Otto Julius Bierbaum
Eine empfindsame Reise im Automobil
Otto Julius Bierbaum

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

V.
Von Venedig nach Rimini

An Herrn Max Schillings in München

Padua im Hotel croce d'oro, den 16. Mai 1903.

Lieber Herr Schillings! Ich habe Ihnen schon auf dem Markusplatze allerhand Schönes vom Reisen im Laufwagen erzählt. Verzeihen Sie, wenn ich mich nun schriftlich in Einigem wiederhole. Eine Reise wie die unsre hat doppelten Reiz, weil hier das Reisen an sich, gewissermaßen die Technik des Reisens, neu ist. Man reist fast mit dem Entzücken des Kindes, das zum ersten Mal Eisenbahnfahren darf.

Nach der längeren Pause in Venedig fühlen wir dies wieder stärker. Unsern Adlerwagen haben wir in Mestre wie ein befreundetes lebendes Wesen begrüßt, und wir waren sehr glücklich, ihn bei gutem Befinden wieder zu sehen. Unser Führer hatte ihn schon von Venedig aus öfters besucht und ihm allerhand Gutes, so auch einen neuen Reifen angedeihen lassen. Schon dieses persönliche Verhältnis zum Objekt ist angenehm und nicht etwa eine Last. Es ist halt doch auch eine Liebe, und deren Betätigung ist immer angenehm. Daher haben, glaube ich, Frauen mehr Glücksgefühl im Leben, weil sie es besser als Männer verstehen, auch Objekte liebreich zu behandeln.

