Theodor Birt
Römische Charakterköpfe
Theodor Birt

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Einleitung

Die römische Geschichte ist einheitlich wie die Biographie einer Person, wie die Geschichte eines Individuums, aber sie ist zugleich groß wie keine andere Volksgeschichte. Denn sie erstreckt sich über elf Jahrhunderte, und ihre Leistung war ein Weltreich, wie man es, wenn man von China absieht, nie sonst gesehen, ein Weltreich, das die wichtigsten Teile Europas, Asiens und Afrikas umspannte und sich in diesem Umfange durch sechs Jahrhunderte erhielt. Wie schattenhaft kurzlebig waren dagegen die Weltreiche Alexanders des Großen und Napoleons! Das Außerordentliche erklärt sich aus der Zersplitterung und Schmiegsamkeit der Völker außer Rom; es wurde vor allem der beispiellosen Organisationskunst der Römer verdankt. Die unvergänglich große Leistung Roms aber ist nun, daß dies Reich schließlich auch eine einheitliche Kultur gewann, daß die Hochkultur des Altertums gleichzeitig Syrer, Juden, Gallier, Germanen, Spanier und Mauren beglückt und ebenbürtig erzogen hat.

Die eine Stadt Roma am Tiberfluß hat das geleistet, kraft ihrer Rasse, die an keinem gewonnenen Ziel stillstand. Aus dem Senfkorn erwuchs ein Baum, der die Welt überschattete.

Man könnte, wenn man Umschau hält, doch noch England damit vergleichen wollen, das sich allmählich im Verlauf von drei Jahrhunderten mit einem Kolonialreich englischer Sprache umgeben hat. Aber der nicht minder imperialistischen Entwicklung Englands, die es schließlich dahin trieb, unlängst den Weltkrieg gegen Zentraleuropa mit anzustiften und zu führen, fehlt völlig der funkelnde Ruhmesglanz Roms. »Geschäft« ist ihm alles. Es hat entweder nur Wildnisse annektiert, oder doch nur Völker geringer Widerstandskraft unterjocht und aufgesogen; dabei wird von ihm im Handelsinteresse die ehrwürdige alte Kultur Indiens planvoll zugrunde gerichtet. Rom hat seine eigenen Lehrmeister, Staaten, die geistig und kulturell weit über ihm standen, mit eisernem Griff unter sein Szepter gezwungenDasselbe betont schon Vegetius De re milit. I 1.; 3 seinen Ruhm und seinen Beruf sah es darin, ihre Zivilisation zu stützen und weiter der Welt mitzuteilen.

Meine Absicht soll sein, dies alles in großem Zuge vorzuführen. Aber meine Absicht greift höher; sie möchte zugleich auch denjenigen Genüge tun, die da im Leben oder in der Geschichte nach großen Menschen sich umsehen. Rom kann sie ihnen zeigen in Fülle, und darum gebe ich hier eine Porträtgalerie. Auch sie kann uns Geschichte lehren. Unter Größe aber verstehe ich nicht speziell das sittlich Außerordentliche, das zum Heiligenleben führt, obgleich wir auch dem begegnen werden, sondern die Kraft der Person, die unendliche Machtgebiete sich zu unterjochen weiß. Die großen Menschen waren es, und sie sind es noch heut, die die Geschichte machen. Schlimm, wenn sie fehlen! Die Masse fühlt wohl, was Not täte, aber sie vermag als solche nichts und wird es nie vermögen. Die Tat gehört dem einzelnen, der die Nation vertritt.

