Otto Julius Bierbaum
Studenten-Beichten
Otto Julius Bierbaum

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Der Negerkomiker

Wie van Staanen nach Leipzig kam, war er ein kleines hübsches Kerlchen von zwanzig Jahren, hatte rote Bäckchen wie ein Backfisch, lebhafte blaue Augen, die mit einer ruhigen Vergnügtheit von Ding zu Ding und Mensch zu Mensch blitzen, – sonderbar unschuldig. Er war weder geistreich, noch dumm, hatte einen großen Wechsel, ging in naturwissenschaftliche Kollegs, besuchte die Gewandhauskonzerte, fehlte auch nicht im Theater, wenn es eine Première gab. Ein Berufsstudium hatte er nicht, er hielt sich »studierenshalber zum Vergnügen« in Leipzig auf.

Sein Vater war ein steinreicher amerikanischer Bankier, der ihn in Deutschland das Gymnasium hatte absolvieren lassen und der ihm nun, so schrieb er ihm nach der in einer kleinen westphälischen Stadt bestandenen Maturitätsprüfung, »vier Jahre Freiheit« gab. »Du sollst ein deutscher Student sein, so fröhlich wie nur irgend Einer, und ein »Bursch« werden, wie sie dort sagen. Denke an Deinen Onkel, meinen Bruder Franz! Was war das für ein lustiger Junge! So knapp er's hatte auf der Universität, er war immer fidel. Ich habe ihn oft beneidet, wenn er so aus Leipzig schrieb von seinen »Suiten« und Fröhlichkeiten, ich Drehsesselhocker damals in Hamburg. Daß er so bald sterben mußte!«

Dieser Bruder Franz schwebte dem alten van Staanen, der schon Anfang der sechziger Jahre nach Amerika gegangen war, als der Typus des deutschen Studenten vor: die zerknitterte blaue Mütze auf dem Kopfe mit den langen blonden Haaren, die Pfeife im Munde, flott und ungezwungen, voll übermütiger Lieder. Nach seiner Meinung wimmelten die deutschen Universitäten noch heute von solchen »Burschen«, und so einer sollte sein Karl auch werden. Es ärgerte ihn daher, wenn dieser von seinem Leben schrieb, von Konzerten, Theatern und Bildersammlungen. »Nein, nein, Karl! Das spare Dir auf später. In den ersten Semestern will ich davon nichts hören! Werde ein Bursch!«

Der kleine van Staanen, der sich ohnehin zu langweilen anfing, da sein Interesse für Konzerte, Theater und Bildergalerien in der That nicht gerade tief war, und der überdies seinem Vater aufs Wort gehorchte, meldete sich also bei der alten Verbindung, der ehemals sein Onkel angehört hatte.

Er wurde mit offenen Armen aufgenommen und entwickelte sich sehr schnell zum Renommierfuchs erster Güte. Man konnte offenbar aus ihm machen, was man wollte. Sein Wechsel war gut, sein Magen war gut, sein Handgelenk war gut. So ward er ein in jeder Hinsicht brauchbarer Kouleurbruder: als »Geldschwinger«, als Trinker und als Schläger.

Schon nach einem halben Jahre war er kaum wieder zu erkennen. Er hatte ein paar dicke weiße Backen, seine Augen waren etwas wässerig geworden und blickten schneidig arrogant, wenn auch im Grunde kindliche Gutmütigkeit in ihnen lag; er machte seinen »grimmschen Bummel« so selbstbewußt gravitätisch wie nur irgend Einer. Sogar »äh-bäh« konnte er sagen.

Nach und nach schlug er seine Mensuren und paukte sich zum Burschen heraus. Dieses Ereignis wurde dem Alten hinübergekabelt, der sofort gleichfalls per Kabel seiner Freude Ausdruck und dem Bankier Anweisung gab, Karls Monatswechsel zu erhöhen.

»Hol mich der Teufel, so'n Alter ist noch nicht dagewesen, so lange die Welt steht,« sagte Karls Leibbursch bei diesem »Familienereignis«, – wir werden ihm das Ehrenseil geben müssen.«

Kein Wunder, daß der kleine van Staanen bald zu den führenden Geistern der Verbindung gehörte. Als Fechter war er zwar etwas zu phlegmatisch, »biß nicht viel heraus«, aber er stand wie ein »Baum«. Manchmal schien es fast, als wenn es ihm Vergnügen bereitete, von allen Seiten mit »Blutigen« zugedeckt zu werden. »Er stopselt heute wieder mal aus Prinzip,« sagten dann seine Kouleurbrüder. Der »kleine Amerikaner« aber lächelte und that nach dem Gebote der Schrift: hatte er auf die Linke eine Quart erhalten, hielt er die rechte hin und kassierte eine Terz ein. »Ich finde das ganz nett,« pflegte er zu sagen.

