Otto Julius Bierbaum
Eine empfindsame Reise im Automobil
Otto Julius Bierbaum

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XII.
Von Frascati bis Neapel

An Detlev Freiherrn von Liliencron in Alt-Rahlstädt bei Hamburg

Terracina, den 14. Juni 1902.

Mein lieber Detlev! Wenn ich es unternehme, Dir in raschen, prima vista niedergelegten Zeilen einen Teil dieser von Tag zu Tag herrlicher werdenden Reise zu erzählen, so weiß ich wohl, daß ich Dir nichts von dieser Schönheit in die Seele geben kann, das nicht viel mächtiger schon in ihr lebte von Gnaden Deiner Phantasie, die sich schon einmal »vom Triberg nach Palermo« geschwungen hat. (Verzeih mir die »Gnaden der Phantasie« und das »geschwungen«. Ich weiß, Du liebst solche Worte nicht, aber in diesen Gegenden, wo alles großartig ist, kommen sie einem von selber. Das geht so weit, daß man hier am liebsten lateinisch schriebe, oder wenigstens italienisch, – wenn man's nur könnte! Oder in Versen. Aber ach! Ich bin zu klein, als daß ich mich an diese Schönheiten schnellversfüßig heranzudichten getrauen dürfte. Mehr als »Notizen« darfst Du Dir nicht erwarten.)

Der heutige Tag bescherte uns vieles und höchst verschiedenartiges: das albaner Gebirge, die pontinischen Sümpfe und das tyrrhenische Meer. Der erste Teil des Weges führte uns über Marino, Castel Gandolfo, Albano, Genzano, Cività Lavinia nach Velletri, – ein ganz herrlicher Weg mit allen Schönheiten südlich üppigen Mittelgebirges. Einem Baumwuchs wie dem dieser Landschaft sind wir noch nicht begegnet. Hier gedeiht eine Ölbaumart zu der Höhe und Stärke von Eichen, und die Eichen selbst sind, Goethisch zu reden, aufgetürmte Riesen. Aber so schön dieser Weg ist, so unsicher scheint er zu sein. Nirgendwo haben wir bisher eine solche Menge von Gensdarmen beobachtet. Nicht allein, daß wir sie auf der Straße patrouillieren sahen, sie tauchten auch bei unserem Herannahen zuweilen plötzlich aus dem Gebüsch auf, und hier wird uns erzählt, daß uns außer denen, die wir an der Uniform erkennen konnten, mindestens ebensoviele in Zivil begegnet sein mögen. Der Grund dafür mag einmal darin liegen, daß diese Straße von Alters her von Briganten bevorzugt worden ist (wie denn auch der Anfall auf den Herzog von Meinigen vor einigen Jahren sich hier abgespielt hat), dann aber mag sich die Fülle von Sicherheitsorganen auch daraus erklären, daß der König seine Automobilfahrten gern auch bis auf diese Gegend ausdehnt. Es kann auch kaum eine geben, die mehr zu Automobilfahrten verlockt. Zwar führen die Straßen immer auf und ab, aber nie in Steigungen, die zu einem langsamen Tempo zwingen, und dabei sind sie vorzüglich gehalten und sehr breit. Unser Adlerwagen, der schon schlimmeres hinter sich hat, rollte im schönsten Rhythmus glatt dahin, daß das Fahren allein schon eine Lust war. – Wie die Landschaft von außerordentlicher Schönheit ist, so sind die Ortschaften überaus interessant durch ihre Lage und Bauart, und unter den Einwohnern sieht man noch viele in alter Tracht, freilich auch eine auffällig große Anzahl von Bettlern aller Art, alte und junge, verkrüppelte und gerade gewachsene, blinde, taube lahme, – man möchte meinen, daß hier die Bettler-Republik liegt. Malerisch genommen beeinträchtigen diese Leute die Landschaft durchaus nicht, denn ihre Zerlumptheit hat Tradition und Stil, und sie wissen sich mit einem gewissen feierlichen Anstand zu bewegen. Diese Bewegungen und jede ihrer Gesten sind in ihrer Art schön, weil sie sehr ausdrucksvoll sind, und dem ästhetischen Genuß daran darf man sich ohne viel sentimentale Gewissensbisse hingeben, weil das Ganze in der Tat eine Art Schauspiel ist, und man wirklich bejammernswertes Elend, dessen Anblick wehtut, kaum darunter gewahrt. – Das Betteln ist hier ein bürgerlicher Beruf und wird als Kunst betrieben. »Gelt, das ist ein ausgezeichneter Bettler?!« sagte uns ein Mann, der beobachtet hatte, wie wir vor einem malerisch Zerlumpten gehalten hatten, um ihm ein paar Soldi zu geben. »Dieser Alte wird von allen Fremden bewundert. Und mit Recht. Keiner hat so gute Gesten wie er beim Betteln. Wir selber sehen es gern.« Das ist also eine Art Theater, und man sieht wieder einmal, wie weit uns die Südländer in der Kunst des Lebens überlegen sind. Selbst das Elend wissen sie zu stilisieren und zu einem Ornament des Lebens zu machen.

