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Erstes Buch.
Kindliche Odyssee


Erstes Kapitel

Das erste Erlebnis, von dem ich weiß und das ich als eigenes bezeichnen darf, war das Erlebnis einer Richtung. Ich saß als kleines Kind auf dem Arm einer Frau, die mich trug, und weiß, daß, wenn sie mit mir aus der Tür eines Hauses ins Freie trat, sie sich nach rechts wendete, um zu einem großen Springbrunnen zu gelangen. Ich konnte damals sicher weder sprechen noch laufen, noch auch sonstwie mich entscheidend verständlich machen. Denn ich erinnere mich ganz genau meiner stillen Spannung, ob die Frau mit mir auf dem Arm die Wendung nach rechts machen würde oder nach links. Ich wartete auf die Wendung nach rechts und auf das Gefühl, das sie in meinem Körper hervorbrachte; denn ich erkannte sie an diesem Gefühl. Doch nahm ich beides, rechts oder links, schweigend hin. Aber nach rechts, das wußte ich eben, ging es zu dem großen Springbrunnen. Wer die Frau war, die mich trug – wahrscheinlich war es meine Mutter –, wie ich bis zur Türe des Hauses gelangte, aus der sie trat, wo das Haus war oder was es bedeutete, was sonst mit mir vorging, davon habe ich nicht die leiseste Vorstellung oder Erinnerung zurückbehalten. Ich bemerkte mich aber sofort und ganz deutlich jedesmal, wenn jene Frau aus dem Haus ins Freie trat, fühlte die Wendung, die sie machte und wußte daraus, ob es zum Springbrunnen ging oder ins Ungewisse, Unbestimmte. Der Springbrunnen spielte sicher mit; er zog mich natürlich an und ich bestaunte ihn. Aber als bleibendes Erlebnis hatte er in mir einen viel geringeren Raum als die Wendung der Frau und das dadurch ausgelöste Gefühl. Das ging mich an; in diesem Vorgang spielte ich selber mit; er erregte mich; ich war in ihn einbezogen, ich erlebte ihn.

Alles, was mir später aus dieser ersten Zeit meines Lebens erzählt wurde – und es war mancherlei –, hatte gar kein Gewicht im Vergleich zu dieser ersten eigenen Erfahrung, die die erste Sicherheit bot. Meine Mutter erzählte mir etwa, ich habe damals, da sie mit mir zu ihrer Erholung einige Wochen auf einem hohen Berg weilte, jeden Abend die untergehende Sonne auszublasen versucht. Ich muß das Spiel eines Sonnenuntergangs also schon haben wahrnehmen können und mich handelnd gegen es gestellt haben. Aber ich habe keine Erinnerung an meine Großtaten. Sie gingen spurlos an mir vorüber wie vieles in der Welt, von dem ich daher eingestehen muß, daß ich es nicht erlebt habe.

Wenn meine Mutter – mein Vater tat es nie – mir später als Knabe, da ich schon hätte fragen können, von meinen ersten Regungen und Streichen erzählte, hörte ich ihr zwar lachend zu, aber ich war traurig, sehnsüchtig und enttäuscht davon berührt, daß sie niemals von dem großen Springbrunnen sprach, den ich bestaunte und wie man zu ihm gelangte. Sie hatte wohl recht, ihn zu vergessen; denn es bestätigte sich zwar – wie sich später herausstellte –, daß man sich rechts wenden mußte, um zu dem Springbrunnen zu gelangen; dieser aber war eben ein ganz gewöhnlicher Springbrunnen und nur für mich war er groß. Ich aber wartete viele Jahre auf die Erwähnung meines ersten Erlebnisses durch meine Mutter wie auf eine Bestätigung meines Lebens. Dann merkte ich, daß es nicht Absicht war, daß vielmehr meiner Mutter mein Erlebnis, obgleich sie es wahrscheinlich täglich eigentlich selbst herbei- und geradezu für mich ausführte, gar nichts bedeutet hatte. Ich hielt es daher nach und nach – wie im Verlauf alle späteren meines Lebens – für unbedeutend und nicht der Rede wert. Ich bewahrte es mit den andern, die ihm folgten, in meinem Innern wie Kindereien und wurde so in bezug auf mich und meine wahren Erlebnisse einer der schweigsamsten und verschlossensten Menschen, die man sich vorstellen konnte. Dies gar nicht aus einer Verstocktheit oder Ablehnung, aus Mangel an Zutrauen zu Menschen oder dem Bedürfnis mich zu verschließen, sondern aus einer frühen Bescheidung und Bescheidenheit. Meine Mutter, so schien es mir, war reizend; viel amüsanter, liebenswürdiger, anhörenswerter als ich – und alle waren so. Ich mißtraute mir und meinen Erlebnissen, als verdienten sie keine rechte Anteilnahme, als könnten sie für niemanden wichtig sein. Doch empfand ich das nicht als unangenehm oder fühlte mich benachteiligt. Darüber dachte ich gar nicht nach. Es war der Reiz meiner Erlebnisse und ihr Gewicht für mich, daß sie für niemanden wichtig waren.