Das Leben der Völker ist Gesellschaftsleben; im Handel und Sitte spielt es sich ab, d. h. in der kommerziellen Entwicklung und in Erwerb und Steigerung der geistigen Güter. In den Schlachten und Friedensschlüssen hat das Volksleben nur seine vereinzelten großen Augenblicke. Die Blüte der Gesellschaft aber sind überall die großen Personen, die plötzlich und überraschend, wie der Riesenblütenschaft aus dem Blätterwuchs der Agave, in Vereinzelung aus den Familien hervorwachsen, seien es Künstler und Denker, seien es Männer der politischen Tat. Sie sind die Stromschnellen im ebenen Fluß der Zeiten. Wir denken an Scipio Africanus, Gaïus Gracchus oder Julius Cäsar. Sie sind wie tiefe Schnittpunkte in der unendlich geraden Linie der Dinge. Aber auch solche Männer, die die unaufhaltsame Entwicklung mit mächtigem Gegenschlag aufzuhalten versucht haben, ein Cato, ein Sulla, ein Brutus, ein Seneca, sind der biographischen Betrachtung wert. Denn oft bedeutet der sogenannte Fortschritt Verfall, und der Konservative vertritt 4 in Wirklichkeit den wertvolleren Besitz, den Besitz der Vergangenheit, den er nicht preisgeben will.

Wahrhaft geschichtliches Leben ist nur da, wo große Menschen sind; das herrschsüchtige Rom, die Mutterstadt des Egoismus, aber hat fast nur Genies des Kampfes, es hat auffallend wenig bahnbrechende Führer der geräuschlosen Friedensarbeit erzeugt. Dies sei gleich hier festgestellt. Daher wirken die vierzig Friedensjahre unter Kaiser Augustus auf uns wie ein leeres Blatt; denn es stehen nur die Namen einiger Dichter darauf, die wohl verehrungswürdig, aber doch nicht groß sind in dem Wortsinne, der hier gemeint ist.

Lauter Männer sind es, die uns beschäftigen werden, und keine Frauen. Dies bedaure ich.

Gewiß, auch die Römerin konnte sich sehen lassen: ein Vollblutweib, wie wir sie uns denken; rassig und herrschfähig und mitunter auch klug. Der Römer, heißt es, beherrscht die Welt, die Römerin den Römer! Aber sie war Mutter. Von der unverheirateten Dame, von den rüstigen alten Jungfern und lieben, hilfreichen Tanten wissen die Autoren des Altertums wenig oder nichts zu berichten. Auch gar nichts von Stimmrechtlerinnen. Cornelia ist berühmt, weil sie die Mutter der Gracchen; Agrippina ist berüchtigt, weil sie die Mutter des Nero: an ihren Söhnen sollt ihr sie erkennen. Ob gut, ob schlecht: der Sohn ist in Rom die weltgeschichtliche Tat der Frau gewesen. Auch Intrigantinnen, auch Frauen, in deren verführerischen Gemächern sich die hohe Politik zusammenfand, auch solche, die sich vor dem Blut nicht scheuten und Legionen anwarben für den Bürgerkrieg, hat allerdings Cäsars und Octavians Zeit gesehen. Aber das, was wir davon hören, reicht für ein »Charakterbild« nicht aus. Ein Porträt braucht volle Linien, volle Farben, und über Frauen soll man nicht reden, wenn man nicht wirklich auf das Genaueste unterrichtet ist. Denn wir hören gegebenenfalls nur von ihrer bösen List und sehen die Anmut nicht mehr, mit der sie alles Arge zudeckten.

5 Wenn wir die Weltgeschichte in Biographien auflösen, so greifen wir damit auf ein Verfahren zurück, das, wie ich meine, mit Unrecht seit langem außer Gebrauch gekommen ist.Mein Beispiel hat, wie ich jetzt sehe, mehrfach Nachahmung gefunden; ich denke an die betr. Bücher von K. Hampe, R. Kittel u. a. Ich gestehe zu, daß es für manchen Geschichtsstoff sich allerdings nicht eignen würde. Eine englische Geschichte des 19. Jahrhunderts würde sich z. B. in dieser biographischen Weise kaum behandeln lassen;Wohl aber für die ältere englische Geschichte; vgl. z. B. I. Granger, A biographical history of England London 1775. denn sie besteht im 19. Jahrhundert wesentlich aus Wahlreden, Bills und Parlamentsabstimmungen, und die Minister, wie Canning, Palmerstone, Disraeli, so bedeutend sie bisweilen sind, sie treten auf und treten zurück, je nach dem Ausfall der Abstimmung im Unterhaus; lauter Bruchstücke von Personalien; ein großartiges Geschiebe ohne Ruhepunkt; ein immer wechselnder Barometerstand ohne Gewitter und Blitzschlag.

