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Fünftes Kapitel

Auf dem Kasernenhof in Kassel, in den Ställen, auf dem Reitplatz wurden wir gedrillt. Man hatte mir gesagt, es sei unangenehm, sich von Unteroffizieren kommandieren zu lassen. Ich lernte weniger das Kommandiertwerden als das Kommandieren. Ich lernte, daß wenn es gelte einen Befehl auszuführen, es von der Form des Befehls und von der Mitteilung des Befehls zugleich abhänge ob und wie er ausgeführt wurde. Ich lernte das, indem ich beobachtete wie ein junger Offizier trotz des größten Eifers, vielerlei Anweisung und vieler Kommandos die ihre Wirkung verfehlten als ob sie nicht gegeben wären, es nicht vermochte, sechs Mann richtig und auf dem kürzesten Wege durch ein Tor zu führen, während das ein andrer mit wenigen Kommandos kurz und korrekt vermochte. Ich lernte, daß der kürzeste Befehl am meisten Aussicht hatte, ausgeführt zu werden. Der kürzeste Befehl aber ist das Kommando. Kein Mensch schien das eigentlich zu wissen.

Ich lernte, daß ein Exerzierreglement – jedes militärische Reglement – einfach sein müsse, weil es auch der Dümmste verstehen mußte. Ich lernte das sozusagen im Anschauen. Man brauchte sicher keine Anweisung dazu, die auch nicht gegeben wurde. Vielleicht war es nicht wichtig, aber man unterstand doch diesen inneren Gesetzen der Dinge. Ich lernte Pferde zu putzen und zu pflegen, mit einem Karabiner zu schießen, der dem Schützen bei jedem Abschuß im Rückstoß beinahe die Schulter zerschlug, und einen ungefügen, unhandlichen, unbalancierten Säbel zu schwingen.

Ich lernte ein wenig reiten – zu dem andern, bessern das ich konnte – aber es war nicht weit her mit dieser Kunst, wie man sie damals und wohl auch später als Rekrut mitgeteilt bekam.

Die Ausbildung der Einjährig-Freiwilligen endete in einem besonderen Examen, das die Qualifikation zum Offizier der Reserve in der Armee gab. Wir waren vier Einjährige bei der Schwadron und bestanden alle vier die Prüfung. Aber man behielt nicht den Besten oder die Besten beim Regiment, sondern einen blonden, schwächlichen, kleinen Grafen, dem das Pferd eine sehr unangenehme Schöpfung Gottes war. Ich wollte das anfänglich nicht glauben. Aber ja – weil der Schwächling Graf war, blieb er; das qualifizierte ihn über die besseren. Wir anderen: man mußte sehen, wo man unterkam.

Denn natürlich wollte man im Ernstfalle – ich wußte sehr wohl daß Krieg der ernsteste war – nicht bei Kolonnen und in Trains eine nebensächliche Verwendung finden. Es war keine Eitelkeit in mir, kein falscher Ehrgeiz. Ich wußte wo ich im ernstesten Falle hingehörte, weil es mir zustand, weil ich es verantworten konnte. Ich sah Eitle und verwunderte mich über sie. Sie hatten nie darüber nachgedacht, was Krieg sei. Ich dachte aber immer darüber nach, mit einer seltsamen, großen und wachen Spannung als an ein Äußerstes. Ich hielt für selbstverständlich daß dies Männer tun. Aber ich sollte mich freilich bald davon überzeugen daß es sehr wenige taten.

Mit mir war jener junge Leipziger in die gleiche Lage gekommen. Auch ihn hatte man, obwohl er der Tüchtigere war, der Mutigere und Energischere, zugunsten des wässerigen Grafen abgeschoben. Dabei hatten wir ohne es zu wissen eine jugendliche und unbedingte Anhänglichkeit zu dem Regiment gewonnen, dem wir nun einmal angehörten. Wie oft war, in etwas künstlich begeisterten Ansprachen des Obersten, des Rittmeisters, des ausbildenden Offiziers, die aber doch dem Unerfahrenen Eindruck machen, es uns eingeschärft worden, was es für eine Ehre sei, dem Regiment anzugehören; wir hätten uns seiner würdig zu erweisen, uns für es und in ihm auszuzeichnen – nun wurden wir verbannt. Man hatte nicht nur eine Anhänglichkeit zu seiner Truppe gefaßt, sondern auch zu der Waffe. Wir hatten eine Regimentsehre, eine Husarenehre, eine Soldatenehre. Mag sich das aus der Ferne sehr lächerlich ansehn; es war uns gar nicht lächerlich als wir entrechtet wurden. Der Graf fühlte sehr genau, was ihm den Vorzug verschaffte, und war anständig genug, etwas verlegen darüber zu sein.

