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II.
Erde und Organismen.

Sehen wir uns einige Gesetze der göttlichen Natur in der Erde, in den sie bedeckenden Wesen und im Menschen an.

Könnten wir uns auf den Mond versetzen, so würden wir mit Bewunderung einen großen silbernen Globus scheinbar unbeweglich am Zenith schweben sehen, fünfzehnmal größer als der Mond uns erscheint, mit schneeweißen, von Nordlichtern umblitzten Polen, und auf welchem unaufhörlich aus der Nacht allerlei sonderbar gestaltete Kontinente und Inseln, von Wolkengürteln halb verhüllt, ans Licht treten und wieder in die Nacht fortwirbeln. Daß diese Weltkugel, unsre Erde, uns unbeweglich erschiene, wäre eine Täuschung, dadurch hervorgerufen, daß der Mond im gleichen Schritt mitgeht. In der That fliegt diese Welt und wir mit ihr, wie ein kolossaler, immer spinnender, etwas zur Seite geneigter Kreisel unermüdlich in ihrer fast kreisrunden Bahn um die Sonne. – Wieviel mal hat sie wohl im weiten Kreis schon dieselbe umtanzt? Wieviel mal noch wird sie es thun?

Aufs innigste sind ihre Schicksale mit den unsrigen verknüpft, die wir, vom Himmel darauf gefallen, in Gehäusen aus Erde, uns von Erde nährend, einen kurzen Augenblick auf derselben uns umsehen, bis wir wieder zur Erde werden. Als einst diese Erde nach langen Licht- und Nachtepochen von Gott wunderbar mit allerlei Geschöpfen versehen war, schuf uns Gott zu ihren Herren und Beherrschern. Als wir von Ihm abfielen, wurde auch diese Erde um unsertwillen von Ihm verflucht und trägt nun Disteln und Dornen. Auch sie wird den Feuertod erleiden, und ihr Auflodern im Weltbrand wird das Ende der Menschheit bedeuten. Aber auch sie wird aus der Asche auferstehen und als neue Erde ewig leben.

In wunderbarer Weise ist dieses Individuum unter den vielen Erden des Sonnensystems von denselben Grundgesetzen und Prinzipien beherrscht wie ihr Bewohner, der Mensch; ein Gesetz, das sicher auch für andre Welten gilt. – Tief im Herzen verbirgt sie wie wir heiße aufwallende Glut, die je und je mit gewaltigem Klopfen ihren ganzen Leib erschüttert. Aus Festem, Flüssigem und Luftförmigem besteht auch, wie der unsrige, dieser Leib. Wie im Menschen das Blut, kreist unaufhörlich auf Erden die ernährende, befruchtende Flüssigkeit und ermöglicht allein das Leben. Und mit tiefem Atemholen hebt und senkt sich alle sechs Stunden in Ebbe und Flut die Brust der mächtigen Oceane. Wie das Leben des Menschen aus einem Wechsel des Wachens und des Schlafens besteht, so dreht die Erde immer nur eine Seite dem Licht zu, und in schneller Umdrehung taucht sie sie wieder in die Nacht, während welcher selbst die ganze Pflanzenwelt schläft und ihre Blüten und zum Teil ihre Blätter schließt. Endlich sind von jeher die wechselnden Jahreszeiten im Kreise des dem irdischen Leben entsprechenden Jahres ein Bild und Symbol der menschlichen Temperamente. Sanguinisch heiter, jugendfröhlich, voll Hoffnung und Lebenslust und Mut, kindlich lachend und weinend ist der Frühling; es blüht millionenfach die Erde, und auch der Mensch erwacht aus dem Winterschlaf und regt sich und schafft und hofft und lacht und singt und liebt im Blumen- und Minne- und Wonnemonat. Cholerisch, kräftig, im besten Mannesalter ist der Sommer mit seiner oft schwülen Hitze, mit seinen heftigen Gewittern, wie gewaltige Zornesausbrüche, doch Großes schaffend, Korn und Wein und Öl und Früchte reifend. Melancholisch schon der ältere Herbst voll Sehnsucht, wenn die Schwalben ziehen, poetisch wie ein schöner Lebensabend voll der Früchte eines thätigen Lebens, doch den nahen Tod, den Winter, ahnend. Und apathisch ist dieser, unter weißer Decke schlummernd; kahl und stumm der Wald, leblos die Erde, und in seinen Wohnungen sitzt verborgen der Mensch und fristet künstlich sein Dasein.

Diese tiefen Analogien zwischen Erde und Mensch haben zu allen Zeiten die Menschen gefühlt. Als die Götter der Walhalla, erzählten die Skandinavier, den Riesen Ymir erschlagen hatten, bildeten sie aus seinem Körper die Erde. Zu Felsen und Gebirgen wurden seine harten Knochen, – wie heute noch der Italiener das Felsengebirge treffend l'ossatura, das Knochengerüst der Erde nennt, – sein Fleisch wurde zur Erde, aus seinem Blut füllten sie das Weltmeer, und seine Haare wuchsen als dunkle Wälder auf den Bergen.

Kolossal ist dem kleinen Menschen gegenüber diese Welt und ebenso die ihr von Gott mitgegebene Lebenskraft, der Impuls, mit dem sie auf ihrer ungeheuren Bahn täglich zweieinhalb Millionen Kilometer in lautlosem Flug zurücklegt, über hunderttausend Kilometer per Stunde, neunundzwanzig in der Sekunde! – Was sind dagegen alle unsre Blitzzüge? – Was selbst die lahme, fünfundsiebzigmal langsamere Kanonenkugel? – Fünfhundertundelf Millionen Quadratkilometer groß ist die Oberfläche dieser Welt, davon dreihundertvierundachtzig Millionen von salzigen, tiefen Meeren bedeckt, die der Mensch mit Lebensgefahr durchsegelt, von deren Tiefen und überreichem Leben er so gut wie nichts weiß. Nur einhundertsiebenundzwanzig Millionen bleiben ihm übrig und davon läßt er über die Hälfte unbebaut und fast unbewohnt!

Diese Weltkugel hat ihr winziger Bewohner, der Mensch gewogen. Sie ist sehr schwer, fünfeinhalbmal schwerer, als wenn sie ganz aus Wasser bestünde, zweimal schwerer als eine gleich große Granitkugel, wiegt rund: sechstausend Quadrillionen Kilo! Drehte sie sich so schnell, daß sie infolge der Centrifugalkraft in jeder Sekunde einen Centner ihrer Masse in den Raum hinausschleuderte, so würde sie doch erst mit sich selber in dreitausendachthundertundfünf Millionen Jahrmillionen fertig! (Th. Moldenhauer, Das Weltall.) – Und mit diesem riesigen Gewichtsstein als Gewichtseinheit wägt der Astronom, das kleine Geschöpf, die andern Weltkörper am Himmelszelt, die Sonne, die dreihundertsiebenundzwanzigtausendmal, Jupiter, der dreihundertundneunmal schwerer ist. Selbst die uns so leicht dünkende Luftschichte, die wir gar nicht als Last empfinden, diese Atmosphäre, welche die Erde bis zu unbekannter Höhe weich umhüllt, lastet auf Meeren und Kontinenten mit einem Gewicht von einhundertundzehntausend Billionen Centnern! So schwer ist das leichteste, so groß das kleinste, so bedeutend das unbedeutendste Pöstchen in der großen göttlichen Haushaltung!

Von schönen Gesetzen ist diese Welt regiert, existiert kraft dieser Gesetze; und diese spiegeln sich, wie schon angedeutet, im Menschen wieder.

Zuerst das allen Geschöpfen gemeinsame Gesetz der Konzentration des Lebens nach innen. – Vom Herzen aus geht das Leben. – Ist im Herzen keine Lebenswärme mehr, so erstarrt auch bald das Äußere, wie ein Baum stirbt, der am Herzen faul ist. Wohl rufen die belebenden Sonnenstrahlen wunderbares und tausendfältiges Leben auf der Erde alljährlich hervor; aber was nützten sie einem erstarrten Weltkörper, wie einem Leichnam alle Wärme nichts hilft, noch die göttliche Gnade toten Seelen. Dann hätte schon lange die furchtbare Kälte des Weltalls die Erde durchdrungen und nicht mehr bloß dreihundertundsechzig Fuß tief wie in Sibirien wäre der Boden ewig gefroren, sondern durch und durch, bis ins Innerste gliche die Erde einer toten Eiskugel. Auch Luft und Wasser wären längst verschwunden, wie augenscheinlich fast gänzlich auf dem Mond, hätten sich ins Innere verkrochen, wären da chemisch gebunden; und leblos, auf der einen Seite von den Sonnenstrahlen versengt, auf der andern über -250° kalt, flöge zwecklos und unbewohnt diese Welt durch den Weltraum. – Daß dem nicht so ist, verdanken wir dem in heißer Glut noch lebenden Erdkern. Ein überkrustetes Sönnchen ist diese Erde. Würde Gott mit einem großen Messer von dieser heißen Welt nur eine zwanzig bis fünfzig Meilen dicke Schale, also dünner noch als die eines Apfels, abschälen, so leuchtete sie wohl noch manche Jahrtausende im Weltraum.

Heutzutage ist der Glaube an ein Centralfeuer der Erde etwas aus der Mode gekommen. Denn auch in der Wissenschaft gibt es Moden, Zeitströmungen, veränderliche und vorübergehende Stimmungen. – Sehen wir uns diese interessante Frage näher an!

Was die Theorie betrifft, so hat die schon von Kant besprochene, von Laplace mit einiger Änderung aufgestellte und ausgebildete Kosmogonie eine große Wahrscheinlichkeit für sich, und kommt immer mehr in der Astronomie zur Geltung. Nach dieser wären alle Weltkörper aus einem heißen oder kalten Weltnebel entstanden; hätten sich allmählich geballt und wären zuerst, sei es als Folge und Überbleibsel ihres Urzustandes, sei es infolge der Zusammenziehung, heißflüssig gewesen oder geworden. Wir sehen am Himmel die verschiedenen, aufeinanderfolgenden Stufen dieser Ballung in zahlreichen Exemplaren, und haben ebenso an den Ringen des Saturn die schönste Demonstration der Ringbildung um und aus dem Centralkörper, auf die Laplace die Entstehung der Planeten aus der noch nicht geballten Sonne zurückführt. Innerhalb unsres Sonnensystems befindet sich, im schönen Einklang mit dieser Theorie, die Sonne noch im heißen, gasförmigen oder flüssigen Zustand. »Der mächtig brodelnde, Dämpfe ausstoßende Jupiter,« sagt Leipoldt, »und auch der Saturn sind zweifellos heute noch glühend flüssige Welten; Mars dagegen, siebenmal kleiner als die Erde, hat schon viel mehr als sie sein Wasser verloren und der noch kleinere Mond gänzlich.« – Da nun viele tausend Millionen gegen eins zu wetten sind, daß sämtliche Planeten auf einem und demselben Weg entstanden sind, so müssen wir nach Stellung und Größe der Erde annehmen, daß sie, obgleich überkrustet, im Innern noch heißflüssig ist.

Ebenso muß, nach allen Gesetzen der Physik, wenn die Erde einst heiß war, durch fortschreitende Erkaltung eine Zusammenziehung und zugleich ein immer stärkeres Berunzeln der Erdrinde stattgefunden haben und noch immer stattfinden, der Bildung einer Haut über der erkaltenden Milch vergleichbar und dem Entstehen immer höherer Berge entsprechend; und in der That sind die Vogesen und der Jura älter als die vielleicht noch im Erheben begriffene, so viele thätige Vulkane aufweisende Andenkette. Durch diese Zusammenziehung muß, wie sichtbar geschieht, das flüssige Innere hinausgedrückt werden. Cordier berechnet, daß eine solche Verkürzung des Erdhalbmessers um ein Millimeter in hundert Jahren genügte, um jährlich fünf der größten Lavaströme zu erzeugen.

Damit stimmen vortrefflich die beobachteten Thatsachen. Anstatt in großer und größter Tiefe eine erstarrte und von der Weltraumskälte durchdrungene Eiskugel zu finden, stoßen wir beim Graben oder Bohren in die Erdrinde überall auf eine Zunahme der Temperatur. Sie beträgt durchschnittlich 1° C. für 27 Meter oder beiläufig 100 Fuß, ist also recht beträchtlich und würde bei 10 Meilen Tiefe schon 2500° erreichen, oder die Hitze des geschmolzenen Eisens übertreffen. So arbeiten nackt und schweißtriefend die Männer in dem 3000 Fuß tiefen Bergwerk von Falun in Schweden, während 10-20 Fuß hoher Schnee droben den Boden bedeckt. – Daß die Temperatur nicht überall gleichmäßig zunimmt, und auch mit der Tiefe vielfach weniger rasch, war zu erwarten, da die Dicke der Erdrinde und ebenso die Wärmeleitungsfähigkeit der einzelnen Gesteinschichten eine sehr wechselnde ist. Da wo, wie auf dem Stromboli oder Mauna Loa, Lava beständig ausströmt, ist sie gleich Null; wo, wie in der Solfatara bei Pozzuoli, ein großer Stein, gegen den Boden geschleudert, diesen in zitternde Schwingungen versetzt und man mit dem Ohr am Boden das Brodeln des großen Kessels hört, ist sie nur wenige Meter dick; unter den Himalaya- oder Alpenketten dagegen oder in Ländern, die wie Grönland und Australien weder Vulkane besitzen, noch von Erdbeben heimgesucht werden, mag sie viele Meilen betragen.

Ebenso sprechen für einen heißen Erdkern die heißen Quellen, die so reichlich an vielen Stellen der Erde entströmen; am allermeisten aber die überall verbreiteten Vulkane. Aus 225-250 solchen Schlünden und Kratern thätiger Vulkane, zu denen noch circa fünfhundert mehr oder weniger unthätige und Tausende von ganz erloschenen kommen, strömen heiße Dämpfe, Aschenwolken oder glühendflüssige Lavaströme. Wie mächtig und massenhaft, wie heiß diese Lava, werden wir später sehen. Die Erde ist also einer großen Orange zu vergleichen, der bei jedem Stich Saft entströmt, doch gewiß eine starke Wahrscheinlichkeit dafür, daß die Kugel Saft enthält. – Die Annahme dagegen, daß diese Vulkane lokalen Ursachen, so z. B. Lagern von Schwefelkies (!) ihre Thätigkeit verdanken, daß also viele Hunderte von besonderen Feuerlein vorhanden sind, und daß in früheren Zeiten Tausende von solchen existierten, ist durchaus erzwungen und wird es noch mehr, wenn man bedenkt, daß sämtliche Laven aus diesen Vulkanen mit unbedeutenden Unterschieden sich gleichen; sie alle gehören der Familie der Trachyten oder Basalte an. (Zur Erklärung dieser Thatsache nehmen einige Gegner des Centralfeuers tiefe, die Vulkane unter sich verbindende, also unter den Oceanen, von den Anden nach Europa und Kamtschatka hinführende Erdspalten an!)

Gegen den heißflüssigen Erdkern hat man angeführt, daß die ungeheure Last der oberen Schichten den inneren Kern notwendig zu einer festen Masse zusammendrücken müßte. – Allerdings beträgt dieser Druck nach Zöppritz drei Millionen Atmosphären, anders gesagt, fünfundvierzig Millionen Pfund auf einen Quadratzoll! – Aber wir wissen, daß Kohlensäure z. B. schon bei einer Temperatur von 35° durch keinen Druck mehr flüssig gemacht werden kann, und es ist anzunehmen, daß es für jeden Körper einen »kritischen Punkt« gibt, wo die die Moleküle auseinanderhaltende Wärme sich mächtiger erweist als jede mechanische sie zusammendrückende Kraft. So sehen wir auf der Sonne, trotz ihrer ungeheuren Anziehung, viele tausend Kilometer hohe Stoffmassen in gasigem Zustand verharren, ja aus dem Sonneninnern Wasserstoffsäulen in höchst verdünnter Gasform herausbrechen.

Seitdem Männer, wie A. von Humboldt, Leopold von Buch, Elie de Beaumont u. a., wahrlich mit einigem Verstand und Sachkenntnis, in den verschiedensten Ländern der Welt – so Humboldt ein halbes Leben hindurch in Süd- und Nordamerika, in Europa und Sibirien – sich die Erdrinde ansahen, ist diese Erdrinde nicht anders geworden; seitdem hat die Wissenschaft keine neue Art von Vulkanen entdeckt, noch von nie dagewesenen Erdbeben; die Verbreitung der beiden Erscheinungen über die ganze Erde, die Zunahme der Wärme mit der Tiefe, das Vorkommen von heißen Quellen, alle diese bleibenden und unleugbaren Thatsachen sind klare Beweise für den von der ganzen Kosmogonie und Kosmologie angenommenen flüssigen oder gasförmigen Zustand des Erdinnern. – Und so nehmen heutzutage, gewissermaßen als Reaktion gegen die Leugner des heißen Erdinnern verschiedene Forscher, so A. Ritter, Zöppritz, Moldenhauer u. a., an, daß dieses Innere bei einer Hitze von 100 000°, nach andern sogar von 200 000°, nicht nur flüssig ist, sondern durchaus aus heißen Gasen besteht, die allerdings durch den Druck derart komprimiert werden, daß sie sehr schwer sind, und auf denen erst, in dieselben allmählich übergehend, die Schichten der heißflüssigen Lava ruhen, die ihrerseits von der erstarrten Erdrinde mit sehr wechselnder Dicke bedeckt sind.

Daß dieses Innere größtenteils aus Metallen besteht, unsre Erde also eine Metallkugel ist, geht aus der Thatsache hervor, daß die Gesteine, Felsen und Gebirgsarten, die die von uns bebaute und bewohnte Oberfläche und Erdrinde bilden, überwiegend aus dem Rost verschiedener Metalle, d. h. aus ihrer Verbindung mit Sauerstoff, bestehen; so das Kalkgebirge aus Calciumrost, so Granit und Quarze aus Siliciumoxid; so Lehm z. T. aus dem Aluminium, das wir ihm durch Elektrolyse wieder entziehen. Indessen sind auch Metalle menschliche Vorstellungen; wie sich diese, von uns Elemente genannten Stoffe bei einem Druck von drei Millionen Atmosphären und 100 000° Wärme, im Mittelpunkt der Erde ausnehmen, und ob sie nicht in uns gänzlich unbekannte Zustände der Dissociation geraten und nur noch als Urstoff existieren, ist eine wohl aufzuwerfende, aber zur Zeit nicht zu beantwortende Frage.

Wir sagten oben, daß es auch in der Wissenschaft Moden gibt. Man redet zwar viel von ihrer Vorurteilslosigkeit. Aber wie im großen Kreislauf der Gewässer die Wassertropfen, wie im Golfstrom die Meeresgewässer, und durch Monsune und Passatwinde die Luft in ewigem Kreisen begriffen ist, so auch im Geistigen. Die Erde in ihrem Umlauf um die Sonne ist ein Bild vom immer wiederkehrenden Umlauf der Meinungen und Ansichten der Menschen. Es wehen durch die Welt geistige Monsune und Passatwinde, über die der Mensch keine Macht ausübt, und diese sind es, die der jeweiligen Wissenschaft den Grundton angeben, nicht sie den Zeiten. Oder wie kommt es, da doch Philologen behaupten, das Studium der klassischen Schriftsteller und ihrer Philosophie sei die wahre Quelle edler Bildung und Idealität, daß dieses im Mittelalter so gründlich und fast einzig getriebene Studium jene Zeit vor dem finstersten Aberglauben und der rohesten Barbarei nicht zu schützen vermochte? Und warum erweist sich die moderne Wissenschaft, deren civilisierende Mission der moderne Fortschrittsapostel nicht genug rühmen kann, als völlig ohnmächtig gegenüber den Umstürzlern, die uns den baldigen Untergang in Blut und Trümmern der gesamten heutigen verrotteten Gesellschaft höhnisch verkündigen?

