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Ein Aufenthalt in Tungking.

Es ist wahr, einem Arzte gelingt es am leichtesten, sich Zutritt und Zutrauen bei den Heiden zu verschaffen. Dennoch bedarf es auch für ihn der äußersten Vorsicht, um sich keine Feinde unter ihnen zu machen. Wir erzählen nach den Mittheilungen eines Solchen Folgendes.

Zwanzig Grade nördlich vom Aequator empfindet man noch sehr gut die Hitze, die unter dem Aequator selbst herrscht. Man denkt nicht, daß man in Tungking sich in der Nähe der Grenze befindet, wo die heiße von der gemäßigten Zone sich scheidet. Nördlich von Kescho in einem Dörfchen Langson hatte ich einen Wohnsitz gefunden, der meinen Wünschen entsprach, die ziemlich leicht befriedigt, sich darauf beschränkten, in Muße Insekten zu sammeln und, soweit meine Kenntnisse reichten, Kranken zu helfen. Unter den Bewohnern des Dorfes zählte ich bereits mehrere Freunde, denen ich bei schwerer Krankheit nützliche Rathschläge ertheilt hatte. Ich durfte, wenn Gefahr drohte, sowohl für mich als für meinen Diener auf sie rechnen.

Wie elend ist aber der Mensch, wenn er sich krank fühlt, und wie viel elender noch der Europäer, wenn er fern von der Heimath unter einem heidnischen Volke, das weder seine Sprache, noch seine Sitten, noch die geringste seiner Lebensgewohnheiten theilt, selbst erkrankt. Bereits seit mehreren Tagen fühlte ich mich sehr unwohl. Es mochte sein, daß ich mich bei dem Suchen nach Insekten zu sehr den Sonnenstrahlen ausgesetzt oder bei zu großer Erhitzung eine kühlende Frucht genossen hatte, genug, am Morgen, wenn ich aufwachte, empfand ich heftige Beklemmungen, mein Herz zuckte krampfhaft und nur mit Mühe konnte ich athmen. War ich eine Zeit lang aufgestanden, so stellte sich ein Schwindel ein, das Blut drängte nach meinem Kopfe, es flimmerte mir vor den Augen und mein Gedächtniß war wie verschwunden, ich konnte mich auf nichts besinnen. Dem Schwindel folgte eine Erstarrung meiner Gliedmaßen, ungeachtet der Hitze empfand ich Frösteln und eine entsetzliche Mattigkeit. Ich pflegte in einen halb wachen, halb träumenden Zustand zu versinken, bis ein heftiger Stoß von Innen, der mein ganzes Nervensystem erschütterte, mich wieder zur Besinnung brachte. Dann kehrte mein klares Bewußtsein zurück, aber mit diesem auch das ganze Gefühl meiner Gebrechlichkeit und Schwäche. Appetit spürte ich durchaus nicht, ich magerte ab zu einem Gerippe.

Die Trauer um meinen Zustand, der keinen Mitteln weichen wollte, theilte sich meinen Hausgenossen mit. Mein Diener, ein Neger, saß meistens stumm an meinem Lager und blickte wehmüthig zu mir auf. Mitunter brach er in laute Klagen aus und winselte in den ergreifenden Naturlauten seiner Muttersprache, wobei er durch heftige Geberden sein Mitleid und seinen Schmerz ausdrückte. Mein Hund, der sonst bei dem leisesten Geräusche zu bellen pflegte, schlich jetzt stumm und gebückt umher und ließ keinen Laut vernehmen, mochte kommen wer da wollte. Die Tauben und die Pfaue, welche ich bisher vor meiner Wohnung zu füttern gewohnt war und die dann mir nachliefen, mit ihren Schnäbeln mich liebkosten – ich sah sie nicht mehr, sie schienen mich vergessen zu haben und anderswo ihr Futter zu suchen. Die Kranken selbst, welche man täglich zu mir brachte, schienen das Zutrauen zu mir zu verlieren, nachdem sie sahen, daß ich mir selber nicht helfen könne. Sie kamen zwar noch zahlreich genug, oft mehr als ich wünschte, denn es strengte mich außerodentlich an, ihnen Arzneien zu verordnen, ihre Krankenberichte anzuhören und ihnen Verhaltungsregeln zu geben. Aber oft sah ich sie den Kopf schüttelnd und bedenkliche Blicke einander zuwerfend wieder mein Zimmer verlassen.

