklagte die Provinz etwa ihren Statthalter in Rom, so waren es wieder nur Senatsherren, die da zu Gericht saßen, und die sorgten unbedingt 59 für Freisprechung. Denn ein Geier hackt dem andern die Augen nicht aus. Aber die Sache wurde noch bunter. Dieselben Feldherren und Gouverneure gehorchten jetzt auch schon oft dem Senat nicht mehr, und bei jeder Unbotmäßigkeit solcher Männer, die mit der Faust an ihr Schwert schlugen, krachte die ganze Staatsmaschine.

Wer war Souverän im Reich? Souverän war nicht der Senat, sondern das Volk der Hauptstadt, die Volksversammlung. Das Volk als Souverän wählte daher durch Massenabstimmung alle Magistrate, auch die Konsuln und Feldherren, ja jetzt auch die unteren Militärgrade, Oberste usw., was für die Bürgertruppe eines Kleinstaates vielleicht noch Sinn hatte, jetzt aber vollständig wahnsinnig war. Denn die unfähigsten Gecken, die sich durch Bestechung die Stimmen kauften, kamen so in die hohen Posten, um an der Ausschlachtung der Provinzen teilzuhaben.

Schon ein allgemeines Wahlrecht, wie wir es heute in Deutschland besitzen, ist ungerecht (das sah schon Cicero). denn der Bessere kommt darin neben dem Minderwertigen nicht zur Geltung. Nun aber erst das Volk in Rom! Ein Parlament, eine Vertretung des Volkes durch Abgeordnete kennt das ganze Altertum nicht. Das ganze Volk, so wie es war, lief auf dem Markt, lief in der hürdenartigen Umzäumung in der Nähe des Corso in Rom zusammen und votierte da die Gesetze, wählte, richtete, mit direktestem Stimmrecht. Dabei fehlten natürlich meist gerade die besten und interessiertesten Leute, nämlich die zahlreichen Bürger, die auf dem Lande wohnten; sie konnten nicht immer gleich zur Stelle sein; denn Eisenbahnen, Expreßzüge, gab es noch nicht. Dagegen drängte eine Menge Unberufener sich ein, die am meisten schrien. Die Kontrolle konnte nicht ausreichen. Wie leicht ließ sich nun diese Volksmasse mißbrauchen! Denn sie bestand im wesentlichen aus Proletariat und Straßenbummlern, sowie ferner aus den zahllosen sogenannten Freigelassenen, gewesenen Sklaven oder ihren Söhnen, die gar kein echtes Nationalgefühl haben konnten. Es war keine 60 Verhandlung – es war Geschrei, Radau, Tumult, rabiate Hetze, Niederbrüllen. Römerlungen gehörten dazu, um da durchzudringen.

Auf das Wählen der Magistrate legten die kleinen Leute am meisten Wert. Dies Wahlrecht war ungeheuer einträglich; es wurde zum festen Einkommen: denn alljährlich fand ein Dutzend solcher Wahlen statt, und der Stimmenkauf war gang und gäbe. Kolossale Bestechungen, ein Riesenumsatz; der schmutzigste Handel. Man führte deshalb geheime Abstimmung ein. Aber das half nichts.

Jeder mußte damals fühlen: ein zentraler Wille war nötig in diesem ungeheuren Raubgetriebe. Wollte der Hochadel des Senats, die sogenannten Optimaten, nicht selbst gründlich Wandel schaffen, so mußte sich ein Fürst auftun, ein starker Reformer, der sich durch Plebiszit auf das Volk stützte und die Volkssouveränität in sich zusammenfaßte.