Der Albaner See, dessen man sich aus Plutarchs Lebensbeschreibung des Camillus erinnert, ist ein Gewässer von düsterer Schönheit; hoch über ihm thront Castel Gandolfo, eine päpstliche Sommerresidenz und uns Deutschen besonders bekannt, weil Goethe hier seine schöne Mailänderin kennen gelernt hat. In diesen Gegenden ist er viel mit Skizzenbuch und Zeichenstift herumgestrichen. Seine vornehme Lebenskunst geht freilich noch über die italienische, denn in ihr war noch die deutsche Zutat: der Erkenntnistrieb. Wo immer er war, genoß er nicht nur alles, was den Sinnen freundlich ist, sondern führte auch alles dem Sinne seines Lebens zu, immer bewußt an sich selber arbeitend als der gewaltige Selbstgestalter und Künstler mit allen Mitteln. Für uns Deutsche ist Italien auch deshalb das ergiebigste Reiseland, weil hier mehr als sonst unsre Gedanken immer wieder zu Goethe geführt werden. Und wohin ließen sich die Gedanken eines Deutschen lieber führen als zu Goethe? Wo fänden sie mehr, das ihnen dienlich ist?

Selbst, als wir in Velletri genötigt waren, Benzin zu kaufen, mußte ich an Goethe denken, nämlich an sein Distichon, das von der deutschen Redlichkeit handelt als von einer Eigenschaft, die man hier in allen Winkeln vergebens sucht. Der Herr Apotheker nahm uns mehr als das Doppelte dessen ab, was er füglich als Mann von Redlichkeit hätte verlangen dürfen. Hoffentlich wird der sehr rührige Touring-Club italiano bald überall seine Benzinniederlagen errichtet haben, die diese Essenz zu dem Einheitspreis von einer Lira für den Liter abgeben, – was immer noch mehr als das in Deutschland und der Schweiz geforderte ist.

In Verlegenheit um Benzin sind wir übrigens bisher nirgends gekommen; wir fanden überall, was wir jeweilig brauchten, zehn oder auch zwanzig Liter, und immer von der Beschaffenheit, wie sie der Motor verlangt; aber fast durchweg benutzten die Herrn Apotheker (denn man findet das Benzin hier nur in den Apotheken, die überhaupt alles mögliche feilhalten) die günstige Gelegenheit, uns zu schrauben. Ein Grund mehr dafür, daß man jedes Automobil mit einem wirklich genügend großen Benzinbehälter versehen sollte, damit man sich stets mit dem ganzen Tagesbedarf ausrüsten kann, auch wenn man sich mehr als hundert Kilometer zu durchfahren vornimmt. Denn, ist man während der Fahrt genötigt, Benzin zu kaufen, so ist man dem Verkäufer und seinen Forderungen auf Gnade und Ungnade überliefert, und diese Herrschaften haben genügend Schlauheit, dies zu merken, und ebensoviel Unverfrorenheit, es in zuweilen unverschämter Weise auszunutzen.

