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Mir ist als liege nicht eine Zeit – dem Kalender nach waren es Monate – sondern ein ganzer langer unerforschlicher Tod zwischen meiner letzten Wahrnehmung und meinem Wiedererwachen zu einem Leben an dem ich von neuem teilhatte. Meine Erinnerung an das was während diesem Tod mit mir vorging, was ich selbst vorgenommen oder nicht vorgenommen haben mag, wo ich mich befand und in welchem Zustand, ist völlig ausgelöscht. Ich brauchte sie nicht zu morden. Sie hat nie gelebt. Kein noch so geringes Bild bewahre ich von jenen Wochen oder Monaten: nicht von einem Tage, nicht von einer Stunde. Ob ich Schmerz empfand oder nicht empfand, ob ich Freude zu empfinden vermochte oder Freude äußerte – ich weiß es nicht. Ich lebte ohne Leben.
Als ich erwachte, sah ich aus einem Fenster über eine südliche, sonnige Bucht. Der Azur des blauesten Meeres begegnete sich mit dem eines ewig blauen Himmels. Die Mimosenhaine blühten auf den kühnen Vorgebirgen, die ihren Fuß ins Meer setzten, und schütteten ihren Duft in einen linden Wind. Der Lorbeer glänzte. Orangen blitzten in den vollen runden Bäumen und von der Straße herauf bot sie lachend jeder Junge aus offenen Händen und gespreizten Fingern für ein Nichts. Im schmalen Schattenhof eines Nachbarhauses klopfte ein Bursche unscheinbare Teppiche und sang dazu. Er antwortete mit seinem Gesang dem eines Mädchens, das unsichtbar in einer Küche sang, hoch über einem andern schmalen Hof. Sie sahn sich nicht, begehrten sich auch nicht zu sehn; das Mädchen kochte wohl und er, der Bursch, klopfte seine Teppiche, aber zu singen begehrten sie miteinander und sich zu antworten in Gesang.
An meiner Seite saß ruhig eine Frau, die mich in diesen Süden begleitet hatte. Sie war es, die auch in jener Zeit des Tods mich nicht verließ: Octavia. Ich hatte mich nicht allzu lange Zeit vor meiner Erkrankung in einer Art Absage von mancherlei Leidenschaftlichkeiten und Jugendlichkeiten und in einer wirklichen Neigung, die ihrem vornehmen und wahrhaften Wesen galt, zu ihr hingerettet und mich ihr nur wenige Monate vor meiner Heimsuchung verbunden. Aber sie war jene Frau vor der immer eine Schranke stand; sie hatte sich selbst als Schranke vor sich hingestellt, so sehr sie auch vielleicht versucht hat, sie niederzureißen. Sie pflegte mich und behütete mich, wie nur Frauen pflegen und behüten können. Sie suchte mich über sich selbst hinweg, fast sich leugnend, und gab ihre ganze große Seele an diesen Einsatz. Aber eines Armes Länge war schon damals zwischen mir und ihr.
Indes: sie war der einzige Mensch um mich in abgeschiedenen Monaten die meinem Erwachen folgten. Mit keinem Menschen habe ich damals das gleichgültigste Wort geredet außer mit ihr. Aber auch mit ihr waren es nur wenige. Denn ich kehrte nur sehr langsam zurück. Ich tat nur sehr kleine und anfänglich schwache Schritte in das wiedergewonnene Dasein. Ich vermochte nicht einmal, wie früher und später, mit vollen Blicken diese Landschaft, diese Sonne, dieses Meer, den schönen Schwung dieser Bucht in mich aufzunehmen. Im Hintergrunde standen unwegsame kahle Berge, fremd und mächtig wie eine Mauer gegen den Norden; das Meer bot Busen an Busen, Bucht an Bucht und draußen farbige Ströme und blauere Meere; die Sonne hatte ihre Fanfaren des Aufgangs und blendende Akkorde des Mittags und andere Fanfaren des Niedergangs. Aber ich tastete mich mit dem Blick am Ufer hin wie ein Kind und sah wie ein Kind zuerst Blumen und Früchte. Kaum wagte ich den Fuß in das Blau der Veilchen zu setzen, die über die großplattigen Stufen gemauerter Wege in den Obstbergen ihren duftenden Teppich legten.