Gleichwohl ist die Personenbetrachtung die unerläßliche Vorarbeit für jede rechte Geschichtschreibung. Auch war früher die Schätzung anders. Schillers Zeit, Luthers Zeit liebte die Biographie und die Anekdote. Man suchte sich daran zu erbauen, und sie wirkte erziehend auf jung und alt. Es ist hübsch, sich daraufhin einmal das Rathaus der alten Festung Ulm anzusehen, dessen ganze Außenwände (etwa in Luthers Zeit) mit großen, bunten Fresken bedeckt worden sind; da sehen wir z. B. den römischen Feldhauptmann Camillus, der einst die Festung Falerii vergeblich berannte. Ein kleiner Schulmeister, der ein Schalk war, wollte gegen guten Lohn diesem Camillo die Festung Falerii verraten und führte alle Schulbuben des Orts auf den Anger vor das Tor zur Kurzweil heraus, um die Kleinen dort dem Feind in die Hand zu liefern. Der edle Camillus aber verschmähte die Beute; er ließ vielmehr jedem Knäblein eine Rute reichen, mit der sonst der Lehrer die Kinder strich, und befahl ihnen, den ungetreuen Schulmann damit gründlich zu verprügeln, auf daß er seinen Lohn habe. Man sieht, wie lehrreich das Histörchen aus einer Römerbiographie gerade für eine Festung wie Ulm hat erscheinen müssen.

6 Schon das Altertum hat bekanntlich die Biographie, auch gerade die Römerbiographie, erfunden. Ein paar Proben davon gibt uns der dürftige Cornelius Nepos; vor allem wird der Grieche Plutarch, einer der edelsten Essayisten, nicht müde, sich mit den Staatsmännern Roms, Sulla und Marius und wie sie heißen, zu beschäftigen, und seine Darstellungen sind wirkliche Monumente. sie sind von bleibendem ethischem, ja auch von hohem historischem Wert. Schlimmer steht es mit den Kaiserbiographien des Sueton und seiner Fortsetzer, der sog. Scriptores historiae Augustae. Sueton war unter Kaiser Hadrian Bürovorsteher des kaiserlichen Sekretariats, außerdem ein fleißiger klassischer Philologe; das sind aber gefährliche Eigenschaften. Denn man wird fragen: was kann von einem klassischen Philologen Gutes kommen? Jedenfalls sind Sueton und gar seine Fortsetzer der biographischen Aufgabe, die sie sich stellten, nicht gewachsen gewesen. Es fehlt da an aller eigentlichen Vertiefung, und wir erhalten gelegentlich so wichtige Tatsachen wie, daß Kaiser Caligula keinen Schwimmunterricht hatte, oder daß der Musikkaiser Nero sich nicht nur für Gesang, sondern auch für den Dudelsack begeisterte, und dazu kommen dann die goldenen Sofakissen und die Bowlenrezepte, die Elagabal in Mode brachte, derselbe Elagabal, der bekanntlich auch Hahnenkämme und Nachtigallzungen aß, während es vom Alexander Severus heißt, daß er maßvoll und fast wie ein Abstinenzler lebte; er trank nach dem Bad gern ein Glas Milch mit einem Ei dazu: erbärmliche Nichtigkeiten und Kuriositäten. Wir müssen denn doch versuchen, es besser zu machen.

Kehren wir hiernach zum Anfang zurück. Rom ist nach der Sage im Jahre 754 v. Chr. gegründet, aber unsere Aufgabe selbst hebt erst fünfhundert Jahre später an. Denn vorher fehlt in Rom eine Literatur, und wo keine Literatur ist, können wir auch über das Menschentum nichts erfahren. Um das Jahr 323, als Alexander der Große stirbt, hat die herrliche 7 griechische Literatur ihren Höhepunkt schon hinter sich, und da treten eine Menge griechischer Orginalmenschen wie Themistokles, Alkibiades, Kritias, Agesilaos, von denen jeder weiß, vor uns hin, während Rom noch ganz grabesstumm liegt, eine Barbarenstadt: es hat noch kein einziges Buch, noch keine Buchzeile der Erinnerung für seine eigenen verdienten Männer.