Die Fahrt von heute hatten wir ein paar Tage vorher bereits mit der Eisenbahn gemacht, und so können wir nun einmal genau abmessen, wie verschieden stark die Eindrücke derselben Landschaft sind, wenn man sie im Eisenbahnwagen und wenn man sie im Automobil genießt. Der Unterschied ist sehr groß, so groß etwa wie der Unterschied einer flüchtigen und einer intimen Bekanntschaft. Im Eisenbahnwagen fährt man eigentlich nur an einer Landschaft vorbei, im Laufwagen bewegt man sich mitten in ihr. Sagt man im Eisenbahnwagen zu den Schönheiten eines Landes »Guten Tag!« und »Lebewohl!« in einem Atemzuge, so gewährt der Laufwagen die Möglichkeit, sich mit ihr gemütlich zu unterhalten. Nichts ist unterhaltender als solch eine Unterhaltung, zumal, wenn es sich, wie hier, verlohnt, d. h. wenn die Gegend etwas zu sagen hat. Die Ufer der Brenta von Mestre bis Padua sind landschaftlich nicht weiter »interessant«; es ist eine weite sehr fruchtbare Ebene, gartenartig bebaut; was ihr den besonderen Reiz verleiht, sind die außerordentlich zahlreichen alten Landsitze der venezianischen Adelsfamilien, die sich die Straße und damit den Fluß entlang hinziehen, zuweilen in ununterbrochener Kette, zuweilen mit Meiereien abwechselnd. Viele dieser Besitzungen zeichnen sich durch architektonisch schöne Herrenhäuser aus, deren einige die Größe und das Ansehen von Schlössern haben. Auffällig ist der reiche bildhauerische Schmuck. Überall, auf den Toren, Mauern, Giebeln, in den Gärten: Statuen, meist wohl aus der Zopfzeit und leider recht häufig übertüncht, aber auch noch in diesem Zustande lustig anzusehen. Ausgedehnte Vorgärten, oft mit Zitronen- und Orangenbäumen in Tonkübeln besetzt, schützen das Herrenhaus vor dem Staub und Lärm der Straße, und hinter den Häusern dehnen sich Parks mit wundervollen alten Bäumen aus. Alles atmet Vornehmheit bei durchaus ländlichem und ungezwungenem Wesen. Die repräsentative Würde der Palazzi blieb der Stadt vorbehalten; nur das Schloß bei Malcontenta und der Schloßkomplex von Strà machen eine Ausnahme davon. Das Schloß von Strà ist außerhalb Italiens (wie dieser ganze Strich) wenig bekannt, aber eine große Sehenswürdigkeit, die wir uns natürlich nicht entgehen ließen. Es wurde von einem aus der mächtigen venezianischen Familie der Pisani Anfang des achtzehnten Jahrhunderts gebaut, kam 1808 in den Besitz Napoleons, dann an das Erzhaus der Habsburger, dann an das königliche Haus Savoyen und wurde schließlich als Monumentum nationale von der italienischen Regierung übernommen. Es ist ein Vergnügen, diese schier endlosen Zimmerfluchten mit ihren hohen, schönen Zimmern zu durchschreiten, die architektonisch und in der Wandbemalung meist rein im Stile vom Anfang des 18. Jahrhunderts sind, während ihre Möblierung, von der Anwesenheit des erlauchtesten Schloßherrn von Strà, Napoleons, her, Empirarbeit ist. Im Schlafzimmer Napoleons wird eine Sänfte gezeigt, in der sich der zum Diktator Europas gewordene korsische Advokatensohn soll ins Bad haben tragen lassen. Ich erinnerte mich, als ich dies hörte, an den schönen Napoleonskopf Canovas, dessen Modell wir in Bassano gesehen hatten, und ich hatte, wie es einem zuweilen begegnet, blitzartig eine fast visionäre Vorstellung: den nackten brauen Körper des Erben der Revolution mit dem Cäsarenkopfe, hingestreckt in die gelbseidenen Kissen des Tragstuhles. Dieses Bild wird für mich immer mit dem Schlosse Strà verbunden bleiben. Dies und der Zitronengarten mit seinen Hunderten wohlgepflegter Zitronenbäume aller Arten. Der uns führende Gärtner erzählte, daß 68 verschiedene Sorten Zitronen hier gezogen werden, darunter auch die riesigen Pompeani, die sich bis zur Größe kleiner Kürbisse auswachsen. Es sind wunderbare Schaufrüchte, aber ungenießbar. Das saftige Zellenfleisch, das bitterer schmeckt als das Fleisch der gewöhnlichen Zitrone, ist im Vergleich zu der Schale, die außerordentlich dick ist, sehr spärlich. Wir maßen den Durchmesser einer Frucht und fanden ihn 12 Zentimeter groß, wovon auf das Fleisch kaum sechs Zentimeter kamen. Was bei der gewöhnlichen Zitrone eine dünne Scheidehaut zwischen Fleisch und Schale ist, bildet hier das Hauptvolumen der Frucht in Form einer porösen, ziemlich trockenen, weißen Masse. – Zu Wächtern des Zitronengartens in Strà ist der ganze griechische Olymp bestellt. Die steinernen Götter u die aus dunklem Glanzgrün goldig leuchtenden Früchte passen gut zusammen. Übrigens sind die alten Götter hier zu Lande noch nicht tot; sie leben noch in der Sprache des Volkes, das seine Rede gern mit einem »per Bacco!« oder »per Diana!« bekräftigt. – In Padua haben wir, wie sich's gehört, zuerst dem heiligen Antonius einen Besuch gemacht. Wir trafen es gut, da der Freitag der Tag des Heiligen ist und die Franziskaner dem Andenken ihres großen Ordensbruders gerade die feierliche wöchentliche Verehrung darbrachten. Sie schritten in langer Reihe an seinen Altar und knieten dort nieder, dann begann ein langer Wechselgesang, etwas näselnd von Seiten der Mönche, aber in wunderbarer Stimmfülle von der Orgelempore her; eine fast fröhliche Melodie, man möchte sagen ein heiliger Marschgesang.

Ferrara, 17. Mai.