Alles war sehr zart und jung in mir. Ich war so weit getrennt von dem was war, obwohl ich das was vor meiner Krankheit lag sehr scharf und klar aus der Ferne erkannte. Aber die Beziehungen zu jener fernen Art des Lebens schienen gelöst. Ich hatte keine Sehnsucht zurückzukehren. Dort war ja doch nur Halberfülltheit und Unerfülltheit. Hier war junge Hoffnung, Wärme. Hier sangen Menschen und alles blühte. Das Dort und Einst berührte mich nicht mehr; behutsam ließ ich mich vom Hier und Jetzt und von einem unbestimmt Neuen berühren das vor mir lag. Das ist ja wohl Gesundung. –
Dies Berührtwerden, dies sich nach und nach mehr und mehr Berührenlassen ist in Wahrheit mein einziges Erlebnis jener Monate. Ihm war jede Minute aus den Kräften meiner Natur geweiht; ich hatte sozusagen für nichts anderes Zeit. Ich war eilig. Das Erlebnis duldete geflissentlich und wie aus eigner Kraft kein Zurückblicken, kein Nachhängen. Obwohl allerhand Kuren, ärztliche Aufsicht, große Schonung in bezug auf körperliche Leistungen, die mir schwer fiel, und eine enthaltsame Lebenshaltung, die mir nicht schwer fiel, meine Gesundung gefördert haben mögen, so spürte ich in mir weit mehr die wohltätigen Wirkungen tausendfachen Anhauchs eines gereinigteren, wie mir schien in neue Unschuld getauchten Lebens.
Jedoch ich reicherte mich mit diesem Gefühl damals nur an. Es hatte noch keinen Inhalt. Ich ging im Vorgarten meiner selbst spazieren, noch sehr schwach, sehr neugeboren, und war von mir noch streng und doch wohl gnädig und zu gutem Zweck geschieden.
Erst Florenz gab mich mir wieder. Als ich die Stadt erblickte und begriff, da wußte ich daß ein letzter Schleier vor meinen sehenden Augen zerrissen sei; zerrissen auch vor meiner Seele, die in meinen Augen stand. Sie, die reine, die heitere, die ruhig-anmutige, die kindlich-starke, die ehrwürdig-junge, diese menschliche Stadt ist mein Arzt geworden in einer entscheidenden Stunde. Aber sie war es, die sie entscheidend machte.
Denn es begab sich daß ich, erweckt von ihr, die Lust bekam, mit ihr in der Sprache ihres Landes zu reden. Ich gewahrte das sehr genau an mir. Es war nicht aus Gründen der Nützlichkeit, oder um der Gelegenheit willen, oder aus Bildungsbedürfnis, sondern um ihr, meiner Geliebten, gerecht zu werden, daß ich ihre Sprache lernen wollte. Denn ich liebte sie vom ersten Blick wie eine Geliebte und sie ließ mich zu sich ein wie eine Geliebte und fing es heimlich an.
Wir waren, Octavia und ich, in einen geistig sehr bewegten Kreis von Menschen einbezogen, der sich im Hause einer ihrer Verwandten, dem Hause eines italienischen Sprachgelehrten, zusammengefunden hatte. Es waren Italiener und Deutsche, Künstler, Kunsthistoriker, junge Erforscher der Stadt und ihrer Geschichte, Studenten, Italienreisende, Männer und Frauen. Unter allen am meisten und ausgiebigsten trat der Sohn des Hauses, Rico, hervor, ein südländisch jugendlicher Student, der, mit einem schönen Gefühl und Gedächtnis zugleich begabt, Dante, Carducci, Petrarca und Leopoldi, Pascoli und d'Annunzio in der ganzen Klanglichkeit und dem Wortlaut ihrer Gedichte uns Lauschenden so oft es uns gefiel zum besten gab. Besonders war es aber das Lautspiel der Gedichte d'Annunzios das er bevorzugte. Dieser lebte damals in Florenz und wahrscheinlich durch Rico, dem ich meine Absicht mitgeteilt hatte, geriet ich an einen Freund d'Annunzios, einen jungen Advokaten oder damals noch Kandidaten; und dieser machte mich mehr zum Zeitvertreib und zum eigenen Vergnügen als aus Beruf mit jener Sprache bekannt die mir mein Sinn in meiner Berührtheit gebot.