Nach einer äußerst qualvollen Nacht, in welcher meine Brustbeklemmungen den höchsten Grad erreicht hatten, traten eines Morgens zwei meiner Freunde aus dem Dorfe in meine Hütte. In ihren ängstlichen Mienen las ich eine Besorgniß, welche sie auf dem Herzen trugen, und als ich sie darum fragte, antwortete der Eine:

»Der Freund unserer kranken Brüder muß fort, und da er selber leidet, wissen wir nicht, wohin wir ihn führen sollen. Dennoch muß es geschehen. Der Mandarin wird kommen, um den Mann aus dem Westen zu suchen. Tod ist sein Loos, wenn er ihn findet!«

»Und wohin meint Ihr denn, daß ich mich begeben soll!« fragte ich.

»In die Berge!« war die Antwort.

Wie eine Stimme vom Himmel klangen mir diese Worte. Wenn irgendwo, so in den Bergen mußte ich wieder gesund werden. Diese Ueberzeugung stand mir plötzlich klar vor der Seele. »Laßt uns gleich aufbrechen!« rief ich.

»Nein, nein,« erwiederten die Freunde. »Wir gehen voraus, eine Wohnung einzurichten. Erst morgen kommt der Mandarin, bis dahin sind wir wieder da!«

»Thut, wie ihr es am besten wißt!« entgegnete ich.

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Sogleich ergriffen sie mein Bette aus Bambusrohr, welches ich eben verlassen hatte, und in Begleitung von drei anderen Bewohnern des Dorfes, welche Aexte am Gürtel trugen, sah ich sie aus meinem Fenster den Weg nach den Bergen einschlagen.

Unterdessen ordnete ich selbst, soviel ich vermochte, Alles an, um im Hause, wenn es durchsucht werden sollte, das zu verbergen oder fortzuschaffen, was meine Anwesenheit hätte verrathen können. Meine Sammlungen ließ ich in eine andere Wohnung tragen, und mit der größten Emsigkeit durchsuchte mein Diener alle Winkel und Ecken, damit nichts übersehen würde. Jedes Streifchen Papier, jeder Federkiel, mit dem ich geschrieben, kurz Alles ward auf die Seite geschafft. Nichts, was nur im entferntesten daran erinnern konnte, es habe hier ein Europäer sich aufgehalten, durfte dem Mandarin zu Gesicht kommen. Würde es geschehen, so war er befugt, falls er des Europäers selbst nicht habhaft werden konnte, den Besitzer der Wohnung mit dem Tode zu bestrafen.

Noch eine Nacht brachte ich in der mir liebgewordenen Hütte zu, sie war weniger peinlich, als die vorhergehende, nur schlief ich nicht viel. Ein ganzes Jahr lang hatte ich hier nun ungestört gewohnt, allein meinen Studien gelebt, manchem armen Kranken das Leben gerettet oder doch die Beschwerden und Schmerzen ihres Siechthums gemildert, viele Beweise von Freundschaft und Wohlwollen von meinen Hausgenossen und anderen Dorfbewohnern empfangen – nun sollte ich fort, wer wußte es, vielleicht für immer. Der Gedanke beunruhigte mich und war mir sehr schmerzlich.