Charakterköpfe aus jenen Zeiten fehlen uns also. Aber der Altrömer selbst war ein Charakterkopf. Wie auf den ägyptischen Reliefs sich alle Figuren gleich sind, so auch die Altrömer; sie sind nichts als ein Typus; der Instinkt der Masse redet aus jedem einzelnen. allen gemeinsam der Stolz, die maßlose Habsucht, das harte Rechten um mein und dein, der unnachgiebige Trotz und der gröbste Chauvinismus. Daher aber auch der blinde Gehorsam der SubalternenDie Disziplin im Heer, von der der Grieche nichts weiß; vgl. Hans Delbrück, Geschichte der Kriegskunst I, S. 250 f. und die erstaunliche Einigkeit im römischen Senat, die so seltenen Zerwürfnisse der beiden Konsuln; eine Kollektivseele wie im Bienenstock, wo alles seit Jahrtausenden glatt geht und niemand sich hervortut. Dazu half in Rom ohne Frage die altmodisch barbarische Hauserziehung, die patria potestas. Denn der Vater hat Gewalt über Leben und Tod seiner Söhne. Jeden kühneren Schwung, jeden Hochflug der Jünglinge zerrten die Väter unerbittlich zurück, bei Strafe der Verstoßung: kein Sohn wächst daher über seinen Vater hinaus. So blieb es durch fünf Jahrhunderte.

In Fell und Kappe, struppig und ruppig und ziemlich ungewaschen, so denken wir uns jenen alten Typ, mit unsauberen Nägeln und großen Ohren; in Lehmhütten hausend; immer selbst zugreifend zum Schwert oder zur Mistgabel. Mit dem Spieß wurde das Vieh getrieben, mit dem Spieß in der Schlacht gefochten. Ungünstige Verträge mit dem Feinde wurden kassiert, indem man herzlos den Beamten preisgab, der sie geschlossen; denn es kam nie auf den Menschen an, sondern nur auf den Staatsvorteil. Hartknochige Naturen, ohne Schönheitssinn, ohne alle Phantastik, auch ganz unmusikalisch, aber energisch, rasch zufahrend und das Gegenteil des Harmlosen.

Unbekannter Römer älteren Stils

Unbekannter Römer älteren Stils

Römer älteren Stils (sog. Brutus). Rom, Konservatorenpalast. Nach Photographie.

8 Dabei ist der alte Römer trotz dieser Einheitlichkeit ein Rassenproblem. Denn schon die Erzählung von der Gründung Roms durch Latiner und Sabiner deutet, wenn sie recht hat, auf frühe Mischung des Blutes. Auch von den ganz fremdblütigen Etruskern haben früh angesehene Familien in Rom gesessen. Weiterhin sehen wir dann, daß ein altangesessener Ortsadel, der Stand der Patrizier, vorhanden ist, der sich gegen den Andrang der mutmaßlich zugewanderten Plebejer wehrt: ein Schutzmittel gegen sie war die Verweigerung der Ehegemeinschaft. Aber die Absonderung der Bevölkerungsschichten ließ sich auf die Dauer nicht durchführen. Dazu kam dann aber noch die Masse der Sklaven oder Knechte, der Kriegsgefangenen, Gallier, Griechen, Punier, Asiaten in Rom: denn die Söhne der freigelassenen Knechte erhielten in Rom früh und regelmäßig das Bürgerrecht, und zwar zu Tausenden und Abertausenden, unechte Römer, die sich unmittelbar mit der plebs vermischten. Daher kann schon seit dem 2., ja schon seit dem 3. Jahrhundert v. Chr. von einer reinrömischen Stadtbevölkerung kaum noch die Rede sein. Aber der ehrgeizige Stolz, Römer zu sein, ergriff gleich alle in die Bürgerlisten Eingetragenen und riß auch die fremdartigen Elemente zusammen. Indes hielt der Vornehme bei solchen Zuständen ängstlich auf seinen Stammbaum und sorgte für Familienchronik und Ahnenbilder nach Möglichkeit.