Es war übrigens gut, daß er hier und da Blut verlor, denn er fing an, auffällig massig zu werden.

Merkwürdig war, daß er sich um die »Weiber« gar nicht kümmerte. Die »kleine Anna« hatte ihn schon ein paar mal kontrahieren wollen, aber sie gelangte zu nichts weiter als zu der Überzeugung, daß er ein »Stumpfhuhn« sei. »Und dabei so 'n Wechsel! S' is zu bleedsinnig!« »Na wart' nur,« entgegnete ihr der »dicke Otto«, ein erotisches Kraftgenie vor einem Mädel, »laß'n nur mal an 'ne richt'ge gomm', denn sitzte'r mit eenem Male dicke drinne, aber feste!« Der dicke Otto hatte nämlich Erfahrung . . . Und richtig! Mit einemmale saß er dicke drinne. Und feste.

Das kam so:

Das Wintersemester war vorbei – (ich meine das Kouleursemester, denn die kalendarischen Einschnitte in der Kollegordnung hatten keinen Einfluß auf die persönliche Zeitrechnung des kleinen Amerikaners) –: man ging nicht mehr im Kouleur, sondern in »Bummel«, die offiziellen und offiziösen Frühschoppen und Kneipabende waren sistiert, es herrschte die unakademische Freiheit. Van Staanen pflegte sich in solchen Zeitläuften furchtbar zu langweilen, denn er hatte sich an des Trinkens und Fechtens ewig gleichgestellte Uhr so gewöhnt, daß er durchaus nicht wußte, was er mit seiner Zeit anfangen sollte, wenn der Kouleur-Stundenplan fehlte. Der »stille Suff« war noch die einzige Rettung, oder die zwanglosen Frühschoppen mit ein paar anderen gleichfalls in Leipzig über die Ferien gebliebenen Kouleurbrüdern, Frühschoppen, die von 11 Uhr Vormittags bis 12 Uhr nachts und länger dauerten und fruchtbar waren für Erfindung neuer Knobeltouren mit meist scheußlichen Bezeichnungen und für die Dichtung neuer »Wirtinverse«: »Frau Wirtin hat auch einen« . . . u. s. w.

Aber im Grunde mopste man sich dabei doch schauderös. Da fehlte der und der und der, und da gab es nichts Aktuelles von der letzten Mensur,und da fehlten alle die brillanten Renommieranlässe, wie die letzte große »Besäuftheit« und dergleichen. Auch der Skat verlor schließlich mal seinen Reiz, wenn man den Lachs fortwährend mit den gleichen Leuten fangen mußte. »Uaah!« war der Laut, der immer und immer wieder von des kleinen Amerikaners Lippen kam.

»Uaah! Verfluchte Ödigkeit! Der Stumpfsinn! Puh!«

»Ja, was sitzste denn egal hier, Kleener? Reiß Dich doch mal raus aus dem Biersumpf!? Komm doch mal mit, irgendwohin!? De mußt ja versimpeln!?«

»Na Gott, wohin denn!? Ist ja nichts los in dem Neste! Wohin Du kommst: Heringsbändiger. Ekelhaft!«

»Was gehn Dich denn de Häringsbänd'ger an! Luft! Man sieht se einfach nich!«

»A! Eklig! Zu stumpf! Ich werde mich in den Korb legen.«

»Unsinn! Sei mal vernünftig! Komm doch mal mit, ins »Pologne« meinetwegen. Was soll denn überhaupt Dei Vater sagen, wenn de nach Amerika kommst und bist noch in keen' Tingeltangel gewesen? So 'ne Unbildung!«

»Meinetwegen! Gehn wir! Ich komme ja um hier!«

Und sie gingen.

Es war schon halb zehn Uhr, wie sie in den Tunnel des »Hotel de Pologne« kamen. Eine angefettete Chansonette sang eben: »Hab' ich nur Deine Liebe.«

»Pfui Teufel! Ich kehre um«, sagte der kleine Amerikaner.

»Unsinn! Da bleibste! Nee, gucke doch da! Da unten sitzt ja Stilpe!? Natürlich! Also komm! Er hat auch noch Platz

Stilpe, ein inaktiver Bursch der Verbindung, genannt der Mulatte, weil er in der That mit einem Indogermanen wenig Ähnlichkeit hatte, saß direkt an der Rampe, wie immer. »Ich liebe in solchen Dingen die Froschperspektive,« pflegte er zu sagen, um diese Angewohnheit zu erklären. »Der Blick ist intimer so.« Als sie zu ihm nach vorn kamen, hatte die Fette (Trudi Muff hieß sie auf dem Programmzettel) eben ihr Lied beendet, und Stilpe rollte ihr als Zeichen seines Beifalls eine Konservenbüchse mit Corned beef hinter die Koulissen. »Närrsches Luderchen!« sagte zum Danke das dicke Mädchen. Er hatte übrigens noch eine ganze Reihe von derartigem »praktischen Lorbeer« vor sich stehen.