Mit Tagesanbruch erschienen meine Freunde, mich zu holen. Ich stützte mich auf meinen Diener, meine treuen Begleiter trugen einen Theil meiner Habseligkeiten. Die Gegend lag noch im tiefen Schatten der Nacht. Nur hinter den Bergen flammte das Morgenroth oder vielmehr der Strahlenglanz der Sonne selbst, welche bereits über dem Horizonte heraufgestiegen war, aber noch nicht so hoch, daß sie über die Berge in's Thal leuchtete. Wir durchschritten anfangs ein von Baumreihen zu beiden Seiten eingeschlossenes breites Thal. Aus dem Laubdickicht der Bäume schallte der Gesang der Vögel. Mir war's, als hörte ich es zum ersten Male. Auf den Weiden tummelten sich die Heerden der Büffelkühe, welche die Hirtenjungen des Dorfes hüteten. Rings grünte das Bambusrohr mit dem das Dorf wie mit einem grünen blüthenreichen Kranze eingefaßt war.

Darauf traten wir in einen Wald. Eine Unzahl von Affen lärmte in den Zweigen, ihr Pfeifen wurde von den Stimmen der Papageien übertönt, die sich behaglich auf den Aesten wiegten. Einige hundert Schritte weit in die Waldung hinein stieg der Pfad den Berg hinan. Mit jeder Minute ward mir leichter. Schon bedurfte ich des stützenden Dieners nicht mehr. Ein Stab genügte, um meinen Schritten Sicherheit zu verleihen.

So wanderten wir bis wenige Stunden vor Mittag. Dann machten wir Halt, und meine Begleiter richteten die Mahlzeit zu. Sie mundete trefflich, und als ich die heißen Stunden in meiner Hängematte im dichten Waldesschatten ungestört verschlafen hatte und erst nahe der Untergang der Sonne wieder erwachte, da fühlte ich mich gestärkt und erquickt, neues Leben rieselte durch meine Glieder, so daß ich dankbar Gott pries, der mir in der frischen Bergluft, die lange umsonst ersehnte Genesung gewährt hatte.

Wir stiegen wieder den Abhang des Berges hinunter, aus Furcht vor den Tigern. Meine Begleiter hatten an einem Felsenabhang eine Hütte errichtet, mit Palmblättern bedeckt, und bei einem angenehm wärmenden Feuer, welches meine Begleiter die ganze Nacht hindurch zu unterhalten versprachen, schlief ich auf meinem Bette von Bambusrohr so trefflich, wie ich es nur wünschen konnte. Der überwältigende Anblick der vom glänzendsten Mondschein beleuchteten Gegend hatte mich anfangs noch lange wach gehalten, ich konnte mich nicht satt sehen an dem wunderbaren Glanze, der wie eine Strahlenkrone um die Gipfel der Berge hing und gleich einem Lichtmeer auf der dunkeln Laubdecke der Waldung ruhte. Doch siegte endlich das Naturbedürfniß über die Begeisterung für die Schönheiten der Landschaft. Während meine treuen Begleiter sich im Wachen ablösten, schlief ich ohne Unterbrechung bis zum Morgen.

Schon im Laufe der Nacht war durch einen vertrauten Boten in unserm einsamen Waldlager die Kunde eingetroffen, daß der Mandarin nicht kommen werde und ich ohne Gefahr wieder zurückkehren könne. So schwer mir der Abschied aus dem Dorfe geworden, so schwer, ja noch schwerer ward mir jetzt die Rückkehr. Die Bergluft hatte mich gesund gemacht, der frische Hauch auf den Höhen mich wie neu geboren. Hier hatte ich meine entschwundenen Leibeskräfte, hier die alte Spannung meines Geistes, die verlorene Heiterkeit meiner Seele wieder erlangt. Was alle Arzneien nicht vermocht hätten, aller noch so aufmerksamen, sorgfältigen Pflege nicht gelungen – ein Tag in den Bergen hatte dies Wunder gethan. Noch einen Tag brachte ich auf dem Gebirge zu. Dann zogen wir wieder heim. Nach und nach genas ich vollkommen wieder, und in der That, es war an der Zeit gewesen. Denn nach wenigen Wochen schon kam der Würgengel Gottes, der nicht blos die Erstgeburt tödtete wie weiland in Aegypten, sondern schonungslos und ohne Unterschied Gesunde und Schwache, Greise und Kinder, Mann und Weib dahinraffte: die Cholera brach aus.