Von Velletri an beginnt die Ebene, und von Cisterna di Romana an rechnet man den Beginn des Gebietes der Malaria, während die pontinischen Sümpfe erst hinter Torre tre ponti beginnen. Die Malaria ist bekanntlich keine scherzhafte, sondern eine recht unangenehme Sache, und wir gedachten keineswegs, sie uns anzueignen. Meister Riegel, unser Führer, der offenbar der Miasmen-Theorie huldigt, d. h. glaubt, daß man den Keim der Krankheit einatmen könne, hat standhaft die fünfzig Kilometer hindurch sich Nase und Mund zugehalten, sodaß ich annehmen muß, er habe durch die Ohren geatmet; wir dagegen, darüber belehrt, daß nach dem heutigen Stande der medizinischen Wissenschaft die Übertragung der Krankheit nur durch den Stich einer Mücke (Zanzara) geschieht, die erst nach Sonnenuntergang ihr fatales Geschäft beginnt, haben nur darnach getrachtet, daß wir vor Sonnenuntergang aus den Sümpfen herauskommen möchten, und haben uns im übrigen nichts anfechten lassen.

Die Pontinischen Sümpfe haben uns sogar sehr gut gefallen. Erstlich aus dem Grunde, der sie jedem Laufwagenreisenden sympathisch erscheinen lassen muß: weil sie in ihrer ganzen Länge von einer schnurgeraden, ausgezeichnet glatten und fast völlig verkehrslosen Straße durchzogen sind. Hier sollte man die Automobilwettfahrten veranstalten! Die Gefahr, Menschen zu beschädigen, ist sehr gering, denn das ganze große Gebiet wird von kaum hundert Menschen bewohnt, und die Büffel, die in den Sumpfwiesen weiden, sind durch die breiten Kanäle vorm Überfahrenwerden geschützt. Aber außer dieser Eigenschaft, die sie dem Automobilfahrer besonders schätzenswert macht, besitzen die pontinischen Sümpfe noch andere Reize. Schön wie das Albanergebirge kann eine Landschaft freilich nicht sein, die eben ist, wie die Fläche eines Billards, aber häßlich ist sie darum noch nicht. Einmal hat man zu seiner Linken immer den schönen grün-grauen Gebirgszug mit den braun-grauen Städten und Dörfern daran, und dann besitzt der außerordentlich üppige Pflanzenwuchs des Sumpflandes selber Farben, die das Auge immer aufs neue entzücken. Auch ragen, aus festerem Boden, hier und da wundervoll große Bäume auf, und ziemlich weite Strecken in der Nähe der Straße sind bereits bebaut. Das Land vor dem eigentlichen Sumpfgebiete scheint sogar ausnehmend fruchtbar zu sein und wird eifrig bearbeitet. Wir hatten Gelegenheit, die Arbeit des Mähens zu beobachten, die von einem Trupp halbwüchsiger Jungen und Mädchen, etwa zwölf, geschah, zu deren Beaufsichtigung drei Erwachsene zur Stelle waren, eine Frau, die Besitzerin, und zwei Männer. Diese Männer waren mit Stöcken und einer Flinte ausgerüstet. Wir erkundigten uns, ob sie vielleicht gleichzeitig Jäger seien. »O nein,« war die Antwort, »mit unsern Flinten halten wir da die Arbeiter in Respekt, für den Fall, daß die Stöcke nicht genügen sollten; wir schießen zwar nicht, aber es ist immerhin gut, daß die Leute glaube, wir könnten schießen.« Woraus zu sehen, daß, wenn auch die Sklaverei längst aufgehoben ist, es hier doch an äußeren Überbleibseln von ihr nicht fehlt. – Am Gebirge bemerkt man neu aufgeforstete Strecken, ein Zeichen für die wachsende Einsicht, wie nötig es ist, der weiteren Versumpfung Einhalt zu tun. An eine Entwässerung der Sümpfe denken die Italiener freilich nicht. Das überlassen sie den – Deutschen. Ein freundlicher Zufall schickte es, daß wir hier die Bekanntschaft des Mannes machten, der es sich zur Aufgabe gesetzt hat, die