Die Stadt, wo der Springbrunnen sprang, war Basel. Dort wurde ich an einem gleichgültigen Tage, wenige Jahre vor den Siegen Deutschlands über Frankreich und der Errichtung des deutschen Kaiserreichs, geboren. Ich nenne den Tag meiner Geburt gleichgültig, weil es mich von je nicht kümmerte, unter welchem Stern ich geboren sein könne und was die Gestirne in mein Leben hineinreden. Es beschäftigt mich nicht im mindesten, es sei denn in der Art, daß ich sie gerne über meinem Haupte walten lasse, so fern und so nah sie sich damit befassen wollen. Außerdem wurde in unserer Familie kein Wesens aus Geburtstagen gemacht, meiner zumal oft genug vergessen. Ich selbst konnte zwar schon als Kind jedem, der danach fragte, angeben, wann ich geboren sei, mochte er sich dann selber ausrechnen, wie alt ich sei –; aber das hatte ich meiner Mutter abgelernt und diese Wissenschaft stand bei mir in demselben Ansehen, wie daß man wissen müsse, in welchem Hause man wohne, um rekognosziert zu werden, wenn man verlorengegangen war. Kurz, ich konnte aus einem Geburtstag nichts machen, fand auch später Einladungen zu Geburtstagsfeiern anderer Kinder seltsam und befänglich. Erinnern sie sich denn in etwas des Tages der Geburt, daß sie ihn feierten, während es mir immer vorkam, als sei ich bei dem meinen gar nicht dabei gewesen? Was hatten sie damals erlebt, da ich nichts erlebt hatte?

Auch die Stadt meiner Geburt, obgleich ich sie aus andern Gründen liebe, müßte ich als gleichgültig bezeichnen und brauchte ihren Namen nicht zu nennen. Weder nach ihrer Lage noch nach ihrer Art hat sie Bedeutung für mich gewonnen. Ich bin deutsch und von deutschen Eltern und es war mehr oder weniger Zufall, daß ich außerhalb deutscher Grenzen das Licht der Welt erblickte. Mein Vater und meine Mutter waren Frankfurter von Geschlechtern her und blieben es ihr Leben lang, wenn es sie auch die längste Zeit und von jungen bis zu späten Jahren in andern Städten wohnen und sein hieß. Auch ich will – wenn überhaupt einer Stadt oder Stätte – der Stadt am Main, der Stadt zwischen Nord und Süd, wo eben am Fluß in der weißen Häuserzeile der »Schönen Aussicht« das großelterliche Haus lag und mir, meinen Eltern und Geschwistern, die wir immer froh zu ihm zurückkehrten, durch viele Jahre seine stumme unablässige Bereitschaft, Liebe und Umarmung erwies, bezeugen, daß sie die Stelle der Heimat in meinem Leben vertrat.

Mein Vater nun hatte im Jahre meiner Geburt an der Universität Basel seine erste ordentliche Professur für Strafrecht erhalten, die er als Sechsundzwanzigjähriger errang. Auf diese Berufung hin heiratete er und ich war meiner Eltern erstes Kind. Für meinen Vater ward die Stadt die erste Stufe seines Aufstiegs und ungeheurer Erfolge auf seiner Laufbahn als Lehrer und Wissenschaftler, zugleich aber, was er ihr nie vergaß, der Ruhe- und Angelpunkt seiner wunderbaren Freundschaften mit bedeutenden Männern und Frauen. Denn mein Vater kannte, bei all seinem Wirken, bei all seinem späteren Ruhm und seiner ewigen Begeisterung für seinen Beruf – er sagte mir oft: wenn er wieder auf die Welt käme, würde er wieder deutscher Professor werden – nichts höheres als Freundschaften und hat sie als das schönste gepflegt, was ihm das Leben bot. Er hatte nie einen alternden Freund. Er hatte wahrhaft die Gabe, nie alternde Menschen sich zu Freunden und Freundinnen zu machen, wie auch er nie alterte. Von jenen ersten aber soll hier nur der große Andreas Heusler genannt sein, weil seine Gestalt sich, so lang ich denken kann und schon dem kleinen Knaben, wahrhaft in mich eingesenkt hat als eine der herrlichsten Inkarnationen gütigen, großen und strengen Sinnes.

Aber auch andere waren da, die sich sehen lassen konnten: Jakob Burckhardt; der geniale Bernoulli. Ein ganz junger kam: Friedrich Nietzsche. Mein Vater sagte mir von jener Zeit: er habe sozusagen die »Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik« noch als Kolleg gehört; denn die jungen Dozenten besuchten gegenseitig ihre Vorlesungen. »Hat man ihn denn damals dort schon erkannt?« fragte ich, als von dem Basel jener Zeit die Rede war. »Daß er ein geistreicher Kerl war, merkte natürlich jeder und gab es zu«, antwortete mein Vater. »Aber einer, der eigentlich nur in Aphorismen redete –? so was galt damals nichts Rechtes. – Ja! Es falle ihm doch wenigstens etwas ein, habe einer zur Verteidigung Nietzsches bemerkt. – Nun ja! aber er gehe ja auch den ganzen Tag spazieren! da müsse ihm doch auch etwas einfallen.« – Ich weiß nicht, ob die letzte Bemerkung von meinem Vater herrührte. Ich erzähle sie auch nicht um der Anekdote willen, sondern um darzutun, daß diese Gelehrten ziemlich viel voneinander verlangten.

Diese Dinge und Menschen freilich, die für meinen Vater bedeutsam waren, erlebte ich nicht und meine Geburtsstadt gab mir selbst in dem Erlebnis des Springbrunnens nichts, dessen nicht auch eine andere Stadt fähig gewesen wäre. Dagegen wurde es für mich bedeutend, wenige Jahre vor dem deutsch-französischen Krieg geboren zu sein, und zwar gerade so, daß ich die mit seinem Ende beginnende neue Zeit, wenn auch in kindlicher Weise, doch im vollen Bewußtsein, sie erlebt zu haben, betrat.

Denn das zweite Erlebnis, von dem ich weiß und das ich als eigen bezeichnen darf, war der Einzug der siegreichen deutschen Truppen nach Beendigung des Krieges.