Man muß das Auftreten dieser furchtbaren Krankheit unter dem heißen Himmelsstriche gesehen haben, um das grenzenlose Elend zu begreifen, welches sie anrichtet. Man muß selbst Arzt sein, um es empfinden zu können, welch einer göttlichen Zornruthe hier der ohnmächtige Mensch gegenüber steht. Um ärztliche Kunst ist es geschehen Angesichts dieser scheußlichen Pest, aber vorbeugende Maßregeln, sorgsame, verständige Pflege mildern oft ihre Angriffe. Allein wie schwierig ist es, dergleichen zur Anwendung zu bringen.

Hier war es unmöglich. Aus der Hauptstadt Kescho flüchteten Tausende auf's Land. Der König verschloß sich tief im Innern seines Palastes und gewährte Niemandem Zutritt. Die Regierung des Landes ruhte, das Ansehen der Mandarinen war dahin. Es herrschte Anarchie. Jeder handelte nach Belieben, die aufgelöste Ordnung mehrte die Schrecken der entsetzlichen Krankheit.

Sie war in der starkbevölkerten Hauptstadt ausgebrochen. Die heiße Jahreszeit, der Mangel aller vernünftigen Maßregeln zur Bestattung der Todten, überhaupt aller gesundheitspolizeilichen Aufsicht, beschleunigten die reißende Geschwindigkeit, mit welcher die Cholera von Quartier zu Quartier um sich griff. Nun stürzten alle, welche noch gesund waren, mit wenigen Ausnahmen auf's Land. Bald füllten sich die Dörfer mit Einwohnern. Die Hütten waren überladen, wie Viele der Kommenden trugen schon den gefährlichen Krankheitsstoff in sich. In wenigen Tagen waren auch die Dörfer in der Umgegend der Hauptstadt verpestet, sie glichen einem wüsten Todtenacker.

Alles, was noch laufen konnte, eilte weiter landeinwärts. In einigen Dörfern stieß man auf Widerstand. Man versuchte es, die unwillkommenen Gäste abzuwehren, aber vergebens, sie ließen sich eben so wenig vertreiben, wie ein gereizter Bienenschwarm. So ward das ganze Land mit den schrecklichen Miasmen erfüllt, welche rücksichtslos das Leben der ihnen anheimgefallenen Beute forderten.

Unter diesen Verhältnissen hatte ich Gelegenheit genug, Leidenden und Unglücklichen zu helfen. Man nahm im Allgemeinen meine Rathschläge willig an. Bei denen, welchen sie die Gesundheit wiedergaben, erwarb ich mir Freundschaft; die Andern wurden meine Feinde. Aber, Gott sei Dank, die Zahl der Ersteren war die überwiegende, ich ward nicht gezwungen, meine Wohnung mit einer anderen zu vertauschen.

Doch trieb mich auch der Wunsch, dem Uebel an seiner Quelle entgegenzutreten, mit einigen Eingebornen, die ich zur Begleitung aufforderte, nach der Hauptstadt. Der Anblick, welcher hier unserer wartete, war über alle Beschreibung Grauen erregend. Vor den Thoren der Stadt sah man nichts als Leichenzüge; aber da es bald an Särgen gebrach, an Holz sowohl wie an Händen, die bereit waren, das noch vorhandene Holz zusammenzuschlagen, so hatte man schon angefangen, die Leichen auf die Straßen zu werfen. Der Dunst der Verwesung steigerte das Umsichgreifen der Seuche, Schaaren wilder Hunde und Schakale durchzogen die Straßen, um an den Leichnamen sich zu sättigen. Wir fanden lebende Kinder in den Armen ihrer tobten Mütter – wie wenige vermochten wir zu retten.

Mit tiefem Grauen wandte ich der Stadt wieder den Rücken. Hier wäre meine schwache Hülfe ein Tropfen im Ozean gewesen. Desto thätiger war ich in meinem Dorfe und in der Umgegend.