Der heutige Vormittag galt der Kunst Paduas. Darüber zu reden, heißt um Superlative verlegen sein. Die Reliefs in der Kapelle des Heiligen zeigen die Bildhauerkunst der Renaissance auf einer erstaunlichen Höhe. Auch sie ist freilich nur ein Abglanz der Antike, und zur vollen Größe fehlt die Einfachheit, aber der Bewunderung bleibt genug übrig. Wie wenig die Künstler jener leidenschaftlich zur Antike strebenden Zeit im Grunde an den christlichen Mönch, wie sehnsüchtig sie vielmehr an die große heidnische Zeit des Volkes dachten, zeigt sich deutlich darin, daß sie die Begebenheiten aus dem Leben des Heiligen ungescheut in antikem Gewande vortrugen. Nicht einmal der Heilige selbst ist überall als Mönch dargestellt, und wo dies der Fall ist, zeigen wenigstens die übrigen Figuren rein antike Tracht, und wo es nur irgend angängig ist, wird der menschliche Körper nackt dargestellt. Auch sonst springen die Künstler mit der Legende sehr frei um und denken nur an die Schönheit ihres Werkes und nicht an den überlieferten Vorgang. So soll eines der Reliefs vorstellen, wieder der Heilige einem Jünglinge, der sich aus Reue über eine von ihm gegen seine Mutter begangene Untat ein Bein abgehackt hatte, das Bein auf wunderbare Weise wieder zusammenfügt. Dem Künstler lag aber gar nichts daran, eine derartige Operation zur Anschauung zu bringen; er bildete zwar ein nacktes Jünglingsbein, und zwar ein sehr schönes, aber er stellte es – nach der Operation dar, so vollkommen und tadellos geheilt, wie nur ein Bein sein kann. Diese Darstellungen sind tatsächlich direkt unchristlich. Die Symbole und Zeichen der Kirche, selbst das Kreuz, fehlen gänzlich, und die gesamte Architektur ist wie die Tracht antik. Dem heutigen Volke, das hier seine Heiligen zu verehren kommt, sagen sie daher auch gar nichts. Männer und Frauen stehen gedrängt um die Rückwand des Sarkophags, in dem die Überreste des Wundertäters liegen, wenden den herrlichen Marmorbildern den Rücken und legen ihre Hände mit gesenktem Haupte an den Grabstein, hoffend, daß die Wunderkraft des Heiligen ihn durchdringe und heilend in ihren Körper übergehe. – Auch in den herrlichen Fresken Mantegnas in der Kirche der Eremitani lebt dieser zur Antike gewendete Geist, der sich, indem er heilige Geschichten erzählt, doch zum antiken Evangelium der Kraft und Freude bekennt. Der heilige Jakob ist dem Künstler so gleichgültig, daß er ihn auf drei Bildern blond und auf dem Schlußbild schwarzhaarig darstellt, und so sehr überwog seine Lust am Schönen des Körperlichen den gegebenen Inhalt seines geistlichen Themas, daß dieses dem Betrachter kaum zum Bewußtsein kommt. So lenkt auf dem Bilde, das den heiligen Jacobus auf dem Gange zur Richtstätte zum Inhalte hat, vielmehr als dieser die prächtige Gestalt eines antiken Soldaten die Blicke auf sich, der das Volk mit quer gehaltener Lanze zurückdrängt. Selbst auf dem Bilde der Hinrichtung des Heiligen (der bäuchlings zur Erde geworfen, mit einem Holzhammer erschlagen wird), ist dieser künstlerisch nicht die Hauptperson, und der ganze schauderhafte Vorgang ist mit einer vollendeten Kälte, mit der absolutesten Gleichgiltigkeit erzählt. Kein Mensch zeigt irgend welche Aufregung. Ein junger Mann von wundervollem Körperbau lehnt sich in elegant nachlässiger Haltung über die Barriere, unter der Jacobus den tödlichen Hieb auf den Schädel erwartet, und sein Blick zeigt etwa die Aufmerksamkeit eines Anglers, der zusieht, ob ein Fisch anbeißen will. Im Mittelgrunde stehen drei entzückende Jungen in schönen Brustpanzern, sonst nackt, und kümmern sich absolut nicht darum, daß im Vordergrunde ein Heiliger totgeschlagen wird. Der eine, mit dem linken Arm auf die Straßenmauer gestützt, sieht vor sich nieder wie einer, der an etwas recht Angenehmes ohne Aufregung denkt; der mittlere blickt an