Aber alles das betraf nur die Stadt Rom. Die Hauptschwierigkeit für die Zukunft lag im Umland, in Italien außer Rom. Es waren da höchst verwickelte Verhältnisse. Auf der Halbinsel Italien gab es Landstädte mit sogenanntem latinischem Bürgerrecht (ein Recht, das in Rom selbst für nichts galt), da gab es römische Bürgerstädte (z. T. Kolonien, die Rom gegründet), endlich Städte, die offiziell die Förderierten (socii) Roms hießen. Es handelt sich um die Italiener außer Rom – nennen wir sie kurzweg Italiker. Sie hatten alle letzten großen Siege in Asien und Afrika für Rom erfochten, hatten dabei ihre großen Kontingente selbst für eigenes Geld ausrüsten müssen, aber die große Kriegsbeute, die floß immer nur in die Hauptstadt, und sie selbst, die Italiker, wurden systematisch wie herrenlose Hunde, auf das schnödeste behandelt. Ein tiefer Unwille herrschte allerorts.

Und dazu kamen endlich die agrarischen Mißstände. Die Magnaten Roms hatten allmählich den Kleingrundbesitz, die italienischen Bauern, ausgekauft, auch die Staatsdomänen in die Hand bekommen und bewirtschafteten die unermeßlichen 61 Landstrecken mit ihren Sklavenscharen; deshalb ging der Kornbau ganz zurück; alle Felder wurden zu Weideland. Große Kornladungen ließen die römischen Beamten vom Ausland über See nach Rom kommen und gaben das Korn dort zu Schleuderpreisen ab, um sich damit beim Gassenpöbel beliebt zu machen. So kam es nun, daß aus den Landstädten das Volk, dem es an Geld, dem es an Recht, dem es an Arbeit fehlte, massenhaft nach Rom strömte, um da den Stadtpöbel zu vermehren. Dort in Rom, da konnte man wenigstens mittun, mitschreien und mitregieren; ein heimatloses Hin- und Herwogen. Ab und zu wurden die Zugewanderten in Massen wieder ausgewiesen: hier Jammer und Wut, dort die kaltschnauzigste Brutalität. Niemand dachte vorsorgend an die Zukunft, niemand dachte an eine Sicherung des Staates.

Der alte Cato war Agrarier gewesen und zeigte für Ertragsteigerung der Landwirtschaft den allergrößten EiferVgl. u. a. Cic. Cato 24., aber er änderte nichts an den Besitzverhältnissen. Wichtig ist immerhin, daß Cato ein paar Landstädte neu gegründet hat; es spricht zum wenigsten vieles dafür, daß er zur Gründung der Städte Parma und Modena im Jahre 183 den Anstoß gab. Es waren das Ackerstädte für römische Stadtbürger, die Arbeit suchten. Das war etwas Gesundes.

Dann plante Scipio Ämilianus im Jahre 145 wirklich ein sogenanntes Ackergesetz; er ließ es aber sogleich fallen, als der Senat ärgerlich die Stirn runzelte.

Alles das überdachte der junge Tiberius Gracchus in seinem Herzen. Just fünfzig Jahre waren, seit Cato jene Ackerstädte gründete, vergangen. Da trat Tiberius entschlossen hervor und ließ sich in Rom zum Tribunen wählen. Zum Volkstribunen! Ihn verlangte nach keiner militärischen Laufbahn.

Solcher Tribunen gab es zehn in jedem Jahr, die immer abwechselnd und nach Verabredung die großen Volksversammlungen leiteten. Der Senat knirschte, denn dieser sanfte Jüngling stand jetzt zielbewußt vor dem Volk und empfahl ein 62 Gesetz, wonach den arbeitslustigen armen Bürgern der Hauptstadt sogleich Landstellen, Ackerlose im weiten Italien in reichem Maße angewiesen werden sollten. Ein Ausschuß von drei Männern sollte die nötigen Enteignungen und Zuweisung der Lose vornehmem Das war nur erst ein dürftiger Anfang zur Reform. Aber es war doch etwas. Die Tür der Zukunft war damit aufgestoßen. »Das Tier des Waldes hat seine Lagerstatt, der Bürger hat nicht, wo er sein Haupt hinlege,« so klagte Tiberius. Jetzt sollte es wieder einen freien Bauernstand, eine gesunde Landbevölkerung geben.