 

Ich sehe mich in einer andern, geräuschvolleren Stadt, die ich nun schon fühle und als Umgebung empfinde. Eine breite Straße, auf die ich hinabsehe, trennt mich von gleichförmigen, stattlichen Häusern, die auf der andern Seite stehn. Ich lehne mich, mit dem Bauch über eine weiße Fensterbank liegend, so weit hinaus, als dies das Gleichgewicht gerade noch erlaubt. Ab und zu legt sich meiner Mutter Arm auf mich, die von hinten herantritt und über meinen Leib und Kopf hinausblickt. Aber dann tritt sie wieder zurück, denn es sind viele Menschen im Zimmer und an den andern Fenstern, mit denen sie sich unterhält. Meine Beine baumeln herab, an der Wand herunter, oder strecken sich gerade nach hinten aus, um das Gewicht nach innen schwerer zu machen, wenn es drunten was zu sehen gibt. Unter mir und drüben dicht an die Häuser gedrängt stehen Menschen Kopf an Kopf, aber ich kann nicht gerade nach unten sehn, denn unter den Fenstersimsen sind dicke Gewinde von Laub im Bogen angebracht, die mir die Aussicht abwärts versperren. Indessen, das ist so: jeder weiß, was vorgeht, und ich bin auch ein Jeder. Ich fühle mich sehr wohl, sehr wichtig, sehr vorbereitet und warte, die Vorgänge auf der Straße aufmerksam verfolgend. Auch aus den Fenstern drüben gucken die Menschen heraus, über Girlanden gelehnt, die Mitte der Straße aber in ganzer Breite ist frei; ich sehe drüben das klare eilige Bächlein in seinem gemauerten Bett, das – in seinem ganzen Laufe oben damals noch offen – die Straße von dem Bürgersteig trennt, wo die Menschen stehn, die es, wie ich meine, in Ruhe und Ordnung hält. So wartet man. Man legt mir Blumen hin, kleine gebundene Sträußchen, um sie auf die Einziehenden herabzuwerfen. –

Das alles gewahre ich, übersehe ich und ordne es in mir. Es war klar und hell um mich und ich freudig erregt, als plötzlich ein seliger Schlag mich durchfuhr und alles in einem Rauschen versank, das in mir aufstieg. Alles war verschlungen, ausgelöscht, in eine nichtige Ferne gerückt durch einen einzigen Anblick. Denn indem ich wie zufällig nach dem Nachbarhaus zu meiner Rechten hinübersah, begegnete mein Auge dem Blick einer wunderschönen Frau, der auf mich gerichtet war. Sie lehnte oder saß mit einer andern lässig und breit, den Kopf an das Holz der Umrahmung zurückgebogen, in einem Fenster, das dem, was ich innehatte, zunächst lag und sah mich, leise mit der andern sprechend, deren Gesicht ihr zugewandt war, unverwandt und ohne sich zu regen an. Auch ich regte mich nicht mehr. Sie schien mir unfaßbar schön, unfaßbar ernst zu nehmen. Ich fühlte dies. Ich fühlte, daß ich es tat, daß dieses ernstliche Liebe sei. Ich fühlte, daß ich sie liebe – denn das mußte es sein; ja, daß man sie lieben müsse, jeder sie lieben müsse. Aber ich liebte sie am heißesten; ich liebte sie richtig! Es war mir recht, daß auch sie mich liebte. Ich wußte, daß sie zu der andern Frau von mir sprach; denn sie sah noch immer unbewegt zurückgelehnt und leise redend unter halb gesenkten Lidern ernst und wie in sich verfangen zu mir hin. Auf einmal glitt sie von der Fensterbank herab und verschwand im Innern des Zimmers. Ich war nicht im leisesten betroffen; ich traute ihr. Da war sie wieder. Sie trat ans Fenster, aus dem jetzt die andere Person zurückgetreten war, und reichte mir – man denke –: sie reichte mir, über die Spitze eines Stockes an einem Tragband aufgehängt, meine erste Botanisierbüchse – eine grüne Botanisierbüchse an einem roten Bande – in mein Fenster hinüber.

Ich wußte nicht, was mir geschah; das heißt: ich wußte, was mir geschah. Denn das war nur das Zeichen. Ich war stumm und stolz vor Glück. Unterdessen war meine Mutter herangetreten, die den grünen Gegenstand bemerkt hatte. Sie forderte mich auf, nachdem sie der Dame wohl einige verbindliche Worte über ihr Geschenk gesagt hatte, ihr auch nun selbst zu danken. Ich sah meine Mutter erstaunt an und habe meiner Schönen nicht gedankt. Wußte meine Mutter denn nicht, daß es gar nicht mehr um die Botanisierbüchse ging?

Aber ich sollte erfahren, daß es für kleine Knaben noch mächtigere Dinge gab als die Liebe. Plötzlich ertönte von ferne Musik. Eine ungeheure Aufregung bemächtigte sich der Menschen, drunten auf der Straße, droben an den Fenstern, wo sie sich jetzt drängten. Meine Mutter packte mich fester. Alles sah nach links, wo über die Brücke vom Flusse her die Truppen im Anmarsch waren. Die Menschen hatten auf einmal Hüte, Arme, Tücher und Stöcke, die sie schwenkten. Alles schrie. Auch ich schrie. Ein Schellenbaum mit wehenden Roßschweifen zitterte und klingelte bei jedem Schritt voraus, und manchmal bebte er in Ekstase mehrere starke Schritte ununterbrochen. Pauken und Becken stampften in unaufhaltbarem Takt und dunkle und helle Instrumente dröhnten gegen sie an. Danach kamen zwei oder drei Pferde die unter stillen Offizieren unbeirrt ihre geduldigen Schritte machten. Dann die Soldaten. Ich drückte meine Botanisierbüchse fest an mich um sie vor Erregung nicht fallen zu lassen und bombardierte die Musik, die Soldaten mit meinen Blumensträußchen, und wenn einer eines von meinen nicht gleich aufhob, wäre ich am liebsten hinterhergesprungen. Auch die Soldaten waren sehr schön mit den vielen Eichenkränzen um die Helmspitzen; aber nichts übertraf den Schellenbaum.

