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An eine Verklärte

I

An dieser Tageswende der Nacht,
hat meine Seele deiner gedacht;
lag meine Seele auf den Knien
und ließ dein Leben vorüberziehn;
ging meine Seele Schritt für Schritt
den Dornenweg deines Leidens mit.
Und jede Dorne, die dich berührt,
hat meine Seele zuinnerst gespürt:
Ich war der Seufzer, der dir entflog,
ich was das Schicksal, das dich betrog,
ich was der Stachel, der zugespitzt
mit seiner Schärfe dich wundgeritzt.
Ich fühlte den Grund von Einsamsein
in deines Wesens lachendem Schein,
ich wusste um deine verborgene Not,
ich litt deine Schmerzen, ich starb deinen Tod.
Die Stirn auf dem Boden lag ich da
und war dir noch einmal von Herzen nah.
Dann dämmert' des Morgens grausilberner Hauch,
die Bilder zerflossen wie dünner Rauch.
Noch bin ich im Leben, ich vollbracht es noch nicht.
Mein Tagwerk harrt, ich vollbracht es noch nicht.
Doch ist es vorbei, und ich gehe zur Ruh,
dann stehst du am Lager und lächelst mir zu.

II

»Lichte Seele, was für Blumen trägst du
überquellend in erhobnen Händen?
Holde Seele, welchen Garten pflegst du
in den blauen, himmlischen Geländen?«

»Dieser Blüten dichtgedrängte Dolden
sind die leisen, heimlichen Gesänge
deines Herzens, wenn der Morgen golden
überflutete die Hügelhänge.

Diese Büschel bunter Anemonen,
diese Garben roter Gladiolen,
deine Freuden sinds; ich kam sie holen,
dass sie nun in meinem Garten wohnen.

Zu solch schimmerden Narzissensternen,
zu so farbig angehauchten Nelken
wandelte sich Sehnsucht nach den Fernen
und nach Kränzen, welche nie verwelken.

Und die rosenfarbnen Blumenherzen,
überhangend aus des Straußes Mitten,
sieh, es sind zu Form erstarrte Schmerzen,
die du in der Erdenzeit durchlitten.

Also geh ich pflücken, sammeln, hüten;
also trag ich in erhobnen Händen
deines Herzens aufgeblühte Blüten
nach den blauen, himmlischen Geländen.«


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