So lernte ich denn Florenz zuliebe italienisch. Fast war es mir als könne ich der Stadt damit vergelten was sie an mir tat. Ich ward ihr dankbar. In diesen Kirchen war man unbedrängt von zu viel Raum und unbedrängt von zu viel Stein. Diese Plätze mit dem anspruchslosen Umgang ihrer Bogen über anmutvollen Säulen ließen sich so leicht umschreiten, Nichts war zu weit und nichts zu nah. – Diese Palazzi standen so festgefügt in sich an ihrem Ort. Alles hatte ein wohliges Maß und Ebenmaß. – Vor diesen Bildern Fra Angelicos, voll unbeschwerter Inbrunst, ward man still und ausgesöhnt. Dies Gold – es war auch seines Herzens sicherer Untergrund. – Ich fühlte daß ich von neuem unanfechtbar wurde im Anblick dieser hellen, aufgeklärten Landschaft, vor diesen fast schwebenden silbernen Olivenhainen, den ruhigen Pfeilern der Zypressen, den heitern Hügeln und den grünen Feldern. Und alles schloß sich auf zu Lieb und Dank.
Ich kannte kein Wort der Sprache dieses Landes außer vielleicht die wenigen die in den Texten deutscher Operetten vorkamen welche die kleine Diva einstudierte. Auch das Latein das man auf sächsischen Gymnasien lernte war weit entfernt in seinem Klang vom eingeborenen Klang des Italienischen.
So war ich auch insoweit ganz Empfangender. Ich schreibe es dieser Unberührtheit zu, daß die Sprache so ungeheuer auf mich wirkte wie keine andre außer meiner Muttersprache je auf mich gewirkt hat.
Der junge Advokat las. Seine Stimme war wundervoll. Er hatte zudem, wie ich später vernahm, jene vielgerühmte Mischung der toskanischen Zunge und des römischen Mundes. Er las. Er kümmerte sich nicht im mindesten darum daß ich kein Wort verstand. Er gab die Sprache meinem Ohre hin. Und stundenlang täglich habe ich ihm zugehört. Er las so wundervoll daß über kein Wort je ein Zweifel war. Es war eine Musik in der die Töne immer gleich rein wiederkehrten, und als die Sprache meinem Ohr vertraut war, da bildete der Mund die schon vertrauten Laute nach. Ich konnte sozusagen keine Fehler machen, weil das Ohr den Mund so sicher überwachte wie das Gewicht den Ausschlag einer Waage. Ich sprach weil ich hörte. Ich sprach italienisch weil ich italienisch hörte. Es verwirrte mich nicht daß mich eine Menge Wörter, die aus dem Munde meines Lehrers kamen, anfangs nur als Laut berührten. Das Kind versteht ja auch nicht jedes Wort aus dem Mund der Mutter, bis wie von selbst der unverstandene Klang einen Sinn erhält. So ging es mir. Kein deutscher Laut, kein deutsches Maß, kein Vergleich, keine Übertragung, keine abgeleitete Lehrhaftigkeit einer Grammatik mischten sich ein. Meine lebendigen Sinne, nicht mein Gedächtnis, nicht mein Verstand nahmen Sprache auf, wie meine lebendigen Sinne die Landschaft, die Stadt aufnahmen.