Das war nun für mich freilich ein unvergeßliches militärisches Schauspiel und erst sehr viel später wurde es von andern in den Schatten gestellt. Es mochte vielleicht ein Bataillon sein was da einzog, höchstens zwei; aber für mich war es die Heimkehr der deutschen Truppen aus dem französischen Krieg der ich beigewohnt und zugejubelt hatte. Als solche lebte sie in mir fort.

Nachdem alles vorüber war, die Menschen auf der Straße sich verlaufen hatten, die Fenster an allen Häusern leer lagen und auch aus unsern Zimmern die Gäste gegangen waren die des Schauspiels wegen gekommen waren, rückte ich mir von den ungeordnet umherstehenden Stühlen einen an jenes Fenster, kletterte noch einmal auf meine Fensterbank und lehnte mich hinaus. Das Fenster nebenan in dem die schöne Frau gesessen war leer, das Zimmer dahinter offenbar verlassen. »Komm jetzt! es gibt nichts mehr zu sehn!« rief meine Mutter und ich kam um nicht zu sagen, warum ich gerne geblieben wäre.

Ich habe meine erste Liebe nie wieder gesehn. Aber obgleich ich ihr im Innern eine Art Treue bewahrte und mich die Liebe zu ihr viele Jahre, bis in meine späte Gymnasiastenzeit, nicht verließ und auch dann noch lange keine andere an ihre Stelle trat, so war es doch nicht nur die Frau oder etwa nur eine Zärtlichkeit, die ich mir erwartete oder ersehnte, um die es ging. Ich empfand eine ungeheure Genugtuung zu lieben. Das Gefühl, so oft es mich beglückte, hat mich nie betrogen. So weiß ich auch, daß ich damals liebte. Kein Gebilde meiner Phantasie oder eine Märchengestalt hat je Gewalt über mich gehabt. Keine eingebildete Frau, kein Ideal habe ich an die Stelle von Fleisch und Blut geträumt. Jener Frau im Fenster gehörte meine erste Liebe, und die der meine letzte gehört wird nicht tiefer geliebt sein.

Damals war ich noch nicht vier Jahre alt. Die Stadt aber, wo ich den Einzug der Truppen und meine erste Liebe erlebte, war Freiburg im Breisgau. Dorthin waren meine Eltern bei Kriegsbeginn in einem raschen Aufbruch von dem nahen Basel übersiedelt. Die Schweiz war neutral; die Deutschen mußten über die Grenze. Mein Vater wurde ohne weiteres in den Lehrkörper der juristischen Fakultät der Universität übernommen. Übrigens wurden, so viel ich weiß, an allen deutschen Universitäten, während des Krieges die Vorlesungen nicht unterbrochen. Doch muß mindestens eine Zeitlang mein Vater als freiwilliger Krankenpfleger mit im Felde oder wenigstens von zu Hause fortgewesen sein. Denn ich holte als Knabe in späteren Jahren öfters mit einem gewissen Schauder als einziges Kriegshinterbleibsel von dem ich wußte eine schwarze Wachstuchmütze militärischen Schnittes aus seinem Schrank hervor, auf der in weißem Felde einer Tuchkokarde ein rotes Kreuz aufgenäht war und die er, wie er mir erzählte, in dieser Verwendung getragen habe. Als Sohn Frankfurts, der freien Reichsstadt, war er nicht im Soldatendienst ausgebildet; es gab zwar damals auch dort schon eine Dienstpflicht, aber es war zulässig und anständig, sich von dem wenig geachteten und spießigen Militärdienst loszukaufen, von welchem Privileg denn auch mein Großvater für meinen Vater Gebrauch gemacht hatte. Indessen hat mein Vater, wie ich oft genug herausfühlte, es Zeit seines Lebens nie ganz verwunden, nicht mit den Waffen in der Hand in diesem Kriege auf deutscher Seite gekämpft zu haben. Es wurde da um etwas gekämpft worum er in seinem Innern mitkämpfte, und es wurde etwas errungen was zu erringen die Sehnsucht gerade seiner jungen Seele gewesen war. Er hatte als Schuljunge die freiheitliche Bewegung des Jahres 1848 in seiner Vaterstadt, in seinem Vaterhaus mitverspürt, mitgeatmet; er hatte Spalier gebildet mit andern seines Alters, ein Neunjähriger, als die Mitglieder der Nationalversammlung in die Paulskirche einzogen; er kannte Uhlands berühmte Rede auswendig; er wußte daß sein Vater, erst Anwalt dann Richter am Appellationsgericht in Frankfurt, Vertrauter, Freund und Mitarbeiter der Männer war die die deutsche Verfassung berieten; er hatte schon einmal für ein Deutschland, für einen Kaiser gezittert; man war nahe daran gewesen – dann war die Enttäuschung gefolgt: der König von Preußen sandte die gewaltige Deputation die ihm auf Beschluß der Nationalversammlung die Kaiserwürde antrug, ja seine rechtmäßig erfolgte Wahl zu dieser Würde verkündete, abschlägig ihrer Wege; der Bund, das Reich kam nicht zustande.