Mit dem Wachsen des Landerwerbs und der Bevölkerung änderten sich naturgemäß in Rom ständig die Satzungen und Rechte, wobei sich Plebs und Junker hartnäckig befehdeten; daraus ergab sich schon früh eine ereignisreiche Verfassungsgeschichte und Rechtsgeschichte Roms, und da treten nun in den berühmten Volkstribunen in der Tat starke und temperamentvolle Persönlichkeiten auf, deren Stimme über die Komitien scholl und die mit ihrem Einspruch unerschrocken selbst den hohen Senat lahm setzten; was sie trieben, war wie eine politische »Sabotage«: die Schienen der Gesetzgebung wurden gleichsam 9 aufgerissen, und die Staatsmaschine mußte stoppen, oder sie zerschellte. Aber diese Volkstribunen, soweit wir sie kennen, sind schließlich wieder alle gleich; der Beruf erzeugte den besonderen Menschentypus. Sie wechselten jährlich, und das ergibt im Lauf der Zeiten eine Menge Exemplare, die alle ungefähr dieselbe Sprache führen und sich gleichsehen wie Bulldoggen.Man sehe nur, wie sie schon gegen den großen Scipio auftreten: Livius 38, 51.

Aber Roms Kriegsgeschichte? Allerdings, keine Kriegsgeschichte ist so schlachtenreich wie die altrömische, aber in keiner ist auch wohl so großartig gelogen, oder sagen wir: so großartig gedichtet worden, wie in ihr. Eine Fülle herrlicher Namen: die ersten sieben Könige, die meist so brav sind, dann der Mann mit den langen Locken, Cincinnatus, weiter Menenius Agrippa, Valerius Poplicola, Manlius Torquatus, Camillus: Helden, gut für das alte Ulmer Rathaus und ganz prächtig auch für die moderne Kinderstube, aber leider nicht für uns, die wir Wahrheit und Wirklichkeit wollen.

Woher stammen diese Geschichten? Niebuhr glaubte einst (und schon Vico und Perizonius vor ihm), sie stammten aus wirklicher altrömischer Poesie her, aus alten Heldengesängen, von denen sich bei dem Geschichtschreiber Livius zufällig nur Auszüge erhalten hätten; und der große englische Historiker Macaulay setzte sich dann hin und dichtete wirklich solche altrömischen Heldenlieder nachträglich in englischer Sprache, als könnte er einen verloren gegangenen römischen Homer ersetzen; z. B. eine Ballade »Horatius Cocles« in siebzig Strophen, die Macaulay in der Überschrift ruhig in das Jahr 394 v. Chr. versetzt, eine zweite Ballade vom See Regillus, wo die Götter Castor und Pollux in die Römerschlacht reiten:

Nie hätt' ein sterblich Auge
Sie unterschieden je.
Schneeweiß die blanke Rüstung,
Die Rosse weiß wie Schnee u. s. f.Deutsch übersetzt von Harry v. Pilgrim. Berlin 1888.

Aber Niebuhrs Vermutung, der Macaulay folgte, ist längst 10 aufgegeben. Alle jene hübschen Legenden sind viel jünger und erst durch die Einflüsse der griechischen Literatur und in ihrer Nachahmung entstanden, wo bei die erfinderischen Griechen selbst mit halfen. Denn die Griechen interessierten sich auf das lebhafteste für Rom. Den kleinen feinen Leuten imponierten diese breitspurigen Herrenmenschen gewaltig.

