Otto Julius Bierbaum
Eine empfindsame Reise im Automobil
Otto Julius Bierbaum

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IV.
Von Eppan nach Venedig

An Herrn Dr. Franz Blei in München

Trient, den 10. Mai

Lieber Blei! Auf der Reise ist es leider nicht möglich, so schöne gesetzte Briefe zu schreiben, wie ich sie von Dir gewöhnt bin, und so schäme ich mich fast, in dem Zustande, der nach Dir und Emerson das Unanständigste auf der Welt ist, an dich zu schreiben –: in Eile. Auch werde ich Dir kaum viel Neues erzählen können. Nimm also diese Zeilen nur als Lebenszeichen und Dokument des Vergnügens, das wir, Gemma und ich, auf dieser Reise im Adlerwagen genießen, dessen angenehmen Gang Du selber in München ja kennen gelernt hast. Was wir uns damals so schön auseinander gesetzt haben, daß das Reisen im Automobil das Reisen en grand seigneur sei, hat sich uns bis jetzt durchaus bestätigt. Es ist wirklich das Reisen als Genuß der Freiheit, das Reisen als Befreiung.

Wir sind, meiner alten Vorliebe für Eppan nachgebend, hierher nicht direkt von Bozen, sondern über Englar gefahren und haben davon nicht allein den Genuß gehabt, die Herrlichkeiten Eppans zu genießen, sondern auch eine zwar nicht automobilmäßige, aber entzückend schöne Straße kennen zu lernen: die über Kaltern nach Auer.

Der Weg war zum Teil freilich pneumatikmörderisch, und wir haben, als vorsichtige Laufwagenreisende, hier einen arg zerfetzten Hinterradmantel ersetzt, weil zu befürchten stand, daß er morgen das Zeitliche segnen würde, aber dafür führte er uns mitten durch die schönsten Strecken dieser in jeder Hinsicht gesegneten Landschaft. Ich weiß nicht, ob es wahr, oder bloß eine boshafte Erfindung ist, daß die Ackerbürger Kalterns, die in dem Rufe stehen, des frommen Tirols allerfrömmste Katholiken zu sein, Christus zum Ehrenbürger ihres Ortes ernannt haben, – eine Blasphemie würde aber nicht darin liegen, denn die Schönheit dieses Erdenwinkels ist ein würdiger Rahmen auch für die Gegenwart des Höchsten. – Eine Fähre setzte unseren Wagen als erstes Automobil bei Auer über die Etsch, dann ging es die alte schöne Etschstraße entlang aus dem deutschen Südtirol ins welsche, vorbei an der völlig unwahrscheinlich gelegenen uralten Nibelungenfeste Hadernburg und immer zwischen Weingelände durch bis Trient, der ersten Stadt von rein italienischem Charakter. Leider fanden wir das alte Hotel Europa ganz vermodernisiert, wie es denn überhaupt eine Unart der Italiener zu sein scheint, das schöne Alte ohne Empfindung auszutilgen, wofür sie mit mehr Zuversicht als Geschmack etwas unzulänglich Neues aufrichten. Ein Glück, daß der Dom, dieses schöne, alte, deutsche Werk, nicht so leicht zu modernisieren ist wie ein Hotel. Die ehrwürdige lombardische Gottesburg steht noch in alter, grimmiger Schöne da, und wir wollen hoffen, daß sie auch noch stehen und bleiben wird, wenn sich die Sehnsucht der Welschtiroler erfüllt, und das Trentino als selbständiges Kronland ersteht.