Austrocknung der pontinischen Sümpfe herbeizuführen. Es ist (nicht bloß das Monokle zeigt es an, sondern die ganze Haltung) ein ehemaliger preußischer Offizier, der Major a. D. Fedor Maria von Donat. Sein Projekt ist nicht etwa der Plan eines Träumers, sondern eine auf Grund eingehendsten Studiums und Nachdenkens gründlich besorgte Arbeit, die nicht bloß die Wahrscheinlichkeit, sondern die Gewähr dafür bietet, daß, wird nach ihr tatkräftig und tüchtig verfahren, auf diese Weise das große Werk der Trockenlegung der pontinischen Sümpfe ausgeführt werden kann. Auf Grund dieses Planes, dessen Hauptgesichtspunkte schon auf den ersten Blick einleuchten, hat sich eine deutsche Gesellschaft gegründet, die bereit ist, ihn auszuführen, sobald die Besitzer der versumpften Strecken auf die sehr günstigen Bedingungen eingegangen sein werden, die sie ihnen angeboten hat. Dieser Gesellschaft gehören u. a. der Graf Hutten-Szapsky, der Graf Douglas, die Allgemeine Elektrizitäts-Gesellschaft an. Man hat die Absicht, die toskanische Wirtschaftsweise der Halb-Bauern einzuführen, die ich bei Gelegenheit der Schilderung unsres Besuches in Bagnano in den wesentlichsten Punkten beschrieben habe. Nachdem sich die hauptsächlich in Betracht kommenden Besitzer lange Zeit ablehnend verhalten hatten, hat es jetzt den Anschein, als sei in ihrer Sinnesart ein Umschwung eingetreten, und Herr von Donat, der durchaus kein Mann von Illusionen ist, glaubt, hoffen zu dürfen, daß sein Plan bald der Verwirklichung entgegengeführt werden wird. Einstweilen hat er selbst eine größere Fläche versumpften Landes an sich gebracht, die er nach seinem Plane bearbeiten läßt. – Man wird dieses Streben nur mit größter Anerkennung verfolgen können, und wir Deutschen haben alle Ursache dazu, darauf stolz zu sein, daß es Männer unsrer Nation sind, die einen solchen Plan gefaßt haben und seine Förderung zu ihrer Aufgabe gemacht haben. – Zugleich mit Herrn von Donat lernten wir hier einen jungen italienischen Arzt kennen, der von der Regierung zur Bekämpfung der Malaria hierher geschickt worden ist. Außer großen Mengen von Chinin als Hauptmittel gegen das Sumpffieber hat dieser Herr die göttliche Komödie Dantes und die Verse Carduccis bei sich, aus dessen Barbaren-Oden er wundervoll vorzulesen weiß. Es ist dies so, wie wenn ein deutscher Arzt etwa den Goethischen Faust und Dehmels Gedichte mit sich führte, und es sollte mich freuen, wenn ich auch einmal einem solchen begegnete. Dr. Pittaluga weiß übrigens auch in der deutschen Literatur Bescheid und kennt das Werk Friedrich Nietzsches sehr wohl. So rückten wir uns, trotz meines mangelhaften Italienisch, bald nahe und fühlten, daß das Wort von den »guten Europäern« kein leerer Schall ist. Leider konnten wir den großen Jupitertempel, der sich oberhalb Terracinas erhebt, nicht gemeinsam besuchen, da es zu spät war. Wir gingen statt dessen ans Meer hinunter, Muscheln suchen, wobei wir das Glück hatten, ein Haifischei zu finden, das etwa die Form einer Weberspule hat und im übrigen aussieht, als wäre es aus Zelluloïd (deutsch: Zellhorn) gemacht. – Die Lage Terracinas, die schon Horaz gepriesen hat, ist von der Art, daß man, sie würdig darzustellen, in gesteigerter Sprache reden müßte. Wir fühlen: hier beginnt erst recht der Süden; wir sind am Tore, und morgen wollen wir eintreten.

Neapel, den 15. Juni 1902, in Bertolinis Palace-Hotel.

(Terracina – Fondi – Itri – Formia – Cascano – Capua – Aversa – Neapel.)