ihm vorbei in die Landschaft – vielleicht sieht er einen schönen Schmetterling fliegen; der dritte stemmt seinen rechten Arm in die Hüfte und sieht über die ganze Szene hinweg geradeaus ins Leere, ein bißchen gelangweilt und ärgerlich darüber, daß er kommandiert ist, dieser faden Hinrichtung eines Christen beizuwohnen. Daß die Staffage mit bewußter Absicht so behandelt ist, kann nicht bezweifelt werden, und ich bin mir darüber nicht unklar, daß Meister Mantegna zwar ein sehr guter Maler, aber ein schlechter Christ gewesen ist. – Giotto dagegen verdient auch in der Religion die Note 1a. Seine wunderbare Farbenfuge in der Arenakapelle, deren Dominante ein unvergeßliches Blau ist, preist in schöner Einfalt aus inbrünstigem Herzen die Dreifaltigkeit. Nur ein Frommer kann fromme Verzückung so ergreifend darstellen, wie er es in der Grablegung getan hat, in der Engeln und Menschen tiefster Schmerz zur höchsten Seligkeit wird. Wir können dem Geschick nicht dankbar genug sein, das uns diese unbeschreiblich schönen Fresken so unversehrt erhalten hat. – Daß so viele Italienreisende Padua unbesucht lassen, ist künstlerisch eine wahre Unterlassungssünde. Die Werke, die man hier von Mantegna und Giotto zu sehen bekommt, gehören zu dem Erhabensten und Schönsten, das man überhaupt sehen kann. Die Stadt ist auch selber sehr interessant in ihrer echt italienischen Architektur mit den vielen Laubenbögen und mit ihren alten, zum Teil gewaltigen Staatsgebäuden. Wir besuchten im Palazzo della Ragione den riesigen Saal, der wohl mit Recht der größte Saal der Welt genannt wird und in dem sich das kolossale hölzerne Pferd Donatellos befindet. Überlebensgroß wie dieses war die Rechnung im »Grand Hotel croce d'oro«; es scheint, daß der Wirt dieses Gasthauses sich für die vielen Forestieri, die an Padua vorüberfahren, an denen schadlos hält, die Padua besuchen und dabei so unvorsichtig sind, bei ihm einzukehren. – Die 76 km lange Strecke von Padua bis Ferrara legten wir in unserm Adlerwagen, der herrlich bei Rhythmus war, in dreieinhalb Stunden zurück. Eine sehr schöne Fahrt auf ausgezeichneter Straße und zum Teil am Po entlang, der hier ein mächtiger Strom ist. Wir überschritten ihn bei Pontelagoscuro auf einer Schiffsbrücke, nachdem wir vorher eine Anzahl Mühlen passiert hatten, die im Strom nach Art von Schiffsbrücken verankert sind. Sie tragen alle schwarzen Anstrich und darauf in großer, weißer Schrift ihren Namen in Form eines Spruches, etwa: »Molino nominato paradiso, Dio ti saluti,« was in deutschen Landen etwa so lauten würde: »Die Mühle, Paradies genannt, steht in Gottes starker Hand.« – Bei der Einfahrt in Ferrara kamen wir an dem gewaltigen Castell der Este vorüber, einem kolossalen Bauwerk von zwingburgartigem Charakter. Jetzt war es umwimmelt von Radfahrern. Wir erfuhren, daß hier ein Fest des italienischen Touring Klubs abgehalten wurde, und hatten Abends Gelegenheit, einen Fackelzug zu Rade mit anzusehen. – Vorher hatten wir zwei Dichterwohnungen unseren Besuch gemacht – einer traurigen und einer heiteren. Die traurige, ein scheußliches Gewölbe im Hospitale der heiligen Anna, hat Torquato Tasso über sieben Jahre bis zu seinem Tode bewohnen müssen als Gefangener seines Herzogs, aus dessen Gnade er gefallen war. Wenn er vorher nicht schon irrsinnig war, so ist er es in diesem Loche sicher geworden. Lord Byron, der offenbar starke poetische Stimulantien liebte, hat sich auch in dieses Kerkergewölbe, wie in Venedig in das Gefängnis des Marino Falieri, auf ein paar Tage einsperren lassen – eine etwas spleenige Art, sich Inspiration zu verschaffen – und ein Goethischer Torquato Tasso war nicht dir Frucht davon. – Angenehmere Empfindungen erweckte der Besuch im Hause des Ariost, an dessen Fassade der Dichter die einfachen und schönen Worte eingraben ließ:

Parva est apta mihi, sed nulli obnoxia, sed non
Sordida, parta meo sed tamen aere domus.

Im übrigen wird man nicht erwarten, im Hause des Ariost so viel von der Persönlichkeit des Dichters zu finden wie im Goethehause des Weimarischen Ferrara. Das Haus ist erst Jahrhunderte nach dem Tode des Dichters aufgekauft worden, und die Reliquien, die sich darin finden, haben dieselbe Zeit hindurch ihren Platz in fremdem Besitz gehabt. Aber es gibt doch einen ungefähren Begriff davon, welche Umgebung sich dieser außergewöhnliche Mann geschaffen hat, der wie Goethe nicht nur ein Künstler des Wortes, sondern auch des Lebens, des nach außen wirkenden sowohl, wie des nach innen aufnehmenden, gewesen ist. Auch sein Haus darf in den Verhältnissen und in der Anlage poetisch genannt werden. Klein, doch nicht eng, einfach gestaltet, aber in klaren Zügen ohne Winkelwerk, ganz und gar nicht ein Haus zum Repräsentieren, sondern zum beschaulichen Schaffen und behaglichen Leben. Die Schreibstube aufs Feld hinaus über Gärten weg; kein Haus sichtbar, außer einem schön aufragenden Glockenturm. – Der galante Custode überreichte meiner Frau einen Strauß Rosen »aus dem Garten des Ariost« – und wenn der Rosenstock, von dem er sie gepflückt hatte, auch gewiß nicht unter Ariosts Augen gewachsen war, es war doch hübsch von dem Custoden und klingt reizend: »Ein Rosenstrauch aus dem Garten des Ariost.«

Rimini, den 20. Mai 1902, im Aquila d'oro.