Einmal rief man mich Nachts zu einem angesehenen Manne einige Meilen von Langson. Vier Männer waren mir zur Begleitung geschickt, mir den Weg zu zeigen, zwei nahm ich selbst mit. So im Geleite von sechs, welche Fackeln trugen, begab ich mich auf den Marsch. Die Nacht war finster. Heftige Platzregen, welche jedoch jedesmal nur kurz anhielten, machten unsere Wanderung höchst beschwerlich, der Boden wurde schlüpfrig und die Fackeln drohten zu verlöschen. Wir hatten eine Waldung zu passiren, die mehr als eine Meile lang war und, wie wir wußten, besonders Tigern zur Lagerstatt diente. Der Pfad, welcher hindurchführte, war sehr unwegsam, nur mit großer Mühe drangen wir durch die dichte Verzweigung des mit zahlreichen Schlingpflanzen durchwebten Untergebüsches. So lange unsere Fackeln brannten, hatten wir nichts zu fürchten. Aber als Regen fiel und uns zwei auslöschte, ward es bedenklich. Vergeblich bemühten sich meine Begleiter, die erloschenen Brände wieder anzufachen. Der von den Aesten und Blättern rieselnde Tropfenfall drohte auch die Flamme der übrigen zu tobten. Wir kamen an einer Lichtung vorüber, wo noch die Reste eines Büffels lagen, den die Tiger vor kurzem erst verzehrt hatten. Wieder erlosch eine Fackel, umsonst war der Versuch, sie anzublasen. Es brannten nur noch drei, und auch diese, von der Feuchtigkeit der Luft angegriffen, nur schwach. Nicht lange währte es, so erstarb auch ihre Flamme, und wir waren in der dichten Finsterniß ohne Leuchte. Dies hinderte uns nun freilich nicht, den rechten Weg fortzusetzen, denn die Richtung des Waldpfades war meinen Gefährten bekannt. Allein die Tiger! Hinter dem nächsten Baumstamm konnte schon einer lauern, wie leicht mußte es ihm werden, uns anzugreifen, und womit sollten wir uns wehren? Unsere Angst war groß, aber glücklicherweise diesmal ohne Grund. Wir gelangten ohne Abenteuer an den Ort unserer Bestimmung, freilich zu spät, denn der Mann, den ich dem Tode entreißen sollte, war bereits dessen Beute geworden.

Nachdem die Cholera vorüber war, welche die Landschaft furchtbar entvölkert hatte, nahm ich meine Naturstudien wieder auf. Mein Ansehen unter den Leuten hatte zugenommen, nicht dadurch allein, daß ich Vielen geholfen, sondern auch dadurch, daß ich selbst von der Seuche verschont geblieben war. Weit und breit hatte ich Freunde erworben, der Arzt von jenseit des Meeres war ein gefeierter Mann. Allein nichts desto weniger hatte ich den Mandarin zu fürchten. Seiner Ankunft sah man jetzt mit Bestimmtheit entgegen, denn der König hatte Befehl gegeben, daß sämmtliche Beamte die von der Cholera heimgesuchten Districte bereisen sollten, um die Zahl der Gestorbenen etc. zu ermitteln. Ich war beständig in den Kleidern und auf die schleunigste Abreise gerüstet.

Eines Nachts, nachdem ich erst eben eingeschlafen, stürzte einer meiner Hausbewohner ins Zimmer. »Schay, Schay!« (d.h. auf die Flucht, auf die Flucht!) rief er, »der Mandarin ist nahe bei dem Dorfe!«

Ich eilte hinaus, fand schon drei Männer bereit, mir den Weg zu weisen, und so eilig wir konnten, liefen wir fort. Nach etwa zehn Minuten standen wir stille. In nicht allzugroßer Entfernung vernahmen wir verworrenes Geschrei und sahen den Schimmer von Fackeln.

»Das Dorf ist umringt! Wir sind verloren!« flüsterten meine ängstlichen Begleiter.