So weht heutzutage durch die Welt ein Wind der geistigen Ermüdung, der Ermattung und des Gehenlassens, der Kampfscheu, der Nivellierung aller Höhen, der Ausfüllung aller Tiefen und der Verwischung aller Unterschiede, weshalb wir, wie eine Erziehung und eine Politik, so auch eine Wissenschaft des Abwinkens und des Abschwächens, der mildernden Umstände haben. Einem immer nervenschwächeren Geschlecht ist vor allem das Wunder, dieses unberechenbare Hereingreifen eines allmächtigen Gottes, mit dem man jeden Augenblick zu rechnen hätte, in der Seele zuwider. Aber auch jede plötzliche Äußerung von Kräften, gegenüber denen es sich trotz aller Wissenschaft und alles Fortschritts gänzlich hilf- und ratlos fühlt, ist ihm unheimlich und antipathisch, und soll möglichst, auch in Vergangenheit und Zukunft, abgeschafft oder mit Hilfe von nichtskostenden »ungezählten Jahrtausenden« und wenn nötig »Jahrmillionen« wegerklärt werden. Denn das alles ist uns zu plastisch und zu drastisch, zu beengend; ist immer noch wie der Schatten des Riesen hinter dem Vorhang. »Nur keine einstige plötzliche Schöpfung!« ruft diese Wissenschaft aus, »noch scharf getrennte, auch plötzlich auftretende Arten! noch geologische Konvulsionen und Kataklysmen! noch Weltbrände oder neuerschaffene Sterne am Himmel! – sind nur veränderliche mit langen Perioden! – Weg vollends mit einer endlichen Weltkatastrophe und gar mit einem Weltgericht! – Das All ist ganz allmählich und sachte, friedlich und langsam und von selber entstanden! – Und auch die ungeheure, im Gedächtnis aller Völker mit ihren Schrecken und ihrer Vernichtung noch lebende Sint- oder Sündflut darf bloß noch ›eine Überschwemmung des Euphrats- und Tigrisgebiets gewesen sein, als deren Ursache man Erdbebenwogen und Cyklone, wie sie schon wiederholt im persischen Meerbusen vorkamen, ansehen müsse‹ (!) – hat wohl mehrere Dutzend Lehmhütten weggespült und viele hundert Palmbäume umgerissen!« Warum aber wissen denn alle Völker der Welt nur von einer Sintflut? – Die unschuldige, kleine, wässerige Urzelle, aus der unmerklich alles wurde, – das ist ein Bild, mit dem man sich befreunden kann! – Der starke Jehovah aber, der auf dem Fittich des Sturmes reitet und die Berge anrührt, daß sie vor seinem Blick rauchen und zerbersten und alles was lebt und die Fische im Meer erzittern bei seinem Erscheinen, welche ungemütlichen althebräischen Vorstellungen! – »Das Leben«, sagt der große Naturforscher und Botaniker Schleiden, »trat wohl zuerst als gleichmäßiges, schleimiges Klümpchen in die Erscheinung.« – Das ist liebliche, beruhigende Märe! – Und wie das All entstanden, wird es auch, aber erst in vielen, vielen Millionen Jahren gar sanft an Altersschwäche oder allmählicher Abkühlung einschlummern. Bange machen gilt nicht! ruft die heutige Wissenschaft aus.

Aber Gott sorgt dafür, daß dieser seiner Menschheit die Angst und das Bangen nicht vergeht; denn sie sind ihr gesund; sie verkäme sonst in Hochmut und Egoismus. Er sorgt väterlich dafür, daß bald ein Erdbeben ihre Paläste und festen Wälle wie Kartenhäuser umwirft, bald Cyklone ihre mit neuesten Sicherheits- und Rettungsapparaten versehenen Panzerschiffe an Felsen zerschellen oder daß Meteore und Wirbelstürme ihre Hauptstädte in Todesschrecken versetzen, damit diese Menschheit nicht auf ewig verderbe; denn die Seelen will er retten und koste es auch die Leiber.

Und wie der Wissenschaft, so geht es dem einzelnen, auch unbewußt. Es ist eine naive Täuschung zu glauben, der Mensch sehe sich zuerst objektiv und parteilos diese Welt an und baue dann darauf seinen Glauben, seine Weltanschauung auf. Der Glaube oder der Unglaube ist vor dem Wissen da. Daß Umstände, Erfahrungen, Beobachtungen, Schlüsse und Belehrungen ihn modifizieren können, sehen wir täglich; aber ob der Mensch die Welt in Moll oder in Dur sich setzt, ob er sie optimistisch oder pessimistisch, skeptisch oder gläubig, gottvoll oder gottlos, zweckmäßig oder zwecklos auffaßt, das hängt nicht von der Welt ab, ist alles von Anfang an dagewesen und wird alles bis ans Ende sein. – Gott stellt uns seine Welt als Objekt zur Verfügung und überläßt es uns, unsern Glauben oder unsern Unglauben hineinzulegen; und der Mensch, der beharrlich sich dem göttlichen Licht verschließt, erblindet allmählich und unwiderruflich.

Wir wollen nun damit nicht sagen, daß ein Ehrenmann und ein Christ nicht auch an ein kaltes oder nur mäßig warmes oder auch an gar kein Erdinneres glauben darf. – Aber Thatsache und interessant ist es, wie so manchem, und wie wir vermuten aus tieferen und ihm vielleicht unbewußten Gründen, die Vorstellung von einem Centralfeuer unsympathisch ist. – Daß die Erde, die so friedlich heiter im Sonnenschein grünt und glitzert, in Wahrheit ein ungeheurer dreitausend Stunden tiefer, glühender, aufgeregter, tobender Feuerabgrund ist, unbegreiflich heißer als alle unsre Feuer und doch in Bande ewiger Finsternis geschlagen, erinnert sie peinlich an mittelalterliche Vorstellungen der Hölle. Gibt es doch jetzt noch ernste Männer, welche glauben, daß Gott in diesem heißen, finsteren, dumpfgrollenden Herzen der Terra die Geister des Zorns und des Grimms verschlossen hat; welche dieses in finsterer Glut kochende Erdinnere, diesen Feuerocean von vielen tausend Millionen Kubikkilometer Inhalt, gegen den ganz Deutschland oder Frankreich sich wie winzige Papierstreifen ausnehmen, für die »untersten Örter der Erde«, für den Scheol und Hades halten und welche glauben, daß tiefer noch, wo die unerträgliche Hitze zur seelenversengenden Glut und äußersten Finsternis wird, die Gehenna erglüht, in deren Flammen und Qual die Engel, die ihre Behausung verlassen haben, und die verdammten Seelen des Gerichts warten, welche, wenn die Erdrinde zerbricht und weltverzehrende Lavaströme sich ergießen, und »das Meer und die Hölle ihre Toten hergeben«, zu Millionen in Flammen heraufsteigen werden, um »das Urteil zu hören, das durch die Ewigkeiten widerhallt!«

Da ist es freilich gemütlicher, sich da drunten nur große Massen von abgekühltem Trachyt- und Basaltgestein zu denken.

Auch wir kehren nach außen die erstarrte Rinde unsres Ichs, durch allerlei Erlittenes und Erlebtes gestaltet, geronnen und gerunzelt, die nur selten ein Schauer, ein Erdbeben durchzittert, durch welche selten nur etwas Lava nach außen durchbricht. Im Herzen unnahbar und unsichtbar, andern und hienieden auch uns unbekannt, sind die Kräfte, die es verhindern, daß die tötende Kälte des Weltraums uns allmählich zur Eiskugel gestalte. Wem nicht aus dem Innersten Lebenswärme quillt, wer im Herzen schon erkaltet, nur noch vermöge des äußeren Lichts und der von außen fallenden Wärme auf der Oberfläche ein andre täuschendes Leben führt, ist wie ein schon erstarrter Weltkörper dem Untergang geweiht. Auch bei ihm werden bald der geistige Luftkreis und das allbelebende Wasser, das Element alles Werdens und Wachsens, in die Risse hineinsickern, dort absorbiert werden, und dann treibt er dahin, eine tote Schlacke, zwecklos, tot, durch die Ewigkeiten hindurch, in der ewigen Finsternis.

Doch kehren wir zur Erdoberfläche zurück.

*

Groß und stark sind immer noch die Pulsschläge dieser inneren Lebenskraft, wenn auch nicht mit denjenigen eines noch jungen, aufbrausenden Weltkörpers zu vergleichen. »Erdbeben und vulkanische Ausbrüche,« sagt A. v. Humboldt, »sind eine Reaktion des flüssigen Erdinnern gegen die äußere (sich immer mehr zusammenziehende) Erdrinde.« Er dürfte recht haben und behalten, wenn auch manche sogen. tectonische (von tecton, Dach) Erdbeben wohl unmittelbar durch das Zusammenstürzen von unterirdischen Höhlen erzeugt werden. Zu solchen gehören die senkrechten, deren eines in Chile am 7. November 1837 einen dreißig Fuß tief im Erdboden steckenden, mit eisernen Klammern befestigten Mastbaum so herauswarf, daß er nur noch ein rundes Loch im Boden hinterließ. Bei der andern Art, den undulatorischen oder wellenförmig sich fortpflanzenden hat man mehrmals, so in Kalabrien, den Boden und selbst die Gipfel der Hügel und Berge sich abwechselnd heben und senken sehen. Die gefährlichsten aber sind die wirbelförmigen, wobei auch elektrische Ströme ins Spiel kommen und allerlei sonderbare Erscheinungen verursachen. So wurden von einem solchen in Italien die drei Stämme einer Palme wie ineinander geflochten, und die aufeinander stehenden Quader eines Pfeilers je um ein Achtel verdreht. Oft sehr groß ist die Fläche, über die ein solches Erdbeben sich erstreckt, so das von Lissabon über siebenhunderttausend Quadratmeilen, über Nordafrika, die Antillen, die Küste von Nordamerika und ganz Europa, wobei der Murtensee in der Schweiz um sechs Fuß sank. So hat nach Lyell (Band I, Seite 72) ein einziges Erdbeben die Küste von Chile auf fast hundert Meilen Länge um fünf Fuß gehoben! So wurde am 16. November 1827 dasselbe Erdbeben in Columbien und gleichzeitig eintausendneunhundert Meilen weit in Sibirien gespürt. Die unterirdischen Detonationen des jungen, nur fünfhundert Fuß hohen Coseguina in Centralamerika wurden bei dem furchtbaren Ausbruch 1834, zweihundertdreißig Meilen weit in Santa Fe, wie unmittelbar unter dem Boden gehört. Solche Thatsachen zeigen, wie tief der Sitz der Erschütterung liegt.

Der Zusammenhang der Erdbeben mit den vulkanischen Ausbrüchen ist erwiesen. So wurde beim Erdbeben von Lissabon der Vesuv plötzlich ruhig und seine Rauchsäule schlug in den Krater zurück, während in Südamerika in demselben Augenblick ein Vulkan eine gewaltige schwarze Rauchsäule ausstieß. Die Volksstämme Südamerikas fürchten keine starken Erdbeben bei regelmäßiger Thätigkeit der Anden-Vulkane, dieser Sicherheitsventile. Auch lösen sich manche Vulkane gegenseitig ab; schweigt der eine, so fängt der andre an zu brüllen und zu speien. So sollen die isländischen Vulkane und der Vesuv schon auffallende Entsprechung gezeigt haben.

Großartig sind auch die Leistungen dieser feuerspeienden Berge. So die Bildung des sechzehnhundert Fuß hohen Jorullo in Mexiko an einem Tag im Jahr 1759; die Eruption des Hekla in Island 1783, der in wenigen Stunden fünfzig englische Meilen breite Lavaströme ausgoß, genug um den höchsten Berg der Erde zu bilden. Der Gunung-Temboro auf Sumbawa schleuderte im April 1815 nach Junghuns Schätzung mindestens neun Billionen Kubikfuß Asche heraus, also genug um acht bis neun viertausendachthundert Fuß hohe Vesuvberge zu bilden. Endlich haben isländische Vulkane im Jahre 1763 so viel Lava ausgeworfen, daß siebenhundert Berge wie obiger Vulkan Gunung sich daraus bilden ließen (nach O. Peschel, Physische Erdkunde, Bd. I, S. 259).

Ungeheuer heiß ist dieses Herzblut unsres Erdkörpers! Noch nach sechsstündigem Laufe vermochte 1794 die Lava des Vesuvs in Torre del Greco die von ihr eingeschlossenen, aber nicht berührten Messinggegenstände zu verflüchtigen, in Zink und Kupfer zu scheiden und letzteres in schöne Krystalle zu verwandeln. (Roßmäßler, Geschichte der Erde, S. 164). Zehn Jahre brauchte die 1614 aus dem Ätna geflossene zur Abkühlung; ja Berghaus berichtet, daß die einhundertsechzig Meter dicke Lavaschichte des Jorullo nach achtundsechszig Jahren noch geraucht habe!

Klassisch großartig war der Ausbruch des Kraka-tau im Jahr 1883. Schon am 20. Mai brach mit einem dreihundertfünfzig Kilometer weit hörbaren Donner eine elftausend Meter hohe Dampfsäule hervor und ein Hagel von Bimssteinen bedeckte weithin das Meer und hemmte die Schiffahrt. Aber am 26. August, nach langem unterirdischen Donner, geschah eine Detonation, die sämtliche Sundainseln, die großen Länder Sumatra und Borneo erschreckte und im Umkreis von dreitausend Kilometer vernommen wurde. Selbst in Batavia wurde es völlig Nacht. Viele Quadratkilometer Land waren samt einem tausend Fuß hohen Berge plötzlich über fünfhundert Fuß tief ins Meer versunken; die Karte der Inseln ringsum gänzlich verändert. Eine zum Teil hundert Fuß hohe Welle spülte Tausende von Menschen hinweg und erschrockene Schiffskapitäne segelten lange durch Leichen hindurch und fanden die gewohnten Inseln nicht mehr. Jene Welle kreiste in wenigen Stunden um die ganze Erde herum, und mehrere Monate lang war die Atmosphäre unsrer Erde mit feinem, vulkanischem Staub erfüllt, der dem Himmel eine auffallend rötliche Färbung verlieh.

Wie gewaltig dieser Erdenzorn! Wie nichtssagend dagegen unsre Feuerwerke, Pulver- und Dynamitexplosionen! – Und doch wie klein mögen noch diese erschreckenden Äußerungen der inneren Kraft sein gegenüber den früheren; denn auch die Erde gehorcht, wie alles Organische, dem Gesetz des Alterns. Wie mußten einst, als sie in feuriger Jugend noch innerlich brannte, die eingeschlossenen Kräfte noch ganz anders toben, und oft mit weit im Weltraum hörbarem Gebrüll, mit vom Mond, Mars und Venus aus vielleicht sichtbaren Flammenausbrüchen die noch dünnere Erdrinde zersprengen und den Planeten in hundertjährige, von Blitz und Flammen durchwogte Nacht einhüllen. Es waren die Geburtswehen des Wohnsitzes der Menschen. – Als auf Gottes Befehl am großen dritten Tage das Trockene sich aus der Tiefe erhob, wie »zerschmolzen da die Berge wie Wachs vor dem Herrn!« Wie »hoben sich die Berge hoch hervor, und die Meere setzten sich herunter zu dem ihnen gesetzten Ort«. Was mag das für ein unbeschreiblich großartiges Schauspiel gewesen sein, als ganze Kontinente mit Tausenden von Vulkanen sich langsam aus der Tiefe erhoben und ganze Bergketten sich mitten im tobenden Kampfe von Feuer und Wasser immer höher gestalteten! – Man sieht es ja der Kette der Anden an, wie sie aus einem großen, von Norden nach Süden sich erstreckenden Riß der Erdrinde hervorquoll, und ihre Vulkane sind die noch blutenden, noch nicht vernarbten Erdwunden. – Diese Umwälzungen und Revolutionen, die sich nach Naturgesetz und Gottes Beschluß in bestimmten Zeitabständen wiederholen mußten, erzeugten die Schöpfungsnächte, wie Gott sie Mose, wohl in den vierzig Tagen, die er zweimal auf dem Sinai, ohne zu essen noch zu trinken, im Anschauen der Gottheit versunken, zubrachte, in Gesichtern der Ewigkeit zeigte, damit er uns davon Kunde brächte.

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So entstiegen einst, wenn auch nicht auf einmal, der die frühere Erde bedeckenden Tiefe Kontinente mit einer Gesamtfläche von hundertfünfundvierzig Millionen Quadratkilometer, wobei die die Meere überragende Masse auf rund hundert Millionen Kubikkilometer mit unermeßlichem Gewicht sich schätzen läßt. Welche Arbeit! – Wären nur diese unterirdischen Kräfte vorhanden, so gliche die Oberfläche der Erde der des Mondes. Zerklüftetes, kühn zerrissenes, zehntausend Fuß hoch zackig emporragendes Gebirge! Unzugänglich, unübersteigbar, allen Verkehr äußerst erschwerend, oft unmöglich machend! Welche sonderbare Menschheit hätte, wenn überhaupt, sich da entwickelt! Viele Tausende von Ameisenhaufen, die nichts voneinander wüßten! – Aber selbst ein solches Leben wäre kaum möglich; denn die Erde böte keine bebaubaren Flächen dar. Wo wären die Ebenen, die Äcker, die Felder und Wiesen? Wo der lockere Boden, die eigentliche Erde, der Humus? – Dafür hat Gott durch den der gewaltigen Thätigkeit des inneren Feuers entgegenarbeitenden, ebenso bedeutenden Kreislauf der Gewässer gesorgt, dem Gesetz der Cirkulation bei allen Organismen entsprechend. – In den langgezogenen Gefäßen der Pflanze steigt der schon von der Wurzel abgesonderte Saft empor, kreist in allen Teilen und wird zu allerlei Gebilden, Blättern, Blumen und Früchten, und der Überschuß des lebenden Stroms fließt zwischen Rinde und Stamm wieder herunter. Wie im Menschen aus dem See des Herzens, wie Dante ihn nennt, Blutflüsse sich im ganzen Leibe ergießen, um unaufhörlich zum Herzen zurückzukehren, ein stetes Wachsen und Ernähren aller Teile ermöglichend, so kreisen und fließen unaufhörlich die Wasser der Erde und bekämpfen das Feuer, das zornig treibt und erhebt und hinausstößt, mit weichem ebnendem Thun. Von allen Meeren und Seen und Teichen und Tümpeln steigen sie unaufhörlich, unsichtbar empor, die Amazonen- und Mississippi- und Rheinströme, die Flüßlein und Bächlein hoch in die Wolken, vom Bodensee allein über eine Million Tonnen Wasser täglich! Stünden aneinandergereiht, mit Kübeln bewaffnet, längs der Meeresküsten alle tausendfünfhundert Millionen Menschen der Welt und schöpften unermüdet, so müßten sie siebzigtausend Jahre lang arbeiten, bis sie aus dem Ocean soviel Wasser schöpften, als die Sonne mühelos durch ihre Strahlen alljährlich viele tausend Meter hoch pumpt; denn in ihr sind Kräfte der Gottheit. – Und die auch von der Sonne geschaffenen Winde verteilen das meist unsichtbare Wasser auch als Dünste, Nebel, Wolken und treiben sie sanft und schnell mit Engelsmacht dahin, wo Gott über die dürren Länder Früh- und Spätregen senden will. Dann tröpfeln, regnen, stürzen herab Millionen von Eimern Wasser in einer Nacht, in ein paar Stunden und begießen die Erde, daß sie sich in grünes lebendiges Kleid hüllt. Von diesem Wasser saugen die Pflanzen die Hälfte an und die andre rieselt als Bächlein, fließt als Strom wieder ihren endlosen Lauf, wäscht den Staub der Luft herab, von den Felsen das Verwitterte und Bröckelnde, zerreibt es zu feinem Schlamm und lagert es in Millionen von Wagenlasten in die Ebene, damit der Mensch das weiche Erdreich pflügen und säen und ernten könne.