Wir beiden Ausgestoßenen begaben uns mit den erteilten Qualifikationen zu einem sächsischen Reiterregiment, den Husaren in Grimma, einer kleinen Stadt in der Nähe Leipzigs. – Wieso wir nicht gleich hierher gekommen seien? Wir seien doch Sachsen? Warum wir nach Preußen liefen? – Es klang fast, als wären wir zum Feinde übergelaufen. Das war mir neu und machte mich nachdenklich. Immerhin wurden wir zu den für einen Reserveoffizier erforderlichen weiteren Übungen beim Regiment angenommen. Aber auch da noch, und nicht nur in der Schreibstube des Regiments, sollte ich diese für mich ganz merkwürdige Auffassung betont finden, die mich nachdenklich gemacht hatte. Wir beiden Gebrandmarkten standen als Unteroffiziere während unserer ersten Übung nebeneinander seitlich vom versammelten Offizierskorps des Regiments, da der Kommandierende General, der sich zu einer Truppenbesichtigung eingefunden hatte, die auch unsere Übung endete, sich außer den jüngsten Offizieren, die er noch nicht kannte, auch die Offiziersaspiranten vorstellen ließ. In dieser kurzen Reihe standen wir. Dieser Kommandierende General war der Bruder des Königs, nachmals selber Konig von Sachsen. Er richtete die üblichen Fragen an jeden: wann er beim Regiment eingetreten, wann er (als Einjähriger) beim Regiment gedient habe. Der junge Leipziger, der neben mir stand und an den die Frage des Prinzen zuerst kam, antwortete, er habe gar nicht im Regiment gedient. »Wo sonst?« fragte der Kommandierende. »Bei dem Husarenregiment 14 in Kassel.« – Der Prinz machte ein erstaunt- und ernst-verächtliches Gesicht und stellte, weitergehend, die gleichen Fragen an mich, der ich der nächste in der Reihe war. Er erhielt natürlich die gleichen Antworten. »In Kassel?« fragte er und sah mich verständnislos ob solcher Vergangenheit an; »in Kassel? – Wo liegt denn das?« worauf er sich, da ich der jüngste und letzte war, mißmutig zum Frühstück begab.

Ich weiß noch als ob es heute wäre, was in mir vorging. Ich fühlte mich nicht beleidigt oder gemaßregelt oder beschämt oder schlecht und ungezogen behandelt – was ich mit Fug und Recht auch hätte fühlen können – sondern ein ganz großes und tiefes Entsetzen übermannte mich. Ich fühlte daß ich in diesem Augenblick eines großen Vaterlandes beraubt wurde, eines machtvollen, einigen, weiten, begeisternden Vaterlandes, in dem ich zu leben mir eingebildet hatte, das ich liebte ohne Besinnen, dessen Gründung und Einigung meinen Vater, meine Mutter, alle die ewigen jungen Gestalten die ich mir bewahrte begeistert hatte, dem die ersten Worte meines Vaters gegolten hatten deren ich mich entsinnen konnte, dessen Anfang auch mein Anfang war, in dessen Zukunft meine Zukunft lag. »Wir haben ein Reich und einen Kaiser« hatte mein Vater gesagt. »Weißt du was das ist, ein Reich und ein Kaiser?« – Ich war aus einem großen Vaterland in ein kleines, enges, das ich nie als meine Heimat anerkennen konnte eingesperrt. Wer war der Mann der mir mein Vaterland einfach wegnahm wie eine dumme Einbildung? – Und der Kaiser? – Was galt er, wenn ein jeder Prinz und König fragen konnte, wo Kassel liege. Aber das große Vaterland – das war's um das ich bangte. – Ich war bleich und bebte; ich habe kein Wort gesprochen, keinen Bissen angerührt. Am Nachmittag, als wir vom Offizierstisch entlassen waren, fuhr ich nach Leipzig, wo ich nach Beendigung meines Militärjahres mein juristisches Studium fortsetzte – oder eigentlich erst begann –, und trat in das Zimmer meines Vaters. Freilich hatte ich mir nun alles selbst schon beantwortet. Ich pflegte ja nicht zu fragen, wenn und wo ich mir die Antwort selber geben konnte. Diesmal fragte ich.