Bassano an der Brenta im Allergo del Mondo
(Deutsch: Zur Weltkugel), 11. Mai

Der Weg durch das Val Sugana und dann über Promolano und Bassano ist nicht bloß der kürzeste, sondern wohl auch der schönste von Trient nach Venedig, doch muß man freilich auf die drei Perlen der Lombardei verzichten: Verona, Vicenza, Padua. Wir beschlossen diesen Verzicht, weil uns das Suganatal und dann Bassano, die wenig besuchte Brentastadt, lockte, in der die Malerfamilie der da Pontes geblüht hat. Denn je weiter hinein man ins Welsche kommt, um so lebhafter wird uns Deutschen ja die Sehnsucht nach Kunst. Wir fuhren beim schönsten Wetter ab und erfreuten uns bis hinter Levico dieser Wettergunst inmitten einer Landschaft von großartiger, zuweilen wilder Schönheit. Dann fing es zu regnen an, und als wir vor Primolano die italienische Grenze überschritten hatten, gab es einen recht kalten Platzregen, in dem sich die hier beginnenden Olivenhaine etwas deplaziert ausnahmen. Die Landschaft wirkte grau in grau, und die häßlichen, verwahrlosten Häuser, gleichfalls aus grauem, unbeworfenem Stein, taten das ihrige dazu, diesen Eindruck von Düsterheit zu erhöhen. In der Sonne mag auch dies wohl fröhlicher aussehen, doch wird immer etwas Starres und Ödes übrig bleiben, vornehmlich deswegen, weil alle die Äcker, Wiesen und Weinleiten, die das ziemlich steile jenseitige Ufer der Brenta einnehmen, von großen, grauen Steinwällen umgeben sind. Kurz vor Bassano aber ändert sich der Anblick der Landschaft vollständig; er zeigt sich ein grünes, welliges, weites Gelände von durchaus heiterem Charakter, dem nur die altersgrauen Umwallungstürme Bassanos eine strengere Note verleihen. Im alten Gasthofe zur Weltkugel fanden wir uns wohl geborgen, und wir unternahmen bald einen Rundgang durch die merkwürdige Stadt, um die in alter und neuer Zeit viel gekämpft worden ist. Das Schönste an ihr ist der Blick von der Brentabrücke, die leider nicht mehr die alte schöne Form hat, die im Jahre 1813 von den Franzosen zerstört worden ist. Das Museo civico ist in der Tat sehenswert. Uns fiel besonders ein mit David da Trevigi gezeichnetes Marienbild auf, das die ganze Lieblichkeit der Primitiven hat, und ein Heiliger Martin von Jacob da Ponte, ein Werk von ganz monumentaler Kraft in Form und Farbe. Auch die Pietà desselben Meisters ist ein schönes Stück. Die da Pontes sind überhaupt alle ausgezeichnet vertreten. Ob das dem Giorgione zugeschriebene Bild der Kreuztragung wirklich den »Zorzi da Castel franco« zum Urheber hat, mögen Berufenere entscheiden; sicher ist, daß der wunderbare Kopf einer Blondine rechts darauf von einem Meister ersten Ranges erschaffen worden ist. Ein zweifellos echter und sehr kennzeichnender Salvator Rosa ist die Grabschaufelung der Trappisten. Das Bild (steinalte Trappistenmönche, die sich um Mitternacht ihre Gräber schaufeln) wirkt wie eine Callot-Hoffmannsche Phantasie. Ein schöner, etwas süßlicher Johannes der Täufer im Knabenalter ist dem Guido Reni zugeschrieben. Würde das Bild in einer großen Galerie und von einem Kunstgeheimrat als echt »nachgewiesen« sein, so würde es der Vervielfältigung auf Ansichtskarten nicht entgehen. Für junge Kunstgelehrte, die erst noch Geheimräte werden wollen, ist hier noch allerlei zu suchen und wohl auch zu finden, denn es giebt nicht bloß Bilder, sondern auch Archive. Bei dieser Gelegenheit eine Bemerkung zum Thema der Kunstgelehrsamkeit: Welchen Zweck haben in unseren Reisehandbüchern die kritischen Zensuren und kunsthistorischen Fachsimpeleien, mit denen die »hervorragenderen« Kunstwerke bedacht werden? Würde nicht (für die freilich vielen, die nicht sehen können) der einfache Hinweis auf die Stücke genügen, die »man gesehen haben muß«? Muß uns der Schulmeisterbakel wirklich überall hin begleiten? Wer »studieren« will, dem sagen diese kritischen Verdikte en passant gar nichts; der wird sich an die wirklichen Handbücher halten; wer aber genießen will, den stört diese am unrechten Ort produzierte vordringliche Gelehrttuerei; und bei den meisten hat sie leider sich selber zur Folge: das höchst leere Gerede von tiefgründigem Anschein, anstatt stiller und bescheidener Hingabe an die Werke.