Ein etwas anstrengender Tag, zumal in seinem letzten Teile, aber sehr schön. Man fährt anfangs eine ziemliche Strecke immer ganz nahe am Meere hin, auf einer schönen noch aus römischer Zeit stammenden Straße, links und rechts von großen Kaktusbüschen, gewaltigen Agaven, Orangen-, Zitronen-, Granatbäumen begleitet. Herz, was begehrst du mehr? Da Rot der Granatblüte ist das stärkste an Rot, das mir bekannt ist. Unsre Mohnblume kann sich gewiß schon sehen lassen, aber die Nachbarschaft einer Granatblüte hält sie nicht aus. Diese leuchtende Tiefe ist wohl nicht mehr zu überbieten, aber das stärkste an Farbe überhaupt bleibt doch wohl die Orange, der goldene Apfel. – Auch an den Menschen merkt man es, daß man in den Süden eingetreten ist. Die Frauen schreiten, im übrigen nicht eben schön, mit edler Gelassenheit einher und tragen die Tonkrüge ohne Hilfe der Hände auf dem Kopfe, als könnte es gar nicht anders sein; von den Männern machen den fremdartigsten und einen sehr malerischen Eindruck die berittenen Hirten mit ihren langen lanzenartigen Stäben, die ihnen etwa kriegerisches geben. An den nackten Füßen haben sie lederne Sandalen, die mit Wadenriemen an den Beinen befestigt sind. Ich mußte an Szenen in Don Quixote denken. – Bis Fondi und noch eine halbe Stunde weiter geht es eben hin, dann durch Gebirgsschluchten hinauf nach Itri, einem ordentlichen alten Räuberneste, dem Geburtsorte Fra Diavolos, des »Mannes von edler Bildung«, wie er uns in der Auberschen Oper vorgestellt wird. Das war damals, als man die Herren Räuber noch für würdige Gegenstände der romantischen Poesie hielt. Johann Gottfried Seume, der in diesen Gegenden von Räubern angefallen wurde, dachte nüchterner darüber, und ich für mein Teil würde die Banditen auch nicht gerade »besingen«. Es müßte immerhin unangenehm sein, hier in dieser Wildnis angefallen zu werden, doch ist man, glaube ich, im Automobil ziemlich sicher, weil ganz gewiß auch die Räuber davor Respekt haben. Je weiter wir nach dem Süden kommen, mit desto größerer Lebhaftigkeit werden wir begrüßt. Leute, die sich unter dem Schabmesser des Barbiers befinden, enteilen ihm, die Serviette unterm Kinn, die eine Seite noch eingeseift, die andere halb rasiert, und der Barbier fuchtelt hinter ihnen her ekstatisch mit dem Messer in der Luft herum, uns auf diese Weise temperamentvoll begrüßend; ein Junge von dreizehn Jahren etwa, eben im Begriffe sich die Hosen anzuziehen, hört uns vorbeifahren und läßt die Hosen liegen, lieber nacktbeinig, als gar nicht hinter uns her zu laufen; ein andermal hat einer zwar eine Hose, aber sonst nichts an; die urältesten alten Weiber humpeln vorbei, und die Säuglinge werden aus dem Stechkissen genommen und hochgehoben, damit sie die »Benzina« (wie der Benzinwagen kurz genannt wird) besser sehen können; – kurz wir werden als ein Schauspiel betrachtet, das zu versäumen niemand gewillt ist. Am merkwürdigsten benehmen sich die halbwüchsigen Jungen, und ich bin noch nicht dahinter gekommen, was wohl der Zweck ihrer Übung ist. Nämlich, kaum sehen sie uns herannahen, so stellen sie sich rechts und links des Weges auf, schreien beträchtlich, kauern sich dann nieder und werfen ihre Hüte auf die Fahrbahn, wobei sie sich bestreben, es so zu treffen, daß unsere Räder über die alten Filze wegfahren müssen. Ich weiß nicht: wollen sie bloß Meister Riegels Geschicklichkeit auf die Probe stellen, indem sie als selbstverständlich annehmen, daß es sein Bestreben sein müsse, die Hüte zu überfahren, oder betrachten sie es als eine Art Weihe, wenn ihre Kopfbedeckung mit den Rädern eines noch so seltenen und erstaunlichen Wesens in Berührung kommt, – kurz, seit Rom geschieht es allgemein, wie infolge einer stillschweigenden Abmachung. Der, dessen Hut, o Glück, überfahren wurde, schwingt ihn stolz, schreit noch einmal so laut als vorher, und setzt ihn triumphierend auf, während die anderen den ihren mit Zeichen aufrichtigster Betrübtheit und Resignation verdrossen aufstülpen. Ihnen gab das Schicksal kein Zeichen der Huld, – diesen Eindruck macht das wunderliche Gebahren, und man könnte denken, daß es, den Jungen unbewußt, ein Rest aus der alten Zeit ist, wo wohl die begeisterten antiken Gassenjungen dem im Triumph heimkehrenden Imperator ihre Mäntel unter den Triumphwagen geworfen haben mögen, damit wenigstens etwas von ihnen mit dem Manne des Ruhmes in Berührung gekommen sei. Nun sind wir freilich keine Triumphatoren, aber diese Bengel sind auch keine antiken Gassenjungen, und ihnen erscheint ein Automobil sicherlich wie ein Triumphwagen aus märchenhafter Fremde. – Übrigens diese italienischen Gassenjungen, –es ist erstaunlich, in welchem Grade sie das ihrer Rasse angeborene Gefühl für schöne Haltung und Bewegung bewähren. Wie so ein Bengel dazustehen weiß, wenn er ausdrücken will, daß er uns sympathisch begrüßt, – es ist entzückend: das eine Bein etwas gebeugt nach