Nun war der deutsche Staat, nun war das Reich, nun war der Kaiser da. Aber an diesem Ziel wie mit seiner Seele auch mit allen seines Leibes Kräften mitgeholfen zu haben, wäre nach seiner Natur und Art erst die wahre Erfüllung für meinen Vater gewesen. Ja, diese beiden Worte: Reich und Kaiser, sie sind sogar für mich die ersten die ich aus dem Munde meines Vaters vernommen zu haben mich entsinnen kann. Denn so sicher er auch manches liebe Wort vorher an mich gerichtet hat das meiner Erinnerung entschwunden ist, so betraf doch das erste das ich von ihm bei mir trage diese Dinge. Es war vielleicht einige Jahre später, noch bevor ich in die Schule kam, als er mich zu sich rief, um mich, was er öfter tat, ein Geldstück in eine kleine Sparbüchse werfen zu lassen die er für mich hielt. Hierbei sagte er – wahrscheinlich zufällig aber dann mit einer plötzlichen Absichtlichkeit, während ich auf seinen Knien saß und schon nach dem Gelde griff um es in den lustigen Schlitz der Büchse zu versenken: »Warte! – Siehst du: das ist Reichsgeld; und das da ist der Kaiser. Denn wir haben ein Reich und einen Kaiser. Weißt du, was das ist: ein Reich und ein Kaiser?« Nun, ich wußte aus Märchen: es gab Kaiser und Könige, und der Kaiser war der mächtigste. Ich fragte nicht. Es machte mir aber doch Eindruck. Ah! sagte ich mir: da hat man also was, wenn man einen Kaiser hat. Vielleicht haben andere keinen Kaiser und kein Reich. In einem Gefühl von Stolz und Selbstgefühl habe ich die Worte meines Vaters nie vergessen. Er begann meine Erziehung zum Staatsbürger früh; aber er hat mir dabei ungewollt etwas verschwiegen, worauf ich erst sehr viel später mit Befremden aufmerksam wurde.

Dies also, die Aufrichtung eines deutschen Reichs, die Ausrufung und Krönung eines neuen deutschen Kaisers, das Ende eines siegreichen Kriegs, die Einigung zu einem großen Volk, der Beginn einer neuen Zeit unzweifelhaften Ansehens und großer Macht, die Erfüllung wie es schien aller ihrer jungen politischen Träume, erschütterte und erhob die Männer und Frauen die damals um mich waren zur gleichen Zeit und in der gleichen Stunde als ich den Anblick eines mit Musik einziehenden Bataillons und meine erste Liebe genoß. Was dennoch das eine und das andere für mich wurde, habe ich schon berichtet. Als später, nach jenem Wort meines Vaters und noch später durch Unterricht, ich mit der geschichtlichen Darstellung des Krieges und des Friedens bekannt wurde, wurde jenes Schauspiel der aus dem Kriege heimkehrenden Soldaten die Bestätigung für mich, beim Beginn jener Zeit dabei gewesen und von ihr wirklich mit erfaßt zu sein.

 

Vorerst freilich spürte ich davon noch nichts. Während aber die Stadt meiner Geburt gleichgültig und spurlos hinter mir versunken war und ich nicht einmal wußte, daß und wie ich sie verlassen und mit einer andern vertauscht hatte, beschenkte mich Freiburg als Stadt und Schauplatz jener Jahre (auch außer meiner ersten Liebe und dem Beginn meiner Zeit, selbst wenn ich ihn erst nach und nach als solchen begriff) mit sehr lebendigen nachhaltigen und fühlbaren inneren Erlebnissen. Da war die Landschaft die es mir antat, das Dasein der Berge, des Flusses, der Wiesen, der Blumen; da waren die Menschen schon, die ich unterschied, schön, jung und freundlich zu mir; da war sogar das erste Rätselhafte, Beunruhigende, Geheimnisvolle.

Denn die Berge lief ich nun hinauf, immer etwas hinterher wenn es mit dem Vater war; denn der ging immer zu rasch und auch auf ebenen Wegen befand ich mich mit ihm in einem ewigen Laufschritt. Das Steigen machte mir Freude; die Berge waren etwas anderes als der Springbrunnen zu dem man hingetragen wurde. Da war eine Anstrengung, ein erster Sieg. Wenn mein Vater mich vor der Mutter lobte, daß ich tapfer ausgehalten und ausgeschritten sei, sah ich sie an und freute mich; denn ich dachte, nun darf sie stolz sein auf mich. Wenn er mich aber bei solchen Gängen und Besteigungen, die freilich noch klein genug waren, zum Schluß um mir zu helfen oder mich zu beschleunigen an der Hand nahm, weinte ich und kam heulend nach Hause. Nein; es sei gar nicht schön gewesen heute, erzählte ich meiner Mutter. Aber so viel ich mich erinnere, weinte ich nur einmal; dann gab mein Vater mir nicht mehr die Hand.

Die kleinen Bäche die so lustig die Straßen entlang liefen – wenn ich einen großen Schritt machte, konnte ich schon hinübergelangen. So mußte eine Straße sein; mit lustigen klaren Bächen zu beiden Seiten, die wie glänzende eilige Speere dahinschossen. – Der Fluß, in seinem steinigen Bett, die Dreisam, lief quer durch das Land; hüben war die Stadt (damals), drüben die Berge und Wiesen. Auch der Fluß war lustig, sprang und tanzte hurtig über die Steine, manche Stufe hinab die ihn staute, die ihm einen rollenden kleinen weißen Wasserfall abnötigte. Ich kannte keine anderen Flüsse; aber so mußten Flüsse sein.