Da warf sich ein anderer Tribun, Marcus Octavius, vom Senat aufgestellt, dazwischen. Octavius erhob Einspruch. Der Einspruch eines einzigen Kollegen aber genügte, eine Abstimmung über das Gesetz unmöglich zu machen. Sollte die Sache an diesem Manne scheitern? Es galt, sich zu entscheiden. Tiberius erhob sich und ließ das Volk votieren, daß Octavius seines Amtes entsetzt sei. Das Volk jubelte ihm zu; der Senat schrie: »Verfassungsbruch.« Der Fall war unerhört. Es handelte sich darum: war die Absetzbarkeit eines solchen Magistrats zulässig oder nicht?

Jedenfalls wurde die Landverteilungskommission wirklich gewählt und trat in Tätigkeit; das Gesetz war angenommen; die großen Herren drohten umsonst mit Mord und Totschlag. Da kamen im selben Jahr 133 große Geldsendungen aus Asien. Das Riesenvermögen des verstorbenen Königs Attalus von Pergamon floß just damals nach Rom. Das Volk beerbte den König: ein seltenes Ereignis. Da ließ Tiberius sogleich durch Volksbeschluß im Interesse seiner Landansiedelungen Beschlag auf das ganze Geld legen. Neue Wut! neue Proteste! Jetzt hieß es gleich: Tiberius strebt nach dem Königtum! denn er beschlagnahmt die Staatsgelder.

Sein Amtsjahr näherte sich dem Ende. Was sollte nun werden? Würde Tiberius im nächsten Jahr nicht wieder Tribun, so konnte irgendein Amtsnachfolger sein ganzes Werk zu nichte 63 machen. Sollte Wiederwahl stattfinden? Die war aber durchaus verfassungswidrig, wenn nicht etwa das souveräne Volk die Wiederwählbarkeit eines Tribunen durch ein neues Gesetz beschloß. Solchen Beschluß faßte Tiberius ins Auge, und jetzt wurde er eigentlich erst zum Agitator. Es war eine ungeheure Aufregung.

Oben auf dem Kapitol, da wo jetzt das Reiterbild des Mark Aurel steht – der Platz war aber damals viel weiter und freier als jetzt –, dort oben versammelte sich das Volk zwischen hölzernen Schranken. Das Volk sollte die Wiederwahl beschließen. Aber man fürchtete schon das Schlimmste: irgendeine Gewalttat! Tiberius selbst zögerte zu erscheinen. Denn er beobachtete zu Hause die Vögel, die er sich hielt, und siehe da, sie fraßen nichts. Nur eine Henne näherte sich dem Futter, das er gestreut, aber sie wandte sich gleich ab, reckte nur den linken Flügel und dehnte auch das linke Bein dazu; dann verkroch sie sich. Das war ein übles Vorzeichen.

Endlich erschien Tiberius auf dem Kapitol. Niemand trug Waffen, denn Waffen zu tragen war in Rom verboten. Auf demselben Kapitol aber tagten auch die Senatoren im nahen Tempel der »Treue.« Da stürzte auf einmal jemand heran, der in die nervöse Volksmasse Drohungen schrie. Drohungen der Senatoren. Das Volk heulte und zerbrach die Bänke und Barrieren, um sich mit dem Holz zu bewaffnen.

Tiberius stellte sich hoch und machte in dem Tumult irgendeine Handbewegung nach dem Kopfe zu. Gleich schrie man: »er will das Diadem.« Da stürzten die Senatoren aus dem Tempel, ein ganzer Zug von Recken; das Volk stob feige auseinander; die erlauchten Herren griffen die weggeworfenen Holzplatten und Stöcke auf und schlugen sofort nieder, wen sie konnten. Gracchus eilte davon, stürzte hin und wurde mit einem Stück Holz wie ein Hund totgeschlagen, sein Leichnam durch die Stadt geschleift und in den Tiberfluß gestoßen.

Dies Ereignis hat in entsetzlicher Weise Epoche gemacht. 64 Mit ihm beginnt das Jahrhundert der Blutbäder in Rom (133–40). Noch nie bisher war in der Stadt Bürgerblut geflossen. Und noch in den folgenden Tagen ging das Morden weiter. Tatsache ist, daß nicht das Volk, sondern daß die Optimaten in Roms Geschichte damit begonnen haben.