vorn, das andere voll ausgestreckt nach hinten, der Oberkörper vorgebeugt und die Arme in der schönsten Rundung winkend ausgestreckt. Niemals würde es einem deutschen Jungen, und hätte er die beste Tanzstunde besucht, beikommen, eine solche vollendet schöne Stellung einzunehmen. Wir sind allzumal Plumpsäcke neben dieser graziös-agilen Nation. Vieles wirkt auf uns wie posiert, ist es aber ganz gewiß nicht. Ein Kerl, der sich zum Schlafen auf eine Mauer legt, denkt gewiß nicht daran, eine schöne Pose zu machen, aber, wie er da liegt, wie er die Arme unter den Kopf verschränkt, ein Bein unter das andere zieht, – alles ist schön und ausdrucksvoll, eine angenehme Linie. Man bedauert hier nur, daß man nicht mehr Nacktheit zu sehen bekommt, denn die Lumpen, mit denen die Leute bedeckt sind, (wenn man das ein Bedecktsein nennen darf), können nicht gerade schön genannt werden, wenn sie auch in einem gewissen Sinne malerisch sein mögen, während sie dem Auge entschieden viel Schönheit entziehen. Denn die jungen Leute haben hier fast ausnahmslos einen tadellosen Akt, schon deshalb, weil ihnen jeder Fettansatz fehlt. Man kann dies doch noch zuweilen beobachten, denn der nackte Körper wird hier immerhin weniger dem Auge entzogen, als in unserm Norden, wenigstens bei Knaben. Frauen und Mädchen sind trotz der großen Hitze luftdicht verpackt, sehr im Gegensatz zu früheren Zeiten, woraus zu schließen ist, entweder, daß die »Unschuld des Südens« vorüber, oder der Beginn der äußersten Moralität da ist . . . eine Antithese mit Widerhaken. Die alte Festtracht der Frauen und Mädchen, die wir heute zu sehen das Glück hatten, ist übrigens bereits von der Art, daß ihretwegen keine Engländerin dem Süden Italiens fern zu bleiben braucht. Natürlich: denn sie ist darauf berechnet, möglichst viel Staat zu zeigen, also muß sie aus möglichst viel Stoff bestehen. Sie ist aber doch sehr schön. Sie zu schildern bin ich außer stande; es ist mir kein einzelner Teil in Erinnerung geblieben, und ich wüßte nicht zu sagen, von welchem Schnitt die Tracht der Schönen von Formia ist; ich weiß nur das eine, daß es ein Überschwang von allen Farben war und eine Menge Gold dabei von Schmuck um Hals und Brust. Es muß ein besonderes Fest der Frauen heute dort gefeiert werden, vielleicht das einer Ortsheiligen, denn wir sahen auf den Wagen (wohl zwanzig an der Zahl) mit Ausnahme der Kutscher nur »Weiberleut'«, tirolisch zu reden, davon aber jeder Art: alte und junge, reiche und arme, schöne und – andere, denn etwas direkt häßliches habe ich nicht bemerkt. Dazu war alles zu sehr »Festesglanz«. Man konnte benommen werden von diesem Farbentrubel im grellen Licht. Eine staubweiße Straße, rechts und links mit weit über mannshohen Agaven bewachsen, deren Blätter wie riesige graugrüne Degen sind, ziemlich gerade in einer weiten Ebene laufend, aus der ein paar Ruinen eines alten Aquäduktes braungrau hervorragen. Und diese ganze Straße entlang, wie eine aufgelöste Prozession, teils zu Fuß, teils auf grellbunt bemalten und überdies mit Blumengewinden behangenen Leiterwagen fahrend nichts als Frauen und Mädchen mit roten, grünen, blauen, gelben Röcken, roten, grünen, blauen, gelben Miedern, roten, grünen, blauen, gelben Schürzen, roten, grünen, blauen, gelben Strümpfen, jede möglichst alle Farben an sich tragend, aber alle mit schneeweißem, oben etwas ausgeschnittenem Hemd und dem merkwürdigen viereckigen Kopftuch, wie man es von neapolitanischen Bildern her kennt, und jede entweder ein Kreuz oder eine Fahne, oder einen großen Busch Blumen in der Hand. Über dem Mieder, vom Hals herabhängend, sah man bei vielen große Heiligenbilder, auf Stoff gedruckt und mit Goldborten eingefaßt. Auffällig war mir die etwas wild aussehende Frisur: die Haare strähnig über die Ohren hängend, darunter viel rote, aber ganz direkt rote Haare. In den Ohren die ungeheuersten Ohrringe, die ich je gesehen habe: wahre Räder. Nun denke Dir das unter einem vollkommen wolkenlosen intensiv blauen Himmel auf einer durchaus schattenlosen Straße, die sofort in eine dichte Staubwolke gehüllt wurde, wo unser Laufwagen sie gerade befuhr, – es war ein unglaubliches Bild. Natürlich fuhren wir möglichst langsam, um möglichst viel zu sehen, und dennoch wehte das Ganze wie ein Traum vorüber. Nachträglich kommt mir die Empfindung, daß eigentlich eine Musik aus schrillen Flöten und Tschinellen dazu gehört hätte. Es war eine Janitscharenmusik in Farben, für meine Empfindung schon nicht mehr bloß der Süden, sondern bereits Afrika. Dies auch wegen der teilweise ganz uneuropäisch braunen Gesichtsfarbe der Mädchen. – Wir sind heute nochmals Frauen in Landestracht begegnet; es war in Cascano, einem hochgelegenen Orte unweit Capua. Diese Tracht war von völlig verschiedener Art: dunkel und streng. Die Frauen trugen das Haar dort schlicht gescheitelt, und auf dem Scheitel lag ein sehr feines Stück Spitze.