Venedig, den 12. Mai.

Die Fahrt von Bassano nach Mestre, dem Automobilhafen Venedigs, ist eine wahre Laufwagenlust von wegen der schönen glatten Straßen. Dazu ein heiteres, reiches Gelände ringsum, interessante, alte Ortschaften, stattliche Landedelsitze, eine liebenswürdige Bevölkerung, die sich nicht genug tun kann in fröhlichen Zurufen, und alles Zuggetier, Pferd, Esel, Maulesel, durchaus auf der Höhe der Modernität, will sagen, ruhig vorbeitrabend, ohne zu scheuen – was könnte man mehr wünschen wenn man im Laufwagen reist? Vielleicht etwas besseres Wetter. Denn die Sonne gab sich zwar Mühe, herauszukommen, aber es gelang ihr schlecht. Die Wolken wurden ihrer Herr, wenngleich sie uns mit Regen verschonten. Trotzdem sind wir auch diesem Tage dankbar, dem ersten, der uns ganz auf italienischem Boden beschieden war. Dieses Italien hat zwar noch wenig von dem, was man sich gemeinhin unter italienischer Landschaft vorstellt; es wirkt auf den ersten Blick gar nicht »südlich«, aber es ist, sieht man genauer hin, doch eine Landschaft, die sich von der unseren wesentlich unterscheidet. Das weithin gestreckte deutsche Feld, die großen Wiesenflächen, von Wald begrenzt oder unterbrochen, fehlen gänzlich; alles, Feld wie Wiese oder Weingarten, ist mit Bäumen durchsetzt, darunter viele Maulbeerbäume, wogegen der eigentliche Wald gänzlich fehlt. Die Straßen entlang ziehen sich häufig breite, buschig eingeschlossene Wasserläufe, die sich sehr viel lustiger ausnehmen, als unserer Straßengräben. Die Herrenhäuser liegen häufiger als bei uns an der Landstraße und fallen uns durch die geringe Höhe auf, wofür sie sich weitflügelig ausdehnen. Oft sieht man alte Statuen, und die Häuser gewinnen ein freies luftiges Ansehen durch Säulenhallen. Es muß sich sehr angenehm in ihnen hausen lassen, und man bedarf keiner großen Phantasie, um sich vorzustellen, wie prächtig bunt sich das Leben hier in den Zeiten gestaltet haben mag, als sie noch die Lustsitze der Edlen von Venedig waren. – Die Bevölkerung macht einen durchaus sympathischen Eindruck. Die Leute haben anscheinend ein fröhliches Lebensbehagen und lachen gerne. Der Anblick unseres Wagens riß Alt und Jung zu lauten Äußerungen der Bewunderung hin. Evviva! und Buon viagio! ruft es vor und hinter uns, und, wenn meine Frau sie als Landsmännin anspricht, so erhält sie ausgiebig und aufs freundlichste Antwort. Sogar die Kutscher benehmen sich huldreich. Macht mal ein Pferd oder Esel Miene zu stutzen, so erfolgt keineswegs ein wildes Drohen und Donnerwettern, sondern der Mann auf dem Bocke zieht einfach die Zügel fest an und lacht uns die Versicherung entgegen: Nur keine Angst, es geht schon! – So war es trotz des zweifelhaften Wetters eine angenehme Fahrt, an die wir immer mit Vergnügen zurückdenken werden. Sie führte uns auch durch den Geburtsort des Giorgione, Castelfranco, nach dem der Meister in alten Rechnungen des Staates Venedig Zorzi da Castelfranco genannt wird, was etwa soviel wie Jörgel bedeutet hat. Da Denkmal, das sie ihm errichtet haben, ist leider eines von den modernen Bildhauerwerken, die mehr an Zuckerbäckerei, als an plastische Kunst erinnern, und das fällt um so fataler in einem Orte auf, der, wie Castel Franco, noch manche Spuren einer künstlerischen Vergangenheit aufweist. – Mestre erschien uns nicht sehr reizend, und wir waren froh, daß wir dank der Aufmerksamkeit des Herrn Carlo Glöckner, der für Italien die Vertretung der Adler-Fahrradwerke hat, unsern Wagen sogleich an einem sichern Ort einstellen und sofort nach Venedig reisen konnten – zum ersten Male auf unserer Reise mit der Eisenbahn. – Wir sind hier im Grand Hotel abgestiegen, haben aber sofort beschlossen, schon morgen wieder auszuziehen. Diese Engländerfalle ist für empfindsame Reisende nicht die rechte Herberge. Daß sie teuer ist, möchte noch hingehen, wenn sie gleichzeitig gemütlich oder komfortabel wäre, aber sie ist geradezu ein abschreckendes Beispiel für die Art moderner Gasthöfe, die ein rein industrielles Gepräge tragen, und denen alles das fehlt, was der Deutsche von einem Gasthof verlangt: Ruhe, Bequemlichkeit, aufmerksame Bedienung. Der Engländer und vornehmlich der Amerikaner vom Durchschnitt scheint Anforderungen anderer Art zu stellen. Er scheint auch Vergnügungen an Veranstaltungen zu finden, deren eine z. B. das Tingel-Tangel auf dem Canale grande ist, das sich hier allabendlich vor dem Grand Hotel etabliert und zweifellos eine Spekulation der Hotelleitung ist. Es ist eine abscheuliche Travestie auf die frühere Sitte des Gondelständchen in so vergröberter Form, daß jeder Mensch von Empfindung davon beleidigt werden muß. In einer mit Lampions beleuchteten Barke sitzt eine Bande von Guitarrenrupfern und Sängern, die von 8 bis 12 Uhr abends einen schrecklichen Spektakel verüben, indem sie ein endloses Programm von allerlei Musik herunterleiern. Und dies auf dem Canale grande, dessen Seele die Ruhe ist! Unsere angelsächsischen Vettern, sitzen mit ihren Damen auf der Hotelterrasse und applaudieren dazu, als wären sie im Londoner Empire-Theater. Sie halten diese Komödie vermutlich für etwas sehr Venezianisches, während die Venezianer über diesen Unfug außer sich sind. In den kleineren Kanälen kann man zuweilen noch das echte Vorbild dieser Veranstaltung sehen. So trafen wir eine Barke mit jungen Wäscherinnen an, in deren Mitte eine gedeckte Tafel mit Wein stand, und aus der ein einfaches Volkslid ungekünstelt klang. Es war reizend und ließ uns den Lärm der Tringgeldheuler schnell vergessen.

Venedig, im Hotel de Milan, den 14. Mai

Dem Himmel und Max Schillings dank: wir sind dem Grand Hôtel entronnen und haben nun ein angenehmes, durch kein Kanaltingeltangel gestörtes Zimmer im Hotel Milan nach dem »Garten« zu. Ein venezianischer Garten ist nun allerdings eine wunderliche Abart von Garten, aber immerhin, es sind ein paar große, schöne Bäume, die uns ins Zimmer sehn, und man hat hier Ruhe. Ruhe aber ist unter den Gaben Gottes eine der holdesten für den, der es liebt, zuweilen nach innen beschaulich zu sein. Zumal:

Wer dichten will,
Der hab' es still,

denn das Dichten ist ein Lauschen auf die inneren Quellen und die kann nur der hören, um den Ruhe waltet. Aber auch zu der beschaulichen Revueabnahme über das, was man im Lärme des Tages an schönen, seltenen Dingen in sich aufnahm, ist Ruhe nötig. Deshalb sollten besonders Hotelzimmer Ruhe bieten, denn auf der Reise ist jeden Abend große Revue, was aber nicht hindert, daß die meisten Hotelzimmer akustische Kabinette sind, in denen sich alle üblen Geräusche Stelldichein geben.

Wir verdanken es Max Schillings, daß wir dieses Zimmer haben. Auf dem Markusplatze trifft man bekanntlich stets einen Bekannten. Er ist er große Rendez-vous-Platz aller guten Europäer, sein Campanile das riesige Ausrufezeichen, das Alle lockt, die nach Schönheit durstig sind. Gestern also trafen wir Max Schillings und seine rheinisch-heitere Frau dort, die ganz gewiß auch noch als Großmama dieses reizende Jugendlachen in den Augen haben wird, das zum Leben sagt: Bild Dir nur nicht ein, daß Du mich je unterkriegst; und wenn Du noch so grau tust, ich weiß ja doch, daß Dein eigentlicher Sinn Licht ist. Tanzaugen, – wenn ich Maler wäre und die Göttin schelmisch kluger Heiterkeit malen wollte, würde ich Frau Schillings bitten, mir Modell zu sein.

Nun soll ich Dir aber von Venedig reden, dieser wundervollen alten Dame, die nicht mehr lachende Augen hat. Was ist sie nicht Alles gewesen! Heldin, Herrscherin, Courtisane. Ihre Augen waren lange die strahlendsten Europas, jetzt haben sie einen melancholischen Glanz. Aber schön ist Ihre Majestät Venezia immer noch, – vielleicht zu schön für diese plebejische Gegenwart, in die sie gar nicht paßt. Eine Königin, die sich für Geld sehen lassen muß vor Gaffern, die zwar Geld, aber keinen Respekt vor alten echten Majestäten haben. Herr Thomas Cook ist auch ihr Impresario. Sic transit gloria mundi, – daß Gott erbarm!