Und weil Gott ein Gott der Schönheit ist, hat er aus diesem unentbehrlichen Kreislauf der Wasser unendliche Schönheit geschaffen. Wie schön die Wolken; die massive, monumental sich auftürmende, Gewitter anzeigende Haufenwolke, die langgestreckte, Wetterwechsel und Wind bringende Schichtenwolke; die wie zerzupfte Wolle am höchsten schwebende Federwolke, und selbst die nieder über die Erde fegenden, Berg und Schlucht in fantastisches Gewand kleidenden Regenwolken! – Doch um diese Welt zu kennen und zu bewundern, muß man zu ihr hinaufsteigen. Luftfahrer erzählen davon, wie in den oberen Luftreichen, ihrer Heimat, diese prächtigen Gebilde bald unter ihnen, wie ein Meer von Schneewellen sich ausbreiteten, bald wie ganze Gebirgsketten magisch beleuchtet, sich hoch in den tiefblauen Himmel erhoben, stets ihre Formen wechselnd, gleich Palästen und Tempeln einer oberen Welt über dem Staub, dem Schmutz und dem Lärm der unteren schwebend, in so feierlicher, absoluter Stille, wie die Erdoberfläche sie nicht kennt. Von der Schönheit dieser Wolkenwelt ergriffen, brach einst eine mitfahrende Dame in Thränen aus und rief: »Verzeih mir, o Gott, daß ich es gewagt habe, schon vor dem Tode diese deine heiligen Hallen zu betreten!«

Wie schmückt dieser Kreislauf des Wassers die Oberfläche der Erde und bereichert unser Geistesleben! – Dabei arbeiten unermüdlich diese Gewässer an der Ebnung der ganzen Erde, spülen Berge und Kontinente in die Tiefe, erhöhen damit den dunkeln, unbekannten Meeresgrund, als wollten diese Meere die stolzen Höhen, die einst aus ihnen sich emporhoben, wieder verschlingen. So hat der gelbe Fluß Chinas in historischen Zeiten ein Delta von wenigstens zweihundertfünfzigtausend Quadratkilometer gebildet; eine der wichtigsten und fruchtbarsten Provinzen Chinas. Der Nil hat, sagten schon die Alten, Ägypten geschaffen. Der Po füllt alljährlich mit zweiundvierzig Millionen Kubikmeter Schlamm das Adriatische Meer aus, hat die fette lombardische Ebene den Alpen entrissen, wie der Rhein Holland aus deutschem Boden gebildet, – ein historisches Unrecht –; soll bei höchstem Stand und trübem Wasser in vierundzwanzig Stunden an Basel fünfhunderttausend Kubikfuß Erde, also die Last von fünfundzwanzigtausend zweipferdigen Wagen vorbeiführen. Aus den Trümmern und Abfällen der Kordilleren hat der ungeheure Amazonenstrom mit dem Madeira, Tocantin und dem Orinocco, Flüsse, gegen die der Rhein nur ein Bächlein ist, die noch oft überschwemmten Ebenen Südamerikas gebildet. Wenn die Arbeit aller Ströme, wie berechnet, jährlich annähernd dreiundzwanzig Milliarden Kubikmeter Erde ins Meer schwemmt, würde sie in etwa vier Millionen Jahren obige circa hundert Millionen Kubikkilometer betragende Masse der Kontinente abwaschen und die Oberfläche der Erde in einen großen Sumpf verwandeln.

Merkwürdig stimmen mit diesen Thatsachen die Beobachtungen über die Oberfläche des Mars überein. Nicht nur bietet dieser Planet, der theoretisch wegen seiner geringeren Größe und älteren Entstehung stärker erkaltet sein muß als die Erde, auch eine verhältnismäßig weit geringere Meeresfläche dar, sondern es scheint immer mehr, daß diese Meere durchschnittlich sehr seicht sind und nur zur Zeit des Schneeschmelzens größere Länderstrecken überströmen. Dort finge also der Kreislauf der Gewässer an über die inneren Kräfte den Sieg davonzutragen, und hätte schon mit dem abgewaschenen Gebirge die Meere zum Teil ausgefüllt.

So arbeiten und ändern Feuer und Wasser unaufhörlich an der Figur der Erde.

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Es ist ein Gesetz der Schöpfung, daß alles und jedes eine Form, einen Umriß, ein Gesicht, ein Profil hat. Eine Form, ein Gesicht hat jedes Baumblatt, ist nicht wie das andre; jedes Korallentier und auch der Kommabacillus hat sein Gesicht, daran man ihn unter vielen andern Arten erkennt.

Zweitens ist es Gesetz, daß jedes Gesicht seine Geschichte und Biographie enthält und dem Kundigen berichtet, was es alles erlebt, durchgemacht, und durch welche Kräfte, Agentien, Gegensätze und Kämpfe es das geworden sei, was es ist. Jeder Kieselstein erzählt uns durch seine Abrundung oder eckige Gestalt und die ihn durchziehenden Kalkspatzüge seine Lebensgeschichte von der Zeit an, wo er noch Meeresschlamm war.

Ein drittes Gesetz ist, daß dieses Gesicht sich unaufhörlich, wenn auch langsam und allmählich verändert, um stets der adäquate und völlige Ausdruck des Jetzigen und Gegenwärtigen, des Wachsens und Abnehmens zu sein.

So auch die Erde! – Der Fels, der Berg, die Insel haben ein Gesicht, ein Profil; so der Tafelberg und die Küste Spitzbergens, die Insel Capri und Teneriffa, daran der Seemann nach viel hundert Meilen Fahrt sie sofort erkennt und weiß, wo er ist; ein Berg ist nicht wie der andre; der Vesuv nicht wie der Ätna, die Jungfrau nicht wie der Mönch, und nur wer dieses Profil, dieses Gesicht sieht und versteht und trifft, ist ein Landschaftsmaler.

Auch das Gesicht der Erde erzählt ihre Geschichte, und wie Insel und Berg entstanden, von unten gehoben, vom Wasser abgewaschen, vom Alter zerklüftet und zernagt, unter langsam angesammelten Humusschichten verdeckt, von mächtigen Flüssen hingeschwemmt, von Wellen abgespült, unter Sand begraben. Jede Runzel, jede Falte, jeder Riß und jede Kurve, Einbuchtung oder vorgestreckte Landzunge und Küstenlinie ist eine bedeutungsvolle Rune, hat ihre Ursachen, ihre Vergangenheit. Und eine greift in die andre ein. Wäre der mächtige Bergstock nicht da mit seinen großen Magazinen von Eis und Schnee, so könnte nicht der große Fluß herabfließen, und flösse dieser nur langsam und gleichmäßig über Granit und Basalt, so bliebe sein Wasser rein und er hätte nicht eine gutbebaute, von ehrlichen, fleißigen und braven Bürgern bewohnte Ebene hingeflößt.

So ist eine geographische Karte ein anziehendes und interessantes Bild; erzählt von Ursachen und Wechselwirkung, von herrschenden Winden und von der Regenmenge, von mildem und strengem Klima, von der Tiefe der Meere und vom geologischen und mineralogischen Bestande. Ihre Gebirgszüge und Flüsse und Küstenlinien und Länderumrisse gehören zusammen und entsprechen einander; wäre das eine nicht, so könnte das andre nicht sein. Nichts ist hier zufällig. Das wird einem sofort klar, wenn man die Phantasiekarten der Alten, bis ins vorige Jahrhundert hinein, mit den prächtigen eines Kiepert, Andree, Stieler u. s. w. vergleicht; erstere ähneln den Gesichtern, die Kinder an die Mauer ankreiden, und diese Ähnlichkeit beruht auf demselben Grund, nämlich dem Mangel an Zusammenhang, an relativer Stellung und Größe von Auge und Ohr und Nase und Kinn, wie auch regelmäßig der Hinterschädel, die mehr verborgene Ursache des Gesichts dabei nicht zu seinem Recht kommt. Auch so mit den alten Karten! Die gewaltigen Hochebenen und Hinterländer, ohne die es keine Konfiguration gäbe, fallen, weil ziemlich unbekannt, weg; die mehr ins Auge fallenden Gesichtszüge, die bekannteren Küsten, das eigne Land und seine Kolonien werden ungebührlich vergrößert. Dazwischen fließen da und dort Flüsse, wo es eben geht, und einige zufällige, schnurgerade Gebirgszüge krabbeln ohne Grund noch sichtbaren Zusammenhang quer durch Halbinseln und Kontinente durch; eine wahre Karrikatur des Porträts der guten alten Terra!

Aber welchen gewaltigen Kräften verdanken die Kontinente der Erde ihre eigentümlichen Formen?

Daß ihr Schalten kein zufälliges war, zeigt ein Blick auf die Erdkarte. Nach dem Südpol hin spitzt sich alles zu hohen Vorgebirgen oder Halbinseln zu, so Amerika, Afrika, Indien und auch die kleineren, Grönland, Schweden, Spanien, Italien, Griechenland, Arabien, Indien, Hinterindien, Korea, Kamtschatka, Kalifornien und Florida; eine merkwürdige Erscheinung; nur Dänemark macht eine Ausnahme. Die obere flachere Hälfte, wie Rußland, Sibirien, Nordamerika, von vielen großen Seen unterbrochen, macht den Eindruck eines einst überschwemmten, nun halb trocken gelegten Landes. Diese Gestaltung muß die Folge von noch unerkannten Faktoren in der Bildung der Erdoberfläche sein. – Wie schon an der Ähnlichkeit der Gestalt Afrikas mit der umgekehrten Südamerikas zu sehen, bildet die kleinere und formenärmere neue Welt einen Gegensatz zur größeren und gegliederteren alten Welt; ein Gegensatz, der sich merkwürdigerweise auch in Tier- und Pflanzenreich ausspricht. Wie der Bison dem Auerochs, der Grizzlybär dem braunen, Puma und Jaguar dem Löwen und Tiger, der Alligator dem Krokodil, Vigunia und Lama dem Schaf und Kamel und der Kondor dem Lämmergeier, so entspricht Mais dem Korn, Kakao dem Kaffee, die Kartoffel unsern Knollengewächsen, Tabak dem Haschisch u. s. w., und es ist, als ob auf dieser neuen Welt ein Wiederhall der göttlichen Schöpfungsworte stattgefunden hätte. – Wie Südamerika und Afrika sich in der Figur entsprechen, so auch Amazonenstrom und Niger, Magdalenenfluß und Nil, Panama- und Suezlandenge. Vergleichen wir Europa und Asien, so haben wir bei beiden im Süden je drei Halbinseln; zuerst Spanien und Arabien, beide ziemlich viereckig, felsig und dürr, dann Italien und Indien, beide im Norden vom mächtigsten Gebirgszug des Kontinents, von den Alpen und dem Himalaya begrenzt, von denen je der Po und der Ganges herabfließen. In auffallender Entsprechung sind beide Halbinseln von einer Bergkette, den Ghats und den Apenninen der Länge nach durchzogen, beide an der Südspitze mit einer Insel, Sizilien und Ceylon versehen, wobei Adams Pik dem Ätna entspricht. Dann kommt bei beiden Kontinenten eine zerklüftete, von vielen Inseln begleitete Halbinsel, Griechenland und Hinterindien, und ebenso, höher hinauf, dieselbe Einbuchtung, die Meerbusen Biscaya und Tongking; dann die Inseln England und Japan, die Halbinseln Dänemark und Korea, Schweden und Kamtschatka. Yantse-Kiang, Hoango und Amur entsprechen der Loire, Seine und Rhein. – Warum und woher dieser klare Parallelismus und diese Wiederholung desselben Gedankens? Wir wissen es nicht. – Wohl aber lassen sich die geistigen Früchte desselben in der Weltgeschichte verfolgen. Stolz, unabhängig, genügsam, kriegerisch, gegen andre Völker abgeschlossen, haben sich die Spanier und Araber auf ihrem granitenen und quarzsandigen Boden entwickelt, und die Guerillakriege der Spanier erinnern lebhaft an arabische Zustände. Die Hauptrolle dagegen übernahmen gleichmäßig in Europa und Asien die Bewohner Italiens und Indiens, die Römer und Hindu; wie auch in der Geschichte beider Völker Invasionen von Norden her, sei es über die Alpen oder den Hindukusch, eine große Rolle spielen. Entsprechen auch die Griechen in mancher Beziehung weniger den Bewohnern von Hinterindien, so zeugen doch die kolossalen Tempelruinen im Königreich Siam von entwickeltem Kunstsinn, und wie die Griechen bis auf den heutigen Tag, sind auch die Malayen kühne Seeleute. Endlich hat man schon öfters die Japanesen die Engländer Asiens genannt, wie sie auch jetzt sich zur Hauptseemacht Asiens entwickeln. So erzeugt die Wüste wie das Meer Räubervölker; so entstehen große Reiche am Meer oder an großen Flüssen; denn ohne Wasser keine Civilisation! Wie Griechenland viel von seiner geistigen Macht und Gewandtheit der herrlichen Gliederung des Landes und der prächtigen Entsprechung von Meer und Land verdankt, gegenüber des zu massiven Spaniens, so ist es nicht Zufall, daß das so zerklüftete Europa immer mehr die Führerrolle in der Weltgeschichte übernimmt.

Nie entstand ein mächtiges Volk, noch ein dauerhaftes Reich, das nicht auf eine geographische Einheit gegründet, und wie eine Windsbraut auf dürrer Ebene verging auch die vernichtende Macht der Könige der Steppen, Attila, Tschingiskhan und Tamerlan.

So hängt mit der geographischen Konfiguration der Kontinente die Geschichte und die Entwicklung der Völker zusammen und diese Geschicke und somit auch die des einzelnen stehen im Zusammenhang mit geologischen Umwälzungen, die längst vor Erschaffung des Menschen stattgefunden haben.

So glauben Völker in eigner Macht und nach eignem Willen dahin und dorthin zu ziehen, durch eignen Mut, Thatkraft und Weisheit groß, reich und klug zu werden; und ihre Existenz, ihr Thun und ihre Wohlfahrt, ihr Beruf und ihr Charakter hängen von Gedanken Gottes ab, die er in seine Natur legte, lange ehe es Deutsche, Engländer, Norweger und Franzosen gab; ja, ehe er Adam schuf!

Wie groß und schön, wenn man bedenkt, daß, als Gott den Meeren befahl sich zu setzen an ihren Ort und sein Finger die Küsten zeichnete, seine Hand Inseln wie Sand ausstreute und den Meeresströmen befahl dahin und dorthin zu fließen, er schon an die Völker dachte, die er dorthin und dahin säen wollte, daß die einen auf granitenem Boden hart und trotzig und fest, die andern in weicher Ebene behaglich und mild, andre noch im Gebirg kühn und mutig, oder am Meeresstrand handelsgierig und reich würden. – Wie schon jetzt Jerusalem den Mittelpunkt der alten Welt und der Welt überhaupt bildet, so in Wahrheit einst auf der neuen Erde. »Von Zion wird ausgehen das Gesetz und des Herrn Wort von Jerusalem,« spricht der Prophet. Dann werden zwölf Könige und siebzig Fürsten ausgehen von dort in alle Welt, aber nicht mehr ohne Stab noch Beutel, sondern in Macht und Herrlichkeit und die Nationen richten nach dem Gesetz Jehovahs!

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Nach obigem Gesetz ändert sich beständig dieses Gesicht der Erde. – Einst war es weich und rund wie das eines kleinen Kindes, als aus dem zum wenigsten noch lauen, die Erde bedeckenden Ocean sanft und niedrig die ersten Hügel sich hoben. Wellenförmig, kuppelartig, mild abfallend; Gebirge gab's noch nicht; doch mit dem Jünglings- und Mannesalter wurden die Gesichtszüge ausgeprägter, bekamen mehr Kraft und Energie; nach den sanften Vogesen kamen die starren Pyrenäen und das Juragebirge, dann die kühnen Alpen und die noch rauchenden und lavablutenden Anden. Immer noch wird dieses Erdengesicht auch durch unmerklich fortschreitende Wirkungen verändert. Auch die zu Kriegszwecken entworfenen typographischen Karten, und die für Eisenbahn- und Kanalbauten erforderlichen Messungen belehren uns immer mehr, daß es keinen Punkt des Festlandes gibt, der nicht in aufwärts- oder abwärts gehender Bewegung begriffen sei, keine Küste, die sich nicht langsam hebe oder senke.

So hebt sich die skandinavische Halbinsel langsam um circa sechs Fuß in hundert Jahren, eine unbegreiflich kolossale Überwindung der Schwerkraft. Italien scheint sich teilweise um die Apenninen so zu drehen, daß die westliche Küste, so bei Pisa, sich langsam hebt, die östliche, so bei Ancona, sich senkt. Bei Pozzuoli dagegen zeigt der bekannte Serapistempel unzweideutig durch seine von Pholaden durchbohrten, jetzt wieder aus dem Wasser stehenden Säulen ein abwechselndes Sinken und Heben der dortigen Küste an. Noch stärker hebt sich die westliche Küste Südamerikas, so bei Penco seit hundertfünfundsiebzig Jahren um vierundzwanzig Fuß. Die Westküste Nordamerikas hebt sich; die östliche versinkt; so soll die Delaware Bay jährlich sechs Fuß Uferrand verlieren. Ebenso in Grönland; noch mehr in der Südsee.

Ehe der Po mit seinen gewaltigen Ablagerungen die lombardische Ebene ausfüllte, waren die Seen Oberitaliens prächtige Fjorde des Adriatischen Meeres, so der noch bis zu tausendeinhundertundneunzig Fuß und tausendsiebenhundert Fuß tief unter den Spiegel der Adria hinabreichende Comer- und Maggioresee; und selbst im Gardasee wohnen jetzt noch zwei Meerfische ( Blennius und Gobius) samt einer Art Garnele (O. Peschel).

Noch merkwürdiger ist es, daß wie aus seiner Tiefe (Senkung unter dem Eismeer zweitausendfünfhundert Fuß) und aus den ihn noch bewohnenden nunmehr an Süßwasser gewohnten Seehunden zu erkennen, der Baikalsee auch als übriggebliebenes Ende eines langen Sibirischen Fjords betrachtet werden muß; die mächtigen Flüsse Jenitschei und Lena haben ihn mit ihren Alluvionen vom Meere abgeschnitten. Daß früher die Gibraltarstraße nicht bestand, das Mittelmeer dagegen sich weit in die Sahara bei den Syrten erstreckte und mit dem Roten Meere zusammenhing, ist ziemlich sicher. »Durch den Durchbruch des Schwarzen Meeres,« sagt ein alter von Strabo angeführter Geschichtsschreiber (Strabo I, I c. 3), »schwoll das Mittelmeer so an, daß es die Niederungen von Nordafrika bis an den Tempel des Jupiter Ammon hinein und Ägypten bis Pelusium überflutete.«

Unaufhörlich ändert sich die Oberfläche und die Gestalt der Erde.