Durch Capua fuhren wir, um nicht zu spät in Neapel einzutreffen, schnell hindurch, und dann begann eine außerordentlich breite aber sehr verwahrloste Straße, auf der wir eine solche Menge Staub aufwirbelten, daß ich überzeugt bin, eine Karawane in der Wüste Sahara kann darin unsern Adlerwagen nicht übertreffen. Ein wahres Glück, daß nicht wir es waren, die diesen Staub schlucken mußten. Was man in den staubigsten Gegenden Deutschlands um die trockenste Zeit ähnliches erleben kann, ist nichts dagegen, und man lernt hier überhaupt erste kennen, welcher Extravaganz der Begriff Staub fähig ist. »Polverosissima« nennt man eine solche Straße auf italienisch, und man muß dieses Wort gebrauchen, denn »allerhöchst staubig« ist viel zu wenig gesagt. – Als diese unsäglichen Staubmassen hinter uns aufwirbelten wie dickster Dampf aus breitestem Schlote, mußte ich die Bemerkung machen, welcher Grausamkeit mein Wesen fähig ist, denn ich ertappte mich auf dem Wunsche, eine Person, die mir letzthin schweren Ärger bereitet hatte, möchte »nur ein Viertelstündchen« hinten an unsern Koffer angeschnallt sein und in dieser dicken Staubwolke hinter uns herlaufen müssen, während ich ihr freundlich zu Gemüte führte: Du sollst nicht lügen und nicht verleumden, sondern bei der Wahrheit bleiben und lieblich reden von Deinem Nächsten!