Mit welchem Erfolg? – Jeder Kellner, jeder Hotelportier, jeder Führer, jeder Barbier sprach die Sprache des Tages geläufiger als ich. Aber mir teilte sich anderes mit. Nach kaum zwei Monaten oder wenig mehr sagte Guido Tutino, der junge Advokat, zu mir: »Übersetzen Sie nun ein Gedicht von d'Annunzio.« Ich war etwas überrascht und erwiderte, ich glaube nicht daß ich das könne. Er bestand jedoch; und da es das erste war was er während dieser Lehrzeit von mir forderte, versuchte ich es so gut ich es vermochte. Ich wählte ein langes Gedicht aus den Laudi, der Tod des Hirsches benannt. Ich folgte dem Jäger auf den Anstand in die Wälder des Arno wo er den Hirsch erwartet zur Abendtränke am Fluß. Da entsteigt, halb Pferd halb Mensch, im Spiel von sagenhafter Kraft der Kentaur den heimischen Fluten, und in den Wald eindringend begegnet das Ungetüm dem Tier. Der fürchterliche Kampf entbrennt. Das Herz des Dichters schwankt. Er möchte schießen. Doch er fürchtet für die Menschenbrust die dort, wenn auch im Leib des Rosses endend, in rasender Verstrickung mit dem Hirsch sich windet; bis endlich in der schon schrägen Sonne der Kentaur, die Stangen fest umklammernd, dem unter ihm zusammenbrechenden Hirsch das königliche Geweih aus krachender, dampfender Schädeldecke reißt und als lachender Sieger im Dickicht des Flusses verschwindet. Ich war froh, zum Ende der vierzig Strophen gelangt zu sein:
Wie schön erschien er mir. Ein unnachahmlich Leben
erzitterte in jedem Glied, von Kraft gespreitet.
Er bäumt sich plötzlich auf. Ein flüchtger Schatten gleitet
ins Geisterreich als sich der Dämmrung Schatten heben. –
Etwas betroffen erfuhr ich nach einigen Tagen, Tutino habe meine Übertragung an d'Annunzio weitergegeben. So war es nicht gemeint. Ich kannte ihn persönlich nicht, hatte auch wegen seiner damaligen großen und fast lächerlichen Eitelkeiten bei aller Bewunderung seiner Kunst eine gewisse Abneigung gegen ihn. Ich konnte nur annehmen, Tutino habe ihm meine Verse sozusagen als Kuriosität vorgelegt. D'Annunzio aber las meine Übersetzung seines Gedichts.
Darauf habe er – so erzählte später Karl Vollmoeller, der damals in Florenz lebte und ihm nahestand – etwas verwundert gefragt: » Chi è questo poëta tedesco il Binding?« – worauf, wie ich ihm nicht verdenken kann, Vollmoeller geantwortet habe, daß es einen deutschen Dichter dieses Namens nicht gebe. Auch Tutino erzählte mir, ohne weitere Folgen daran zu schließen, d'Annunzio habe gesagt, die Übersetzung könne nur von einem Dichter herrühren.
Da stand ich nun plötzlich mit einem Dichterbrief in der Hand und d'Annunzio hatte ihn ausgestellt. Ich habe mich nicht auf ihn berufen, brauchte ihm nicht zu glauben. Er konnte mich nicht überzeugen. Er vermochte nur noch zu bestätigen; ich hörte kaum noch hin. Er kam zu spät.
Denn eine andere Lebenslust, eine Lust an mir selbst, war in mir aufgesprungen. War es wirklich endlich die Befreiung von allem was war? – die Befreiung aus Lehre, Zucht und Verschließung? Schon während meiner Genesung hatte ich meinen Abschied aus meinem Offiziersverhältnis erbeten. Meine Pferde waren verkauft. Das Vaterland war weit und unfühlbar. Mein Vater, das Maß meiner Dinge – hier schien es mich verlassen zu haben. Nichts versagte sich. Alles bot sich an, und naiv, unerwartet kindlich, unbedenklich gab ich dem Erlebnis meines Erwachens Raum. So kamen sie, die ersten Stunden schüchterner und behüteter dichterischer Empfängnis, die Stunden ersten wahren heimlichen Glückes zugleich.
In diesen Wochen entstanden meine ersten eigenen Gedichte. Ich bin mit ihnen nicht zu d'Annunzio gegangen. Ich träumte sie des Nachts und stand mit ihnen auf, und wenn sie auch ungeschrieben schöner und vollkommener waren und sie mir oft genug nur die Hälfte ausdrückten von dem was ich hatte ausdrücken mögen, so behaupteten sie doch auch im Licht des Tages und im erstarrten Wort ihr Leben. Noch waren es wenige; aber keines von diesen ersten habe ich wegzunehmen oder zu tilgen gehabt. Florenz hat diese Stunden geboren. Ich fühlte das erstemal daß etwas entstand.