»Ja, Stilpe!?«

»Nanu!? Sogar Jankeedudelchen kommt in diese Höhle der wilden Europäerinnen? Oh Sternenbanner! Sternenbanner! Geh Halbmast, Du Fahne Kolumbiens!«

Stilpe war nämlich der Ironiker in der Kouleur, ein interessant verbummelter Kerl. Niemand pumpte den kleinen van Staanen so an, wie er.

»So! hier an meine Seite, Mann aus dem wilden Westen! Aber bitte mit der Brieftaschenseite an mich heran, denn diese marinierten Lorbeern mit Anchovis werden noch immer nicht gratis verzapft, und mein Portemonee is noch immer kee Portemoja. Versteht mich dieser Naturbursche?«

»Mach keine faulen! Brauchst Du was, so rede deutsch!«

»Jetzt haben sogar die Bankierserzeuglinge schlechte Laune! Ich wähle Bebel! Gieb mir fufzig Mark, und ich lehre Dich das Pologne kennen, innerlich und äußerlich. Ho! Da klafünft der Kerl schon wieder Bravoooo!«

Entrüstetes Zischen im ganzen Raume. Eine außerordentlich dürre Sängerin war aufgetreten und begann wie ein Gassenjunge zu kreischen:

»Kann ich dafür? Kann ich dafür?«

»Nischt kannste dafür, mei' Mädchen!«

»Pst! Ruhe! Pst!«

Stilpe mußte wirklich den Mund halten.

Fräulein Grete Köner war nämlich der Liebling dieses Publikums, das für Hautgout nicht ohne Sinn war. Trotz ihrer fast skelettartigen Dürre hatte sie einen ganz eigenen Reiz. Eben den der Fäule, aber Edelfäule konnte man das schon nicht mehr nennen. Es war etwas sonderbar Lockendes in ihrem Wesen; wenn man ihre grünlichen Augen sah, die sie immer wie im Fieber weit offen hatte, so konnte man meinen, auf ihrem Grunde müsse etwas Tiefschmerzliches und Tiefböses und Tiefschönes liegen, jedenfalls etwas, das zu schauen und zu heben es sich verlohnte. Etwas Furchtbares hatten diese Augen für jeden, der ihnen einmal nahe gekommen war und die Unglücksgabe der Phantasie besaß. Sonst war alles eher abstoßend als anziehend an ihr. Nur noch die freche Lüsternheit ihrer Bewegungen, deren keine bedeutungslos schien, wirkte auf viele. Die Männer saßen immer atemlos, wenn sie sang. Ja, und auch das war es noch: im Tone ihrer schrillen Stimme lag etwas Aufregendes, das anfangs beleidigte und ärgerte, aber nicht abließ, in die Nerven zu stechen und ein Gefühl, halb Schmerz, halb Wollust, zu bereiten.

Der kleine van Staanen saß wie gebannt und starrte sie an. Auch als sie unter dröhnendem Beifall abgetreten war und Stilpe eben hinter ihr her ein Fäßchen mit Hummer rollte, starrte er auf den Fleck, wo sie gestanden hatte. Sie kam nicht wieder vor, sondern steckte ihren Kopf nur aus der Kulisse und schnitt eine Grimasse.

»Du, Wild-West-Mann, was is mich denn mit Dich, mein Kind? Doch nich Greteken? Grundgütiger Himmel von Texas und den anderen Jagdgebieten der verschimmelten Adlerfeder! De wirst doch nich?«

Der kleine Amerikaner starrte noch immer. Dann sagt er: »Das ist doch 'n merkwürdiges Frauenzimmer!«

»Merkwürdig?! O ja! Sehr. Man kann auch sagen: gefährlich. Eine niederträchtige Sorte Eva. Sie frißt nicht bloß den Apfel, sondern auch den Mann. Die Schlange hat sie schon als Vorspeise genossen. Hüt' Du Dich! Hüt' Du Dich! wie jener Lyriker so schön sagt. Nicht in die la main, mein Freund! Jedenfalls pump mir die fufzig Meter Silberdraht vorher!«

Der andere Kouleurbruder brummte ärgerlich dazwischen: »So 'n Skelett! So 'ne Latte von 'nem Weib! Die reene Wegamüsiertheit! Gefällt Dir die etwa, Yankee?«