In Aversa, das man schon als eine Vorstadt von Neapel bezeichnen kann, war ein Madonnenfest und großes Volksgetümmel. Schnüre über die Straße gezogen und Lampions, Heiligenfahnen und Papierblumen daran. Überall Verkaufsstände, ohrenzerreißende Musik und Lärm jeder nur denkbaren Art. Dazu unsre eignen zwei Lärmtrompeten und ich mit der Reitpeitsche gegen ein Heer von Gassenjungen kämpfend, das zu Ehren der Madonna durchaus mit dem Automobil fahren wollte. Ich hätten den Bengeln das Vergnügen wohl gerne gegönnt, aber da mein Wunsch, unsere Koffer mit nach Neapel zu bringen, meine Menschenfreundlichkeit überwog, so mußte ich die Peitsche brauchen. Zwar raubte ich der jungen Generation von Aversa dadurch das Vergnügen einer Automobilfahrt, aber es hatte den Anschein, als sei es ihr schon ein Vergnügen, von einem fremden Herrn verprügelt zu werden, denn, je mehr ich zuhaute, umso lauter wieherte die Gesellschaft. Und so kamen denn beide Teile in äußerster Heiterkeit auf ihre Rechnung. – Das war der Beginn der Einfahrt in Neapel. Sobald wir in die eigentliche Stadt kamen, wurde es noch hübscher. Ein unglaubliches Gewimmel, und alles rennt, strampelt, schreit, gestikuliert. Nur um Gotteswillen hier keine Zündungsmucken! war mein Stoßgebet. Hier nicht weiter zu können, und wäre es nur auf fünf Minuten, – das müßte eine grausame Prüfung sein. Aber es ging alles glatt, nur daß wir uns ein bißchen verfuhren. Gegen sechs Uhr kamen wir glücklich in unserm Hotel an, das im höchsten Teile Neapels mitten im Parke Griffeo liegt, so hoch, daß wir anfangs glaubten, unser Wagen würde die Steigung nicht nehmen. Er und seine Adlerherkunft seien gepriesen, daß er sie nahm. Denn, dem Himmel sei Dank, hier oben ist es still. Nur, wer eine halbe Stunde lang durch eine Vorstadt Neapels gefahren ist, weiß voll zu würdigen, welche Wollust in der Ruhe liegt.

Daß ich diese Ruhe sogleich benutzt habe, Dir zu schreiben, möge Dir zeigen, welcher Anstrengungen meine Freundschaft für Dich fähig ist.

Nun wirbelt mir aber der Kopf, und ich muß hinaus auf den Balkon treten, zu sehen, ob der Vesuv Flammen speit.

* * *

Er hat nicht die Güte. Aber da um seinen Gipfel herum ein Kranz von Wolken liegt, sieht der alte Herr aus, als hätte er eine Tonsur und sei »geistlich«.

Das Meer glitzert, blinkert, ja sprüht wie von Silber im Mondlicht. Eben kommt ein riesiges weißes Kriegsschiff von Capri her gezogen. Es tutet und tutet, tief, klagend, wie ein verwundetes Ungeheuer. Das aber kennst Du von Deiner Elbe her besser als ich, der ich Dir nun nur noch von Herzen eine gute Nacht, schöne Träume und ein Erwachen morgen früh zwischen einem Halmenmeer von Versen wünsche.


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