Ob das etwas taugte, ob d'Annunzio Recht oder Unrecht habe, ob sich das was da entstand verwerten lasse oder nicht, spielte für mich gar keine Rolle. Ich wußte nur daß ich es nie wieder würde lassen können. Der ungeschriebene Kodex, Empfindungen zu verschweigen, bestand nicht mehr. Ich begann sie, ohne eigentliche Absicht aus einer Lust daß ich es vermöchte, zu bannen, zu gestalten. Und sie gewannen Gestalt.
Immerhin glaubte ich daß es die Lust an der italienischen Sprache war – und diese Lust war so groß daß ich meine Gedichte in italienischer Sprache träumte – die mir die Geringschätzigkeit gegenüber dem Vermögen genommen hat, die meine zu gebrauchen. Nun war die Beherrschung der deutschen Sprache nicht mehr die mißachtete Selbstverständlichkeit, weil man ja täglich mit ihr umging. Nun war da Eigenes zu sagen – Dunkles, Ungeformtes – und die Sprache war es, die es in ein Sich-Erhellendes, Sich-Formendes, in ein Leuchtendes und Geformtes verwandelte. Bei der fühlbaren Rolle die die Aufnahme einer fremden Sprache hierbei spielte und die fast einer Überwachung gleichkam, hat meine Beschäftigung mit der italienischen Sprache, so kurz und unzulänglich für eine auch nur annähernde Bewältigung sie war, die Bedeutung einer Entscheidung in meinem Leben gewonnen.
Damals trat ich aus dem Schatten meines Vaters heraus. Ich tat etwas was er zu tun sich scheute, ja was, wie er meinte, seinem und meinem Geschlecht versagt war. Er konnte nach seinen Maßen nicht anders. »Das Genie reißt die Tore der Zukunft auf!« hat er mir einmal zugerufen – bebend in Zorn – als er von sich selbst im tiefsten Schmerz gestand, daß ihm die Kraft freier künstlerischer Gestaltung nicht zukomme, daß er sie vergebens versucht, daß er diesen heißesten Wunsch seiner Seele begraben habe. Ich sehe ihn noch wie der Richter des Jüngsten Gerichts in heiligem Zorn fast in die Knie sinken als er mit hochgeworfenem Arm, weit hinausblickend unter zusammengezogenen Brauen diese Worte hinausrief; und danach setzte er leise, tonlos und fest sein Maß für uns hin: »Wir sind Epigonen!« sagte er. Ich wußte daß es das Wort war dessen er sich am meisten schämte, das ihm geringer war als daß man es laut aussprechen dürfe.
Ja. Wir waren vielleicht Epigonen. Ich will sein Maß nicht zerbrechen noch verbiegen. Aber wenn menschlicher Geist die Tore der Zukunft nicht aufgerissen hat, so kam doch ein Ereignis in mein Leben das es ihm abnahm, und jeder weiß welches ich meine. Die Geschichte selbst hat uns zu Beginnern und Erstgeborenen gemacht. Damals aber als ich nach meines Vaters Maß mir Versagtes begann, dachte ich keine Tore damit aufzureißen. Ich war glücklich daß etwas entstand. Es lebte und ich brauchte es nicht zu begraben.
Dennoch fühlte ich sofort die Notwendigkeit vieler Übung die mir fehlte. Die reichlichen Mühen und Schweren bei der Übertragung des Gedichtes aus den Laudi hatten mir die Notwendigkeit bewiesen. Ich erkannte das Spracherzieherische genauer Übersetzungen. Gerade die Genauigkeit hatte d'Annunzio an meiner Übertragung in einigen Zeilen an mich besonders anerkannt. In den nächsten Jahren, schon in der allernächsten Zeit verschaffte ich mir die Gelegenheit solcher Übung in ausgiebiger Weise.