Wir hätten in Ferrara gerne den Palazzo de' Diamanti besucht, um die Werke des Dosso Dossi zu sehen, aber die Sammlung wird Sonntags erst um 12 Uhr geöffnet, und so lange konnten wir nicht warten, weil wir in Ravenna, von dem uns 73 Kilometer trennten, noch Zeit zur Betrachtung der Mosaiken und des Grabdenkmals des großen Theoderich haben wollten. Heute bedauern wir diese Eiligkeit, und ich denke an das Wort Bettinas von den stehengelassenen Erdbeeren.[Bettina von Arnim, »Goethes Briefwechsel mit einem Kinde«: »Heute sind's acht Tage, aber ich schmachte noch danach, die gespeisten sind vergessen, die ungepflückten brennen mich noch auf der Seele.«] Diese Eiligkeit steckt uns noch von der Eisenbahn her im Blute, und wir müssen noch immer häufig genug unsre Nerven in die Zügel nehmen. – Die Fahrt von Ferrara nach Ravenna ließ es uns spüren, daß wir uns der Küste näherten; wir waren offenbar von einer ganzen Schar von Windsbräuten begleitet, und oft erhoben sich vor uns Staubwolken, die uns die freie Aussicht auf die Fahrbahn völlig verhüllten. Bei solchen Gelegenheiten bewähren sich die großen Schutzbrillen, die dem Laufwagenreisenden ein so groteskes Aussehen verleihen, vorzüglich. Wir brauchten trotz des Gegenwindes nur etwas über drei Stunden bis Ravenna, kamen aber, offenbar infolge des Sturmes, so ermüdet an, daß wir uns ein paar Stunden im Hotel ausruhen mußten. Dieses Hotel führte, wie alte Theaterstücke, mehrere Namen auf einmal: Albergo reale Europa, Spada d'oro, San Marco. Wir mußten später auch für drei Hotels zahlen. – Ravenna selbst macht einen trostlosen Eindruck. Ich hatte mir, unter der Suggestion des großen Namens Theoderich, etwas düster-prächtiges vorgestellt, eine Mischung aus Gotisch und Byzantinisch, und war nun arg enttäuscht, ein Konglomerat von kleinen, langweiligen Häuschen zu finden, die, wenn sie jemals in einem anständigen Stile erbaut worden sind, ihn bis auf den letzten Rest verloren haben. Direkt unwahrscheinlich wirkten große Plakate die eine Aufführung von Wagners Tristan und Isolde im Stadttheater verkündeten. Man sollte meinen, daß diese Musik diese wackelige Stadt zersprengen müßte, nichts übrig lassend als das, was von Ravennas gewaltiger Vergangenheit übrig geblieben ist. Es sind nur wenige Reste, diese aber von so herrlicher Art, daß man den kläglichen Krimskrams dessen, was heute Ravenna heißt, darüber völlig vergißt. Der Kontrast ist um so unheimlicher, weil die paar alten Sachen so unglaublich frisch und lebendig wirken, während das, was sich als gegenwärtiges Leben gibt, durchaus den Eindruck des Absterbens macht. Die unerhört schönen Mosaiken aus dem 5. und 6. Jahrhundert strahlen im jugendlichen Glanze, und man könnte glauben, sie seien gestern vollendet worden, wenn sie nicht von einer so märchenhaft unmodernen Schönheit wären. Wer einmal die beiden Heiligenzüge im Battisterio degli Ortodossi gesehen hat, diese Prozession weltentrückter Seliger im Juwelenschmucke heiliger Schönheit, der hat für alle seine Tage einen unverletzbaren Begriff vom Wesen der alten christlichen Kunst, die den großen monumentalen Zug der antiken mit einer mystischen Innerlichkeit verbindet. In den Mosaiken von San Vitale aber leuchtet der ganze kaiserlich-hieratische Pomp von Byzanz. Unter den von Gold und Edelstein starrenden Gewändern wird auch Geste und Bewegung der gekrönten Christen steif, sakramental. Daß einzelne Gestalten, wie die der Kaiserin Theodora, des Kaisers Justinian, des Erzbischofs Maximian, trotzdem etwas Persönliches haben und sofort als Porträts wirken, beweist eine enorme Höhe von Kunst. Alles dies ist Dekoration im allerhöchsten Sinne, und die Anstrengungen, mit Ölfarbenbildern, wie im Dogenpalaste, raumausfüllend dekorativ wirken zu wollen, erscheinen einem angesichts dieser Mosaiken geradezu absurd. Nicht einmal das Fresko ist nur entfernt solcher Wirkungen fähig. Das Mosaik, aus unzähligen Glanzflächen leuchtend, hat dennoch die einheitlichste Gesamtwirkung. Es ist der Pointillismus in der höchsten Vollendung, der Zusammenglanz unzähliger leuchtender Farbflecke, die zeichnerisch streng zusammengehalten werden durch eine Linie von vollendetstem Stilgefühl. Unsre modernen Schmuckkünstler können nichts besseres tun, als hier und in Tocello und an den alten Mosaiken von San Marco-Venedig Studien zu machen. Es gehört zu den größten Glücksfällen der Kunstgeschichte, daß diese unerhörten Kostbarkeiten erhalten geblieben sind. – Aus ganz anderem Wesen stammt die gewaltige Wirkung des Grabdenkmals, das Theoderich der Große für sich hat errichten lassen, offenbar im Hinblick auf antike Vorbilder. Hier spricht nur die eine Farbe des Steins und die Macht des Aufbaus. Alles gedrungen, Masse, Wucht; Quader an Quader, so breit sie nur zu finden, und darauf diese kolossale Kuppel aus einem einzigen Kalkstein, dessen Schwere auf etwa 8000 Zentner berechnet wird. Dies mitten in die üppige, aber ebene Landschaft gesetzt, – das Grab eines Gewaltigen unter den Menschen, den man sich, wüßte man sonst nichts von ihm, daraus wohl vorstellen könnte. – An der Treppe, die zum Umgang des Heldengrabes führt, steht ein mächtiger Teerosenbaum. Der blühte, als wir dort waren, in überschwänglicher Pracht, und alles rings war vom Dufte seiner Blüten erfüllt. – Rosen pflegen gerne zu poetischen Gemeinplätzen zu verlocken, und ich widerstand der Verlockung nicht:

Für seinen Leichnam schuf
Ein großer Deutscher hier
Siehe eine feste Burg
Mit einer Kronenzier

Aus nichts als einem Stein;
So wollt er sicher ruhn
In grüner Einsamkeit
Von ungeheurem Tun.

Kaum war er tot, so kam
Der Haß und gab dem Wind
Des Helden Asche; – ach,
Wie töricht Feinde sind:

Ein Stäubchen Asche sank
Ins Erdreich, und die Kraft
Des toten Helden gibt
Nun tausend Rosen Saft.

Die duften wunderstark,
Wie seine Seele war:
In Rosen steht sein Grab,
Ein trotziger Alter.