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Zwei große Einheiten bilden die Oberfläche unsres Planeten, das Land und das Meer; auf dem ersten der Berg und die Höhe, im zweiten die Fläche und die Tiefe. – Zum Großartigsten, was die Erde bietet, gehört das Meer. Zuerst erzeugt es im Menschen durch die Unermeßlichkeit und Einförmigkeit seiner Fläche und die so absolut einfache Horizontlinie ein Gefühl der Leere und der Enttäuschung, als ob es ihm zu wenig zu denken gäbe; bei eingehender Bekanntschaft macht es dann immer mehr den Eindruck des Großen, des die Seele Ausruhenden, des Einfachen und Mächtigen, mit einer ernsten Traurigkeit gepaart; denn das Meer ist eine stete, gesunde, bittere Vernichtung der kleinlichen Individualität, eine bald lachende, bald zornige, stets gänzliche Verneinung der Macht des Menschen. Berge, die ihm im Wege stehen, durchbohrt er, noch so tiefe Abgründe überbrückt er; im tiefsten Sumpf kann er Pfähle einschlagen und darauf bauen; durch Saharasand den Suezkanal graben; aber der Ocean lacht seiner Macht; auf dieser weiten, doch so weichen, scheinbar milden und gefügigen Fläche vermag er mit all seiner Macht und seinem Wissen nicht seine Spur, seinen Namen einzugraben.

Auch durch ewige Jugend ist das Meer groß; die Erde zeigt so viele Spuren des Alters und der Verwitterung; der verwitterte Fels, Sand und Gerölle aus zertrümmertem Gestein, so manche Ruine, so mancher verdorrte Ast erinnert an Kampf, Tod und Vergänglichkeit; das Meer aber ist heute noch so frisch, so blau, so klar, so jung wie am ersten Tage der Schöpfung; die kleinen Wellen zeigen keine Spur von Ermüdung, tanzen immer gleich munter ihren ewigen Reigen! Auch die Grenzenlosigkeit des Meeres ist wohlthuend. Auf Erden immer Mauern, Klüfte, Zäune, Hindernisse; auf der weiten Meeresfläche nichts als Sonnenschein und Lebenslust; keine bleibenden Runzeln, noch Furchen, noch Narben von alten Wunden. Ewig jung, ewig frei ist der Ocean, wurde nicht, wie einst der Acker verflucht.

Aber das Meer ist nicht eine große, gleichartige Wassermasse, sondern auch hier ist mannigfaltige Bewegung und Gliederung. Auch es gehorcht Gesetzen des Lebens.

Fürs erste folgen willig die Gewässer der Anziehung von Sonne und Mond, und bilden eine hohe Flutwelle, die in vierundzwanzig Stunden die Erde umkreist; zweimal des Tages hebt und senkt sich wie mit einem großen Atmen der Busen der Tiefe; eine mächtige Lebensäußerung, die nur der einigermaßen würdigen kann, der sie erstaunend gesehen hat.

Aber viel mächtiger noch ist durch alle Oceane hindurch der Kreislauf ihrer Gewässer. Auch hier zeigt sich das große, das allbeherrschende Gesetz, die Rückkehr zum Ursprung.

Weil am Äquator weit mehr Wasser verdampft als an den Polen, strömen die Süd- und Nordmeere stets dem Erdgürtel zu. Diese großen Strömungen werden sowohl von den Winden, als von der Gestalt der Kontinente und des Meeresbodens vielfach gehemmt und abgelenkt, und so sind die Meere stets in sich zurückkehrende, oft rasch fließende, über alle Begriffe große Flüsse, deren Lauf der Seemann gut kennen muß, will er schnelle Fahrt machen. So fließt aus dem indischen Ocean gegen das Kap der guten Hoffnung ein breiter Strom warmen Wassers, biegt um die Südspitze von Afrika in den Atlantischen Ocean ein, nach Südamerika hinüber und in den Meerbusen von Mexiko hinein. In diesem Kessel werden die Gewässer so erhitzt, daß sie mit einer Geschwindigkeit von sechs Kilometer in der Stunde um die Südspitze von Florida herum, als gewaltiger Strom in den nördlichen Atlantischen Ocean sich ergießen. »Es gibt einen Fluß im Meere,« sagt der ausgezeichnete Kenner des Meeres, Lieutenant Maury, »so breit und tief und groß wie keiner auf Erden, der bei der strengsten Kälte nie zufriert, nie austritt, dessen Ufer und Boden Mauern von kaltem und schwererem Wasser sind, reißender als der Amazonenstrom, wilder als der Mississippi, und tausendmal wasserreicher als diese beiden größten Flüsse zusammen,« wie er sie auch an Länge seines Laufs vielmal übertrifft. Selbst in den sogenannten »Engen« besitzt dieser ungeheure Fluß immer noch vierzig Meilen Breite und tausendzweihundert Fuß Tiefe, ist also mehreren nebeneinander dahinfließenden Bodenseen zu vergleichen und ergießt durchschnittlich per Sekunde achtzehn Millionen Kubikmeter Wasser von 21° C. Wärme in den kalten Ocean.

Großartig ist für den Seemann längs der Ostküste von Nordamerika der jähe Wechsel zwischen dem kalten, dicht an der Küste herabfließenden Polarstrom und dem warmen Golfstrom. Hat sich zwischen Neufundland, Boston und New York die Mannschaft im Kampf mit dem Nebel, den schwimmenden Eisbergen und einer Kälte, die oft das Schiff und Tauwerk mit zolldickem Eis überzieht, erschöpft, so fährt je und je der Kapitän einige Meilen von seiner Straße ab, und mit einem Schlag ist es anders; helles Wetter, Sonnenschein finden sie, und können im warmen Wasser die erstarrten Glieder baden. So erzählt Admiral Milne, sein Schiff sei beim Übergang aus einem Strom in den andern hinten in gelblichgrünem Wasser von nur 4°, vorn in indigoblauem von 20° C. Wärme gewesen. Schön beschreibt Maury, wie die mit dem Nordstrom herunterschwimmenden und des Eiswassers gewohnten Walfische den heißen Strom so ängstlich wie ein Flammenmeer meiden.

Wie die Flüsse des Festlandes ihre Ufer bewässern und ganze Länder fruchtbar und bewohnbar machen, so, aber in weit höherem Maße, seiner Großartigkeit entsprechend, dieser Riesen-Meeresfluß. Von ihm hängt zum großen Teil die Wohlfahrt Europas, dieses die übrige Erde beherrschenden Weltteils, und seine Geschichte ab. So mächtig ist dieser von den Amerikanern »Vater« oder »König« der Stürme, wegen der durch die Verschiedenheit der Temperatur an seinen Grenzen verursachten Orkane genannte Strom, daß er noch warm die westlichen Küsten Frankreichs und Irlands, dann noch diejenigen Norwegens bespült und bis zur Insel Spitzbergen unter dem siebenundsiebzigsten Breitegrad laue Wasserschichten bringt. Wie wichtig für die gesamte Temperatur Nordeuropas dieser wohlthätige Meeresfluß, ersieht man daraus, daß in der Bretagne und Normandie, sowie in Südengland und Irland Feigen- und Lorbeerbäume im Freien wachsen; während auf dem in gleicher Breite, aber mitten im kalten Nordpolarstrom befindlichen Neufundland nur Tannen und Wachholdergestrüpp gedeihen, und acht Monate lang ein furchtbar strenger Winter das Land mit Schnee und Eis zudeckt. So verdanken in erster Linie Frankreich und England dem Golfstrom ihre Weltstellung und Norwegen seine Bewohnbarkeit. Es verdanken ihm die Bewohner Bergens, daß dort in den so langen Tagen des so kurzen Sommers prachtvolle Rosen, schmackhafte und saftige Gemüse herrlich gedeihen, und was weit wichtiger, daß Millionen und Millionen von Meerbewohnern, von den lauen Gewässern angezogen, diese Küste zu einer der fischreichsten in der ganzen Welt machen. Ja, selbst auf Spitzbergen bietet das vom Golfstrom oft viele Fuß hoch angehäufte Treibholz den Fischern, Seehund- und Walroßjägern willkommenes Bau- und Brennholz, und im dortigen Seemannskirchhof mag mancher Matrose in einem Sarg ruhen, roh gezimmert aus den Planken einer Magnolia oder einer Palme, unter der einst auf Florida eine Creolin ihr Kind unter Colibri und Lianen in den Schlummer sang; so sehr ist die Erde ein organisches Ganzes, voll von geheimnisvollen, wunderbaren Wechselbeziehungen.

Und noch mächtiger sind, seiner Größe entsprechend, wenn auch uns weniger bekannt und wichtig, weil Länder und Völker beeinflussend, die uns gleichgültig, die Strömungen des Stillen Oceans. Zuerst kennen wir den kalten Südpolarstrom, der vom Feuerland an die Küsten von Chile und Peru hinauffließt. Er wirkt dort umgekehrt wie der Golfstrom kühlend, erfrischend und befeuchtend; ohne ihn wären zum Teil Chile und noch mehr das so regenarme Peru verbrannte Wüsten. Weiter hinauf wendet sich dieser »Humboldtstrom« gegen Westen und vermischt sich mit dem ungeheuren Pacificstrom, der mit einer Geschwindigkeit von dreißig Kilometer täglich, fünftausendfünfhundert Kilometer breit (!) (Dupeny) und zum Teil über fünftausend Fuß tief (!), fünfundzwanzig Grad warm, von Amerika nach Asien unaufhörlich strömt, sanft Schiffe dahinweht, und den Inseln des Stillen Oceans ihr herrliches, stets gleiches Klima, und milde Wärme den Küsten Chinas und Japans bringt. Dagegen fließt ein fünfhundert Kilometer breiter nördlicher Strom nach Amerika zurück und hat schon wider Willen Japanerbarken nach den Sandwichinseln geführt.

So, denn des Wassers ist das Fließen wie das Verzehren des Feuers, fließen und fluten im ewigen Kreislauf die Meere um die Erdkugel herum, bringen Fruchtbarkeit und Wärme, gleichen die Klimate aus und machen Kontinente fruchtbar und wohnlich.

Aber wir kennen diese Welt des Meeres nur oberflächlich. Denn ihr eigentliches Wesen ist die Tiefe, und erst in der Tiefe, könnten wir zu ihr hinabsteigen, gäben sich uns ihr geheimnisvolles uns verborgenes Leben, ihre Lebensgesetze und Lebenszwecke kund. Auch darin bildet diese Tiefe einen großartigen und harmonischen Gegensatz zum Berge. Wie auf diesem das Leben nach Höhenschichten sich verändert, um im reinen, ewigen Schnee schließlich aufzuhören, so gliedert sich das Meer der Tiefe zu in verschiedene Zonen ab. Dreimal tiefer als der Gipfel des Montblanc ist zum Teil der Atlantische Ocean, und neun Stunden braucht man, um das Senkblei mit Maschinen aus dieser Tiefe von siebenundvierzigtausend Fuß heraufzuholen. Lange haben wir klug davon gefaselt, wie es da drunten kein Leben mehr gebe; denn dazu sei es zu finster und zu kalt, und wie sollten Organismen leben unter einem Druck der oberen Wasserschichten, der nach Professor W. Thomson für den Körper eines Menschen schon in zweitausend Faden, = zwölftausend Fuß Tiefe, dem Gewicht von zwanzig mit Eisenschienen beladenen Güterzügen gleichkäme! Und doch sind auch diese Abgründe mit Leben erfüllt.

Wunderschön ist die Flora und noch mehr die Fauna des Meeres, so unter den Tropen, bei den Antillen oder im Golf von Neapel! – Durchsichtige, smaragdgrüne und purpurrote, derbe, goldgelbe und braune, zartgefiederte, breitblätterige, tauartige Algen wachsen üppig zwischen den Felsen und bedecken sie mit einem prächtigen Teppich; und, davon oft schwer zu unterscheiden, Zoophyten, Tierpflanzen, Seeanemonen in Menge mit zarten roten Spitzen; und tiefer, so im Roten und Stillen Meer, bilden bunte Korallen, weiße Madreporen ganze unterseeische Länder mit tierischen Wiesen, fleischigen Blumen, fühlenden, fressenden Sträuchern und lebenden Gebüschen. Darüber und dazwischen schießen hin und her blaugrün schillernde, rosarote oder wie Tiger schwarz und gelb gestreifte Fische, darunter die Muränen, die Tiger des Meeres, aalschlank, mit den vielen scharfen, spitzigen Zähnen, mit unerläßlichem Hunger ruhe- und lautlos herumschleichend; die kleinen grotesken Seepferde, wie possierliche Teufelchen aufrecht sich senkend und hebend, oder mit dem geringelten Schwanz an einer Alge verankert; dazwischen schweben in krystallhellem Wasser, langsam wie im Traum, die prachtvollen Medusen mit himmelblauen, oder silberglänzenden Kuppeln, mit langen herabhängenden, perlenschnurartigen, furchtbar brennenden Fangarmen. Noch tiefer wandern die Völker des Oceans alljährlich ihre unbekannten Wege, unbekannten Zielen zu, die Scharen der großen Thunfische, friedlich von Schwertfischen eskortiert, oft vom gierigen Hai angegriffen; die Millionen von zierlichen Sardinen und Anchovis; das große Heer der Heringe, kommen alljährlich vom Nordpol her, marschieren an die vielen tausend Millionen, wohlgeordnet in Reih und Glied daher, sogenannte »Heringskönige« an der Spitze, immer auf denselben, von Gott ihnen gewiesenen Straßen; so der Hering niemals in das Mittelländische Meer, die Sardine nicht nach Norden, noch der Thunfisch in den Atlantischen Ocean; haben ihren Reiseplan und verschwinden schließlich in die Tiefe, kein Mensch weiß wohin.

Und allmählich zeigen sich unheimliche Bewohner der unteren Gewässer. Auf dem Grunde kauert und lauert, halb von Sand versteckt, der scheußliche, bis zwanzig Fuß große, achthundert Pfund schwere Rochen, mit zähneblökendem Rachen und großem, giftigem Rückenstachel; ebenso der Teufelfisch, der Engelfisch mit seinen großen, wie Riesenflügel schlagenden Flossen, der Fetzenfisch, das Urbild einer verkommenen Existenz; seltsame oder furchtbare Gestalten! Und ihre Lautlosigkeit vermehrt ihre Schrecken. Seine Wut verrät der Tintenfisch nur durch das plötzliche, strichweise Schwarzanlaufen seiner großen, hervorstehenden, glotzenden Augen, mit dem, wie schon Cuvier bemerkt, äußerst unangenehmen Blick! Riesige solche Tiere verbirgt der Ocean in seinen Tiefen; grausam, heimtückisch kauern sie im Felsengrund, schleppen mit großer Kraft schwere Steine zu einer Art Nest zusammen, stürzen plötzlich hervor, töten alle Fische, auch ohne sie zu fressen, wagen sich auch aufs Land und verzehren Früchte. Schon Plinius erzählt von einem solchen Ungeheuer, das bei Carteja in Spanien nachts in die Fischteiche hineinstieg und sie ausplünderte; nur mit Mühe gelang es ihn zu töten. Seine Fangarme waren dreißig Fuß lang und der Rest des Tieres wog sieben Centner! Damit stimmen durchaus neue Berichte von Olafsen, Steenstrup u. a. überein. Im Stillen Ocean, bei Teneriffa und auf der Neufundlandbank hat man solche abscheuliche Ungeheuer gesehen, von denen manche, wie richtig bemerkt wurde, mit ihren riesigen Armen einen weiteren Raum beherrschen als der größte Walfisch. Im British Museum ist ein solcher Fang- und Saugarm, siebenundzwanzig Fuß lang, aufbewahrt, also ein Tier samt Leib etwa siebzig Fuß im Umkreis! – Mit Schrecken erzählen Indianer des Stillen Oceans, wie solche je und je aus einem Kanoe Menschen holen, um sie gemächlich auszusaugen; entsetzlicher Tod! – So hat auch der als Seeforscher bekannte Fürst von Monaco nachgewiesen, daß der Pottwal, dieser König der Wasser und Tyrann der Meere, vielfach solche große Sepien, von denen einige mit Schuppen bedeckt sind und Tigerkrallen am Ende ihrer langen Arme haben, mit dem furchtbaren Gebiß zermalmt und verzehrt. – Auch Fische und Krebse mit ungeheuren Augen bewegen sich da unten, so der dreiundzwanzig Centimeter lange Bathynomus mit viertausend Facettenaugen, der Cysostoma, bei dem sie den ganzen großen Kopf einnehmen. Der Ansicht entgegen, daß in den dunkeln Tiefen des Oceans sich keine Farben entwickeln könnten, prangen diese Wesen derart in Purpur, Orange und Scharlach, daß Schleiden meint: »Tiefseetiere zeichnen sich durch lebhafte Färbung aus.«

Je tiefer aber die Gewässer und je weniger selbst die roten Strahlen einzudringen vermögen, desto mehr fangen die Wesen an im eignen phosphorartigen Licht zu glänzen, und in grünem und rotem Licht so zu leuchten, daß sie, wenn gefangen, minutenlang, ehe sie starben, die Kajütenlampe auf dem Challenger überstrahlten. »Eine vier Fuß lange Feuerwalze, die das Tiefnetz an die Oberfläche brachte, strahlte ein solches Licht aus, daß Moseley seinen Namen, den er mit dem Finger auf die Körperfläche des Tieres schrieb, in Flammenschrift lesen konnte« (Schleiden). – Eine unheimliche Welt von leuchtenden, schweigenden, grimmigen, lauernden Raubtieren, ohne Licht und folglich ohne Liebe; nur ihre Leidenschaften erzeugen das kalte Feuer, das ihnen zu Mord und Vernichtung leuchtet.

Und tiefer noch, von zehntausend bis fünfzehntausend Fuß Tiefe an beginnen und dehnen sich jene ungeheuren Wasserreiche aus, die seit den Tiefseeuntersuchungen des Challengers die Abyssalregion genannt werden, die Gebiete des Abgrundes, die Reiche der ewigen, undurchdringlichen Finsternis, der ewigen, eisigen Kälte, des ewigen Schweigens und der Totenstille. Hier gibt es kein Wetter, noch Jahreszeiten, noch Klima, noch Unterschiede der Breitengrade. Ob Äquator oder Pol, ob über den oberen Wasserwelten Tropensonne glüht oder dickes Eis sie bedeckt, ist da drunten gleichgültig, wo stets eine Kälte von 0° herrscht, wo niemals Kunde von allem, was droben tobt, lebt und schreit im Licht der Sonne, hingelangt. Und durch diese Finsternis wetterleuchtet es stets; wie blasse Nordlichter schießen rote und grüne Strahlen durch diese Nacht, wenn die extravagant geformten Bewohner dieser Abgründe einzeln oder in Scharen hin- und herziehen, in farbige Flammen gehüllte Fantasmen, mit großen Augen am Ende langer Hörner herumtastend, zähneblökend, überallhin Krallen streckend, einige durchsichtig, schwimmend, schlängelnd, kriechend, unheimlich schön, furchtbar häßlich; erbarmungslos lauernd; in ihrem schrecklichen ewigen Schweigen wie Schatten der Toten und der Hölle.

