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Die Waage

Die beiden Schalen einer Waage sah ich
vor meinem innern Blick. Die eine war
beschwert mit allem Hasse dieser Welt
und so gefüllt mit Trübsal, dass der Druck
sie tief hinabzog. In der andern Schale,
wie war sie leicht und hob sich, lag nicht viel:
ein Funken Sonne, ausgesandt am Morgen
ins Wolkendickicht; eine Handvoll Blühn
von dürrem Dornbusch; dann ein Kinderlächeln
und was sonst noch an Blüten, Klang und Strahl
gesammelt ward von jenem stillen Engel,
des Auftrag lautet: »Sammle Liebe ein!«

O karge Ernte, mühevolles Tun!
So spärlich wächst im Feld die Blume Liebe,
dass sich der Engel, wandernd durchs Gefild,
kaum bücken muss. Und dennoch zieht er hin
und geht durchs Ödland, hoffend, dass er finde,
was seine Schale füllt und niederzieht.
So nimmt er, was ein Herz dem andern beut
an Freundlichkeit und Güte; nimmt den Klang
der sanften Worte und den Hauch vom Mund,
der Segen spendet; nimmt die Mitleidsträne
und jedes Opfer, das die Liebe bringt.

Wie eine Schwalbe, die dem Nestbau dient,
schießt er -- und lässt im Dunkeln einen Streif
von Glanz und Gold zurück -- zur Waage hin
und bringt das Wenige, das er gefunden,
in ihre leichtre Schale; fliegt und trägt
und hofft, so dass er unermüdlich sammelt,
dass sich die Schale senkt, dass Gleichgewicht
auf beiden Seiten eintritt. Denn zu hoffen,
dass Menschenliebe jeden Hass verdrängt,
das wagen selbst des Himmels Engel nicht.


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