– Das Meer lockte uns nach Rimini, – der Luftschlauch unsres rechten Hinterrades verschaffte uns indessen die Bekanntschaft der adriatischen See schon bei Cervia. Eben, als wir durch diesen kleinen Ort fuhren, ertönte ein zaghafter Knall, und Meister Riegel, der für jede Regung an seinem Wagen ein untrügliches Gehör hat, erklärte: Jetzt ist ein Schlauch hin! Um die Arbeit des Schlauchwechselns ungestörter vornehmen zu können, bogen wir querfeldein und waren aufs Schönste überrascht, als wir plötzlich unvermutet die blaue Flut der See erblickten, angesichts deren die Reparatur schnell von statten ging. Wir suchten unterdes Muscheln, photographierten ein paar Krabbenfischer und dankten dem Pneumatik, daß es an so angenehmem Orte das Zeitliche gesegnet hatte. Kaum einen halben Kilometer weiter aber wiederholte sich was Vischer die Tücke des Objekts genannt hat, und wir sorgten für Abwechselung, indem wir den Schaden diesmal zwischen blühenden Lupinenfeldern und etwa fünfzig meist hübschen Bauernmädchen ausbesserten, die im Pfingststaate um uns herumstanden und allerliebst erstaunte Gesichter machten. Es war also auch hier keine große Fatalität weiter. Eine schlimmere hätte uns aber fast erreicht infolge eines Defektes an der Pumpe. Zum Glück stellte sich dieser gerade kurz vor Rimini heraus, sodaß wir noch eben ins Hotel gelangen konnten, wo unser unermüdlicher Führer sofort daran ging, den Schaden zu beseitigen, während wir dem Seebade einen Besuch machten. Über dem leuchtenden Blaugrün des Wassers lag schwarzblau ein schweres Wetter, und die Brandung war viel stärker, als wir es vom adriatischen Meere erwartet hatten. Leider kam das Wetter von der See ans Land, und wir mußten uns ins Hotel flüchten. – Hinter Ravenna sind wir am ersten Pinienwalde vorbeigekommen; es ist derselbe, den schon Dante und dann Byron gepriesen hat. Er mag aber wohl noch zu Byrons Zeiten mächtiger gewesen sein, als er es heute ist. Nach deutschen Begriffen würde man es noch keinen Wald nennen. Für uns ist der Wald ein ganzes Volk von Bäumen; dies hier ist höchstens eine Generalversammlung. Freilich von erlauchten Vertretern der Gattung, und man muß gestehen, daß eine Silhouette von grün-schwarzen Pinienhäuptern gegen den blauen Himmel gesehen etwas großartiges, eine ruhige Vornehmheit hat, die feierlich stimmt. Unsere spitze Fichte würde in diese runde Landschaft durchaus nicht passen; hier ist es ästhetische Notwendigkeit, daß sich alles wellig ausbreitet oder wölbt. Aus diesem Grunde ist es wohl auch zu erklären, daß der italienische Kirchturm im allgemeinen nicht spitz, sondern abgeplattet ist, und daß die Gotik sich in Italien dauernd nicht behaupten konnte.