In diese Tiefen fällt viele Stunden lang, durch alle Wasserschichten hindurch, lautlos hinab, alles, was das Meer oben verschlingt, ein Taschenmesser des Schiffsjungen oder ein Fernrohr des Offiziers, Speiseüberreste, Anker und Ketten, Kehricht, Geld- und Goldstücke und Juwelen. Langsam fällt durch das schwarze Wasser die unzählige Menge der kleinen und kleinsten Muscheln, der Globigerinnen und Diatomeen, deren Einwohner gestorben, die auf dem Boden eine weiche, weiße Schichte bilden; und auch größere Schalen, die papierweißen der Argonauten und der Nautilus. Dann und wann kommen ganze oder vom Sturm zerfetzte Wracke von oben, zerschlagene Planken und Schiffsreste, auch Schiffe mit Kiel nach oben oder aufrecht mit großen noch ausgespannten Segeln, Barken, alte Fischerboote, schmucke Jachten und Dampfer, stramme Kanonenboote, schnelle Korvetten wie die Augusta, stattliche wie die Italia bei Lissa, im Kampf in den Grund gebohrte oder im Sturm mit Mann und Maus untergegangene Panzerschiffe mit blanken Stahlkanonen, frischgeputzten Messingbeschlägen und tadelloser Takelage, der tote Kapitän noch an der Kommandobrücke sich haltend; von Hunderten von Leichen bemannt, noch vom Todeskampf her ans Tauwerk angeklammert, oder mit noch von Todesangst weitaufgerissenen Augen, den Kopf zu zwei und zu drei zu den zu engen Luken hinausdrückend. Und unten angelangt legt sich der Koloß langsam auf die Seite zur langen Ruhe. Dann kriechen her die aufgescheuchten Ungeheuer des Abgrunds, umklammern mit langen, schleimigen Fangarmen das Wrack, holen damit die Leichen heraus, saugen ihnen gierig die Eingeweide und das Fleisch von den Knochen weg und beißen ihnen mit hornigem Schnabel die Schädel auf, um ihr Hirn zu schlürfen; und kämpfen dann in lautloser Wut miteinander um die Überreste.

In den weiten Gebieten des Abgrunds aber, die unter weniger befahrenen Meeren sich befinden, sinkt nur je und je von oben ein Ertrunkener, auch mitunter ein in Segeltuch bis an den Hals eingenähter, mit einer Kanonenkugel an den Füßen beschwerter Toter herab. Berührt die Kugel den Boden, so wanken und pendeln die Toten ein paarmal hin und her und stehen dann im fahlen Schein der Leuchttiere aufrecht, unbeweglich. Fische fressen ihnen das Gesicht und die Augen weg, und mit leeren Augenhöhlen, in Salzlauge präserviert, starren sie hin die Jahrhunderte hindurch; bis von der oberen Welt her, wie aus weiter Ferne, die Posaune der Auferstehung auch in diese tiefsten Tiefen wiederhallt … und das Meer und der Scheol ihre Toten hergeben. Dann regen sich, zuerst wie im Schlaf die längst Gestorbenen und steigen immer rascher durch die hohen Gewässer empor, die einen immer schwärzer werdend mit Augen erglühend im ewigen Zorn, die andern immer leichter und lichter und seliger sich emporschwingend. – Und droben zerschmilzt im Wirbelsturm die Erde, und es lösen sich mit großem Krachen und fürchterlichem Zischen die Elemente auf (2. Petri 3, 10). Bald steht im Weltraum nur noch ein großer weißer Thron, und darauf Einer mit dem blitzenden Angesicht und den Augen wie Feuerflammen, und vor ihm die unübersehbare Menge der jammernden, bangenden, jauchzenden Toten, die Völker und die Nationen, die Geschöpfe vor ihrem Schöpfer. Verschwunden ist die Welt der Formen und der Erscheinungen; verweht der Stoff und sein Reich. Nur noch Seelen und Gesetze!

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Dem Meer steht die Bibel nicht sympathisch gegenüber, stellt uns dasselbe als eine drohende, von Gott zu Strafe und Gericht gebrauchte Tiefe dar. Gleich am Anfang erscheint es als eine in Finsternis gehüllte Macht (1. Mos. 1, 2). Später brachen »die Brunnen der Tiefe« auf, überfluteten die Erde und verdarben alles Lebende. Im Roten Meer geht Pharao mit seinem Heere unter. Zur Strafe wird Jonas ins Meer geworfen. Von Christo, trotzdem er so nah daran lebte, wird uns nicht berichtet, daß er jemals weder an das Mittelländische, noch an das Tote Meer getreten sei; wie wohl sehr oft an den Süßwassersee Genezareth. Und auf der neuen Erde ist das Meer, das Reich des Abgrunds, nicht mehr (Offenb. 21, 1).

So bietet uns unser Planet in gewaltigen Zügen zwei Bilder der Tiefe, der Konzentration, des Fallens in die eigne Ichheit, dem eignen Mittelpunkt zu als Gegensatz zur großen Expansion nach oben, nach lichten und unendlichen Höhen. Die eine ist die des feurigen Zorns im grollenden, immer heißer tobenden Herzen der gefallenen Erde; die andre ist das Fallen in die ewige, zusammenziehende Kälte und stete Abwendung von der oberen Welt der Sonne, des Lichts und des Schalls; und beide geschehen in der und dringen immer tiefer in die innerste Finsternis des Geschöpfes, welches ist die äußerste von Gott aus.

Auch das Land zeigt uns zwei große Einheiten: die Ebene des behaglichen Wohnens und der fruchtbaren Ernte, ein Kind des Wassers, auch die Wüste dieser Welt, wo die nach dem gelobten Land pilgernde Seele hungert und dürstet unter der heißen Sonne der Anfechtung, mitten unter den um das goldene Kalb Tanzenden und den feurigen Schlangen; und die Berge, diese Kinder des Feuers, diese Altäre Gottes und Stätten des Betens, des Opfers und der Himmelfahrt. – »Am Ende der Tage wird der Berg Zion höher sein denn alle Berge«.

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Mit wundervollem Leben ist nun diese früher von furchtbaren vulkanischen Kräften durchtobte Terra bedeckt. Unaufhörlich verbinden und scheiden sich die Stoffe; heiß und kalt, fest, flüssig und dampfförmig, hart und weich, wirken sie bald schnell, bald langsam aufeinander, und es gibt nichts auf Erden, was nicht unaufhaltsam nach seiner Form und nach Gleichgewicht strebe. Wir täuschen uns, wenn wir Luft und Wasser, Erde und Gestein, Glas und Eisen amorph, formlos nennen. Unerbittlich gehorcht jeder Stoff dem ausnahmslosen Gesetz; was existiert muß eine Form haben, seine Form, in tiefem, manchmal einigermaßen erkenntlichem, meist unergründlichem, aber unzerstörbarem Zusammenhang mit seiner Lebensformel, mit seiner Ichheit, mit allen seinen Eigenschaften. Jeder Stoff hat seine Form, nämlich diejenige und ihre Ableitungen, in der er krystallisiert. Würde eine genügende Kälte eintreten, so schneite die Luft ebenso in zierlichen Krystallen eines bestimmten, unveränderlichen Systems herab wie jetzt das Wasser. Wie mächtig dieses Streben zu seiner Form zu kommen, zu krystallisieren ist, sieht man, wenn gefrierendes Wasser eiserne Bomben zersprengt.

Der Krystall ist eine die Erde bedeckende und erfüllende Lebensäußerung des Stoffes. Berge und Felsen bestehen aus krystallinischem Gestein. Im Granit flimmern dreierlei Krystalle: Quarz, Feldspat und Glimmer; Silbersand ist aus krystallinischen Glimmertafeln gebildet. Die Sahara, zehnmal größer als Deutschland, ist tief mit Quarzsand, also mit Krystallen bedeckt und an den Polen noch größere Flächen mit Billionen und abermals Billionen von Eis- und Schneekrystallen. Die Eisblumen am Fenster sind Krystalle; in einer metallenen Stange fügen sich bei steter Erschütterung die Teilchen zu Krystallen zusammen, so bei Radachsen der Eisenbahnwagen und Lokomotiven, die deshalb brüchig werden. Auch in der organischen Welt, in unzähligen Pflanzenzellen, finden sich Hunderte von zierlichen, mikroskopischen Krystallen. Läßt man Blut eine Zeitlang stehen, so entwickeln sich Krystalle, und selbst eine getrocknete Thräne zeigt unter dem Mikroskop zahlreiche Krystalle. – Der Krystall ist die ureigne Form des Stoffes. Wunderbar ist dieses von Gott dem Stoff verliehene Leben! Nimmt man ein Stück Steinsalz, Schwefel oder Kalkspat und zerschlägt es in tausend Stücke, so ist doch jedes Stück wieder ein Krystall mit denselben Achsen und Flächen und jede Kante identisch. Denn der Krystall ist unzerstörbar; seine leibliche Gestalt, sein Gesicht kann ihm niemand nehmen. Mit allen Maschinen und Apparaten, chemischen und physikalischen Hilfsmitteln, mit der größten Wärme und den stärksten elektrischen Strömungen können Menschen nicht ein Körnchen Steinsalz zwingen, anders als in Würfeln zu krystallisieren.

Auch der Stoff, auch der Krystall wächst, obwohl meist langsam und unvermerkt. So in den bekannten, oft noch halb mit Mutterwasser gefüllten Bergkrystall-, Rauchtopaz- und Amethystendrüsen der Alpen, wo Krystalle von feinster Nadelgröße an bis zu durchsichtigen Säulen von acht Centner Gewicht und mehr anschwellen. Madagaskar aber, sagt Quenstedt, übertrifft alles mit seinen wasserhellen Bergkrystallen von sechsundzwanzig Fuß im Umfang, die oft auf unerreichbaren Felsen im Sonnenglanz weithin schimmern. Und wer weiß, was tief im Innern der Alpen, des Urals, der Anden oder des Himalaya für unterirdische Paläste mit Säulen und Gewölben aus allerlei Krystallen, Amethyst, Smaragd oder Beryll und Wände aus Malachit oder Kupferlazur sich befinden?

Dieses Wachsen des Krystalls erinnert vielfach an die Lebensäußerung des Tiers. Bricht man einem Krystall ein Eckchen ab und legt ihn wieder in die Mutterlauge, so ergänzt sich, ehe der Krystall weiter wächst, vor allem die beschädigte Stelle, gerade so, wie an einem abgebrochenen Hummer die Fangschale wieder wächst. – Wie geheimnisvoll! – Die Edelsteine, diese Blumen des Steinreichs, sollen wir nicht gering achten, etwa nur als glänzende Kiesel, womit eitle Menschen sich schmücken; sie sind schöne Versuche des irdischen Stoffs, sich in höherer krystallinischer Form der Durchsichtigkeit, der Farbenpracht und auch der Härte und Dauerhaftigkeit des wahren ewigen Stoffs zu nähern, werden einst in niegesehener Pracht die Hauptstadt der neuen Erde zieren.

Gesetz des Krystalls ist endloses Wachstum, nach den Achsen symmetrisch.

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Doch schöner noch, heller strahlt das Leben uns in der nächsten und höheren Stufe der Schöpfung, in der Pflanze, entgegen. Ist zwischen dem Krystall und der aus harmonischen Verbindungen der anfänglichen Grundzahlen zu einer höheren Gleichung entstandenen Pflanze eine beim gegenwärtigen Zustand unsrer Kenntnisse nicht zu überbrückende Kluft, welche wir als den Unterschied zwischen der unorganischen und der organischen Schöpfung bezeichnen, so erkennen wir doch in der Pflanze einen Krystall höherer Ordnung, symmetrisch nach rechts und links, vorn und hinten, dissymmetrisch dagegen nach unten und oben, wenn auch manchmal der Wurzelbau der ganzen Verästelung auffallend entspricht. Und wie sehr sich die Pflanze an den Krystall anreiht, sieht man hübsch an den »Eisblumen«, krystallinischen Gebilden, bei denen die Grundform der Pflanze (wie in den niederen Algen dargestellt) unverkennbar zu Tage tritt, sowie an den als »Bäumen« in der Bergmannssprache bezeichneten Krystallbildungen mancher Metalle, hauptsächlich aber an dem unter dem Mikroskop zu beobachtenden Wachsen und Schießen mancher farnkrautähnlicher Krystalle, so beim Salmiak.

Was ist eine Pflanze? Wir wissen es nicht, und staunend stehen wir vor der Thatsache, daß ein geheimnisvolles, unbegreifliches Lebensprinzip, das man versucht wäre, eine Seele zu nennen, in einem unscheinbaren Samen eingeschlossen, Macht hat, unbelebte Stoffteile aus dem Boden, aus dem Wasser und aus der Luft herzuziehen, zu merkwürdigen und neuen Körpern zu verbinden und daraus und damit einen wunderbaren Bau auszuführen, welcher wie wir ißt und trinkt, atmet und schläft, Kinder erzeugt, krank und alt wird und endlich stirbt.

Groß ist das Gesetz dieser Pflanze und seine Erfüllung eine der schönsten Thaten der Schöpfung. Ihre Aufgabe heißt Wachstum innerhalb festgesetzter Zeiten, sei es in einem einzigen Kreislauf, sei es in periodisch wiederkehrenden, und bis zur Erzeugung der Blume und der Frucht als Abschluß. Dieses Wachsen besteht darin, daß die Pflanze durch ihr Leben unaufhörlich Totes lebendig macht, Unorganisches zu Organismen verarbeitet. So ist die Pflanze nicht nur eine lebende, sondern eine stets lebendig machende Kreatur, worin sie weit höher steht als das Tier, das stets Lebendiges tötet, um zu leben; sie ist ein prächtiges Bild des Christen, das Tier des natürlichen Menschen.

Ohne diese Arbeit der Pflanze sind Tier und Mensch unmöglich. Vom Ackerbau kann die ganze Menschheit leben; von Industrie, Handel, Gewerbe, Wissenschaft allein auch nicht ein Mensch!

Schon die mechanische Größe dieser Lebenskraft der Pflanze sieht man, wenn die Wurzeln eines wilden Feigenbaumes große Quader auseinanderdrücken, oder Stengel und Wurzeln, in Gipsverband eingegossen, denselben mit einem Druck von sechs bis zwölf Atmosphären zersprengen. Welche Kräfte werden im Frühjahr beim Keimen und Wachsen und Blühen entbunden, die sicherlich schon für einige Dutzend Quadratmeilen Wald oder Wiese alle Leistungen der von Menschen erbauten Maschinen weit überragen!

Wohl steht sie unbeweglich da, diese geheimnisvolle Pflanze, wie ein thatenloser Träumer, weiß nichts von Ortwechsel noch fieberhafter Thätigkeit. Der Pflanze ist die Stimme versagt; nur wenn der Wind, der Geist, durch den Wald braust, läßt auch der Baum seine Stimme ertönen; dann rauscht die Eiche, seufzt die Birke, flüstert die Pappel, und in langgedehnten Orgeltönen singt der Tannenwald.

Aber Gott hat nichts Unthätiges geschaffen. Dieser so stumme unbewegliche Baum lehrt uns das Gesetz der stillen, lautlosen That, ist ein wundervoller Bau voll höchst ingeniöser chemischer und physikalischer Apparate, eine Fabrik, in welcher Tag und Nacht lautlos gearbeitet wird. Bedenken wir die Zahl der Gewächse und ihre Ausbreitung über die ganze Erde, so müssen wir billig erstaunen über die Fabrikation durch die Pflanze von fast unzähligen, organischen Produkten, eine göttliche Industrie, die sowohl was Qualität als was Quantität betrifft, die menschliche ganz ungeheuer übertrifft, ja von der alle Industrie auf Erden eine fast kindische, höchst unbedeutende Kopie ist. Diese göttliche Fabrik entzückt uns sowohl durch Schönheit der Proportionen und Eleganz der Form, als durch Farbenpracht und Wohlgeruch, bewirkt keine, die Luft und die Gewässer verpestenden und die menschliche Gesundheit schädigenden Abfälle, belästigt uns nicht durch Lärm, noch Getöse, und zeichnet sich durch Billigkeit und absolute Echtheit ihrer Produkte aus. Durch zarte Wurzelspitzen sucht die Pflanze unermüdet im dunkeln Schoß der Erde ihre Urstoffe, saugt sie ein, verbindet und verarbeitet sie zu Stengeln und Blättern, nimmt die besten und bildet daraus schöne Blüten, saftiges Obst, nahrhaftes Korn und in wunderbarer Mannigfaltigkeit allerlei schmackhafte, gesunde, kräftige Früchte, die sie nett und zierlich, in Nüssen, Schalen, Hülsen, Steinen, Kernen, in Bast, Baumwolle, Rinde zweckmäßig, leicht und doch wasserdicht für den Export verpackt. Dazu arbeitet diese göttliche Fabrik ohne Störung des Betriebes Tag und Nacht, und gründet alljährlich ohne weitere Aktienausgabe zahlreiche, lebensfähige Filialen. Wer könnte es ihr nachmachen?

Die Masse ihrer Produkte übertrifft alle unsre Vorstellungen. In Welthandelsberichten stehen nur so Millionen von Pfunden und oft von Centnern von Pflanzenerzeugnissen da! – So werden alljährlich mindestens fünfzig Millionen Pfund Kakao erzeugt, und über tausend Millionen Pfund Thee, wovon Europa allein zweihundertdreißig Millionen verbraucht; dazu über neunhundertsechzig Millionen Pfund Kaffee! – Und das sind noch die kleineren Zahlen. – Denn nun kommen die vielen hundert Millionen Centner Getreide, Reis, Mais u. s. w. So beträgt die Welternte an Weizen allein, soweit sie bekannt ist, fünfundsechzig bis achtundsechzig Millionen Tonnen zu je tausend Kilogramm. Von Reis lebt ein Drittel der Menschheit; macht an dreihundert Millionen Kilogramm täglich. Dazu über sechshundertachtzig Millionen Hektoliter Mais, über achthundertdreiundsechzig Millionen Hektoliter Kartoffeln und noch große Mengen von Dura; ganze Ströme, viele Billionen Liter Pulque, Maté, Bier, Wein, Apfelwein, so in Frankreich allein vom letzteren neunhundert Millionen Liter jährlich.

Die Pflanze ernährt aber nicht nur die Menschheit und löscht ihren Durst, sie kleidet sie auch; spinnt dazu jährlich über zweitausend Millionen Kilometer Baumwollenfäden, erzeugt dreihundertneunzig Millionen Kilogramm Hanf und fünfhundertfünfzig Millionen Kilogramm Flachs in Europa allein, und auch über dreihundert Millionen Kilogramm Alfagras, woraus Papier gemacht wird, und zu demselben Zweck ungeheure Massen, über achthundertfünfzig Millionen Kilogramm Holzfasern. Das Fleisch und die Milch aller Tiere, ihre Wolle oder Seide erzeugt auch stets die Pflanze in für uns ganz unschätzbaren Massen.

Und nicht nur unbegreifliche Mengen von Nahrung für Mensch und Tier und unfaßlich viel Getränk und unermeßlich viel Kleiderstoff werden Tag und Nacht in dieser Fabrik Gottes verfertigt; sondern noch eine erstaunliche Anzahl allerlei chemischer Produkte, die schädlich oder wohlthuend, aufregend oder besänftigend, kräftigend oder schwächend auf Leib und Seele des Menschen einwirken. So wurden aus Kuba allein 1895 zwei tausend Millionen Pfund Zucker ausgeführt. Aus Kalkgestein und verwittertem Granit, Sumpfboden, Schlamm und Sand werden Gifte und Arzneien, Opiate und betäubende, schmerz- und fieberstillende und blutreinigende Mittel, viele Öle, Firnisse und Säfte, Gummiarten, Gewürze und Wohlgerüche fabriziert, von denen wir Europäer nur wenige kennen oder gebrauchen. So über zwanzig Millionen Kilogramm Gummi arabicum, über vierzig Millionen Kilogramm Kautschuk, neun Millionen Kilogramm Guttapercha und so weiter! Denn diese Fabrik braucht Sonnenstrahlen als Kraftmotor und erzeugt nur unter den Tropen ihre stärksten Säfte; Arrak und Ingwer, spanischen Pfeffer und Muskatnuß, Myrrhe und Weihrauch. Dort wachsen auch der Talgbaum und der Wachsbaum, aus dessen Wachs man sofort gute Lichter gießen kann, und der Seifenbaum ( Sapindus saponaria); auf dürren Felsen streckt der Milchbaum wie abgestorben lange, dürre Äste aus und gibt doch eine Menge vorzüglicher Milch; dort wächst der Regenbaum, unter dem in der größten Dürre ganze Wasserlachen entstehen; der herrliche Brotbaum, nicht mit dem Affenbrotbaum ( Adansonia) zu verwechseln; der Papierbaum Chinas, der Wollbaum, der Elfenbeinbaum, der Kampherbaum, der Ölbaum, die Korkeiche u. s. w. – Welche Welt voll geheimnisvoller Umbildungen, Transformationen, Veränderungen und Atomgruppierungen nach unbekannten Gesetzen und Individualitäten! Und mit welcher Kunst geschieht alles das, unter schönen, anmutigen Lebensformen; denn die Pflanze ist nicht bloß eine Fabrikantin, sie ist auch eine Künstlerin; sie kann malen, skulptieren, hat die Farbe und die Form los.