»Jeder Deutsche«, sagte mein Vater, »besitzt zwei Vaterländer oder, wenn du willst, ein zweifaches Vaterland; er besitzt, rechtlich gesprochen, eine zweifache Staatsangehörigkeit – mindestens eine zweifache; denn er kann auch eine mehrfache besitzen.« Ich sagte, daß ich nach meiner Empfindung nur ein Vaterland besitzen könne. – Ich hatte ja wohl in der Schule Heimatkunde gelehrt bekommen und es war von der sächsischen Heimat die Rede; aber das war die Heimat der andern, nicht meine. Ich nahm an dem Unterricht teil, weil es die Heimat der andern war. Mein Vaterland, erklärte ich meinem Vater – so habe ich immer angenommen –, sei Deutschland. »Dies ist auch so«, erwiderte mein Vater »und du hast ganz recht; aber gleichwohl bist du Sachse.« Ich erinnere mich: Leipzig war die Landesuniversität; mein Vater mußte sächsischer Untertan geworden sein. Aber ich hatte mich bisher so gesichert in meinem Deutschtum bewegt, daß ich kein Land wichtig genommen hatte in dem ich lebte. – Das Zweifache des Vaterlandes widersetzte sich meinem Empfindungsvermögen. Wenn die Länder Deutschland ausmachten, so war der Grund auf dem ich stand besetzt, er konnte nicht Zweien gehören, konnte nicht Deutschland sein. Deutschland war ein Phantom ohne Realität, ein Staat ohne Körperlichkeit. Die Körperlichkeit war eingenommen von den Staaten, die den Grund und Boden – abgesehen vom Reichsland Elsaß-Lothringen – besaßen. Dies empfand ich damals. Ich empfand das Vage, das Unwirkliche, das Konstruktive, das Kunstwerk im Gegensatz zur Tatsache Land, wenn ich auch das alles nicht in Worte fassen konnte und mich nur eines festen Besitztums meines Innern beraubt fühlte. – Ob mein Vater dieses Zweifache nicht für bedenklich halte, fragte ich. Ich hatte noch nie darüber nachgedacht. Jetzt wurde es mir plötzlich klar. »Das muß doch weg!« rief ich. »Warum ist man denn zweimal Untertan?« Mein Vater lachte. Er freute sich offenbar. »Ganz gut!« sagte er, »aber sehr revolutionär.« Das Deutsche Reich sei eine kühne, zwar sehr genial befestigte, aber doch auch schwache Punkte aufweisende Staatsbildung, die auf diesem Zweifachen beruhe. Vorläufig sei nicht mehr zu erreichen. »Du mußt damit auskommen.«

Diese Eröffnung enttäuschte mich. Sie schien den Partikularismus dem ich begegnet war nicht zu entrechten. Sachsen war vielleicht eine größere Realität als das Reich, und wenn dieses eine war, so war Sachsen, so war jeder Staat eine neben ihm. Das Zweifache war mir nicht einfach genug. Als ich aus dem Zimmer meines Vaters ging, hatte ich etwas von einer Gescheitheit oder einer Sorglosigkeit verloren die mir bisher erlaubt hatte, gegen dies Zweifache blind zu sein. Aber ich glaube nicht daß ich der einzige war der damals bis zu seinem zwanzigsten Lebensjahre mit dem Deutschen Reich so beruhigt hingelebt hatte wie ich es tat. Andererseits fand ich keinen dem es solche Mühe machte, zwei Vaterländer zu verdauen. Oder verdauten sie sie gar nicht? –