Ein Gebüsch, durch welches ein Bach rauschte, lag in der Nähe, wir krochen hinein und verhielten uns ganz ruhig. Diesmal hatte man uns nicht getäuscht. Es war die Begleitung des Mandarinen, ihn selbst auf einem Elephanten sitzend an der Spitze, welche das Geräusch im Schein der Fackeln machte. Der Zug näherte sich uns, aber er zog vorüber ohne uns zu bemerken. Wir athmeten wieder frei auf.

Jetzt galt es, uns durch die Schildwachen durchzuschleichen, welche das Dorf umstellt hatten. Eine jede trug außer ihren Waffen eine Fackel. Ich sandte Einen der Leute als Kundschafter voraus, mit dem Befehl, einen Weg zu suchen, auf dem wir unbemerkt entwischen konnten. Nach einer halben Stunde kehrte er wieder und hatte gefunden, was ich wünschte. Wie die Schlangen am Boden, so krochen wir nun in dem Gebüsche fort und gelangten glücklich außerhalb des Bereichs der Posten. Dann beschleunigten wir unsere Schritte und erreichten noch vor Tagesanbruch die Berge.

Vom Dorfe schallte Toben und Lärmen zu uns herüber. Ein Feuer loderte auf. Es war meine Hütte. Im Unmuth darüber, daß ich entwischt sei, hatte der Mandarin Befehl gegeben sie anzuzünden, dann war er wieder abgezogen.

Nach zwei Tagen kehrte ich wieder ins Dorf zurück. Mein Einzug war ein Triumphzug. Aus allen Häusern strömten mir die Leute jubelnd entgegen. Jeder bot mir das seinige zur Wohnung an.

Wieder brachte ich beinahe ein Jahr lang in Langson zu, ohne belästigt zu werden. Da ward ich eines Tags auf einer meiner Wanderungen in die Umgegend sammt meinem Diener von den Soldaten des Mandarinen, welche Streifpatrouillen machten, überrascht und gefangen genommen. Man hing uns das Folterbrett an den Hals und führte uns nach der Hauptstadt Kescho. Hier wurden wir zuerst in einen großen Saal gebracht, wo die Ortsbehörde saß. Ich erwartete ein Verhör, was aber hier nicht erfolgte. Wir wurden nach kurzem Verweilen abgeführt und in ein Gefängniß geworfen. Es war ein elender Kerker und ich dachte nicht an Entrinnen, denn eine starke Wache ward davorgestellt.

Am Tage darauf wurden wir wieder vor die Behörde geführt. Die Mandarine waren in voller Amtskleidung versammelt, und da ich ihre Sprache verstand, chinesisch, so konnte ich auf alle mir vorgelegten Fragen Antwort geben.

»Wie heißest Du?«

Ich nannte meinen Namen, den mir die Eingebornen gegeben hatten.

»Wie alt bist Du?«

»Ein und dreißig Jahre.«

»Welches ist Dein Vaterland?«

»Europa.«

»Wie lange bist Du in diesem Lande?«

»Mehr als drei Jahre.«

»Wie bist Du hieher gekommen?«

»Auf einem englischen Schiffe landete ich in Macao und kam von dort mit einer Dschunke.«

»Wo hast Du gewohnt?«

»Bald hier, bald dort, am längsten in Langson.«

»Was ist Dein Beruf?«

»Die Kranken zu heilen und den Armen beizustehen.«

So ging es ununterbrochen fort; ich redete unbefangen und ohne Umschweif die Wahrheit. Endlich, nachdem ich alle Fragen beantwortet hatte, sagte ich:

»Ich kam hieher, Euren Landsleuten Gutes zu thun. Hunderte sind durch meine Arzeneien gesund geworden, viele von der Cholera durch mich geheilt. Ich habe keinen Lohn dafür genommen und begehre nichts als meine Freiheit, um unter Euch wohnen zu können. Eure Gesetze verbieten den Fremden nicht, unter Euch zu leben. Was ich fordere, könnt Ihr mir nicht verweigern. Wer mich eines Verbrechens zeihen kann, der trete vor.«