Die Pflanze ernährt nicht nur alle Tiere auf Erden und auch alle viel zahlreicheren Fische und Meertiere, – denn immer mehr erkennt man, wie in letzter Instanz die kleinen und kleinsten Meerorganismen, von denen die größeren sich nähren, auf vegetabilische Nahrung angewiesen sind –, und ebenso tausendfünfhundert Millionen Menschen und kleidet sie, sondern sie liefert unberechenbare Mengen von Brennstoff! Wie sollten wir ohne sie uns schützen gegen die Kälte, unsre Nahrung kochen, und unsre Dampfschiffe und Lokomotiven heizen? Welche, obige Mengen von Nährstoff noch weit übersteigende Masse von Holz, Torf, Braun- und Steinkohle liefert nicht alljährlich die Pflanze der Menschheit! Wie die Pflanze im Magen zur Nahrung und Leben wird, so auch unter dem Dampfkessel zur Kraft. Wunderbare Transformation!

Noch größere Mengen Pflanzenstoffe werden nicht unmittelbar verwertet, sondern dienen zur Humusbildung, zur Reinigung der Luft, zur Verschönerung der Welt, zur Bekleidung der Berge, zur Aufspeicherung des Regens, zur Vermehrung, Regulierung und Verlangsamung des Kreislaufes der Gewässer.

Und damit ist immer noch nicht die segensreiche Thätigkeit dieser wunderbaren Organismen erschöpft. »Wenn,« sagt G. Buchner, »die Pflanzen jährlich, wie man berechnet hat, neunzig Billionen Kilogramm CO2 zersetzen, so werden dadurch sechzig Millionen Kilogramm Sauerstoff der Luft und den Menschen und Tieren zur Atmung wiedergegeben.« – Welche kolossalen, fast unbegreiflichen Leistungen dieser so stillen, bescheidenen, schönen Pflanzenwelt!

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Doch das Hauptwunder der Pflanze ist ihr Same. – Als Gott sie schuf, befahl er, daß »Gras und Kraut sich besamen und Bäume Früchte tragen, und haben ihren eignen Samen bei sich selbst« (1. Mose 1, 11). – Auch das ist Gesetz der Pflanze. – Sie hat ihren Samen bei sich! – Was alles in diesem göttlichen Wort liegt! Diese ihre Frucht und Kind ist mit einer merkwürdigen Macht des Fortkommens und des Ortwechsels begabt. Seßhaft und ansässig sitzen die Alten; die Kinder flattern hin und her, fallen bald auf zertretenen Weg, bald auf harten Fels, bald unter die Dornen, bald auf fruchtbaren Boden und werden zu Stammvätern neuer Geschlechter. Die Samen mancher Pflanzen sind mit Flügeln, andre mit langen Haaren, mit Federbüschen, mit Fallschirmen, ja mit Schraubenflügeln versehen. Der Wind trägt sie von Kontinent zu Kontinent um die ganze Erde herum; andre klammern sich mit Widerhaken an die Wolle, an das Fell, an die Federn der Tiere und werden von ihnen weit fortgetragen; noch andre, wie die Kokosnuß, in zäher, wasserdichter Bastschale, schwimmen lange, wie ein Moseskind im Schilfkorb, auf den Gewässern, werden von Meeresströmungen an öde Inseln hingeschwemmt, fassen dort Wurzeln und werden zu Bäumen, damit überall organisches Leben den Schöpfer preise.

Denken wir uns die Erde aller Pflanzen bar, kahl die Felsengipfel, Sand und Schlamm die Ebenen und Steingerölle überall: ein trauriges Bild, eine öde Welt! Wieviel organischer Stoff gehörte dazu, sie zu beleben? – Wir haben früher in einem Aufsatz über die Arche Noahs (Christenboten 1883, Nr. 31, Stuttgart), auf eingehende Berechnungen gestützt, nachgewiesen, wie diese Arche mit einem Gehalt von beiläufig sechsundzwanzigtausend Tonnen, also größer als jedes Panzerschiff, nicht nur für Exemplare von sämtlichen bekannten Tierarten, sondern neben Nahrung und Süßwasser für dieselben auch geräumige Wohnung für Noah und Familie bot. Bei Pflanzensamen handelt sich's natürlich um vieltausendmal kleinere Größen. Kennten wir keine Gewächse und Gott wollte uns mit dem Samen aller Pflanzen vom Himmel herab eine rechte Weihnachtsfreude machen, so genügte zur Sendung eine Kiste, kaum ein Kubikmeter groß, nur einige Centner schwer! Ein starkes Pferd könnte sie herziehen! Denn so groß auch manche Frucht, so der centnerschwere Kürbis, so birgt sie doch kleinen Samen, diesen Extrakt und Essenz des Lebens.

Überlassen wir den größeren Nußsamen auch die Hälfte dieser Kiste (in den Zwischenräumen hätten schon Zehntausende von kleinen Samen Platz), so bleiben uns immer noch fünfhunderttausend Kubikcentimeter übrig. Die meisten Samen aber, so die der größten Bäume, wie die Eiche oder Buche, Linde, Tanne, der Getreide- und Gräserarten, der Blumen und Gemüse, der Linse, der Bohne, der Erbse u. s. w. sind durchschnittlich weit nicht einen Kubikcentimeter groß; und ebensowenig der Kern, aus dem alle Birnen- oder Apfelbäume entstehen und auch selbst nicht der Stein der Aprikose oder der Pflaume; fast unsichtbar aber sind die der vielen Moose und Flechten. Gibt es, wie angenommen wird, dreihunderttausend Pilzarten, so füllten ihre Sporen noch nicht einen Fingerhut aus; die Sporen aber aller Bacillen und Bakterien der Welt, falls auch diese mitkämen, würden sicherlich noch nicht einen Raum so groß wie ein Stecknadelkopf ausfüllen. So hätten wir in obiger Kiste für viele Millionen Samen Platz, und wir kennen doch nur, ausschließlich obiger Pilze, zweihunderttausend Pflanzenarten. Also könnte aus solchem winzigen Behälter die ganze Pflanzenwelt hervorgehen, die tropische Pracht der Urwälder, alle Gräser und Blumen aller Steppen, alle Obst- und Waldbäume, alle Pflänzchen und Moose, die mit weichem, lebendigem Teppich die Erde bedecken. Und das ginge schnell vor sich! – Denn unbegreiflich ist die Reproduktionskraft eines solchen Sämchens! So ein schwarzes Mohnkörnchen, das lang im Staube unbeachtet liegt, hat in sich Macht, im zweiten Gliede dreißigtausend Pflanzen, im dritten also schon neunhundert Millionen zu erzeugen. Beim Boletus subtomentosus fand W. Smith siebzehntausend Poren zu je zweihundert Zellen mit zahlreichen Sporen, die er für eine Pflanze auf fünftausend Millionen schätzt, oder dreimal mehr Kinder als es Menschen auf Erden gibt, macht in der zweiten Generation eine Zahl mit achtzehn Stellen. So ein Weizenkorn, das jährlich, wie in Syrien häufig, hundert andre Körner erzeugt, vermöchte in der zehnten Generation schon alle Menschen der Welt ein Jahr lang zu ernähren (Prof. Gaussen)! Welche göttliche Lebenskraft!

Fast noch wunderbarer ist es, daß so ein bißchen Stärkemehl in sich den Charakter, die Eigenschaften und Eigentümlichkeiten der Pflanze enthält. Mag man immerhin den Heliotropismus aus einer durch das Licht verursachten Verzögerung des Wachstums und daraus folgende Konkavkrümmung erklären, so bleibt es doch unbegreiflich, warum bei totaler Sonnenfinsternis die Akazie ihre Blätter faltet, während Mirabilis Jalapa ihre Blüten öffnet, oder warum die Königin der Nacht nur zwischen Mitternacht und ein Uhr blüht? Noch unfaßlicher ist es, daß im Mehlstoff der Bohne schon das absolute Gesetz und Lebensbedürfnis liegt, sich nach rechts zu winden, und ebenso bei der Winde und dem Gaisblatt, während eine Hopfenpflanze ebenso eigensinnig nur nach links wachsen will. Eine Bohne stirbt eher, als sich nach links zu winden, weshalb sie im Französischen als Sinnbild des Eigensinns sprichwörtlich geworden ist. Das Silphium laciniatum in Texas wendet die Blattfläche nach Ost und West, die Ränder nach Norden und Süden, dient also als Kompaß. Ja, in Nicaragua wächst die Phytolacca electrica, welche auf sieben bis acht Schritte die Magnetnadel ablenkt und die Hand elektrisch ebenso stark erschüttert wie ein Ruhmkorffscher Apparat! Merkwürdiger noch, daß diese ihre elektrische Kraft während der Nacht gleich null ist, gegen zwei Uhr nachmittags aber am stärksten. Demnach vermag diese Pflanze Sonnenlicht und Wärme in Elektricität umzusetzen. Aber wie? – Unbegreiflich ist es auch und nicht durch chemische noch physikalische Kräfte allein zu erklären, daß die so robuste, Jahrhunderte ausdauernde Cypresse mit hartem, harzigem Holz bei -2° bis -4° zu Tode friert, während zarte Blümlein, saftige Cochlearien, Saxifragen und die zierliche Polarweide in monatelanger Polarnacht eine Kälte von -30° bis -50° aushalten! Oder warum, um eine einfache Frage zu stellen, wachsen die Zellen des Stengels in die Höhe und dem Licht zu, die der Wurzel aber abwärts und fliehen das Licht? – Niemand weiß es.

So ist die Pflanzenwelt auch eine Welt der Geheimnisse. Diese Wesen sagen etwas, das unsre Seele ahnt und doch nicht recht versteht; denn seitdem Adam die Pflanze, den Baum der Erkenntnis, zur Sünde mißbrauchte, sind die Augen des Geistes uns trübe geworden, und wir vermögen nicht es zu schauen, was die Pflanze ist, und zu hören, was die Blume spricht! Ach, wer ihn verstehen könnte, den Baum, wie er so still, in sich gekehrt und doch voll Saft und Leben, seine Wurzeln in das dunkle Unterreich senkt, Totes zu Lebendigem macht, gen Himmel sich streckt, freudig und voll aufatmend im Sonnenschein und Morgentau, standhaft im Wetter und Sturm, wie er unverdrossen lebendige Früchte erzeugt und Gott preist im Rauschen seines Laubes. Ein Baum des Lebens, der dem doch viel höheren Menschen ewiges Leben verleiht (1. Mos. 3, 22), welches Mysterium! – Ernährung! Wachstum! Blühen! Fruchttragen! wunderbare Vorgänge wie im Leiblichen, so auch im Geistigen! Wie der Baum, die Pflanze selbst im Winter, wenn scheinbar in tiefem Schlummer versunken, rastlos wächst und Millionen von Zellen zu Blatt- und Fruchtknospen verarbeitet, so auch der Mensch. Ob er wacht oder schläft, nichts oder etwas thut, unaufhörlich wächst diese göttliche Pflanze, hinab in die Finsternis oder hinauf zum Licht; und wird wachsen in Ewigkeit, außer wenn im »zweiten Tod« alles Wachsen aufhört, und die Seele ewig erstarrt, versteinert in allen Ewigkeiten nimmer zu etwas anderm, zu einem Mehr werden kann, als was sie ist. Für ein Göttliches ein unbeschreiblich furchtbares Los!

Wie groß das Wort am dritten Tag: »Und Gott sprach: Es werden Pflanzen!« ein Wort, das donnernd durch die Weltalle hallte und in den Äonen der Zukunft wiederhallen wird, werden wir erst drüben erkennen. Hier sehen wir nur die leibliche, materielle, harte, gefesselte Pflanze, ihre stoffliche Hülle, nicht aber die wunderbare, geistige, göttliche Pflanze und wie wir nicht wissen noch begreifen, was »ein Baum des Lebens«, so auch nicht, was »ein Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen«! Aber wie sie einst im Paradies blühte und Früchte trug, so wird die Pflanze, der Baum einst im neuen Paradies, auch sie vom Bann und Fluch der Sünde erlöst, in ungeahnter Pracht sich entfalten, üppig grünend, nie verwelkend, herrlich blühend, Früchte tragend; und wir werden von den Früchten des Lebensbaumes Unsterblichkeit essen und Christus wird mit uns von der Frucht des Weinstocks trinken.

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Kommen wir an das Tierreich, so treten uns, wie wir schon an den Meerbewohnern gesehen, dunkle Mächte entgegen. Ist in allen Sprachen »Blüte und Frucht« etwas Schönes und Gutes, so gibt es dagegen keine, die nicht das Wort »tierisch« oder gar »Bestie« und »bestial« als einen schweren Schimpf für den Menschen auffaßte. Die Pflanze verarbeitet und veredelt Totes zu Lebendigem, das Tier tötet und verzehrt Lebendiges, um zu leben. Die Pflanze ist ein Bild von edler Freigebigkeit, überläßt willig und nimmermüde ihre Früchte jedem und nützt durch ihr Leben. Das Tier lebt nur für sich, erzeugt keinerlei Früchte, sondern reproduziert sich nur und wird erst durch seinen Tod nützlich.

Gesetz des Tieres ist, gegenüber von Krystall und Pflanze, freie Bewegung. Wohl werden wir sehen, daß sehr viele Pflanzen frei beweglich, sehr viele Tiere unbeweglich, angewachsen sind. Will man aber die Grundgesetze einer Klasse von Geschöpfen erkennen, so muß man sie – und das verkennt auch naturalistische Litteratur – in den höheren und höchsten Typen der Familie suchen. Dann ist allerdings die Pflanze seßhaft und das Tier beweglich. Und aus diesem nicht an die Scholle gebunden sein entwickelt sich bei Ermangelung höherer Triebe das zweite Gesetz seiner Natur, der brutale Egoismus, die rücksichtslose Centralisation, die das Tier auch kennzeichnet. Man braucht nur ein Tier beim Fressen zu sehen oder noch besser zu stören, um den ganzen Unterschied zwischen diesem Wesen und der edleren, geduldigen, nicht fressenden, sondern sanft assimilierenden und lebendig machenden Pflanze einzusehen.

Gleichzeitig und parallel mit der Pflanze laufend, denn nicht, wie öfters angenommen, führt die höchste Pflanze zum niedrigsten Tier, sehen wir die zahlreichen Formen des Tierreichs auch auf die Grundformen des Krystalls zurückführbar. Wie überraschend ähnlich ist z. B. die Gestalt eines Seesterns der so mancher Krystalle, wobei in ihrem Wachstum beide aus ihrem Centrum hinausstrahlen. Auch Polypen und Madroporen erinnern lebhaft an Krystallformationen. Wichtiger aber ist es, daß auch höhere Tiere, ja, selbst der Mensch Gebilde darstellen, durchaus nach drei Achsen aufgebaut, nach vorn und hinten, oben und unten dissymmetrisch, nach links und rechts symmetrisch, welcher Bau aus Millionen von Atomen stets nach diesen Achsen proportional wächst. Wie schon erwähnt, können wir jetzt den Unterschied zwischen Tier und Pflanze nicht mehr so leicht feststellen. Das Pflanzenreich und das Tierreich gehen unmerklich ineinander über, sind verbunden durch das ungeheure Gebiet der zweifelhaften, in letzter Zeit zur traurigen Berühmtheit gelangten Mikroben und Bacillen. Wir sind gewöhnt, Pflanzen als seßhafte, angewurzelte Organismen aufzufassen. Dies ist nur bei den höheren Gebilden beider Klassen wahr. Obige Pflanzengebilde, Diatomeen und Bacillen sind nicht nur nicht angewachsen, sondern bewegen sich aus unbekannten Ursachen frei umher, wie an Pleurosigma- oder Naviculaarten schön zu sehen. Nimmt man dazu die unzähligen, mikroskopischen, schönen Desmidien, die im Frühling und Sommer Teich und Sumpf grün färben und andre Pflanzengebilde, die mit dem Plankton im Meer schwimmen, so muß man sagen: die größte Zahl der Pflanzen auf Erden ist nicht angewachsen, sondern beweglich. – Und betrachtet man im Tierreich die seßhaften Glockentierchen, Schwämme, Seefedern und Polypen, die Korallen und Madreporen, die im Stillen Ocean unterseeische Länder bilden, so kommt man zu dem Schluß, daß ein bedeutender, ja für uns unbegreiflich großer Teil der Tiere pflanzenartig angewachsen, festgewurzelt ist.

Die Kraft des Lebens, die wir schon bei Pflanzen bewundert haben, zeigt sich auch beim Tier in erstaunlicher Weise. So schon, wenn die kleinsten Wesen, die unsichtbaren Bacillen, so energische, chemische Reaktionen hervorrufen, daß ihre Excremente zum furchtbarsten Gift (Toxin) werden und Wesen wie den Menschen, die ihnen gegenüber ganze Weltkörper sind, mitunter in einer halben Stunde und noch schneller töten. Das für das bloße Auge unsichtbare Paramäcium hebt das Neunfache seines Körpergewichts empor. So auch bei den Insekten; ein lebender Maikäfer schleppt zehn tote fort; welcher Elefant könnte nur zwei fortbringen! Ein Rädertier ( Callidina symbiotica) ist nach K. von Marilaun fünf Jahre vertrocknet im Glaskasten geblieben, und wieder aufgelebt. Ja, Tyleuchus scandeus (Weizenälchen) soll bis zu zwanzig Jahre eingetrocknet im Scheintod am Leben bleiben. Was sind das für unvorstellbare Zustände? – Auch im Flug der Insekten thun sich fast unbegreifliche Kräfte kund. So machen die Flügel der Biene in einer Sekunde vierhundertundvierzig Doppelschwingungen, die der Schnake siebenhundert. Des Moschusbocks Flügel vibrieren noch schneller; denn er bringt den höchsten Ton hervor, das viergestrichene a. Das sind Bewegungen, die unsre Arme und Beine sofort auseinanderrissen, selbst wenn sie aus Stahl bestünden.