Zu den Wiesen drüben mit den vielen Blumen ging ich nicht mit meinem Vater, der zu unternehmend, zu stürmisch, zu männlich für Wiesen und Blumen war. Dorthin ging ich mit meiner Vertrauten aus jener Zeit, der jüngeren Schwester meiner Mutter, die wohl ziemlich lange, vielleicht auch öfter bei uns zu Besuch war. Sie war womöglich noch anmutiger, noch jünger, noch heiterer als meine Mutter der sie angenehm glich. So kann ich ihre beiden Gestalten und ihren Umgang mit mir – die einzigen die sich in mir vermischten – in meiner Erinnerung nicht ganz auseinanderhalten. Aber als meine Vertraute hat die Tante mir in jener Umgebung nähergestanden als die Mutter. Ich empfand dieses nahe Verhältnis ganz genau und war sehr glücklich darin. Es beruhte jedoch weder in besonderen Eröffnungen – ich hatte nichts auszuschütten – noch einem besonderen Bedürfnis mich mitzuteilen oder mich jemandem zu vertrauen – ich empfand dafür weder eine Zu- noch eine Abneigung – sondern in einem gemeinsamen Verbringen, in dem gemeinsamen Genuß jener Wiesen, ihres Duftes, ihrer Blumen, gemächlicher Gänge ohne besonderes Ziel, bei denen sie mich an der Hand nehmen durfte ohne daß ich mich schämte, oder einer Ausruh in ihrem Schoß, bei der ich einen Arm um ihren Hals schlang und in die Landschaft sah. Bestand zwischen meinem Vater und mir schon von den frühesten Zeiten ein ungeschriebener Ehrenkodex, den aber ich aufgerichtet hatte und der schon damals und in höherem, wahrhaft verhängnisvollem Grade bis in meine Mannesjahre etwa verlangte, niemals eine Frage an ihn zu richten die ich mir am Ende selber beantworten konnte, eine Hand nicht anzunehmen solange es auch noch gerade ohne sie ging, ferner aber – als Selbstverständlichkeit und Ehrenpflicht – Gefühle zu verschweigen, so war dies alles oder ähnliches ihr gegenüber nie zu spüren. Indessen war sie meine Vertraute nur in dieser Umgebung; sie verlor diese Eigenschaft sofort und völlig, wenn sie sie verließ.

Eines aber verbindet sie auf ewig mit jenen Jahren. Sie blieb, wie meine Eltern, wie die Freunde und Kollegen meines Vaters, die ich sehr wohl im Gedächtnis behielt, in meiner Erinnerung so jung und reizend wie sie damals war. Alle Menschen, die dort in mein Leben traten, teilten diese Eigenschaft. Das Erleben der Dinge war so fest und unzerstörbar daß die Zeit auch den Menschen, denen ich damals begegnete, ihre Gestalt, ihre Jugend, ihre Ewigkeit ließ. So trage ich das Gedächtnis meiner Vertrauten, so trage ich das meiner Eltern, obwohl ich sie alle weiß werden sah, dennoch in der Erscheinung jener Zeit in mir: jung, glücklich, schön, heiter, unantastbar, fast leicht; als ob das Land dort ein wahrhafter Aufenthalt Seliger gewesen wäre wo es kein Alter gab. In dem Bild meiner Erinnerung spielen keine Kinder; wenn ich überhaupt schon damals mit ihnen in Berührung kam, machten sie mir keinen Eindruck. Des Daseins eines jüngeren Bruders, der zwei Jahre nach mir auf die Welt kam und der mich vielleicht näher hätte angehn sollen, kann ich mich in keiner noch so unklaren Vorstellung entsinnen. Aber er muß sich freilich mit sämtlichen, auch später geborenen Geschwistern trösten, von denen ich es heute noch nicht begreife, daß ich sie jemals als Kinder gesehen haben soll. Selbst meine jüngste Schwester, die geboren wurde als ich schon Gymnasiast war, kenne ich als Kind nur von Fotografien.

Mit den Männern und Frauen der Freiburger Jahre verhält es sich anders. Noch heute sehe ich meinen Vater, Heusler, wenn er von Basel herüberkam, Sohm, von Schönberg, Bülow, Degenkolb, Hartmann, die mir dort das erste Mal begegnet sind und die ich nachmals als bekannte und berühmte Lehrer und Gelehrte in andern Städten wieder traf, noch immer sehe ich das Paar der Frauen in der Jugend ihrer Bewegungen, ihrer Züge aus damaliger Zeit.

Wie erstaunte ich aber, als ich eines Tages gewahrte, daß es außer der Welt in der mein Vater, in der meine Mutter und ihre Freunde herrschten, in der ich umging und die meine Welt war, noch eine verzauberte Welt gab, in der unerklärliche Wesen lebten und Erscheinungen sich abspielten von denen ich nichts wußte. Als ich einmal mit meinem Vater spazieren ging – und natürlich waren die Gänge mit ihm viel aufschlußreicher als die mit dem Ebenbild meiner Mutter in den Wiesen – gerieten wir auf dem Schloßberg, der sich unmittelbar im Rücken der Stadt erhebt, an eine Stelle wo man einen Ausblick auf sie hat. Ziemlich nahe im Vordergrund, außerhalb der Stadt und zunächst dem Berge, war ein Zirkus aufgeschlagen, ohne Zeltdach nur aus einer Anzahl im Kreis gezogener Planen hergestellt, die an eingerammten Stangen befestigt waren. Man konnte von unserem Standpunkt etwas in den Zirkus hineinsehen; ein still hängendes Trapez mit roten Troddeln war dauernd sichtbar. Aber um es herum, dem Verlauf der Zeltwand folgend, bewegten sich, von einer unsichtbaren Gewalt nach jedesmaligem Verschwinden immer von neuem emporgeworfen, drei große goldene Kugeln um die Manege. Drüben, wo man am tiefsten in den Zirkus hineinsehen konnte, sah man nackte Arme eines Mädchenrumpfes nach ihnen greifen, der unter emporwallendem Haar in einem glanzgrünen Mieder steckte und unter den goldenen Kugeln vorüberflog. Mein Vater versicherte, das Mädchen stehe auf einem Pferd das im Kreise um den Zirkus galoppiere. Dies erklärte mir vielleicht den Vorgang aber jedenfalls nicht die Welt in der es sich abspielte. Ich sperrte Augen, Maul und Nase auf. Das Schauspiel war fesselnd und unheimlich. Ich blieb eine Weile stehen und folgte wie gebannt dem Auf und Ab und den sich verschlingenden Bahnen der Kugeln. Mein Vater sah vielleicht daß ich mich vergaffte und zog mich fort. Aber ich wurde die fliegenden Kugeln und die nach ihnen greifenden Arme nicht los. Nach meiner Gewohnheit fragte ich nicht. Es war etwas was nicht zu uns gehörte. Es kam nicht aus dem gleichen wie der Boden den ich unter meinen Füßen fühlte, wie die kleinen Bäche die ich übersprang, wie die Blumen die ich pflückte, wie die Menschen die mir ihre Liebe antaten. Es verließ mich die Vorstellung nicht, daß in dem Rund des geschlossenen Zeltes, zu dem ich keinen Eingang gesehen hatte, etwas Lebendiges grausam eingesperrt und verzaubert sei; daß dies Mädchen nie dort heraus könne – vielleicht waren schon Geschichten schuld daß ich so dachte; daß es die goldenen Kugeln ewig unlustig und unsinnig im Kreise herum treiben müsse oder dergleichen; daß es doch schön und verführerisch aussah wenn sie flogen und daß das eben verführerisch sein solle. Ich konnte mir keine Rechenschaft geben und steigerte mich in der Verfolgung und Ordnung des Schauspiels in meinem Innern bis zu einer großen Beunruhigung.