Damals erwanderte man sich das größere Vaterland noch nicht, wie es später die Jugend in mancherlei Bünden aus einem Drang, sich im Tatsächlichen einzurichten, tat. Man nahm es in ein sehnsüchtiges Herz wie etwas das jedem jungen Herzen zustand, man las und lernte schöne Lieder die ihm galten, und noch in mehr als einem kindlichen Gemüt gingen Mühlenräder darin an jedem Bach und ein Liebchen sah aus jedem Fenster. Aber sich ein Vaterland zu erobern, ja zu ertrotzen da wo es rauh und abweisend war, von Süd bis Nord zu ziehen und von West bis Ost, die wirkliche Beschaffenheit des Gemeinsamen und des Gegensätzlichen in ihm zu erleben, lag nicht in der Art der Zeit. Man schwelgte etwas in dem politischen Gebilde, das da so groß und herrlich aufgestanden war. Das riß man als sein Vaterland wohl gerne an sich. Aber man hatte es mehr in einem verträumten Sinn als unter den Füßen. Man dachte, man habe dieses Vaterland im Kriege erobert und da sei es nun. Ich war nicht frei von solcher Schwelgerei gewesen.

 

Jenes Erlebnis, jene Entrechtung, wie ich sie empfand, hätte mich dennoch nicht so schwer getroffen und erschüttert, wenn ich nicht eben noch – es war nur Wochen her – selig ernst und stolz, von meinem großen Vaterlande ganz erfüllt, von einem wundervollen Schauspiel heimgekommen wäre das, wenn es auch nur ein Schauspiel war, doch mit einer solchen tiefen Wahrhaftigkeit von Deutschlands Größe sprach daß es zu einem der unvergeßlichen Besitztümer meines Lebens wurde. Am 9. März 1888 starb Wilhelm I., den sein Enkel den Großen zu nennen befahl, der erste deutsche Kaiser. Ich war bei seinem Leichenbegängnis gewesen.

Am Abend vor seinem Tode, einem Donnerstag, war ich mit meinem Vater auf dem Wege zum Gewandhauskonzert, als uns Bekannte entgegenkamen und sagten, das Konzert sei abgesagt, der Kaiser liege im Sterben, der Tod könne jeden Moment eintreten. In jedem Gesicht, in jeder Stimme war der gleiche ungeheure Ernst, ein Ernst der das Land einzuhüllen begann wie eine Finsternis bevor die Nacht kam. Es schneite ununterbrochen. Man ging bedrückt nach Hause und wußte nichts zu tun. Es wurden Extrablätter ausgerufen, die das sagten was man wußte. In der Nacht wurde es unheimlich kalt, aber immer noch fiel Schnee. Im Laufe des Morgens kam die Todesnachricht – eine Zeile auf dem Extrablatt. Mein Vater las die Zeile mit einem schauerlichen Ernst und feuchten Augen. Trauer setzte ein. Die Schulen, die Universität, die Läden, die Ämter, die Häuser schlossen sich von selbst. Nichts befahl oder ordnete sie, die sich selbst befahl und sich selbst ordnete. Es ist kein Mensch zu nennen, um dessen Tod je Menschen weinten, der so betrauert wurde. Wie nahe dieser jedem Menschen stand, das wurde wie in einem Wunder offenbar, in einer Ausgießung über alles Volk die diese Trauer war. Sie wurde Ereignis seiner Geschichte, gleich ungeheuren Erhebungen, und keines außer dem großen Kriege den wir sahen soll ein Dichter jemals größer heißen dürfen.

Mit jedem Tage wurde dieses deutlicher; von ihrer Tiefe ihrer Größe wurde diese Trauer wie verklärt. Eine unbeschreibliche Woche folgte. Der Kronprinz und nunmehr Kaiser Friedrich III., todkrank und Opfer sicheren Tods, kam aus dem Süden herauf. Man sah ihn nicht. Er war schon stumm. Kein Wort erlaubten ihm die Ärzte die ihn ständig umgaben. Wände umschlossen ihn. Man fühlte nur dieses heroische Herz das jeder kannte von Liebe und Pflicht zu letztem Dienste gerufen. Man las am dritten Tage: »Sicher in seiner Kraft ruhend steht Deutschland geachtet im Rate der Völker und begehrt nur des Gewonnenen in friedlicher Entwicklung froh zu werden.«