Ohne Bild gesprochen: Der Hauptreiz dieser Stadt liegt in ihrem Verfall und darin, daß sie weniger als alle übrigen großen Städte die Möglichkeit hat, sich wesentlich zu modernisieren. Venedig ist, modern genommen, eine ganz unmöglich Stadt, weil sich in ihr keine eigentlich Industrie entwickeln kann, da es dazu an Platz gebricht. Solange Venedig als Staatswesen blühte, war sie der Mittelpunkt des Zusammenflusses von Reichtümern, die auswärts erworben wurden, eine reine Luxusstadt, die sich als solche nur solange erhalten konnte, als die in ihr herrschenden Geschlechter auf den Einkünften ihrer auswärtigen Besitzungen und Unternehmungen fußten. Seitdem sich dies geändert hat, verfällt sie, und es sind eigentlich nur die Fremden, die den rapiden und völligen Verfall hintan halten. Leider erhält sie dadurch auch den Charakter einer bloßen Kuriosität, einer riesigen Schaustellung. Sie ist eine Art permanenter Ausstellung der Vergangenheit. Was die Mathildenhöhe von Darmstadt im vergangenen Jahre für die künstlerische Gegenwart sein wollte, ist sie in Wahrheit für die künstlerische Vergangenheit. Hier sehen wir in wunderbaren, obschon zum großen Teil verwahrlosten Resten, wie mächtig in früheren Zeiten unter den günstigen Bedingungen großer politischer Macht eines aristokratisch geleiteten Gemeinwesens und enormen öffentlichen wie privaten Reichtums die Kunst ins Leben gewirkt hat. Venedig ist mehr als irgend eine andere Stadt im eigentlichsten und umfänglichsten Sinne ein großes Kunstwerk. Was man hier sieht, alles mit Ausnahme des Wassers, ist Kunst. Derlei wird sich kaum jemals wiederholen, und darum erscheint uns dies alles so reizvoll, fast märchenhaft. In verhältnismäßig geringem Umkreis ist hier eine Summe von Kunst zusammengetragen, die wie unerschöpflich wirkt. Bezeichnend dafür ist die unglaubliche Menge von Stätten des Antiquitätenhandels. Mag auch recht vieles von dem, was als alt hingestellt wird, nur geschickte Imitation sein, es bleibt doch noch eine Fülle von wirklich alter Kunst übrig, die nun zum Verkaufe steht. Vieles stammt freilich aus den Edelsitzen der Umgebung, aber auch dies ist venezianisch. Von den Palästen sind nur noch recht wenige im Besitze der alten Familien, denn diese haben zumeist den Reichtum eingebüßt, der dazu gehört, derlei zu erhalten. Man kann heute ganze Paläste für einen Preis mieten, um den man in Berlin keine Wohnung von zehn Zimmern erhält. Diesen Umstand haben sich schon viele vermögende Fremde zu Nutze gemacht. Auch der Antiquitätenhandel weiß davon zu profitieren, indem er mehr als einen Palast zu einem Antiquitätenlager hergerichtet hat. Zuweilen verhüllt er dies auf eine amüsante Weise. So wurde uns als verbürgt mitgeteilt, daß ein Konsortium von Altertumshändlern nicht allein einen alten Palazzo, sondern auch gleich einen alten Nobile gemietet habe, der darin wohnen durfte unter der Bedingung, daß er die Rolle des Besitzers spielte, als welcher er nun mit vieler Würde kauflustige Fremde empfing, die ihren neu erworbenen Besitz an Altertümern mit einem ganz besonderen Gefühle davontrugen, weil sie glauben durften, ihn