Am nächsten Tage nahm mein Vater, der wahrscheinlich den Zirkus schon vergessen hatte, zufällig den Weg wieder auf den Schloßberg, und da es um die gleiche Stunde war, kamen wir an dem Ausblick wieder gerade an, als die goldenen Kugeln flogen. Diesmal – ich weiß nicht warum – sah man von dem Mädchen nichts. Aber ich hatte nun erst recht den Eindruck, als flögen sie immer, als hörten sie nie auf zu fliegen, als flögen sie um Menschen anzulocken und zu verführen. Es war da ein geheimnisvolles Reich, ein Reich außerhalb meines Bereichs, ein Reich mit verzaubertem, gefesseltem Leben, einem ungreifbaren Widerschein eines Lebens in das man eingefangen werden sollte. Die Kugeln waren glänzend und lockten. Es war die erste Beunruhigung und Beschwerung meines Lebens. Ich fühlte sie ganz deutlich und schauderte wie im Instinkt eines Tieres. Ich weiß es nicht, ob es auf diese Empfindung zurückzuführen ist, daß ich zeitlebens keine rechte Freude an Darstellungen von Artisten finden konnte; sie schienen mir wie von einem unheilbaren Zauber, einem Nichts besessen.

Damals ging das Problem noch an mir vorüber. Das Sichtbare verschwand. Als wir nach einigen Tagen wieder auf den Schloßberg kamen, war die Stelle wo der Zirkus gestanden hatte leer und die Stadt breitete sich in ihrem heiteren Frieden vor mir aus.

Denn auch das Bild der Stadt selbst als ein Ganzes, eben von jenem Berge betrachtet, blieb, vielleicht nicht im Tatsächlichen doch als Empfindung, mit einer Deutlichkeit in mir erhalten die ich einem Erlebnis gleichzustellen versucht bin. Ich weiß daß ich es einsog. Damals empfand ich, ja ich wußte was eine Stadt sei. Städte konnten mich nicht mehr betrügen und vorgeben sie seien es und waren es nicht. Bald sollte eine andere die Erfahrung machen daß sie es nicht könne. Doch versetzte ich die Menschen jener Jahre nie in die Stadt oder in ein Haus sondern immer in die Landschaft; sie gingen am Ufer des Flusses hin in Gesprächen miteinander, auch mit den Frauen, und ich ging beglückt mit ihnen. Es ist auch wahrscheinlich daß ich sie meist dort sah und traf. Nur die Gestalt meiner ersten Geliebten ist fest in das Fenster gebannt wo ich sie erblickte.

Ich war ein Kind und spielte. Von meinen Spielen erinnere ich mich an vieles. Wie oft habe ich damals und später mit den zahllosen Holzklötzen eines riesigen Baukastens – er war ohne die Hilfe meines Vaters gar nicht zu bewegen – den Münsterturm gebaut, – am liebsten den Münsterturm; und dann stürzte er so schön und majestätisch in sich zusammen, wenn man den untersten Pfeiler rasch wegzog. Aber dieses und anderes, Pferde selbst, waren nur Spiel. Niemals haben mir Spiele einen Eindruck hinterlassen, die heiteren nicht und die ernsten nicht, auch die mit meinem Vater nicht der sich öfters dazu hergab. Meine Erlebnisse durften auch heiter oder ernst sein, sie stammten aus ganz anderen Bereichen. Sie fielen mir so merkwürdig zu, wogegen ich Spiele aufsuchte oder ste veranstaltet wurden.

 

Mit der Begründung der jungen Reichsuniversität in Straßburg erhielt mein Vater einen Ruf dorthin, dem er folgte. Da es schwer war dort Wohnung zu finden – in die Stadt, die immerhin einigermaßen im Kriege Zerstörungen erlitten hatte, zogen die Reichsbehörden, deutsches Militär, deutsche Professoren, Beamte und Studenten ein – blieb meine Mutter mit uns Kindern, mir und dem mir unbewußten jungen Bruder, noch in dem nahen Freiburg und es muß in dieser Zeit gewesen sein, daß ihre anmutige Schwester bei uns war und meine Vertraute wurde. Mein Vater brauchte nur das Rheintal zu durchqueren um zu dem neuen Ort seiner Tätigkeit zu gelangen; er wußte uns nah; so oft es anging, vermutlich die meisten Tage der Woche, kam er nach Freiburg zurück. Bei dieser Einrichtung unseres Lebens wurde mir der Boden des nun schon Gewohnten, Heimischen, Gesicherten, den ich unter meinen Füßen spürte, so lange wie möglich erhalten. Plötzlich aber, wie auf einem Zaubermantel weit hinweggeführt, sehe ich aus einer Dachluke über steile Dächer. Riesige Störche, unheimlich nah, nisten ringsumher auf vielen Schornsteinen oder fliegen als ungeheure Schatten ab und zu. Die Spitze und der schöne Steinleib eines Münsterturms, eines andern, größeren, sind vor mich hingestellt wie zum Greifen, sonst nichts als Himmel. Ich bin in Straßburg – ich weiß wohl. Wir sind dem Vater nachgezogen; dies Dachfenster gehört zu unserer Wohnung. Es war im Jahre achtzehnhundertdreiundsiebzig und ich stand in meinem sechsten Jahr.