Mit dieser ungeheuren Muskelkraft beherrscht das Tier, vor allem der Fisch und der Vogel und die kleinsten Mücken, die auch gegen den Wind stundenlang auf und ab tanzen im Sonnenschein, den Raum in einer Art, die wir uns schwer vorstellen können. Delphine und Haifische spielen tage- und wochenlang ohne Ermüdung um den schnellen Postdampfer. Noch stärker sind die Vögel, diese wunderbaren Flugmaschinen; schon der kleine Haubentaucher hält im Schwimmen mit einem Dampfer Schritt. Letzthin flogen drei Brieftauben über den Atlantischen Ocean! legten also an achthundert Stunden Wegs, oft gegen den Weststurm, ohne zu fressen, noch auch eine Minute auszuruhen, zurück! Eine vom theoretisch-mechanischen Standpunkt völlig unbegreifliche Leistung! Der Edelfalke aber bei ernster Jagd oder die Segler des Meeres, so der Fregattenvogel, fliegen nach Brehm bis zu zweihundertundsechzig Kilometer oder an sechzig Kilometer in der Stunde. Mit solchem Flug könnten sie die Erde vom Äquator in hundertundfünfzig Stunden umfliegen, und es unterliegt kaum einem Zweifel, daß ein Fregattenvogel und ein Albatroß dieser Aufgabe gewachsen wäre; fliegt doch letzterer vom Südpol, wo er brütet, im April und im Juli über den Äquator bis nach Kamtschatka hin. Das Luftmeer, das die Erde umhüllt, ist sein Heim und sein Gebiet. – Und doch werden diese Könige der Lüfte von kleineren, unscheinbaren Vögeln an Schnelligkeit übertroffen. So legt nach Beobachtungen auf der Vogelwarte in Helgoland die Nebelkrähe auch zweihundert Kilometer, das rotstirnige Blaukehlchen aber dreihundertvierunddreißig Kilometer in der Stunde zurück, flöge in zwei Stunden von Hamburg an den Bodensee! So fliegt jedes Jahr die Steinschwalbe vom Kap der guten Hoffnung nach dem Nordkap hin und her; der Regenpfeifer, der Steinwälzer legen im Frühjahr fünfzehntausend Kilometer zurück, um von Südafrika, Polynesien, Australien in die Polargegenden zu wandern und machen dieselbe Reise im Herbst wieder (Dr. Perrot). Welche unfaßbaren Leistungen für diese winzigen, sich selbst heizenden und ölenden, willkürlichen und lenksamen Flugmaschinen!

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Im Tierreich sind die Grundzüge des gesellschaftlichen Lebens, des socialen Gesetzes der Arbeitseinteilung und Association gegeben, und wie schon bemerkt, könnten und sollten gerade heutzutage die Menschen an diesen weisen und ewigen Naturgesetzen lernen. – Auch ein Lehrbuch der Formen und der Symmetrie ist das Tierreich, zur Ausbildung des so wichtigen Formensinns dem Menschen gegeben. Dieser entspricht dem Dar- und Vorstellungsvermögen der Seele: wer die Formen richtig erfaßt, beschreibt gut, und wer gut beschreibt, unterscheidet gut; et qui bene distinguit – bene docet. Treffend sagt Carlyle: »Finde mir einen Mann, der mit Worten ein Bild malt, so hast du einen Mann gefunden, der etwas wert ist. Ein wertloser Mensch kann nicht das Bild irgend eines Gegenstandes entwerfen; er lebt in nebligen Äußerlichkeiten und Täuschungen, lebt in allen Dingen nur vom banalen Hörensagen.« – Man vergleiche mit den so mannigfaltigen und alle aus dem Kreis sich entwickelnden Blatt- und Blütenformen die auf doppelogiv zurückführbaren zehntausend Arten der Fische, die tausend Formen der Schneckenmuscheln (Spirale), der Seesterne und Seeigel (Kreisteilung) u. s. w.

Merkwürdig, daß wir Ziele und Zwecke der Tierschöpfung weniger klar erkennen als die der Pflanzen. So wissen wir nicht, warum in den Tiefen des Oceans, im Luftreich, in der Wüste und auf den Savannen und Prärien so viele Billionen von Tieren leben, die von keinem Nutzen für den Menschen sind, die er nie gesehen hat, noch sehen wird; und hier mißlingt jeder zweckbestimmende Erklärungsversuch. Daß eine Verminderung des Pflanzenwuchses auf den Wasserkreislauf, also auf die Lebensökonomie unsres Planeten einwirken würde, ist uns klar; nicht aber, was es schaden würde, wenn alle unzähligen Landtiere und Vögel und Meertiere und Tierchen, die an den Polen leben, nicht existierten.

Merkwürdig auch, daß nirgends im Pflanzenreich die Persönlichkeit, die Individualität so verwischt, so undefinierbar erscheint wie bei den niedrigen Formen des Tierreichs, den Polypen, Schwämmen u. s. w. Und doch zeigen gerade diese Formen eine fast unverwüstliche Lebenskraft. So kann man das Wasserschlängelchen ( Nais) in zwanzig Stücke zerschneiden, jedem Stück wächst wieder Kopf und Schwanz. Noch merkwürdiger ist die Hydra viridis oder grüner Armpolyp in unsern Teichen. Man kann ihn der Länge und der Breite nach beliebig spalten; aus den Stücken entstehen neue Individuen, ja Grube erzählt, er habe ihn lange im Mörser gestampft (!) und dennoch habe er, wieder ins Wasser gebracht, weiter gelebt.

Im Bau des Tieres lernen wir die stufenmäßige Entwicklung der so hohen Gesetze des menschlichen Leibes kennen. Wie interessant z. B., daß niedrige Larven durch blattartige Kiemen am Schwanz atmen, daß diese Kiemen immer noch blattartig bei höheren Insektenformen rechts und links sich verteilen, immer höher steigend, bis sie bei den Fischen in den Ohren zu Kiemen sich entwickeln! Aber immer noch ist kein Schall da, und erst wenn diese Kiemen zu inneren Lungen werden, entsteht die Stimme. Wie schön zu beobachten, wie das bei den Schwämmen aus ganz identischen, unzusammenhängenden Kalknadeln bestehende Skelett sich allmählich durch alle Tierformen hindurch immer mehr zusammenfügt, wie jeder Knochen sich zu immer mehr abgesonderten Zwecken ausbildet, bis er im menschlichen Körperbau ein Meisterstück von unerreichbarer Zweckmäßigkeit und Vollendung bildet. – Wunderbar ist auch die Mannigfaltigkeit der Sinnesorgane. Wie verschieden sind die Ocellen der Spinnen und Skorpione, welche freilich nur einen Zoll weit damit sehen können, von den facettierten Augen der Schmetterlinge und Fliegen, mit bis zu siebentausend Linsen und Sehnerven, oder von den aus einem Säckchen voll schwarzer Flüssigkeit ohne Hornhaut bestehenden, am Ende der Hörner bei Schnecken befindlichen! So finden sich die Organe des Gehörs beim Tiere an den verschiedensten Körperteilen. Die Flußkrebse haben sie am Fuß der Fühler, die Heuschrecken an den Vorderpfoten und die Mysiskrebse am Ende des Schwanzes (E. Yung). Manche Muscheln hören mit dem Fuß, mit dem sie auch tasten und ihren Weg sondieren; und zwar hören sie recht gut, denn sie schließen ihre Schalen, sobald in ihrer Nähe nur laut gesprochen wird.

Wie die Pflanzenwelt ist auch die Tierwelt voll von leiblichen und seelischen Geheimnissen. So tritt erst beim Tier zum Unterschied von der Pflanze der Begriff »Wohnung« auf, so bei den Muscheln. So können die großen Schildkröten, diese so stupiden Tiere, die ziemlich lange ohne Gehirn leben können, deren dicke Schalen das Gewicht eines beladenen Wagens ertragen, es dennoch nicht leiden, wenn Regentropfen auf diese so harte Schale fallen, und wenn sie sich morgens bei noch so hellem Wetter ängstlich verstecken, wissen die Züchter, daß es an dem Tage noch regnen wird. Die Blätter giftiger Euphorbien schaden nicht den Rindern, aber töten unbedingt das Zebra; der Nashornvogel frißt ungestraft die für Mensch und Tier tödliche Strychnosnuß. Der Stich der Tsetsefliege, dieser Pest Südafrikas, schadet nicht dem Menschen, tötet aber den Ochsen, das Pferd, den Hund. – Auch merkwürdige Antipathien und Sympathien finden sich. So letztere nach dem Gesetz der anziehenden Gegensätze; zwischen Präriehunden und Klapperschlangen, Kranichen und Stieren, zwischen dem Haifisch und seinem treuen Begleiter, dem Lotsenfisch u. s. w. Hört man in den Wäldern Cochinchinas oder Javas das Geschrei des wilden Pfaus, so weiß man auch, daß sein Freund, der Tiger, in der Nähe ist, beiläufig bemerkt, eine prächtige Farbenassociation. Dagegen verfolgen Raben den ihnen unschädlichen Bussard und die Eule oft stundenlang mit großem Geschrei. So ist der Schwertfisch, selbst ein Wal, ein Todfeind des Walfisches, während er durchaus friedlich mit dem großen Thunfisch sich verträgt; vor dem Pottfisch aber flieht er wie auch der Hai erschrocken und wagt nicht, selbst einem toten, gestrandeten sich zu nähern. So gerät der wilde und bösartige Pavian, der selbst den Leoparden in die Flucht schlägt, vor einer kleinen Schlange oder einem Molch außer sich vor Entsetzen.

Am geheimnisvollsten und am wenigsten durch das nichtssagende Wort Instinkt zu erklären sind die Seelenregungen des Hasses und der Liebe bei Tieren, die wir als unzurechnungsfähige niedrige Organismen zu betrachten gewöhnt sind. Der Einsiedlerkrebs kämpft zwar wütend mit seinesgleichen, aber seine Anhänglichkeit für die auf seiner Schale sitzende Aktinie, einer Art Seeanemone, ist bekannt. Nicht nur wird sie nie von ihm verletzt, sondern wenn, wie Gosse u. a. es sahen, er seine Wohnung ändern will, so faßt er zart seine Freundin an und überträgt sie auf die neue Muschel; und gelingt ihm das Losmachen nicht, so verzichtet er lieber auf die neue Schale und bleibt seiner Aktinie getreu. Wohl wurde im Geiste unsrer egoistischen Zeit versucht, dies durch gegenseitigen Nutzen zu erklären, aber wie unzureichend diese Erklärung! Denn zum Begreifen eines etwaigen gegenseitigen Nutzens gehört noch mehr Intelligenz als zur bloßen gegenseitigen Neigung, wie wir sehen, daß das kleinste Kind zur Mutter Neigung verrät, lange ehe es berechnen oder nur begreifen kann, von welchem Nutzen ihm diese ist. Nicht einzig ist darin der Einsiedlerkrebs. Schon Aristoteles kennt und erwähnt das freundschaftliche Verhältnis zwischen der kleinen Krabbe Pinnotheres (Pinnenwächter) und der Muschel Pinna, in welcher sie lebt, daher ihr Name. Diese Pinna kommt schon in Ägypten als Hieroglyph vor, und bedeutet dort: einen auf die Unterstützung seiner Kinder angewiesenen Familienvater! (Schleiden, das Meer. S. 475.)

Aus dem Tierreich ersehen wir ferner, wie nach uns gänzlich unbekannten Gesetzen eine Individualität sich äußerlich vollständig verändern kann, ohne sich zu verlieren. So, wenn dasselbe Individuum wie bei vielen Insekten drei so verschiedene Lebenszustände durchläuft wie Larve, Puppe und beflügeltes Tier. Die Verwandlung einer Raupe in einen Schmetterling, die einer Larve in eine Libellule ist eine physiologische und psychologische Lehre von großer Bedeutung. – Diese Vorgänge sind wert, etwas genauer betrachtet zu werden! – Wie so eine Raupe sich bald lang hinstreckt, bald zusammenzieht, bald nach rechts und links krümmt und dabei Gestalt, Länge und Dicke ihres Körpers stets verändert, das hat jeder schon gesehen; aber nicht jeder bedenkt, was das heißt. Eine Villa mit zahlreichen Dampfheizungs-, Wasserleitungs- und Gasröhren, so gebaut, daß sie jeden Augenblick mühe- und lautlos sich verlängern und verkürzen, links und rechts ausdehnen ließe, wobei alle Fenster und Thüren, Läden und Vorhänge, Böden und Dachkammern samt obigen Röhren sich streckten und verkürzten, ohne irgend ein Brechen noch Reißen, noch Rinnen, noch Verstopfen, das wäre eine bewundernswürdige Leistung auch für den größten Architekt und Ingenieur. Bei der Raupe haben wir es mit einem solchen Bau voll von zahlreicheren, zarteren, ja empfindlichen Röhrensystemen und inneren Einrichtungen zu thun. Luft und Blut, Magensaft und die verarbeitete Nahrung müssen trotz beständigen Verkürzungen, Verlängerungen und Verbiegungen ungestört durch Hunderte von Gefäßen cirkulieren; denn dieser wunderbare Tierbau muß dabei stets atmen, verdauen und fühlen. Knochen kann es natürlich hier nicht geben, sondern die starke und doch elastische Haut hält diesen halbflüssigen Körper zusammen. Könnten wir mit den Augen einer Ameise, oder besser einer Daphnis, die wie ein rotes Pünktchen in der Pfütze schwimmt, das Innere einer sich bewegenden Raupe sehen, wie erstaunlich! Wie Fernrohre ziehen sich Hunderte von Röhren aus- und ineinander, werden bald sehr dick, bald sehr lang und dünn, von Muskeln bewegt und von Nerven durchzogen, die wie Spiralfedern sich verkürzen und verlängern. Halbflüssige Fleischmassen verändern beständig ihre Gestalt; bei jeder Wendung schließen sich einige der zwölf Luftluken und Stückpforten auf einer Seite und öffnen sich auf der andern, und im nächsten Augenblick entsteht das umgekehrte Spiel; bald atmet das Tier mit der linken, bald mit der rechten Seite. Dabei schwellen an und dehnen sich die lufterfüllten und fallen zusammen und schrumpfen ein die luftleeren, weitverzweigten Luftröhren.

Dazu bedarf die Raupe einer gewaltigen Anzahl von Muskeln, so die Weidenraupen nach Lyonnet achttausend Paar (!), während der Mensch deren nur zweihundertachtzig besitzt; also wie ein Riesenschiff, auf dem bei jedem Manöver achttausend Maschinisten und Matrosen thätig sein müßten. Und trotzdem gehen alle Prozesse des Lebens so ruhig und vollkommen vor sich, daß so eine Raupe, die auf einem Kohlblatt sich umsieht, gar nicht merkt, was alles in ihr geschieht. – Verfolgen wir weiter dieses merkwürdige Geschöpf. – Es hört auf zu fressen und sucht sich unruhig ein verborgenes Eckchen. Dort entwickelt es eine vollständig neue Thätigkeit, es kommen andre Muskeln in Wirksamkeit, und andre chemische Vorgänge treten auf; das Tier spinnt sich selbst eine Grabkammer, in der es die Wintermonate bewegungslos zu schlafen scheint, und lebt selbst bei strenger Kälte und gänzlichem Mangel an Nahrung monatelang weiter; auch ein Erstaunliches! Aber in dieser Hülle geschieht das Wunderbarste. Hier transformiert und transfiguriert sich ein niederes Tier zu einem höheren! Bei und trotz diesem Fasten werden die harten Kiefer zum langen, biegsamen, mit vielen zierlichen Saugnäpfchen zum Honigtrinken versehenen Rüssel. In dieser Finsternis werden aus den sechs Einzelaugen zwei große, oft mit siebzehntausend Augenlinsen versehene, und aus den Borsten und Stacheln der Haut werden glänzend farbige Fächerschuppen. In diesem Kerker verlängern sich sechs Füße, die andern gehen ein; ja, in diesem Grab wachsen aus den Seiten große, biegsame Flügel, dachziegelartig von Tausenden von Schuppen bedeckt, mit für jede Art bestimmten, auf beiden Seiten sich genau entsprechenden Zeichnungen. – Also in dunkler Gruft alle Vorbereitungen zur höheren, nie gekannten Existenz. Welches Seelenleben mag wohl solchen ungeheuren Vorgängen entsprechen, sie verursachen und sie regieren? – Denn ebenso groß als diese materielle Veränderung ist die geistige. Bricht dieser Schmetterling hervor, so hat er nun andre Neigungen und Begierden, Ziele und Sehnsucht; er denkt anders als früher, begehrt nicht mehr des Kohlblatts, will nicht mehr kriechen, sondern fliegen, flattern, frei und heiter in den Lüften schweben; Sonnenschein, Blumenduft und Honigseim, das ist nun sein Leben. Eine wahre Auferstehung des Fleisches, ein erstaunliches Bild davon, wie eine Ichheit sich veredeln und transfigurieren kann, und doch eine und dieselbe bleiben!

Fast noch merkwürdiger ist die weniger beachtete Verwandlung einer Larve zu einer Libellule. Denn Raupe und Schmetterling leben beide in der Luft, im Sonnenschein, und nähren sich von Gewächsen. Wie aber kann die schmutzige und widerliche Larve, die ihr Leben unter dem trüben Wasser, im Schlamm des Sumpfes zubringt, ahnen, daß es ein oberes Reich der Luft und des Lichtes gibt, und sich zu diesem vorbereiten? Und doch wachsen ihr tief unten im Sumpf am Kopf die zwei ungeheuren, aus Tausenden von Facetten zusammengesetzten Augen für das obere Licht, der dunkelblau schimmernde Leib und die prächtigen, noch eng zusammengefalteten Flügel, so leicht und doch so stark! Und ist die Verwandlung vollbracht, so steigt sie an die Oberfläche und schneller, sagt ein Beobachter, als ein Mann sich seines Überrocks entledigt, sprengt sie die Hülle, fliegt und surrt und wiegt sich in einer neuen Welt der Blumen und des Sonnenscheins. Bei aller Schönheit bleibt sie aber die nimmersatte, grausame, blutdürstige Kreatur, die sie früher war.

Und was sollen wir vollends von dem Generationswechsel gewisser Meertiere sagen, bei welchen der Sohn ein vom Vater so verschiedenes Wesen ist, wie der Kolibri von einem Frosch, als ob zwei ganz unähnliche Seelen in sonderbarem Wechselspiel miteinander rängen! So eine Meduse, die frei im Meer wie eine milchweiße, halbdurchsichtige Schale mit den schönsten lang herabhängenden Fühlfäden herumschwimmt, erzeugt Eier, aus denen nicht Medusen, sondern viel kleinere seßhafte Polypen hervorgehen. Dieser Polyp trägt dann zu Hunderten kleine Knöspchen, die bald aus seinen Kapseln herausfallen, und als freischwimmende Medusen kolossale Größe erlangen, deren Eier reproduzieren wieder einen Polyp, wie der Großvater war u. s. w. – Welche Geheimnisse des Lebens!

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Das Mysterium des Tiers ist eben, wie bei der Pflanze, seine Individualität; ferner sein Seelenleben, die Weltauffassung dieser Ichheit. Was denkt so ein Hund, der mit klugen Augen fragend und bewundernd seinen Herrn anschaut, und jauchzt, wenn es ihm gelingt, dessen Willen zu erfassen! Was für ehrfurchtsvolle Vorstellungen von diesem höheren Wesen, von seiner Weisheit und von der Macht seines Wortes drängen sich in seinem Hirne, und auch was für ein Bewußtsein der eignen Gescheitheit und welche Auffassung der Natur? Oder was hat das gute Lastpferd, das unverdrossen und angestrengt Tag für Tag die Last bergauf zieht, für ein Gewissen und Pflichtgefühl? Oder was fühlt so ein Kanarienvogel, der vor Gram um seine verstorbene Herrin stirbt? Kurz, was sind das für verschiedene fremdartige Geister, die, wie wir mit Schmerzen geboren, wie wir leiden, hassen und lieben, fürchten und hoffen, sich erinnern und berechnen, z. T. treue Ehegatten und zärtliche Familienväter sind, und bis in den Tod wahre Freunde bleiben; die unsre Launen, unsre Winke, unsre Mißhandlungen geduldig tragen und sich glücklich schätzen, wenn wir sie mit einer Liebkosung, einem Streicheln belohnen? – Und wieder andre sind wie besessen von Dämonen des Grimms und Blutdursts, der Gier und des Schmutzes und des Menschenhasses!