Niemand erwiederte etwas. Dagegen führte man uns in ein Gefängniß zurück, welches aber besser war, als das, worin wir am Tage vorher gesessen hatten. Es war ein Thurm von unbedeutender Höhe, und das Zimmer, welches uns angewiesen wurde, lag im untersten Stockwerk desselben. Der Thurm war zwar aus Steinen aufgeführt, doch hatte bereits der Zahn der Zeit so sehr an dem Gemäuer genagt, daß dasselbe sowohl außen wie innen an vielen Stellen abgebröckelt, an andern sehr lose und morsch geworden war. Ein Fenster, welches in dem Zimmer sich befand, in das man uns führte, war mit Bambusstäben vergittert, die auch nicht mehr hinreichend ihren Zweck erfüllten die Oeffnung zu verschließen. Theilweise waren sie zerbrochen, theilweise sehr wackelig, so daß sie ohne große Mühe entfernt werden konnten. Und dann war die Fensteröffnung weit genug, um einen Menschen hindurchzulassen, dazu so wenig über dem Erdboden erhaben, daß es leicht war, ohne die geringste Verletzung besorgen zu müssen, hinabzuspringen.

Man stellte uns eine Wache vor die Thür, aber ohne Waffen. Der Mann trug nur einen derben Bambusknittel und sah gar nicht danach aus, als wenn das Wachehalten zu seinen Amtspflichten, geschweige denn zu seinen Lieblingsbeschäftigungen gehörte. Im Gegentheil schien er viel mehr Neigung zu einem gesunden Schlaf zu haben, der bekanntlich recht tief und schwer ist. Ueberhaupt stieg in mir der Gedanke auf, daß die Richter, nachdem sie meine Aussage vernommen, nicht geneigt waren mich zu bestrafen. Da sie mir aber nach den einmal bestehenden Gesetzen eine Strafe nicht erlassen konnten, mir in diesem Gefängniß aber, wie ich annahm, stillschweigend Gelegenheit geben wollten, sie durch meine Flucht der Anstellung weiterer Verhöre mit mir und dem Ausspruch eines Strafurtheils zu überheben, so faßte ich sogleich, nachdem ich mich von der wenig festen Beschaffenheit meiner Zelle überzeugt hatte, den menschenfreundlichen Plan, ihren Wünschen, wie ich sie mir wenigstens vorstellte, entgegenzukommen. Schon am folgenden Tage wollte ich mich ihnen insofern dankbar beweisen, als ich ihnen alle fernere Mühe meinetwegen zu ersparen beschloß. Mein treuer Neger sollte natürlich mein Schicksal theilen, doch machte ich ihn im Voraus nicht mit meinem Plan bekannt.

Der Abend brach herein, die Schatten der Nacht lagerten sich über die Erde. Man brachte uns ein Nachtessen, Reis und Früchte und eine Matte, um sie auf dem Boden auszubreiten und darauf zu schlafen. Des Schlafes, vor Allem aber auch der Speise, bedurften wir nothwendig, sollte mein Vorhaben uns gelingen. Denn es stand uns dann noch ein weiter und anstrengender Marsch bevor, wir mußten in die mehrere Meilen weiten Gebirge, um einen verborgenen Zufluchtsort zu suchen und auf versteckten Wegen von dort, wer konnte wissen, nach wie viel Tagen erst, durften wir hoffen in das Dorf zurückzukehren, wo ich bisher gewohnt hatte. Deßhalb ließ ich mir die gebrachten Speisen wohlschmecken, mein Neger gleichfalls, und es währte nicht lange, so waren wir beide fest eingeschlafen.

Doch ich erwachte, wie ich wollte, kurz vor Mitternacht. Der Neger schnarchte, als ich mich erhob, aber noch ein anderes Schnarchen vernahm ich. Es war das unseres guten Wächters vor der inneren Thür des Thurmes – der durfte nicht gestört werden. Behutsam weckte ich den Neger; er fuhr wie von einer Tarantel gestochen in die Höhe, denn er träumte gerade, wie man ihn spießen wollte, und die Berührung mit meiner Hand war ihm im Traum wie ein Stich mit der Lanze vorgekommen. Rasch theilte ich ihm meine Absicht mit und empfahl ihm Vorsicht und Aufmerksamkeit.