Von der Stadt habe ich kaum eine Erinnerung. Auf dem Broglieplatz saßen französische Offiziere in einem besonderen, offenbar ihnen bestimmten Kaffee – vielleicht Genesende aus Lazaretten oder Übergabekommandos oder Gefangene. Ich empfand sie deutlich als feindlich und fremd und prüfte in ihren Gesichtern ob sie traurig wären oder weinten weil sie den Krieg verloren hatten; da sie aber nichts dergleichen taten begriff ich sie erst recht nicht. Der Blick aus der Dachluke, wie ich ihn beschrieb, und der Platz mit den fremden Offizieren war alles was mir Eindruck machte; auch daß die Straße in der wir wohnten nach meinen Begriffen eng war und ich hohe und steile Treppen zu unserer Wohnung stieg, machte mir einigen Eindruck und nicht den besten. Indessen gingen mir diese Dinge nicht nach. Mein Aufenthalt in Straßburg war kurz; wahrscheinlich wurden wir Kinder schon bald in das großelterliche Haus nach Frankfurt gebracht, denn die Odyssee meines Vaters und mit ihr die meine dieser Jahre endete nicht in Straßburg; schon im nächsten Jahre gab es die letzte Fahrt, die weiteste, folgenreichste, die nördlichste für uns alle, die Fahrt in die ewige Fremde, so sehr wir alle diese Fremde zur Heimat machen wollten.

Es begab sich aber während der Straßburger Zeit daß mein Vater mich nach Kehl nahm um den Rhein zu sehn. So viel ich weiß hatte ich ihn darum gebeten; ich brannte darauf, ihn zu sehn; und kannte schon die Wacht am Rhein. Als wir nun an dem Strom anlangten, der breit und hoch an flachen Ufern hinströmte, überwältigte mich der Anblick. Ungeheure Wassermengen schossen dunkel und fahl im Abend glänzend dahin und nichts von dem lustigen Springen der Dreisam, dem heiteren weißen Gekräusel ihrer kleinen Wasserfälle und dem harmlosen Ungestüm ihres Laufes kam mir zu Hilfe. Unaufhörlich zogen die Wasser, an keiner Stadt vorüber, beziehungslos, ziellos, in unermeßlicher Breite, einsam und unbefahren, und rissen an den Weidenbüschen der Ufer, daß sie Not zu haben schienen nicht mitgerissen zu werden. Ich vermochte diesem ewigen Fließen in meinem Innern nichts entgegenzusetzen. Es war stärker als ich, stärker als mir lieb war und ich ertrug. Es riß die Erde in diesseits und jenseits. Ich hielt die Augen starr mitten in den Strom gerichtet. Ich brauchte einen Halt – und griff nach meines Vaters Hand.

Ich erinnere mich daß ich sehr müde und abgetrieben heimkam. Meiner Mutter, die mich nach dem Rhein fragte, sagte ich, er sei sehr schön. Ich log. Aber das war es nicht was mich bedrückte, vielmehr: daß meine Mutter annahm, ich habe mich tapfer benommen und ich hatte es doch nicht. Ich schämte mich daß es mich überwältigt hatte. Wie sollte ich das auslöschen? wie dem begegnen? Das konnte mich doch wieder ankommen? Anderes konnte mich ankommen, dem ich nicht gewachsen war.

Ich mußte in den Fluß hinein. Ich mußte das erleben. Ich stellte mir vor, ich würde von dem Wasser fortgerissen, weit, weit, bis ins Meer. Ich hatte den Kopf oben. Lange; immer noch. Es trug mich weiter und weiter: ich hatte den Kopf oben; immer noch. Ich hatte ihn immer oben. Und dann: dann ging man eben unter. Das gehörte sich so. Das konnte einem begegnen daß man unterging, und dann ging man eben unter. In dieser Vorstellung beruhigte ich mich allmählich. Es beruhigte mich daß da ja dann niemand sei der einem helfen könne und daß es ja dann gehn würde. Es handelte sich nicht darum, daß es dann aus sei, daß man stürbe. Daran dachte ich gar nicht – sondern wie man sich diesem was da herandränge, diesem Stärkeren gegenüber benehme. Tausendmal, damals und später, ließ ich mich so forttreiben bis zu diesem Untergehn – immer mit der Sehnsucht zu erproben ob man es wirklich vermöchte.

Wahrscheinlich erschrak ich damals noch vor jedem Hund der mich ansprang und vor jeder Hummel die mir zu nahe kam. Aber das war wohl instinktive Abwehr, wie ich wahrscheinlich auch rasch genug meinen Fuß weggezogen hätte, wenn eine glühende Kohle darauf gefallen wäre; und jedenfalls machte es mir keinen Eindruck. Ich durfte vor einer Fliege meine Hand zurückziehen und durfte vor dem Übermächtigen nicht die Hand meines Vaters suchen.

Aus diesen Vorstellungen entnehme ich auch daß ich ohne kindliches Gebet und ohne den kindlichen Glauben an Gott aufgewachsen bin, und diese Annahme findet eine Bestätigung von der ich an ihrem Platze erzählen will. Niemals kam es mich an, bei meinen Fahrten in den Untergang einen Retter, einen Helfer zu erwarten, den ich anrufen konnte, der seine Hand über mich hielte, der mich nicht umkommen ließe. Nein: dann ging ich eben unter. Sicher war Gott nicht zu meiner Errettung da. – Auch erinnere ich mich daß, als ich in späteren Jahren zufällig einmal meine kleinen Schwestern abends beten sah, ich mich darüber wunderte und mich fragte, ob wir Älteren das auch getan hätten.

 


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