Der Sturm war da. Das Meer ging hoch. Aber die Aufregung legte sich. Eben jetzt kam Scipio Ämilianus als Besieger Numantias aus Spanien zurück. Gezwungen, Rede zu stehen, sagte Scipio: sein Schwager Tiberius Gracchus sei mit Recht erschlagen (im Jahre 131). Er wollte sicher gehen und näherte sich jetzt den Ultra-Tories. Dazu kam, daß das Ackergesetz des Tiberius sich tatsächlich als undurchführbar erwies; es war nicht sorglich genug vorbereitet. Man versuchte die Aufteilung der Staatsdomänen, die Enteignung der Eigentümer in Italien; aber das gab Verlegenheiten, Willkürakte, Schikanen, Verschleierungen, Erbitterung, Konflikte in Unzahl. Schließlich trat Scipio dafür ein, die ganze Sache fallen zu lassen. Der Senat applaudierte. Das Werk des Tiberius war vernichtet.

Mit großem Ehrengefolge hatte der Senat den Scipio an einer der entscheidenden Sitzungen nach Hause begleitet. Am folgenden Morgen fand man Scipio tot im Bett.

Scipio tot! heimlicher Mord! Neue grenzenlose Erregung. Wer war der Täter? Niemand wußte es. Wir wissen es auch heute nicht. Es ist höchst auffällig, daß die Nachforschungen gleich anfangs niedergeschlagen wurden. Ein Racheakt ist da sicher geschehen. Man hat Cornelia selbst, die Mutter des Tiberius, als Urheberin vermutet. Aber das ist unmöglich.

Cornelia hatte, wie Wilhelm Tell, zwei Pfeile im Köcher. Der erste Pfeil war verschossen; ihr Tiberius war umgekommen. Nun hatte sie noch den zweiten, mit dem sie sich rächen konnte, ihren Sohn Gaïus. Aber sie wollte keine Rache. Sie hielt ihn ängstlich zurück.

Gaïus war neun Jahre jünger als sein Bruder. Auch er hatte die sorglichste griechische Erziehung genossen auf dem 65 Boden lauterster Sittlichkeit und Humanität. Ein Herz schlug in beiden Brüdern; es war ein Beispiel rührendster Bruderliebe. Aber Gaïus war zehnmal begabter, vor allem an praktischem Verstande, dazu heftig aufbrausend, sprunghaft gewaltig, eine glänzende Gestalt, sensationell, der größte packendste Redner Roms und vielleicht der Welt, darum ein Schrecken seiner Gegner, aber auch dem Prunk und Luxus nicht abgeneigt. Schon in den Jahren 131 bis 126 nahm er in vereinzelten Aktionen den Kampf auf; er fühlte dabei, das Volk schwärmte für ihn, um seines Bruders willen, und das brachte sein junges Blut in Wallung. Der Senat schickte ihn als Quästor nach Sardinien und hielt ihn dort fest, in der Hoffnung, er möchte dort am Sumpffieber zugrunde gehen. Auch da zeigte sich gleich die Macht seiner Person. Es war Winter; seine Soldaten froren und hungerten; der junge Mann überredete die sardinischen Kommunen, die Soldaten ohne weitere Vergütung zu bekleiden; ja, er schaffte Getreide aus Algier, aus Afrika vom König von Numidien herbei. In seinem Herzen aber lebte Rachedurst, nichts anderes. Er zauderte noch. Da erschien ihm, heißt es, sein Bruder Tiberius im Traume und sprach: »Was säumst du, Gaïus? Du entrinnst dem Schicksal nicht. Wir beide haben einen Tod und ein Leben.«

Umsonst flehte Cornelia, die Mutter, den Rachegedanken fahren zu lassen oder doch zu warten, bis sie tot sei (ihr beweglicher Brief ist noch erhalten). Wider Erwarten war Gaïus auf einmal wieder in Rom (im Jahre 124) und ließ sich sogleich, einunddreißig Jahre alt, zum Tribunen wählen; und aus ganz Italien strömte das wahlberechtigte Volk zu diesem Wahlakt zusammen. Aus ganz Italien! Man möchte glauben: auch die andern, die rechtlosen Italiker hofften schon damals auf ihn.