Wohl sagt mancher: Das Tier handelt nur aus Instinkt, es hat kein Selbst-, Welt- noch Gottesbewußtsein. – Ist bald gesagt! Was das Letzte betrifft, so sind wir des Tieres Gott. »Eure Furcht und euer Schrecken,« nicht Gottes Furcht, »sei über alle Tiere,« sagt die Bibel. Wer aber dem Tier Selbst- und Weltbewußtsein abspricht, zeigt, daß er das Tier nicht kennt. Wird doch manche Leitkuh auf der Alm krank vor Gram und frißt nicht mehr, wenn man ihr die Schelle nimmt! Mit welchem Stolz reitet das Pferd des Obersten vor der Front! Mit welcher Treue und Gewissenhaftigkeit hütet ein Hund das ihm Anvertraute, und wie schämt sich der, welcher seine Pflicht versäumt hat. Und wie viele Tiere haben ihr Leben für ihren mitunter bösen Herrn gelassen! In Owens Naturgeschichte wird erzählt, wie in den Felsenbehältern, die in Nordschottland zur Aufbewahrung von Fischen dienen, ein blinder Karpfen, alter Tom genannt, auf den Ruf des Aufsehers stets herschwamm und sich von ihm streicheln ließ; aber sofort weggeschwommen sei, wenn der fremde Forscher ihn angerührt habe, um bald auf des Aufsehers Ruf zurückzukommen!

Mit der Welt, mit der Schöpfung, mit der Natur steht das Tier in weit intimeren Beziehungen als wir. Wir haben oben gesehen, daß es Sinne hat, die uns abgehen. Mit diesen Sinnen lebt es in einer uns gänzlich unbekannten Welt. Dazu gehört nicht bloß das sich stets Zurechtfinden auf der weiten Erde und in den Tiefen des Meeres, und auch das Voraussehen der Jahreszeiten, eines strengen oder milden Winters und das danach Einrichten des Baus und der Vorräte. Diejenigen, die das Tier kennen, weil sie mit dem Tier und von demselben leben, die Hirten, die Jäger, die Fischer, schreiben alle dem Tier Verstand, ja Gemüt und Seele zu. So fragt Grube: »Wenn alles Instinkt wäre, warum stirbt dann nicht jeder Hund auf dem Grab seines Herrn?« – Woher die so scharfe Individualität, so daß kein Hund, kein Pferd ist wie ein andres? So sagt Sir Lubbock, der vieljährige Beobachter der Ameisen: »Wir haben es hier mit Intelligenz zu thun,« und stellt dieses Insekt an Begabung über Hund und Pferd und unmittelbar nach dem Menschen. Und doch wiegt das Hirn, womit eine Ameise denkt, sich erinnert, Schlüsse zieht, berechnet, liebt und haßt, nach Flammarion nur ein Zehntausendstel eines Gramms! weshalb er dieses Ameisenhirn »das wunderbarste Atom Stoff in der Welt« nennt. Selbst so unentwickelte Tiere wie die Austern können Erfahrungen sammeln und dieselben verwerten. Wenn solche auf Bänken leben, die bei der Ebbe trocken liegen, lernen sie allmählich während dieser Zeit ihre Schalen schließen; die aus tieferem Wasser geholten öffnen sorglos ihre Schalen und sterben infolge der Verdampfung ihres Wassers. Obiges Lernen schließt in sich, was wir Menschen Erinnerung, Nachdenken und logische Schlüsse nennen; für eine Auster doch schon viel! – So frißt kein Tier Giftgewächse; selbst den durch den Aufenthalt bei Menschen verwöhnten Affen kann man noch mit Sicherheit in den Urwäldern als Vorkoster der Früchte brauchen, wo er die giftigen mit lautem Schrei von sich wirft. Und auch bei den unheimlichen Bewohnern der Tiefe findet sich ein geheimnisvolles Seelenleben. So erkennt der häßliche Tintenfisch im Aquarium von Neapel den Mann, der ihn täglich füttert. So zeigt sich selbst bei den kleinsten Organismen, nicht Tier und nicht Pflanze, bei den Amöben, Paramäcium (Pantoffeltierchen), Stentor, Trompetertierchen, die nur aus einer behaarten Zelle bestehen, aus einem Säckchen mit flüssigem Inhalt, noch in wunderbarer Weise ein Auswählen ihrer Beute, ein Meiden ihrer Feinde, und ein geschlechtlicher Gegensatz! ( Binet, La Vie psychique des Microorganismes).

Steigen wir vollends hinab in die dem bloßen Auge völlig unsichtbare, an Zahl unermeßlich große, Luft und Meer und Erde füllende Welt der Bakterien, Bacillen, Vibrionen, Mikroben, so werden die Mysterien des Lebens immer unergründlicher. Der Mensch mit seinen verschiedenen, getrennten Funktionen dienenden Organen ist gewissermaßen viel leichter zu verstehen als diese Gebilde, die ohne Teilung, ohne Formen, ohne äußere noch innere Organe scharf geschiedene Arten, kräftige Lebensäußerungen zeigen, und an Lebenszähigkeit und erschreckender Fortpflanzungskraft alle höheren Wesen weit übertreffen. »Ein einziges Bakterium ( Termo) wäre im stande, innerhalb drei Tagen eine Nachkommenschaft von siebeneinhalb Millionen Kilogramm zu erzeugen, und in fünf Tagen würde sie, wenn in ihrer Fortpflanzung gänzlich ungehindert, das Weltmeer füllen!« (Die Natur, 1894, Nr. 4). Wie sollen wir uns bei diesen infinitesimal kleinen und absolut einfachen Wesen Fortpflanzung und Vererbung vorstellen? Worin besteht da noch die Individualität? Wie bewirkt da die Lebenskraft bei den einen verschiedene Arten von furchtbarem Gift, Cholera-, Typhus-, Diphtheriestoff, bei den andern für den Menschen nützliche Prozesse der Gärung u. a.? Wo liegt da der Unterschied im Lebensprinzip? Wir dürfen kaum hoffen, diese Unterwelt von unheimlichen Wesen und dunkeln Naturkräften jemals eingehender kennen zu lernen.

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Geheimnisvoll erschienen mit Recht die Tiere den ersten Menschen. »Die Tiere,« sagt Grube, »die ohne lange Wartung und Pflege selbständig werden, sich selber helfen, entschieden das ihnen Gemäße und Nützliche thun, und in ihrem Thun und Lassen so sicher sind, mußten ihnen eine übermenschliche Vernunft versinnlichen.« Und so wurden sie von Naturvölkern als göttliche Symbole angesehen.

So bemerkt Brehm: »Mehr als irgend ein Tier hat der Ochse zur Gesittung des Menschen beigetragen.« Und welche Rolle spielten nicht von jeher das edle Pferd, hauptsächlich im Kampf und Krieg, und der Hund als Jagdgefährte des Menschen? – Feinere, ideale, was wir psychische Naturen nennen möchten, pflegen sich nicht mit Tieren abzugeben, Menschen und hauptsächlich Kinder sind ihnen lieber. – Mancher dagegen wird von seinem häßlichen, kläffenden Köter ungünstig ergänzt und in von ihm ungeahnter Weise illustriert. Denn das Verhältnis des Menschen zum Tierreich ist für ihn bezeichnend.

Das bekannte zarte Verhältnis alleinstehender Damen reiferen Alters zu ihrer oder ihren Katzen wollen wir hier nicht in unzarter Weise erörtern, noch symbolisch deuten. Die Frau neigt mehr zum Kätzchen, der Mann mehr zur Dogge. Eine Dame aber, die ihre Liebe einem Papagei zuwendet, mag wohl deshalb eine brave, etwas gesprächige Haus- und Ehefrau sein, aber eine Sappho ist sie nicht, und noch weniger eine heilige Therese oder Elisabeth. Idealer sind schon die Beziehungen zu einem lyrischen, heißblütigen, warmherzigen Kanarienvogel, dieser sich in leidenschaftlichem Gesang aushauchenden Tierseele. Gut paßt der Tyras zur Bismarckschen Figur, wie zu der Melacs seine zwei Wölfe; der bekannte Windhund von Sanssouci mit mächtiger Sprungkraft und feinem Gesicht zu Friedrich dem Großen, der Königstiger an goldener Kette zu Nero, und zum Rat der Zehner in Karthago die wachhaltenden, numidischen Löwen, die frei im Beratungssaal herumliefen. Zum Schönsten gehören die Löwen Ramses II., wie sie, eine wahrhaft königliche Leibwache, im Schlachtgewühl um den, auf goldenem Wagen daherfahrenden König geschart, der mit bloßen Armen tödliche Geschosse auf die Feinde schleudert, ihren Gebieter wütend verteidigen. »Die Löwen des Königs,« lautet die hieroglyphische Inschrift, »zerreißen die Feinde.« – Denn stets, von Nimrod her, hat der starke Mann immer etwas vom Tierbändiger in sich; und das Tier erkennt und fühlt diese Überlegenheit des Starken und fürchtet den Mann, der sich nicht vor ihm fürchtet. »Eure Furcht und Schrecken sei über alle Tiere.« – So waren die starken Römer als Tierbändiger ausgezeichnet. Ein Leopard, an Bord eines englischen Kriegsschiffs gebracht und frei gelassen unter sechshundert kräftigen Matrosen, wurde sofort zahm und scheu. Es ist nicht bloße Legende, wenn berichtet wird, daß Einsiedler, Anachoreten in der Wüste nie von wilden Bestien angefallen wurden, sondern vielmehr mit solchen auf freundschaftlichen Fuß lebten. Vor allem war es die Macht des in Gott stehenden Menschengeistes über die Tierschöpfung, wie auch böse Hunde gewissen Menschen nie etwas zu Leid thun, und die eng damit verbundene Liebe, die sie zu unbewußten Tierbändigern machte. Aber auch ihre von einfachster vegetabilischer Nahrung gebildete Körperlichkeit übte keinen Freßreiz auf wilde Tiere aus.

Der Mensch, der für das Tier schwärmt, ist voll Inkonsequenz, weil er das Gesetz der Hierarchie in der Ichheit verkennt. Töte ich einen Hecht, Salm oder Barsch, der täglich an vierzig bis fünfzig Fischlein frißt, so ist das echter Tierschutz, und ebenso wenn ich ein Schwalbenpaar erlege, das für sich und seine Jungen an tausendzweihundert Mücklein täglich verzehrt. Aber die Schwalbe ist ja nützlich, und die Mücklein schädlich! – So fallen wir immer wieder auf das Nützlichkeitsprinzip zurück, nach welchem die zartfühlende Dame, die über das Töten kleiner Vögel sich entsetzt, ruhig große, das Huhn und die Gans, und auch Ochsen- und Kalbsbraten verspeist. Selbst der strenge Vegetarianer ist nicht konsequent, sollte, wie einzelne Engländerinnen, sich weigern Muff und Pelz, Schuhe und Handschuhe und selbst Portemonnaie aus dem Leder ermordeter Tiere zu benutzen. So laßt uns nicht nur Buchfinken und andre Vögel, sondern auch die armen Ochsen und Pferde in Freiheit setzen! – Was würden wir sagen, spannte man uns tagelang am Pflug und Wagen, mit eisernem Gebiß im Munde? – So verirrt sich derjenige, der die Tierfrage nur mit dem Gefühl lösen will. Ein Tier ist nicht ein Mensch, und der Brahmine, der sich von Ungeziefer fressen läßt, um Tierlein zu ernähren, ist nicht edel, sondern dumm und thöricht. – Bleiben wir lieber bei der Bibel! – Sie sagt: Der Gerechte erbarmt sich seines Viehs; aber auch: »Alles was sich reget und lebet, das sei eure Speise« (1. Mos. 9, 3). Christus aß Fisch und befahl wiederholt den Fischfang; und vom Wert des Menschen dem Tier gegenüber, spricht er: »Ihr seid besser denn viele Sperlinge!«

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Wie schon beim Menschen der Standpunkt und die Übersicht des einzelnen seiner Höhe über dem Meer der Menge entspricht, so zeigt uns Gott in seinem Wort eine weit höhere und bedeutsamere Auffassung des von Ihm geschaffenen Tiers als die unsrige. Die Bibel zeigt, wie die zwei großen Prinzipien des Guten und des Bösen jetzt in diesen in fleischlichen Banden eingekerkerten Geistern walten. Schon bei Noah, also an der Schwelle der jetzigen Weltentwicklung, unterscheidet die göttliche Zoologie zwischen reinen und unreinen Tieren, und setzt diesen Unterschied als bekannt voraus; nicht ein bloßes Bild und eine Figur der Rede, sondern tiefes Schauen eines Gottes, der die Tiere schuf und der wesentlich meint, was er sagt. Wohl wird öfters mit Hinweis auf Apostelgesch. 10 behauptet, daß dieser Unterschied nur für das jüdische Volk statuiert wurde, für den Christen aber nicht gelte und überhaupt nicht wesentlich in der Natur bestehe. Aber wie oberflächlich! Denn fürs erste wird dabei der Wortlaut übersehen: »Was Gott gereinigt hat, mache nicht gemein!« Damit ist doch gesagt, daß diese an sich unreinen Tiere einer göttlichen Reinigung bedurften, ehe sie für Petrus rein wurden; zugleich ein treffendes Bild des durch die göttliche Gnade von den Greueln des Heidentums bekehrten Cornelius. Fürs zweite wird bei dieser Erklärung, das »dem Reinen ist alles rein«, dieser Anteil an dem Vorrecht so hochstehender Christen wie Petrus und Paulus, ohne weiteres jedem noch so unentwickelten Christen, ja Namenschristen zuerkannt, dem er ebensowenig zukommt, wie das im Feuerwagen gen Himmel fahren, das Wandeln auf dem Wasser und die Wundergaben überhaupt. Wie in der Natur, gibt es im göttlichen Leben eine hohe und höchste Aristokratie, und wir, die wir kaum über die Schwelle des Tempels getreten, dürfen uns nicht anmaßen, mit den Insignien und Prärogativen der Männer Gottes und Geistesfürsten zu spielen. Fürs dritte übersieht man dabei, daß solche höheren Geistesgesetze die Naturgesetze nicht aufheben. Ist auch dem völlig in Gott Stehenden verheißen und durch biblische Thatsachen festgestellt, daß, so lang er in Gott steht, Feuer ihn nicht verbrennen, Wasser ihn nicht ersäufen werde, daß er auf Schlangen treten und Tötliches ohne Schaden trinken könne, so brennt deshalb das Feuer doch, und das Wasser ersäuft, und der Biß von Giftschlangen schadet. Und so gibt es reine und unreine Tiere, ja reine und unreine, die unreine Seite des Menschen anregende Pflanzen, davon Christus selbst ausdrücklich sagt: ein guter Baum bringt gute Früchte, und ein schlechter Baum bringt schlechte Früchte. Ja, es gibt auch reine und unreine Metalle, wie Gott sich die Edelsteine, diese Blumen des Steinreichs, geheiligt hat im Urim und Thumim. – Das sagt uns schon das innere Naturgesetz, und kein Christ wird, weil dem Reinen alles rein ist, sich im Kot wälzen oder das schmutzige, viehische Schwein oder die weithin nach Aas und Fäulnis riechende, den neutralen Stoff zum entsetzlichsten Gift verarbeitende Klapperschlange sich zum Liebling erwählen! – Wenn Christus als Lamm in der Offenbarung geschaut wird und der Heilige Geist als Taube erscheint, so ist hiermit diesen Tieren eine andre Bedeutung und folglich auch ein anderer innerer Wert zuerkannt, als dem Fuchs und dem Wolf, den Hunden und den Schweinen (Matth. 7, 6), oder den Schlangen und Ottern. Die beiden Prinzipien Gut und Böse, Rein und Unrein durchwehen die ganze Schöpfung und das weit gründlicher, als wir es uns nur träumen lassen. Das erkannte schon die altjüdische Weisheit aus dem alten Testament. Aber weil wir meist in bloßen Redensarten reden, setzen wir dasselbe auch von Gottes Wort voraus und verkennen seine Tiefe.

Schon bei der Schöpfung der Fische und Vögel heißt es: »Gott schuf jede lebendige, sich regende Seele, wovon die Wasser wimmeln.« »Und Gott segnete sie und sprach: Seid fruchtbar und mehret euch.« Also eine lebendige, von Gott gesegnete Seele ist das Tier und zwar mit demselben Segen der Fruchtbarkeit gesegnet wie der Mensch. – Auch von seiner ganzen Tierschöpfung sah Gott, daß sie sehr gut war; und so sehen wir das Tier im Paradies als ein reines, zur Unsterblichkeit bestimmtes Geschöpf. – Selbst nach dem Sündenfall hält Gott diese Tiere für würdig, mit Ihm einen Bund einzugehen. »Siehe! Ich errichte meinen Bund mit euch und mit jeglicher lebendigen Seele, die bei euch ist, an Gevögel, an Vieh, und an allem Getier der Erde bei euch!« (1. Mos. 9, 11). Und diese Tiere will Gott einst zur Verantwortung ziehen: » Von jedem Tier will ich euer Blut fordern.« (1. Mos. 9, 5 Grundtext.)

So zeugt das ganze mosaische Gesetz von einer tiefen, von uns wenig oder gar nicht erkannten Bedeutung des Opfertodes des Tieres und seiner Mitwirkung an der großen Sühne für die Menschenseele. Auch hier handelt es sich nicht um eine bloße Form des Kultus. Endlich sehen wir das Tier in der Offenbarung; Christus und die Heiligen kommen auf weißen Pferden zurück. Für den, der von der majestätischen Unwandelbarkeit Gottes und der Unzerbrechlichkeit seiner Gedanken durchdrungen ist, unterliegt es keinem Zweifel, daß auch das Tier, diese »sehr gute« Schöpfung, wie es einst im ersten Paradies um den ersten Baum des Lebens lustwandelte, so auch im zweiten (oder in demselben?) und auf der neuen Erde in herrlicher, gereinigter und geistig erhöhter Gestalt sich ergehen wird. Auch dort wird der azurblau und purpurrot schillernde Schmetterling, die weiße Taube und das edle Pferd, der kühne Adler und der starke Löwe uns erfreuen, wie Gott selbst seine Freude an diesen seinen Geschöpfen ausspricht: (siehe Hiob, Kap. 39-41). Göttliche Gedanken können nicht vernichtet werden. – Ob aber das einzelne Tier unsterblich? – Eine Frage, die sich nicht so leichthin abmachen läßt. Denn mit vollem Recht weist der Materialist darauf hin, daß, wenn die Tierseele, die erwiesenermaßen denkt, liebt, haßt, fühlt, will, erkennt, imaginiert, hofft und fürchtet, träumt und sich erinnert, und wie gut! ja, die ein Bewußtsein von Recht und Unrecht, von Gutem und von Bösem, und Schuld und Strafe und Pflicht besitzt, im Tod mit dem Körper aufhört, damit der Beweis erbracht ist, daß der bloße Stoff alle diese sogenannten Seelenthätigkeiten ausüben kann, und daß folglich die Hypothese des Geistes überflüssig wird. – Auch begründet erscheint die Forderung an die göttliche Gerechtigkeit, daß so manches treue Tier, Pferd und Hund u. a., das seine Pflicht mit Aufbietung aller Kräfte gethan, und dafür nur brutale Mißhandlungen oder gar den Tod geerntet, dafür drüben entschädigt werde. – Und was soll das große, uns von Paulus geoffenbarte Sehnen aller Kreaturen bedeuten, und wie wäre ein solches bei ihr möglich, wenn diese Kreatur im leiblichen Tod voll und ganz aufhört? – Bemerkenswert ist es, daß während diejenigen, die das Tier weder kennen noch lieben, obige Frage meist achselzuckend verneinen, der Fischer, Jäger, Bauer, Hirte, der Mensch, der mit dem Tier lebt und dasselbe beobachtet und liebt, sie oft mit voller Überzeugung bejaht.

So ist das Tierreich voll von großen, anregenden Rätseln. Auch das verklärte Tierreich wird uns einst auf der neuen Erde zu erstaunlichen Offenbarungen von tiefen Gedanken Gottes werden.

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