»Gefallen? Ich weiß nicht, aber sie hat was.«

»Hört! hört! In der That! Yankeedudelchen produziert sich als Menschenkenner, ohne allen Apparat, bloß aus dem Handgelenk. Oh Du abgefeimter Sohn der Wildnis! Übrigens, wenn Du genauer seh'n willst, was se hat, brauchste's bloß zu sagen. Bloß zu sagen. Se is nich genierlich. Willste?«

»Ja, wie denn?«

»Das Lamm! Das Lamm! »Wie denn?« fragt dieser Knabe Karl, der fürchterlich zu werden anfängt. »Wie denn?« Kostbar! Höre, mein Jüngling mit dem goldenen Kandelaber, hebe die Lappen Deiner zierlichen Ohren: ich werde sie einladen. Und ich schwöre Dir: wenn sie noch unbesetzt ist, wird sie uns die Ehre geben, viele Löffel Suppe mit uns zu essen. Siehst Du! so wird die Sache gedeichselt, paß auf! Ich brauche nur den schamlosen Betaster dieses Blüthnerbastards heranzuwinken. So ungefähr: Sie, da, Onkel Musikdirektor! Na, so kommen Se doch, Sie Lisztling! Na endlich! Is Grete schon besetzt? Nee? Na, dann sagen Sie ihr, daß ich 'nen Amerikaner bei mir habe, der eigens herüber gegondelt ist, um sich von ihren Knochen aufspießen zu lassen. Nee doch! Scherz ohne! Se soll ins Hinterzimmer komm', aber fix ä bißl!«

Die drei Kouleurbrüder bezahlten und gingen ins Hinterzimmer. So nannte sich ein Teil der Gaststube, der von dem übrigen Raume durch eine Rollwand geschieden war.

Stilpe entwickelte sofort eine sachkundige und energische Thätigkeit in kritischer Weinkartenprüfung, nachdem er gefragt hatte:

»Wie stehen die Amerikaner? Gut? Also all right! Orgie nimm deinen Lauf! Schorsch: Schleppen Sie die Mousseuxkübel heran! Die Witwe aus Frankreich werde aktiv! Sie verstehen mich, Schorsch? Mein Gott, was die heutige Kellnerjugend ungebildet ist! Cli!? He? Na: Cli!!? Cli?!!!? Keene Spur hat er, 'n Rindvieh is er! Also Cliquot; Dämlak! Huit! Fort! allez! Das Kompakte mag der gütige Gastgeber selber bestimmen, aber ich bitte, nicht zu vergessen, daß ich mich in Caviar baden möchte.«

Van Staanen ließ anfahren, »daß die Welt wackeln mußte,« wie Stilpe sagte. »Onkel Polognerich wird ekligen Respekt bekommen!«

Nach einer halben Stunde etwa kam das »schlanke Mädchen«. Stilpe stellte sie mit feierlichen Zeremonieen vor, für die sie als Antwort ein geringschätziges Lippenschürzen hatte.

»Die Muff wartet draußen!« sagte sie dann.

»Natürlich, 'rin ins Vergnügen!« entschied Stilpe, und der Kouleurbruder, der eine Schwäche für korpulente Weiblichkeit hatte, sprang hinaus und holte die dicke Folie für Gretchens ätherische Schönheit.

»Was bleibt für mich?« fragte Stilpe, – »wieder bloß Tugend und Kaviar. Das hat man davon, wenn man Ethiker ist. Ich bin nämlich der einzige anständige Mensch hier, müssen Sie wissen, Greteken. Aber Sie brauchen sich deswegen nicht zu genieren. Dem Reinen ist alles rein, und für mich seid ihr alle Lilien. Ihr säet nicht, ihr erntet nicht, aber der gütige Amerikaner nährt euch doch. Er hat's nämlich, und Sie brauchen bloß aktiv zu werden, und ihn hat's ooch!«

Sonderbar: der kleine Amerikaner fand keinen Spaß an diesen Späßen. Er verbat sie sich sogar.

»Herrgott, es hat Dich doch nicht etwa jetzt schon? Nee aber so fix! Ich sag's ja: diese Amerikaner! Lauter Edisöhne Riechen bloß am Speck, und sie sitzen schon in der Falle. Dabei hat die Ätherische gar keenen Speck. Ganz förchterlich!«

Auch der Ätherischen behagten die Späße durchaus nicht. Es war ihr alles klar: mit diesem Kleinen, der so sonderbar höflich war, konnte sich leicht was »entwickeln lassen.« Schüchtern in Worten, verschlang er sie mit seinen Blicken, in denen Staunen und Begierde war. Wie ihn fesseln!? Gleich mit allen Hunden los oder leise die Netze gezogen?