Worin bestand nun des Gaïus Rache? Sie bestand, von einigen persönlichen Händeln abgesehen, nur darin, daß er als Tribun das Werk seines Bruders wieder aufnahm und energisch weiterführte. Er tat es zwei Jahre lang; denn die 66 Wiederwählbarkeit der Tribunen hatte das Volk inzwischen beschlossen; und es begann im Jahre 123 eine gewaltige, aber hastige Gesetzgebung, die den Senat vollständig entmündigte. Was das Volk votierte, das war Staatsgesetz. So nahm Gaïus auch den Staatsschatz in seine Hände.

Zwar das Ackergesetz seines Bruders ließ sich nicht durchführen, wennschon er es wollte. Statt dessen gab er jetzt an das Volk in Rom täglich Getreide zu Minimalpreisen ab. Es war fast geschenkt. Der Staat begann also jetzt das Stadtvolk regelmäßig zu ernähren, eine mißliche Sache; denn bald hatte kein Bürger mehr Lust dazu, selbst zu arbeiten und draußen Landbauer zu werden. Es war eine Rente für die Faulen. Nützlicher war, daß auch die Soldaten sich jetzt nicht mehr selbst feldmäßig auszurüsten brauchten, sondern der Staat vergütete das. So wollte es Gaïus. Außerdem begann ein großes und fieberhaftes Bauen: öffentliche Speicher, Magazine, Landstraßen, in musterhafter Ausführung. Das brachte Arbeit, Geld unter die Leute! Dabei beaufsichtigte er selbst alles mit einem Stab von Technikern und Architekten. Er war überall. Aber er griff noch viel weiter aus: auch die räuberischen Verwalter in den Provinzen suchte er zu fassen und schaffte darum die Geschworenengerichte, die nur aus Senatoren bestanden, ab. Dem Ritterstande, d. h. der Gruppe der Großkaufleute und Kapitalisten, die die Beamtenlaufbahn mieden und denen es eine Freude war, die Gewaltakte der Provinzialverwalter zu strafen, ihnen lieferte er die Gerichte aus. Dadurch trat der Ritterstand auf einmal als geschlossene Partei und als wettstreitende Macht in das Weltgetriebe ein, und der Gegensatz: hie Senatoren, hie Ritter, geht durch das ganze nächste Jahrhundert.

Aber Gaïus hatte den Teufel nur mit Beelzebub ausgetrieben. Denn auch die edlen Kaufherren verstanden die Provinzen als Steuerpächter schmählich auszubeuten, und sie waren jetzt sicher, das Gericht in Rom werde ihnen nichts antun. Sie waren jetzt Richter in eigener Sache.

67 Die Reichen zu spalten, das war dem Gaïus hiermit gelungen, und das war das Wichtigste. Seine Popularität war unbegrenzt. Der eine Tribun regierte den Staat, lediglich kraft seiner Rednergabe, und selbst die auswärtigen Gesandten gingen bei ihm aus und ein.

Herrlich und fesselnd war es, ihn auf dem hohen Rednerstand, der weit gedehnt wie eine Theaterbühne war, zu sehen. Er stand nicht still, steif und feierlich, wie die römischen Pedanten es vorschrieben, sondern stürzte hin und her, in die Masse rufend, in innerster Ergriffenheit, mit vibrierender Gestikulation und erschütternder Gebärde: herzbewegend sein Wehruf um seinen Bruder, tödlich sein Sarkasmus, angsterregend sein Drohen; hinreißend alles! Der ganze Mensch Aufruhr, Tumult! Alle anderen stammelten im Vergleich mit ihm.

Aber das Königtum der Gasse ist gefährlich und der Enthusiasmus des Janhagels trügerisch wie das Meer.