aus erste Hand empfangen zu haben. Gute Käufe kann man zuweilen bei den Kirchendienern machen, die zugleich Antiquitätenhändler sind und am besten wissen, wo noch etwas zu holen ist. Gemälde bedürfen aber nach dem bekannten Staatsgesetze einer Ausfuhrerlaubnis durch die Akademie, doch gibt es Mittel und Wege, das zu umgehen. – Von den eigentlichen Sternen am Himmel der alten venezianischen Kunst gilt freilich dasselbe, was von den Sternen überhaupt gilt: man begehrt sie nicht und freut sich ihrer Pracht. Wir haben einige davon gesehen und werden die Freude, die wir daran gehabt haben, gewiß nie vergessen; wir haben also aus ihnen ein unverlierbares Eigentum gewonnen. Zum ersten Male ist mir bei diesem Besuche ein Meister lieb geworden, den ich bisher weniger beachtet hatte: Cima da Conegliano. Der Sinn für ihn ist mir in der Kirche der Madonna dell' Orto vor seinem Johannes dem Täufer aufgegangen, der mir ein wahres Labsal nach den Kunststücken des Tintoretto war, die dort hängen. Meister wie er und Giovanni Bellini haben in ihren Werken das Höchste erreicht, was der Kunst möglich ist: Trostspendung. Diese Werke atmen Frieden, Ruhe, Gleichmaß. Sie sind wahrhaft religiös, und vor ihnen wird der Genuß zur Andacht. Ich gebe die ganze Prunkmalerei des Dogenpalastes für eine Madonna des Giambellino hin, und selbst an der gepriesenen Assunta Tizians gehe ich jetzt leichter vorüber, als an ein paar Heiligen des Cima da Conegliano. Das Innere des Dogenpalastes hat mich wieder kalt gelassen, – dieser Pomp ist schwülstig und allzulaut. Dagegen ergriff mich wiederum die mächtige Pracht der byzantinischen Mosaiken im herrlichen Hause des heiligen Markus. – Am Uhrturme ließen sich diesmal allstündlich die heiligen drei Könige sehen, die nur während vierzehn Tagen des Jahres ihren Rundgang um die goldene Madonna machen. Es ist ein naiv lustige Schauspiel, das Einheimische und Fremde mit gleichem Vergnügen betrachten. Sobald die beiden »Mori« oben mit ihren Eisenhämmern die Stunde vollgeschlagen haben, tut sich rechts von der Madonna die goldene Türe auf, und ein flöteblasender Engel erscheint. Mit gemessener Würde folgen ihm die drei Magier und schreiten an der Himmelskönigin vorüber, indem sie sich verbeugen und grüßend die Hand an ihre Kronen legen. – Die Tauben von San Marco sind echte Venezianer, sie leben von den Fremden, und es steht zu befürchten, daß die meisten von ihnen während der Saison an Fettsucht zu Grunde gehen. Aber es nimmt sich hübsch aus, wie sie sich zutraulich um die Maisspenderinnen scharen. Wenn um zwölf Uhr vom Arsenal her der Kanonenschuß fällt, fliegt die ganze Schar erschreckt auf und umkreist die Piazza. Vielleicht tun sie bloß erschreckt, und das Auffliegen gehört zum Programm der Sehenswürdigkeiten für die forestieri. Denn es ist leider so: Alles hat hier den Anschein, als sei es für die Fremden gemacht. Dieser Umstand beeinträchtigt den Genuß der schönen Stadt erheblich, in der die einzige Industrie, die es gibt, allzueifrig gepflegt wird: die Fremdenindustrie. Man wird das Gefühl nicht los: Welch Schauspiel, aber, ach, ein Schauspiel nur!