Die Muff war natürlich wieder schrecklich gewöhnlich. Schon nach der ersten Cliquot war sie beim »Knutschen«, und Stilpe, natürlich, kommentierte alle Vorgänge, sowohl die auf, als die unter dem Tische.

Gretchen Köner entschied sich in guter Kontrastberechnung für das leichtere Geschütz, in dem freilich überhaupt ihre Kraft war, – sie »wirkte« mit den Augen. Schiefe, fragende Blicke begannen, Blicke voll unsicheren Winken, als wisse sie selbst noch nicht, wohin, – wie tief. Dann herumirrende Blicke, als wenn ein Leid in ihnen wäre, das fliehen wollte in ferne Verborgenheiten. Mitten hinein plötzlich dann ein großes Aufthun der grünen Tiefe, lange, starr, – und nun die Augen schmerzlich zu, indes sie lauerte. Schließlich die schwerste von ihren Künsten: das Umarmen mit den Augen, als ob sie innerlich tiefstes Glück genösse, selig selbstvergessen.

Übrigens: der kleine Amerikaner hatte wirklich einen gewissen Reiz für sie. Ein kräftiger Junge! Und unschuldig, – das war doch klar. Das las sich doch aus seinen blauen Stauneaugen. So einer, der mit einem Male gewonnen wird auf lange Zeit, – vielleicht für immer. Für immer, – das kann freilich fatal werden. Denn man wird solche Herren nicht los, selbst wenn man will. Indes: die Brieftasche! Diese ganz unstudentische Art, mit echtem Sekt zu operieren!

Grete Köners Nuance waren nämlich zumeist ältere Herren. Auf »junge Esel mit schwachen Mitteln« ließ sie sich sonst nicht ein.

Aber der da!?

Wie gesagt, sie hielt ihn der schwersten ihrer Künste für würdig.

Diese schlugen vollkommen an. Sie konnte es bald merken, daß sie ihn hatte. Es war ihr eigentlich so noch nie passiert; die reine Explosion, denn, man denke! – Während der vierten Flasche schon, »wo man doch wahrhaftig noch ruhig ist«, preßte er ihre Hände in die seinen und gab sich ihren Blicken in ganz brünstiger Andacht hin. Wenn sie nur allein wären! Er war entbrannt! Jeder seiner Bewegungen sah sie es an, wenn er auch wenig sagte.

Wenn sie nur allein wären!

Der Freund der dicken Muff war bald betrunken, und die dicke Muff ditto, – aber Stilpe! Diese verdammte Dreckschleuder! Wollte er denn durchaus die ganze Geschichte verpfuschen?

Als der kleine Amerikaner einmal hinausging, nahm sie sich den »Ekel« vor. Aber richtig! »Was er sich denn eigentlich dächte!? Ob das nicht eine Gemeinheit wäre, fortwährend schnodderige Bemerkungen zu machen, wo doch der Kleine so anständig wäre? Das sei eine nette Kouleurbruderschaft, unschuldige junge Leute zu verderben, und von Stilpe hätte sie eigentlich mehr Anstand erwartet. Aber nein: pfui Teufel!«

»Aber Greteken!?! Greteken!?! Du bist doch keine Seriöse?! Was ist denn in Deinen Alabasterbusen gefahren? Du wirst mir doch nicht ernstlich den kleinen Yankee . . .? Oho, mein süßes Skeletteken, so hab'n wir nicht gewettet! An die Kette willst Du den kleinen Amerikaner legen? Gucke da! Wo das Mädel den Geschmack her hat! Gucke da! Das große Portemonnai will sie in Monopolpacht nehmen! Aber da kennt ihr den kleinen Amerikaner schief, holdes Gerippe! Der ist, – aber wart, er soll's uns selber sagen! Du, Yankeedoodle, sag mal, was ist! Greteken meint, Du möchtest aus ihren Tanzstiefeln trinken. He? Wahr?«

Aber Yankeedoodle wurde wild. »Kümmere Dich nicht um mich, Stilpe, und laß mich ungeschoren! Du langweilst mich mit Deinen Witzen! Drisch sie vor, wem Du Lust hast! Sie sind gräßlich überflüssig.«

Stilpe erkannte schnell, daß das Ernst war, und er hatte den Instinkt der auf andere angewiesenen Spaßmacher, im rechten Augenblick aufzuhören. Nur eine Bemerkung konnte er sich nicht verkneifen: »Also jut! Die Sache macht sich! Wieder eine Unschuld weniger! Daher der Name grüne Schoten! Aber bitte: wenn sie dürre sind und rascheln, – ich bin nicht schuld! Der gute Rat hat seine Schuldigkeit gethan, der gute Rat kann gehn! Also geh ich und wasche die la main in Unschuld, wie der alte Herr Pontius zu sagen pflegte. Siehe Markus oder Matthäus oder alle Zwee! Aber bitte vorher die fufzig Mark! In Geldsachen ist Pünktlichkeit die Höflichkeit der Könige.«

Van Staanen gab sie ihm mit Vergnügen, bezahlte auch gleich die Zeche, ließ die »paar Müffe« sitzen und ging mit Grete.