Gaïus hatte seine bedeutendsten Pläne noch gar nicht enthüllt. Jetzt erst fing er an, sie anzudeuten: »Mitbürger, ich habe viel für euch getan; aber es kommt die Zeit, wo ich euren Dank erwarte.« Welchen Dank? Das Volk sollte dem Plan zustimmen, endlich auch den italienischen Landstädten zu helfen, über das ganze Land Italien allmählichZunächst sollten die Latiner das römische Vollbürgerrecht, die Bundesgenossenstädte das sog. latinische Recht erhalten. das gleiche städtische Bürgerrecht auszudehnen, also ein großes Vaterland von Bürgern zu schaffen, in dem dann auch ein arbeitsfreudiger, gesunder Mittelstand sich neu entwickeln mußte. Dieser Forderung des Gaïus gehörte die Zukunft; in ihr liegt die ideale Größe seiner volksfreundlichen Politik.

Aber der Stadtpöbel hatte dazu gar keine Lust. Wozu sollte er seine Vorrechte, die schönen Benefizien, die er in Rom genoß, mit dem dummen italischen Landvolk teilen? Das Unglück wollte, daß Gaïus geraume Zeit, siebzig Tage, von Rom abwesend war, um in Afrika eine große Ackerkolonie zu gründen.Und zwar von wohlhabenden Bürgern, denn die armen hatten kein Betriebskapital, und Gaïus konnte es ihnen nicht verschaffen. Als er wiederkam, war die Stimmung plötzlich umgeschlagen. 68 Ein gewisser Livius Drusus, auch er Volkstribun, hatte das Volk inzwischen im Auftrag des Senats mit allerlei utopischen Korn- und Landversprechungen geködert, die das, was Gaïus gewährte, überboten. Der Senat dachte gar nicht daran, diese übertriebenen Verheißungen zu verwirklichen.

Gaïus sah das Verderben nahen. Jetzt hätte er eine Armee hinter sich haben müssen, um seinen Willen zu erzwingen, denn er wollte ja das Gute. Aber er war kein Revolutionär. Er hatte bisher alles einwandfrei durch gesetzmäßige Volksbeschlüsse durchgesetzt, und so sollte es bleiben.

Anders der Senat. Der lauerte jetzt auf den günstigen Augenblick, um seinen Gegner tödlich zu fassen. Bei irgendeinem kleinen Krawall wurde auf dem Kapitol während des Opferns ein Opferdiener erstochen; der Mann hatte sich unverschämt und herausfordernd gegen die Umstehenden benommen. Sofort hieß es: der Staat ist in Gefahr. Der Konsul erhielt unbeschränkte Vollmachten. Das Kriegsrecht wurde erklärt. Gaïus wußte, was das bedeutete.

Auf dem Forum befand sich das Standbild seines Vaters. Vor dem Bild seines Vaters stand er lange stumm und gedankenverloren, und, die vorübergingen, sahen, wie ihm die Tränen stürzten. Sein Werk war unfertig; niemand würde es vollenden! und er sollte so rasch von hinnen! Und er ließ den Hader zurück; er hatte nur »Dolche unter die Bürger geworfen.«Cic. legg. 3, 20. In der Nacht hielten Freunde vor seinem Hause Wache; sonst wäre es ihm wie Scipio ergangen. Am folgenden Tag dachte sein Freund M. Fulvius Flaccus noch wirklich an Kampf und Abwehr und besetzte mit Bewaffneten den Aventin. Gaïus dagegen machte sich auf, Rom zu verlassen: wehrlos, hoffnungslos und voll Trauer. Vielleicht wollte er seine ferne Mutter noch einmal sehen. Er glaubte, es sei noch Zeit genug, und eilte zur Tiberbrücke. Da sah er sich verfolgt. Er vertrat sich den Fuß und konnte nicht fliehen. Ein paar Freunde deckten ihn und wurden niedergehauen. Bald danach fanden seine 69 Verfolger ihn tot; in einem heiligen Hain hatte sich Gaïus Gracchus selbst getötet. Auch sein Diener, der den Stoß vollführt, lag tot neben ihm. Man hieb ihm den Kopf ab – denn der Senat hatte verkündet: wir wiegen seinen Kopf mit Gold auf! Wie einige erzählten, nahm man das Hirn heraus, tat Blei hinein, dann kam der Kopf wirklich auf die Wage. Den Leichnam schwemmte der Tiber ins Meer. Nach solchem glorreichen Erfolg ließ der Senat durch den Konsul Opimius in Rom einen Tempel der »Eintracht« bauen. Die Eintracht war in der Tat nominell hergestellt. Dies ist das Ende der gracchischen Unruhen im Jahre 121.