Die Welt las es und kein Zweifel erhob sich. Es war des Kaisers Proklamation die diese Worte enthielt. Sie war aus eigenem Herzen mit Bleistift vom Kaiser selbst geschrieben, nicht redigiert von der Klugheit anderer, und so den versammelten Ministern zur Veröffentlichung übergeben. In seiner Kraft ruhend stand Deutschland geachtet im Rate der Völker. Es war die Wahrheit. Als die Beisetzungsfeierlichkeiten feststanden – an einem der nächsten Tage – gab mir mein Vater Geld und ich fuhr nach Berlin. – Das erste Mal in meinem Leben. Ich habe nichts von ihm gesehen. Es gab nur die via funeralis: das Brandenburger Tor, die Linden und den Dom, wo der tote Kaiser aufgebahrt war. Stadt und Land lag in tiefem Schnee. Es wurde schneidend kalt. Ein unbewegliches, starres und unheimliches nahes Grau hing bis zu den Häusern und verhüllte die Türme. Ich hatte mich mit einem Fähnrich meines bisherigen Regimentes, der in Potsdam auf Kriegsschule war, verständigt; er holte mich vom Bahnhof ab. An ein Unterkommen in der Stadt dachten wir nicht; es gab wohl auch keines. Es gab für uns ja nicht mehr Tag und Nacht; man wußte nichts von Tag und Nacht. Ich weiß nicht wann und wo wir gegessen haben, ob wir geschlafen haben – wahrscheinlich nicht. Nur wenn wir zu sehr froren, das wußte ich, schlupften wir in eine enge holländische Teestube, tranken heißen Tee mit Genever und aßen heißen Zwieback, wenn wir uns bis an den schmalen langen Schanktisch vorgedrängt hatten wo er im Stehen verabreicht wurde. Aber oft mußten wir auch wieder hinaus in die Nacht oder in den Tag, weil es uns nicht so lange hielt bis wir den Tisch erreicht hätten.

Wir drängten uns zum Dom. Wir standen stundenlang. Es war unmöglich. Irgendwie standen wir immer neben dem Strom, der wie gefroren fest lag und sich nicht zu bewegen schien. Wir schoben uns wieder heraus, gingen, tranken Tee und kamen wieder. Aber immer wieder war es gleich unmöglich. Frauen wurden ohnmächtig in Höhe der Schultern von Menschen langsam nach hinten hinausgeschoben, hinausgezogen. Wir versuchten es in den verschiedensten Stunden. Die Menge war immer gleich groß. Schließlich gaben wir es auf  . . . Ich habe den Kaiser einmal im Leben gesehen; sehr alt, sehr gütig, einfach und ehrfurchtgebietend; dies Bild konnte ich mir bewahren. Auch der Fähnrich hatte ihn gesehen.

Dort aber im Dom lag der tote Kaiser auf dem schwarzen Generalsmantel mit den großen roten Aufschlägen in der Uniform seines ersten Regiments der Garde. Langsam schob sich die schweigende Menge vorüber und blickte noch einmal in das feine greise Antlitz des Menschen der sich mehr Liebe in der Welt gewonnen hatte als je ein Lebender von dem wir wissen. Blumen von unbeschreiblicher Pracht bedeckten das ganze Schiff. Frauen sanken in Tränen nieder und Szenen spielten sich ab die keine Feder beschreibt. Das wußte das ganze Volk.

Und Tag und Nacht rüstete Berlin die Straße der Trauer. Es sprach sich herum daß Arbeiter aus dem Reich das Spalier vom Schloß bis zum Mausoleum in Charlottenburg bilden würden die der Unfall- und Krankenversicherung teilhaftig geworden waren und der Initiative Wilhelms des Ersten diese Fürsorge verdankten. Es waren hundertundachtzigtausend Mann. Aber die Anregung fiel. Freiwillig, ohne Aufforderung und Kommando, standen zwanzigtausend Jünglinge, Künstler, Studenten, Arbeiter Berlins, und hielten die Ordnung. Die Straße der Linden glich einem schwarzen Strombett. Ein schwerer Trauerprunk von Schwarz und Gold faßte sie ein. Gasströme brannten Tag und Nacht wie aufwärts geworfene in den Himmel stoßende Arme. Teerfeuer schwelten breit und leuchteten düster. Ein ausgespanntes Trauerzelt überbrückte die ganze Kreuzung der Friedrichstraße. Das Brandenburger Tor schloß wie eine schwarze aufrechte Umarmung seine Säulen um die letzte Ausfahrt seines Königs  . . . Der Stein verhüllte sich: Vale senex Imperator.