Von da an begann eine sichtliche Veränderung mit dem kleinen Amerikaner.

Er wurde »interesselos«, wie die Kouleurbrüder sagten. Fehlte bald auf dem Fechtboden, bald auf dem Frühschoppen, schwänzte sogar zuweilen die offiziellen Kneipabende.

Man suchte ihn behutsam auf die Bahn der Tugend zurückzuführen.

Erst der Leibbursch. Wirklich eine rednerische Leistung: »Das geht nicht, Leibfuchs! Wirklich nicht! Man kann nicht zween Herren dienen, zumal wenn der eene 'n Frauenzimmer is! Des Kouleurstudenten Geliebte muß seine Verbindung sein!«

Aber unglaublich: Selbst solche Maximen halfen nicht!

Folgten also die offiziellen Rüffel« – half nichts! Dimissionsdrohungen – half nichts!

Der Burschenkonvent wurde sehr traurig. Wenn es wenigstens intern geblieben wäre! Aber der kleine Amerikaner war ja verrückt!

Ließ das Mensch in den Verbindungsfarben auftreten. »Vivat, crescat, floreat . . . . . a!« riefen die anwesenden Studenten, wenn sie auftrat. Der reine Skandal!

Man mußte ihn also wirklich auf vier Wochen »hinaushängen!«

Aber, Du lieber Gott, das machte die Sache nur schlimmer! So sumpfte er sich immer mehr hinein. Nach den vier Wochen fiel es ihm gar nicht ein, sich sehen zu lassen.

Man suchte ihn. Keine Spur! Nicht zu finden! Auf seiner Bude die Auskunft: Seine Sachen seien da, er aber käme nur alle 8, 10 Tage einmal vor, um Briefe zu holen.

Der kleine van Staanen wohnte nämlich mittlerweile bei Grete Köner und dachte gar nicht mehr an irgend was anderes als an sie.

Es war ein ganz miserables Leben, das er führte, ein Leben im schmutzigsten Sumpfe, – man mußte erschrecken, wenn man den kleinen Amerikaner sah, so heruntergekommen sah er aus. Das fiel noch am wenigsten auf, daß die Zeichen wüstester Ausschweifung an ihm waren, daß er bleich und abgefallen war, müde Augen hatte und einen schleppenden Gang, – schlimmer war die Wandlung in seinem Wesen: diese Unsicherheit des Auftretens, wie wenn er etwas verbergen müßte, etwas ganz unsagbar Häßliches; diese Ängstlichkeit vor fremdem Blicke, der ihm wehe zu thun schien; dieses stumpfe Vorsichhinbrüten, aus dem er zuweilen emporschrak, obgleich nichts dazu Anlaß zu geben schien.

Er war der Chansonette willenlos unterworfen, sklavisch, hündisch. Sie maltraitierte ihn auf jede Weise, selbst in Gegenwart anderer; sie legte sich nicht einmal Zwang an, wenn ihr Gelüsten nach einem anderen Manne kam: Van Staanen ließ sich alles gefallen. Er schien gar kein Selbstgefühl mehr zu haben, innerhalb weniger Wochen war er durch das Weib vollkommen an Leib und Seele zu Grunde gerichtet.

Die Verbindung ahnte gar nicht, wie weit es schon gekommen war, bis Stilpe einmal auf der Kneipe erschien und erzählte, was er aus »bester Quelle«, nämlich von der dicken Muff und dann aus persönlicher »Beaugapfelung« erfahren. Seine Rede lautete so: »Laßt fahren dahin! Der Yankee ist in sein Verderben gedudelt, und kein Bierseil reißt ihn mehr heraus. So lange Krieg ist zwischen Nan und Nü, aber das versteht ihr zweifelhaft gebildeten Mitteleuropäer ja nicht, ich kommentiere also mein Bild aus dem Reiche der Mitte: so lange Mann und Weib sich befehden auf diesem ekelerregenden Globus, id est: seitdem Adam und Eva vom Appelboome verbotene Südfrüchte gegessen haben, is so was noch nich passiert! Der gute Knabe mit dem großen Portemonnaie is futsch, futscher, am futschesten! Er sieht aus wie ein Backpflaumenmann, so zusammengeschrumpelt und beenebezüglich schlotterig. Er ist chronisch vertattert an Leib und Seele und ganz und gar versimpelt. Er wichst ihr die Stiefel. Ja wohl. Er wichst ihr die Stiefel. Er macht ihren Laufjungen. Er ist ihr Clown. Sie steckt ihren Zeigefinger in's Bier, hält'n ihm hin und sagt: »Lutsch 'mal, Karlemannchen«, und Karlemannchen lutscht.