Wer hatte nun in Wirklichkeit Revolution gewollt? wer hatte das erste Bürgerblut vergossen? wer hatte zuerst einen Staatsbeamten angetastet? Der Fluch blieb an der Optimatenpartei haften, und furchtbar hat der Senat dafür büßen müssen. Er hat sich verblutet.

In den Plänen der Gracchen mischt sich, wie jeder sieht, Gesundes und Ungesundes, Mögliches und Unmögliches. Den Pöbel Roms in arbeitsame Landbauern zurückzuverwandeln, das war ein Traumgedanke, und schon Cato hatte offenbar eingesehen, daß sich die agrarischen Besitzverhältnisse nicht mehr ändern ließen. Auch England ist heute Weideland, ausgedehnte Latifundien, die in den Händen weniger Großen und Barone sind, und kein Wille wird es so leicht wieder zu einem Land von Kornbauern machen.Der Weltkrieg zwang England unlängst zu dem Versuch; er wird keine tiefgreifende Wirkung haben. Notwendig war dagegen damals die Gewährung gleichen Bürgerrechts an Gesamt-Italien, die Schaffung eines wirklichen großen Vaterlandes. Diese große Aufgabe der Gerechtigkeit erbte die Zukunft von den Gracchen.

Cornelia lebte fern in ihrer Villa am Meer, am Cap Misen bei Neapel. Sie war nicht wie Niobe, die der Schmerz versteinte. Sie trug ihr Geschick großherzig und stolz; sie hatte die Politik ihrer Söhne nur mit halbem Herzen gebilligt, und wir hören, daß sie ihre Lebensweise nach des Gaïus Tod nicht 70 einmal änderte; sie lebte nach wie vor umgeben von zahlreichen griechischen Gelehrten und machte ein großes Haus mit offener Tafel für ihre vielen Klienten. Ja, mit auswärtigen Fürsten tauschte sie, wie eine Fürstin, Geschenke aus und sprach gern und viel, aber tränenlos von ihrem Vater und von ihren Söhnen, als wäre es eine schöne Sage aus alter Zeit, die sie erzählte. Man meinte, diese Starrheit, dies Versiegen ihres Gemütes sei Altersschwäche; denn sie war Siebzigerin; aber in ihr lebte »die Philosophie.« So Plutarch. Sie wußte: das Leben ist der Güter höchstes nicht. Mitleid und warme Sympathie haften seitdem an dieser Mutter Cornelia wie an der Gestalt der Isabella in Schillers großer Tragödie. So war es schon im Altertum; und auch ein Porträtbild in Bronze wurde in Rom von ihr öffentlich aufgestellt, ein sitzendes Frauenbild mit der einsilbig vielsagenden Unterschrift auf Stein: »Cornelia, die Tochter des Africanus, die Mutter der Gracchen« (diese Unterschrift ist im Jahre 1878 in Rom wieder aufgefunden); eine Tatsache, die jedes Frauenverehrers Interesse erweckt. Denn dies war das erste bildliche Monument, das in Rom einer Frau gesetzt worden ist.Ich sehe hierbei von dem Reiterbild der sagenhaften Cloelia und ähnlichem ab (Plin. nat. hist. 34, 28 f.), wo an wirkliche Porträts sich nicht denken läßt.

Gleichwohl hat kein Dichter des Altertums ihr und ihrer Söhne Schicksal je besungen. Das liegt im Wesen der Antike, für die, wo die historische Wirklichkeit beginnt, die Dichtkunst aufhört. 71

 


 


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