Wie liebenswürdig naiv das italienische Landvolk ist, haben wir immer wieder Gelegenheit zu beobachten. Niemals, wenn wir genötigt sind, auf freier Straße zu Reparaturen Halt zu machen, wird auch nur eine Bewegung der Schadenfreude bemerkbar, geschweige denn, daß ein höhnisches Wort laut würde. Diese guten Leute haben nur den einen Wunsch: daß man ihnen imponiere. Deshalb sind wir hier in Italien längst davon abgekommen, den wirklichen Preis unseres Adlerwagens zu nennen, wenn man uns darum frägt. »10 000 Lire? O? Nur 10 000 Lire? Hm, hm, hm.« Das macht ihnen gar keinen Spaß. Man muß 30 000 sagen, dann sind sie zufrieden. – Bei Cervia wollten wir einem jungen Burschen, der beim »Abmanteln« geholfen hatte, Geld geben, er aber bat sich un sigaro tedesco aus, – nicht um ihn zu rauchen, sondern ihn aufzuheben als ein Ding, das so weit her gekommen sei. – Überhaupt ist das Landvolk hier durchaus nicht so auf Geld erpicht, wie es die Bevölkerung der großen italienischen Städte, zumal der viel von Fremden besuchten, bekanntlich in einem fatal hohen Grade ist. Für Muscheln, die sie uns, unaufgefordert, gesucht hatten, wollten die Leute durchaus nichts nehmen. »Nur als Andenken, Signori, damit Sie wissen, daß wir poveri hier doch auch was schönes haben!« Meine Frau ist über das alles sehr glücklich, und ich meine, sie hat ein Recht dazu. Die Italiener, unverdorben, sind ein prächtiges Volk, nicht bloß äußerlich. Sie haben Stolz und Bescheidenheit zugleich. Das nenn ich antiken Charakter. – Und die Décadence der romanischen Rasse? Zeitungsschreiberworte. Wo die Leute durch die Not degeneriert sind, in den großen Städten und in den verelendeten Landstrichen, sind sie natürlich ein Bild der Verkümmerung, aber nicht mehr, als die gleich Unglücklichen bei uns, – eher weniger, denn sie besitzen die glückliche Gabe, unter einem freigiebigen Himmel zu wohnen, weniger Bedürfnisse und eine Religion zu haben, die ihnen kein Kopfzerbrechens macht, sondern ihnen oft eine schöne Komödie, ebenso lustig für die Sinne, wie lieblich fürs Gemüt, bietet. Dazu weniger »Bildung«, als bei uns, aber mehr leichter Sinn und eine angeborene Lebensweisheit: Unzufriedenheit ist Dummheit. »Laß dir die Sinne in den Mund scheinen, und du hast Gold im Munde.« Die »Signori« sind ihnen im allgemeinen nicht Gegenstände des Neides, sondern eines gewissermaßen künstlerischen Interesses. Diese Leute denken gar nicht daran, wenn sie unsern roten Adlerwagen sehen, sich zu sagen: ach, wenn wir doch auch so dahinfahren könnten, sondern sie rufen laut und freudig aus: Wie schön ist das! Ah! Wie schön! Und die Signora! Seht nur den Hut und Schleier! Und da ist dann der Evviva! Evviva! kein Ende. Evviva la benzina (so nennen sie das Automobil)! Evviva gli signori! – Am meisten bewundern sie Riegel, unsern Führer. Ein Riese! Ein deutscher Riese! Und was er alles kann! Sehr, der verstehts, zu fahren! Er allein lenkt diesen Wagen und läßt ihn jetzt schnell, jetzt langsam fahren. Das will gelernt sein! Das ist mehr als Gras mähen! – Und wie wißbegierig sie sind. Regelmäßig, wenn wir abends wo eingestellt haben, versammelt sich der halbe Ort um Riegel und wünscht durchaus in den Mechanismus eingeweiht zu werden, wobei ein jeder ohne weiteres bereit ist, zu helfen, ohne dabei an ein Trinkgeld zu denken. – Auf dem Lande ist das bei uns in manchen Gegenden ja wohl auch so, aber es fehlt diese angenehm lebendige Art und Heiterkeit. – Riegel freilich hat wenig Geschmack daran. Für ihn sind die Italiener ein durchaus verdächtiges Volk, und er schwört darauf, daß sie allesamt nur auf Diebstahl und Heimtücke aus sind. »Ich sag Ihne, Herr Bierbaum, jeder von dene Halunken hat 's Messer im Sack. Da muß mer aufpasse!« Vor allem aber findet er es tadelnswert an ihnen, daß sie nicht deutsch verstehen. Sonst ein sehr guter (und durchaus nicht dummer) Mensch überschüttet er die Unglückseligen, die ihm ihre Dienste wortreich, aber natürlich nicht auf Frankfortsch, anbieten, mit massiven Grobheiten, die sie ihrerseits für Belehrungen hinnehmen, sehr bedauernd, daß es ihnen nicht gegeben ist, sie zu verstehen. – Ich hoffe, daß der Gute nach und nach menschlicher von diesen braven Leuten denken lernen und mit der Erfahrung nach Hause zurückkehren wird, daß auch die Italiener zwar nicht mit einem echten Frankfurter zu vergleichen, aber immerhin Menschen sind.


 << zurück weiter >>