Die verliebte Jungfrau Tarpeja z. B., die zur Zeit des Romulus dem schönen König Titus Tatius das Kapitol verrät, ist der griechischen Scylla nachgedichtet, die dem schönen König Minos gegenüber, der ihre Stadt belagert, das gleiche tut. Um das Volk aufzuregen, stellt Brutus sich wahnsinnig bei der Vertreibung der Tarquinier; das ist nach Solon gemacht, der sich wahnsinnig stellt bei der Eroberung von Salamis. Camillus aber ist offensichtlich zum römischen Achill ausgedichtet; des Camillus Zorn und der Zorn des Achill; eine Gesandtschaft muß den Zürnenden bittflehend aus Veji zurückholen: das ist ganz wie die Gesandtschaft in der Ilias. Und Veji selbst wird, wie Troja, just zehn Jahre belagert und dabei auch noch die römischen Belagerungswerke in Brand gesteckt, wie das Lager der Griechen bei Homer.

Nichts herrlicher als Coriolan, den man in das Jahr 491 v. Chr. setzt. Coriolan wird, weil er das Stimmvieh der Spießbürger verachtet und den rassigen Patrizierstolz übermäßig zur Schau trägt, vom römischen Volke seiner Amtswürden beraubt, begibt sich voll Wut zum Landesfeind und besiegt Rom als Heerführer des Feindes; Rom zittert und wankt. Aber seine Mutter Veturia sucht ihn in seinem Feldlager auf und ergreift sein Herz; er gibt seine sieghafte Stellung preis, der Mutter zuliebe, und wird darum vom Feind erschlagen. Dieser Stoff hat einem Shakespeare zu einer seiner schönsten Tragödien verholfen. Aber dies ist nicht Shakespeares, dies ist antike Dichtung; das durchschaute schon Mommsen.

Historisch wirklich beglaubigtes Detail erhalten wir zuerst für den Krieg mit König Pyrrhus, der im Jahre 282 beginnt, 11 und für den ersten punischen Krieg, der im Jahre 264 anhebt. Da taucht z. B. der alte Appius Claudius, der Blinde, vor uns auf, der Erbauer der unvergänglichen Appischen Straße, ein Mann mit ganz persönlichem Gesicht, der als Demagog mächtig wirkte, vor allem aber im Senat jede Friedensverhandlung mit König Pyrrhus hintertrieb, eine berühmte Szene, die uns Cicero schildert.

Dann kam der erste punische Krieg, und da maß sich Rom zum erstenmal mit einer voll ebenbürtigen, außeritalischen Weltmacht, mit Karthago, Republik gegen Republik, Handelsstaat gegen Handelsstaat (denn Rom hatte längst die Stadt der Ackerbauer zu sein aufgehört). Es war ein fast 25jähriges Ringen und der äußere Erfolg zunächst nicht sehr erheblich. So wie das moderne Italien im Jahre 1911 seine Regimenter nach Tripolis warf, genau so ist das schon damals unter des Regulus Führung geschehen. Aber die Sache war damals hundertfach gefährlicher als heute. Das mächtige Karthago schüttelte sich wie eine verwundete Löwin; aber die Wunde heilte rasch, und das Raubtier wuchs an Kräften und schlich brüllend auf neue Beute, den Rand Nordafrikas entlang, schwamm über die Meeresenge von Gibraltar und begann in die Hürden Spaniens einzufallen.

Die Zeit des ersten punischen Kriegs ist die eigentliche Idealzeit Roms gewesen: so wie bei uns Deutschen die Zeit der Entscheidungskämpfe von 1866–1870.Ich darf nun auch an 1914 erinnern. Tadellos ist überall die persönliche Führung, die Opferwilligkeit, das Verhalten von Volk und Senat und aller Chargen; aller gemeine Eigennutz, Bestechung, Unterschlagung fehlt; der größte Opfermut beseelt die Patrioten: eine Idealität, wie sie ein Volk ergreift, das vor einer Aufgabe steht, die sein Schicksal, seinen Weltberuf für die Zukunft entscheidet. Und die Vorteile, die Rom dabei gewann, waren denn doch erheblich: das wachsende Ansehen nach außen; die bereicherte Erfahrung im Seekrieg und in der Kampfesweise ausländischer Völker; vor allem aber der Umstand, daß 12 Rom jetzt einen Historiker fand, der diesen Krieg wirklich darstellte, und zwar einen der größten und zuverlässigsten, den Griechen Polybius. Rom trat jetzt endlich in die Geschichte ein, d. h. es wurde endlich Gegenstand der Geschichtschreibung in der griechischen Welt.