Wir machten uns dann daran, die Bambusstäbe ohne Geräusch vom Fenster zu entfernen, was uns nicht schwer wurde. Nachdem die Fensteröffnung hinreichend erweitert worden war, um uns durchzulassen, stieg ich auf die Schultern des Negers, steckte den Kopf hinaus und blickte umher. Eine Wache draußen war nirgends zu sehen. Aber in einiger Entfernung schlich doch im Dämmerlichte der Gestirne eine Gestalt, die mich besorgt machte, man könne uns verrathen. Zu meinem nicht geringen Entsetzen näherte sie sich dem Thurm. Ich zog meinen Kopf zurück, doch so, daß ich mit meinen Augen noch ihre Bewegungen verfolgen konnte. Der Mann trat ganz nahe an's Fenster, versuchte an der Mauer emporzuklimmen und murmelte mit halblauter Stimme die Worte: Schay, Schay! Es war die Stimme eines meiner Freunde aus Langson, die mich einst ins Gebirge geleitet hatten, als ich der Ankunft des Mandarinen auswich. Er hatte mein Gefängniß ausgekundschaftet und kam nun mich zu befreien.

Nichts konnte mir für den Augenblick erwünschter sein, als dies unerwartete Zusammentreffen. Hurtig sprang ich zum Fenster hinaus; mein Neger, im Klettern gewandt wie eine Katze, erklomm die Brüstung und stand bald an meiner Seite. Unser Befreier hielt in einem nahen Bambusgebüsch Pferde bereit. Wir eilten vorsichtig dorthin, bestiegen die Thiere und nun ging's in raschem Galopp die Ebene hinunter auf verborgenen Pfaden dem Gebirge zu.

Als die Sonne aufging, lagerten wir in einer Felsengrotte, hoch auf den Bergen, und labten uns an frisch gekochtem Reis und einem Trunk aus kühler Quelle. Ein breitästiger Gummiguttbaum beschattete mit seinen steifen, eiförmigen Blättern unsere Lagerstatt, von welcher aus wir das Thal zu unsern Füßen überschauen konnten. Malerisch lagen die tungkinesischen Dörfer zwischen den angebauten Feldern von Zuckerrohr und Baumwolle, eingehegt von starkstämmigem Bambusrohr, das hier überall die Stelle des Bau- und anderen Nutzholzes vertritt. Die durch keinen Wolkenschleier verhüllte Sonne goß ihr blendendes Licht über die Landschaft, und der an den verschiedensten Formen und Farben überaus reiche Blüthenflor der großblätterigen Gewächse, die von mächtigen Schlingpflanzen durchwebt waren, bezeugte, daß diese Gegend der heißen Zone angehöre. In unserer nächsten Umgebung hallte die Bergwaldung wider vom tausendstimmigen Chor befiederter und vierfüßiger Thiere, und um die Blüthen schwärmte ein zahlloses Heer glänzender Insecten. Papageien in buntem Federschmuck wiegten sich auf den schwanken Zweigen himmelanstrebender Bäume, Affen hüpften, einander neckend, von Ast zu Ast oder schaukelten sich mit ihren langen Wickelschwänzen unter dem schattigen Laubdache der Feigen- und Teakbäume.

Nachdem wir unsern Morgenimbiß genossen hatten, setzten wir unsere Reise fort und gelangten nach wenigen Tagen wieder nach Langson. Ungeachtet der inständigen Bitten der Dorfbewohner hielt ich es doch nicht für rathsam, länger bei ihnen zu verweilen. Ich packte daher meine Habseligkeiten und Sammlungen ein und trat nach Verlauf von acht Tagen, begleitet von den Segenswünschen der Zurückbleibenden, im Geleite kundiger Führer, meine Reise nach der Hafenstadt Kehoa an, wo ich mich in einer chinesischen Dschunke nach Singapore einschiffte, um von dort nach Europa zurückzukehren.

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