Am Morgen des Begräbnisses saß ich an dem Eckfenster der Berliner Universität im ersten Stock, gerade dem historischen Eckfenster des Palais Kaiser Wilhelms I. gegenüber. Mein Vater hatte seine Freunde gebeten, mich mitzunehmen. Ich saß zwischen den Damen der Professoren, jungen und alten, die mich freundlich und wie mir schien erfreut grüßten. Ich wußte damals noch nicht wie beliebt und verehrt mein Vater war und ich wunderte mich daß man mich wie selbstverständlich an den besten Platz in der ersten Reihe schob. Alle Fenster waren der eisigen Kälte wegen geschlossen. Nach einer langen Weile traten hinter mir Herren herein die aus dem Dome kamen. Die Feier sei eben zu Ende; der Zug müsse gleich kommen; »die Gemeinde sang unter Schluchzen den letzten Choral mit, den der Domchor anstimmte«. Einer der Eingetretenen sagte es. Das Trompeterkorps der Leibgardehusaren bog in der Ferne in die Trauerstraße ein. Ihre Trompeten erklangen in einer langgezogenen Fanfare. Es war von einer fürchterlichen Gewalt was da langsam auf der breiten Mittelallee der Linden durch die weitab gebannten schwarzen schweigenden Mauern der Menschen dahinzog. Ich zitterte. Als der Wagen mit dem Sarg in der Höhe des Westflügels der Universität kam und vor den Fenstern vorüberfuhr hinter denen auch ich saß, konnte sich keiner der Tränen erwehren. Ich sah hinüber, dem Wagen mit dem Blicke folgend. Da verfing sich dieser Blick in eine für niemanden merkliche leise Bewegung eines Vorhangs und in die Finger einer greisen Hand die ihn bewegten. Einen langen lautlosen Augenblick, ausgespannt wie eine Ewigkeit, wurde dort hinter Blumen in der Tiefe des dicht verhangenen Eckfensters im Kaiserlichen Palais, an dem der Kaiser viele tausendmal gestanden, das bleiche Angesicht der greisen Kaiserswitwe sichtbar – vielleicht für mich allein – das sich noch einmal an das Letzte mit den heißen alten Augen klammerte ehe es ihnen entschwand.

Dicht hinter dem Sarg führte man die Reitpferde des Toten – die beiden letzten die er noch bestiegen.

Danach folgte, in einem seltsam weiten Abstand, der Kronprinz. Es schien als schreite er hinter einem leergelassenen Platz. Jeder fühlte diesen Platz leer. Es war des Kaisers Platz. Der Kaiser Friedrich fehlte in dem Zug. Der Kronprinz, dreißigjährig, sehr ernst und starr, fast eckig in dem festgezogenen Mantel, sehr korrekt soldatisch, schritt allein. Doch hinter ihm schritten versammelt die Herren unzähliger Länder, schritten Könige und Prinzen, abgesandt von andern Königen, schritten Herrscher ferner Länder und fremder Art, schritten die Fürsten der deutschen Staaten, schritten die preußischen Prinzen, schritten die Generäle, Staatsmänner, hohen Beamten, die Präsidenten der höchsten Gerichte, die Geistlichkeit des Landes, die Höchsten der Städte – ein Trauergefolge so mächtig wie es keinem Herrscher der Welt in diesem historischen Augenblicke hätte beschieden sein können. Es war die Welt die ihn zu Grabe trug, nicht nur sein Volk. Die Welt hatte ihren Friedensfürsten verloren.

Die Pracht des Zuges ging unter in dem Schwarz der Mäntel, die die harte Kälte der Tage anzulegen gebot und der Kaiser selbst den Truppen des Trauergeleites zubilligte. Aber die Macht des Eindrucks, die Größe des Ereignisses, die Wahrhaftigkeit menschlicher Trauer war in keinem Mantel zu verhüllen.

Mit dieser Macht, mit dieser Größe, mit dieser Wahrhaftigkeit im Herzen verließ ich Berlin. Das Sterbebettwort Kaiser Wilhelms: »Ich habe keine Zeit müde zu sein« war noch jahrelang der Spruch weicherer und sentimentalerer Naturen. Es gefiel mir nicht ganz. Es war, so schön wie der Gedanke für den obersten Diener seines Volkes ist, als Wort schon zu theatralisch für die schlichte Seele in der es geboren sein sollte.


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