D'Annunzio aber stand zu seinem Urteil über mich. Er, bei dem zu jener Zeit wirklich nichts umsonst war als der Tod, übertrug mir das Recht eine kleine Prosadichtung, die an den Tod des Hirsches und die Erscheinung der Kentauren anklang, ins Deutsche zu übersetzen, und jener deutsche Dichter den er damals entdeckte ist in der Folge der von ihm gewählte Übersetzer seiner in jenen Jahren berühmtesten und gefeiertesten Tragödie »La nave« geworden, deren Handschrift die Stadt Venedig gerade eben in einem ungeheuren, erregenden Kompakt in ein Stück ältesten und kostbarsten venetianischen Brokats gewickelt aus der Hand d'Annunzios entgegennahm.
In die Zeit meines Aufenthalts in Florenz fiel ein Besuch Antons. Ich war beglückt ihn zu sehen. Er schien mir in das befreite Leben mit hineinzugehören, während so manches hinter mir abgetan war und zu erkennen gab daß es nie gelebt habe. Er wollte mich nach einigen Wochen, die er im Studium von Meistern der Frührenaissance in Florenz verbrachte, nach Rom mitnehmen, das für den Beflissenen der Kunstgeschichte auf Florenz folgt wie die Erscheinung eines großen verschwenderischen Sommers auf einen innigen und keuschen Frühling. Man empfahl den Sommer nach dem Frühling. Ich aber fühlte zu sehr daß alles knospte. Ich wollte, ich konnte, nichts verwirren. Ich stand selber in einer Frührenaissance. Wirklich ein eben Geborener lehnte ich ab. So stark war ich noch nicht. Jene ersten Gedichte, die damals gerade das Licht der Welt erblickt hatten, bestanden noch nicht vor mir. Ich hoffte, sie würden bestehen, wie sie es nachmals taten. Aber die Zeit war noch nicht über sie hingegangen. Es entstand etwas und ich war viel zu verstrickt in das Gefühl. So erinnere ich mich daß ich in diesen Wochen, während derer wir gleichwohl viel beisammen waren, Anton oft nur zerstreut zuhörte. Ich war oft bis zur Abwesenheit mit meinem Innern beschäftigt. Werke der Kunst in Galerien und Kirchen, anfangs beglückt entdeckt und gierig eingesogen, mußten auf mich warten. Ein Blick von Fiesole über die Stadt am Abend, ein Gang am Arno, die beruhigende Stabilität die die aufragenden Senkrechten der Zypressen immer wieder in die zu große Schwebe legten – alles das war geliebter, erlebbarer, rührender.
Da – einmal, mitten in einem Gewirr von sich drängenden Menschen in das ich halb entzückt starrte – es war auf dem Bahnhof von Florenz an einem Morgen und viele Reisende stiegen aus Schlafwagen und ankommenden Zügen in den Schnellzug nach Rom – wurde ich plötzlich auf einen kurzen Augenblick festgehalten und gleichsam angerufen durch den Anblick einer ziemlich weit von mir im Gedränge vorübergehenden Frau, die ich nur von hinten oder halb von hinten sah. Kurz darauf bemerkte ich Anton neben ihr, zu dem sie manchmal den Kopf wandte. Ich hatte ihn auf den Bahnhof begleitet, da er seine Kusine, die mit einem jener Züge eintraf und nach Rom weiterzufahren gedachte, begrüßen wollte.
Es mußte also diese Kusine sein. Aber das kümmerte mich nicht. Es war etwas anderes. Die Frau war nicht größer als die andern Menschen in deren Strom sie dahinschritt, aber dennoch überragte sie alle für meinen Blick. Ich bemerkte ihre Bewegung, die sehr ruhig aber irgendwie groß und belebt war, irgendwie unbrechbar und stark. Sie war wie eine Einzelne in einer Menge. Und jedenfalls überragte sie die Menge für meinen Blick, obwohl nicht durch Größe; und jedenfalls war ich wie angerufen. Nach einigen Augenblicken war sie verschwunden. Anton kam; wir gingen zum Pastetenbäcker und tranken einen Wermuth. Nichts wurde erwähnt noch schien erwähnenswert. Was gingen mich Antons Kusinen an; so glaubte er, so glaubte ich. Die Frau aber, deren flüchtige Erscheinung mich – ohne daß sie auch nur vor mir stand oder mich sonst im mindesten in meiner Verfassung etwas anging – damals einen Augenblick in Bann schlug, ist die große Freundin meines Lebens geworden. Es war Joie.