Aber von eigentlichen Charakterköpfen erfahren wir auch da noch nichts. Da ist z. B. Duilius, der den ersten Seesieg bei Mylae gewann; wir erfahren über ihn sonst weiter nichts, als daß er später sehr stolz war. In Rom gab es nachts keine Straßenbeleuchtung; vom Duilius aber wird mitgeteilt, daß er sich erdreistete, nachts mit einem Diener, der eine Kerze trug, über die Straße zu gehen, was sonst keinem Römer zustand, in Anbetracht der Feuersgefahr. Und Regulus? Die ganze schöne Geschichte, die erzählt, daß Regulus von den Karthagern, die ihn gefangen genommen, als Friedensunterhändler nach Rom geschickt worden, daß er in Rom jedoch ehrenfest für Fortsetzung des Krieges geeifert, daß er bieder sich in die Gefangenschaft zurückbegeben und von den Karthagern endlich zu Tode gemartert sei, ist leider allem Anschein nach erfunden. Denn Polyb, der Bewunderer der Römer, weiß nichts von ihr; er hätte sich dies Heldenstück gewiß nicht entgehen lassen.

Nun aber – und zwar gleich danach – tritt das entscheidende Neue ein: das siegreiche Eindringen der griechischen Geistesbildung in Rom. Rom verwandelt sich rasch, sagen wir etwa um das Jahr 240, und man lernt jetzt dort griechisch, spricht griechisch, denkt schließlich auch griechisch, und der Sinn für Dinge der Muße, Kunst, Theater, Tugendlehre und Sport wird in den zähen Kriegsleuten rasch geweckt. Das ist aber die Stimmungslage, in der auch die Individualitäten erwachen. Nicht im strammen Drill, sie gestalten sich erst in der Muße. Und sofort, im Hannibalkrieg (218–201), tritt davon auch die Wirkung hervor: Charaktere treten vor uns, die sich von der Masse energisch abheben. Das ist nicht zufällig. Das Genie meldet sich, das Genie der Tat, dem das Volk und der 13 Durchschnittsmensch nur Raum gibt bei großem Risiko und in ganz außerordentlichen Verhältnissen. Bisher unterjochte die Pflicht die Eigenart; die römische Geschichte war darum bisher eine unendliche farblose Fläche, verschattet, monoton und grau; von diesem grauen Hintergrund hebt sich jetzt endlich wie Goldschimmer das Scipionentum ab.

Es handelt sich um die Ichbildung, die Vertiefung des Ichs, das moralisch-ästhetische Durchbilden der eigenen Person; es ist höhere Selbstpflege, eine Verklärung des Egoismus; und sie bewirkt, daß einzelne Personen sich frei auf sich selbst stellen und als Denker oder als Herrenmenschen verfeinerten Stils weit über die Menge der braven Leute hinausragen, da sie sich ihres Eigenwertes energisch bewußt werden. Griechenland hat diese Ichbildung geschaffen und wundervoll ausgestaltet; es war von ihr durchdrungen; mochte Griechenland nunmehr politisch zugrunde gehen, kulturgeschichtlich war es damit zum Erzieher Roms und der Menschheit geworden.

So kam es, daß die Geschichte Roms jetzt geradezu zur Personengeschichte wird. Es ist, als ob wir plötzlich aus engem Waldesdunkel, in dem ein Stamm dem andern glich, auf die freie Halde unter Baumriesen treten, die in Lichtungen stehen und, aus mächtigem Wurzelwerk hochgetrieben, ins Unermeßliche ihre sturmbewegten Wipfel dehnen. Denn alle jene großen Naturen – Scipio, Sulla, Pompejus und die anderen – streben fortan nach der Verwirklichung des Satzes: »Der Staat bin ich.« Rom personifizierte sich in ihnen. 14

 


 


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