»Unglaublich! Donnerwetter nee! Aber is das denn die Menschenmeeglichkeet!« im Chorus.

»Ja, und wenn man der Muffin glauben darf, – Himmelherrgott noch 'mal: das is schon das Allerunglaublichste! Aber das kann ich vor den Fuchsen nich erzählen. Das is überhaupt nur für die allerältesten Semester, und selber die könnten Schaden an ihrer Seele nehmen, wenn sie nich zufällig Mediziner sind. Theologen würden augenblicklich sterben, wenn sie's hörten. 'S is schau–er–lich!!«

»Na also schieß los!«

»Fällt m'r ja gar nich ein! Heechstens bei der Exkneipe, und ooch da bloß theilweise. – 'S schlimmste is, daß er heidenmäßig viel Geld braucht und ooch nich im Geringsten dran denkt, von dem Weibsbilde zu lassen. – Ich habe mit ihm gesprochen, – väterlich versteht sich.«

»Na??!«

»Nu, er war sehr zerknirscht und ganz ekelhaft demietig, aber 's ginge absolut nich, und m'r sollt'n 'n in Ruhe lassen.«


Am nächsten Tage großer Burschenkonvent. Sollte man ihn gleich in perpetuum hinausthun? Sollte man noch einen Versuch zu seiner Rettung machen?

Dies wurde beschlossen.

Aber es war zu spät. Auf seiner Wohnung die Kunde: Herr van Staanen ist nach Amerika; hat alles bezahlt, seine Sachen fast alle dagelassen, zumal alle Bücher und alle Kouleursachen, wird aber nicht wiederkommen, – sein Vater hat ihn geholt.

»Eingeheimst worden?« Die Sache klang plausibel. Der Alte wird erfahren und kurzen Prozeß gemacht haben. Aber daß »der Kleine« gar keinen Abschied genommen? Man hätte ihn ja rehabilitieren können vorher . . . Immerhin: besser so, als daß man ihn etwa hätte ganz dimittieren müssen. Er wird schon wieder vernünftig werden drüben, und vielleicht kommt er sogar wieder. Beschluß: ein offizieller Brief des Burschenkonvents wird ihm nach Amerika nachgeschickt, die zeitweilige Dimission wird zurückgenommen, van Staanen bis auf Weiteres als aktiv betrachtet, bis genaueres zu Wissen des Konvents komme.

Statt einer Antwort von ihm kam der Brief mit einer Aufschrift des Alten zurück: »van Staanen, stud. phil. Leipzig, Hainstr. 5« Nanu? Dort eben hatte man ja die Nachricht bekommen, er sei nach Amerika?

Jetzt wurde die Sache verdächtig. Also doch die dürre Grete wieder? Sie war fort von Leipzig, nach Halle abgemeldet. Der Leibbursch des kleinen Amerikaners begab sich von der Höhe seiner Burschenwürde herab und fragte bei ihr brieflich an, wo Herr van Staanen sei.

Die Antwort lautete auf einer Postkarte sehr kurz: »Woher soll ich denn das wissen?«

Also verschollen . . .? Nein aber der Bankier mußte doch wissen! Also zum Bankier: ob Herr van Staanen noch seinen Wechsel behebe? Ja freilich: pünktlich, per Brief aus Halle!

Verfluchtes Weibsbild, also doch! Und Stilpe und der Leibbursch fuhren nach Halle.

Grete Köner trat unter einem anderen Namen in einem Tingeltangel nahe dem Bahnhof auf. Stilpe kannte natürlich ein paar ihrer Kelleginnen, die er vorher sondierte. Aber sie schien wirklich nichts mehr mit dem kleinen Yankee zu haben, denn sie lebte mit einem Kollegen zusammen, mit einem Negerimitator.

Ja, nun sollte man sich da herausfinden! Auf der Polizei war van Staanen nicht angemeldet. Aber da war er ja! Also würde man ihn sicher abends in der Vorstellung finden.