Venedig, den 15. Mai.

Wir haben, bei gutem und schlechtem Wetter, fleißig Gondelfahrten und einen Ausflug über Fusina nach Padua unternommen, sowie der Insel der Glasfabriken, Murano, einen Besuch abgestattet. In Murano haben wir in der Rigoschen Fabrik eine Anzahl Gläser nach einem schönen einfachen alten Muster für uns herstellen lassen und dabei die Geschicklichkeit der Arbeiter bewundert, wobei wir es nur bedauerten, daß die Kunstfertigkeit dieser Leute fast ausschließlich in den Dienst der Imitation der nicht übermäßig geschmackvollen Barockmodelle gestellt wird. Auch darin zeigt sich das Wesen des heutigen Venedig: die Kunstübung schreitet nicht fort, sondern zehrt sich in Wiederholung des Alten auf. – Wir sehnen uns nach unserm Laufwagen und freuen uns, morgen wieder mobil zu werden, wieder ins Leben hinaus zu fahren aus dieser sterbenden Stadt mit ihrem Fliegengesumm von Fremden.

Es bleibt, trotz aller Decadenten, wahr: »Das Leben hat am Ende doch gewonnen!« Immer träumen, und sei es in die schönste Vergangenheit hin, macht die Seele flau und katzenjämmerlich. Wir sind auf diesen Planeten gestellt, nicht, um auf einem Faulbett zu liegen und holden Imaginationen nachzugehen, sondern um im bewegten Allgemeinen mit bewegt zu sein. Die Gegenwart ist unser Rhodus, wo wir zu zeigen haben, ob wir tanzen können, oder faule Bäuche sind, uns selbst schließlich zur Last und allen lebendigen Wesen ein übler Anblick.

Auf und wende den Schritt
Heiter ins Leben hinein!
Schmäle die Stunden nicht,
Die dir der Tag bescheert,
Wenn Deine Seele auch voll
Holdrer Gesichte ist,
Die im Vergangenen einst
Leben waren, wie jetzt
Du.

Entschuldige diese Hotelverse. Möge unser Adlermotor morgen bessern Rhythmus bewähren.


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