Stilpe natürlich vorn an der Rampe, aber so sehr er mit dem Leibburschen den Zuschauerraum durchmusterte: vom kleinen Yankee keine Spur. Auf dem Zettel figurierte auch der neue Liebhaber Gretes: Master Bell, – »na ick danke, 'n netter Nachfolger für den kleenen Yankee, sagte Stilpe, als der auftrat und mit seinen langen Schuhen im Negertanze den Boden zu bearbeiten begann. »Jut gefärbt is er, und Donnerwetter, so 'ne Lippenwülste! Prosit Onkel Tom!« Und er hob sein Glas zu dem Tänzer. »Nanu? Der blieb ja plötzlich stehen? Und was starrte er denn so . . .? Herrgott nein, – wirklich!!? Staanen!? . . 

Der Klavierspieler paukte wütend weiter, und der schwarze Tänzer stand noch immer. Das Publikum ulkte, eine Stimme rief: »Na man rüstig, oller Junge«, – aber plötzlich lief Master Bell davon, von hinter den Kulissen her hörte man lauten Wortwechsel, eine kreischende Frauenstimme immer als Oberton, dann einen schweren Fall und lauten Schrei.

»Herrgott, Herrgott! was ist passiert!?« im Publikum.

Stilpe und der Leibbursch über die Rampe hinter die Kulissen.

Da kniete van Staanen, der Negerkomiker, über Grete Köner und würgte sie, zwei englische Grotesktänzer in Froschmasken, ein unendlich dürrer und ein monströs dicker suchten ihn von hinten wegzuzerren, Chansonetten, halb angekleidet, liefen aufgeregt hin und her, der »Direktor« pustete hilflos und wimmerte: »De Vorstellung! De Vorstellung!«

Stilpe und der Leibbursch brachten van Staunen von der Sängerin ab. Er stammelte: »Nehmt mich fort! Nehmt mich fort!« Grete Köner spuckte aus und schrie: »Schmeißt doch das Aas da raus! Holt doch die Polizei! Der Hund der!«

Stilpe, der völlig ruhig geblieben war, schob sie bei Seite und sagte: »Stille biste, Bestie, – oder willste Dich noch mausig machen?«

Sie brachten van Staanen in ihr Hotel.


Der kleine Amerikaner wurde schwer krank. Zwei Monate lag er in der Leipziger Klinik. Aber als er entlassen wurde, schien er ganz gesund.

»Erst Grete Köner und dann 's Nervenfieber überstanden, – ne gute Natur!« sagte Stilpe.

Van Staanen wurde wieder aktiv, nachdem man erfahren hatte, daß seine kurze Thätigkeit als Negerkomiker in Halle nicht bekannt geworden war. Er war ernst und blasiert geworden, trank unmäßig und »lebte Selbstmord«, wie Stilpe urteilte, aber im ganzen war alles im Gleise.

Da, eines Tages, erschien er nicht zum Burschenkonvent. Ängstlich, wie man bei ihm nun war, ging man auf seine Wohnung. Da lag er – tot, vergiftet. Ein Zettel neben ihm. Auf dem stand: »Fragt meinen Bankier. Mit 200 Mark monatlich kann ich nicht leben.«

Atemlos zum Bankier. Was ist? Warum hat sich van Staanen vergiftet?

Vergiftet?

Ja! Da: der Zettel!

Da sank der alte Geldmann schier verzweifelt in seinen Lederstuhl. »Mein Gott! Mein Gott! Es war ja nur Notlüge, um ihn zu retten! van Staanen in New York hat ja gar nicht Bankerott gemacht! Es war ja nur vorgegeben, um den jungen Mann zu größerer Sparsamkeit . . . Mein Gott! Mein Gott! Was wird der Alte sagen! Der Alte!

»So'ne unvorsichtige Pädagogik!« meinte der erste Chargierte.


Zwei Tage drauf wurde van Staanen begraben. Die Chargierten der Verbindungen in Wichs am Grabe. Die Fahne seiner Verbindung umflort.

Am Abend Kneipe mit Trauersalamander.

Stilpe ging nicht hin. »Solche Geschichten muß man nicht mit ausgeleiertem Pathos verhunzen, sondern in tragischer Beschaulichkeit nachgenießen.«

Aus diesem Grunde wohl ging er ins »Pologne«.

Just als er eintrat, erschien die eben wieder engagierte Grete Köner (jetzt Lili Sonsky genannt) auf dem Podium, lachte wie ein Gassenjunge, hob, wie zur Umarmung die dürren Arme und sang ihr Leiblied »Kann ich dafür? Kann ich dafür?«

»Pfuiteufel!« sagte Stilpe, drehte sich um und ging nun wirklich zum Trauersalamander für den kleinen Amerikaner.

 

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