Harriett Beecher Stowe
Onkel Toms Hütte
Harriett Beecher Stowe

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13. Kapitel

Toms neuer Herr

Seit der Lebensfaden unseres bescheidenen Helden sich mit dem von Helden einer höheren Klasse verwoben hat, wird es notwendig, letztere bei dem Leser in Kürze einzuführen.

Augustin St. Clare war der Sohn eines reichen Pflanzers in Louisiana. Die Familie stammte aus Kanada. Von zwei in Temperament und Charakter sehr ähnlichen Brüdern hatte sich der eine auf einer gedeihenden Farm in Vermont niedergelassen, und der andere war ein reicher Pflanzer in Louisiana geworden. Die Mutter Augustins war eine französische Hugenottin, deren Familie in den Tagen der ersten Kolonisierung in Louisiana eingewandert war. Augustin und noch ein Bruder waren die einzigen Kinder ihrer Eltern. Der erstere hatte von seiner Mutter eine außerordentlich zarte Konstitution geerbt, und man hatte ihn deshalb auf den Rat der Ärzte in seiner Jugend mehrere Jahre bei seinem Onkel in Vermont verleben lassen, damit der kräftigende Einfluß eines kälteren Klimas auf seine Konstitution wirke.

Während seiner Kindheit zeichnete er sich durch eine ausnehmende und auffällige Weichheit des Gefühls aus, wie man sie eher bei Frauen, als bei dem härteren Mannescharakter zu finden erwartet. Die Zeit überzog jedoch diese Weichheit mit der rauhen Rinde der Männlichkeit, und nur wenige wußten, wie lebendig und frisch sie noch im Kern fortbestand. Er besaß Talente erster Klasse, obgleich sich sein Geist stets mit Vorliebe zu dem Idealen und Ästhetischen hingezogen fühlte, und er konnte sich nie von der Abneigung gegen die praktischen Geschäfte des Lebens befreien, welche stets die Folge eines so im Gleichgewicht der Eigenschaften gehaltenen Charakters ist. Bald nach der Vollendung seiner akademischen Studien fühlte sich sein ganzes Wesen von einer innigen und heißen Glut romantischer Leidenschaft fortgerissen. Seine Stunde war gekommen – die Stunde, die nur einmal kommt; sein Stern stieg am Horizont empor – der Stern, der so oft vergebens emporsteigt, so daß man an ihn nur zurückdenkt, wie an etwas im Traume Geschehenes; und er stieg für ihn vergeblich empor. Um nicht mehr im Bilde zu sprechen: Er lernte ein begabtes und schönes Mädchen in einem der nördlichen Staaten kennen, gewann seine Liebe und sie wurden verlobt. Er kehrte nach dem Süden zurück, um Anordnungen für die bevorstehende Hochzeit zu treffen, als er höchst unerwartet seine Briefe mit der Post zurückerhielt, begleitet von einem kurzen Schreiben des Vormunds seiner Braut, welcher ihn benachrichtigte, daß die Dame vor Empfang des Briefes die Gattin eines andern sein werde. In seinem wahnwitzigen Schmerze hoffte er vergebens, wie schon so viele gehofft haben, das geliebte Bild mit einer verzweifelten Anstrengung sich aus dem Herzen zu reißen. Zu stolz, um Erklärungen sich zu erbitten oder zu suchen, stürzte er sich ohne Besinnen in den Wirbel des fashionablen Lebens, und war 14 Tage nach Empfang des verhängnisvollen Briefes der erklärte Bräutigam der herrschenden Schönheit der Saison; und sobald die Vorbereitungen zu Ende gebracht werden konnten, wurde er der Gatte einer schönen Gestalt, eines Paares feuriger, dunkler Augen und eines Vermögens von 100000 Dollar; und natürlich hielt ihn jedermann für einen höchst glücklichen Burschen.

Das junge Ehepaar verlebte seine Flitterwochen mit einem glänzenden Kreise von Freunden auf seiner schönen Villa am See Pontchartrain, als Augustin eines Tages einen Brief von der ihm wohlbekannten Hand empfing. Er erhielt ihn, als er eben eine ganze Gesellschaft durch den Zauber seiner witzigen Unterhaltung an seine Lippen gefesselt hielt. Er wurde leichenblaß, als er die Handschrift erkannte, aber wußte doch seine Fassung zu behalten und beendigte das scherzhafte Wortgefecht, welches er eben mit einer ihm gegenübersitzenden Dame bestand, und kurze Zeit darauf vermißte man ihn im Kreise. Allein in seinem Zimmer öffnete und las er den Brief, den zu lesen jetzt schlimmer, als vergeblich und nutzlos war. Der Brief war von ihr und enthielt einen langen Bericht über die Verfolgungen, die sie von seiten ihres Vormundes hatte erleiden müssen, um sie zu bewegen, dessen Sohn zu heiraten; und sie erzählte, wie sie eine lange Zeit hindurch keinen Brief mehr von ihm erhalten; wie sie wieder und immer wieder geschrieben, bis sie zu zweifeln begann und müde wurde; wie ihre Gesundheit von ihren Bekümmernissen zu wanken anfing, und wie sie endlich das ganze Trugspiel entdeckte. Der Brief schloß mit Empfindungen der Hoffnung und Dankbarkeit und Beteuerungen ewiger Liebe, welche dem unglücklichen Jüngling bitterer als der Tod waren.

Er schrieb an sie sofort: – »Ich habe Deinen Brief erhalten – aber zu spät. Ich glaubte alles, was ich hörte. Ich war in Verzweiflung. Ich bin verheiratet und alles ist vorbei. Vergessen ist das einzige, was uns beiden übrig bleibt.«

Und so endigte die ganze Romantik und Poesie des Lebens für Augustin St. Clare. Aber das Wirkliche, die Prosa, blieb – die grobe Wirklichkeit, dem flachen, kahlen, schleimigen Flutschlamm gleich, wenn die blaue funkelnde Welle mit ihrer Begleitung von schaukelnden Booten und weiß beschwingten Schiffen, ihrer Musik von Rudern und plätschernden Gewässern zurückgeströmt ist, und der Überrest dort liegt, flach, schleimig, kahl – entsetzlich wirklich.

In einer Novelle bricht natürlich den Leuten das Herz, und sie sterben, und damit ist es aus; und in einer Geschichte hat das sein Angenehmes. Aber im wirklichen Leben sterben wir nicht, wenn alles, was das Leben schön macht, uns abstirbt. Es ist noch ein höchst geschäftiger und wichtiger Kreislauf von Essen, Trinken, Ankleiden, Spazierengehen, Besuchen, Kaufen, Verkaufen, Sprechen, Lesen und allem, was sonst das, was man gewöhnlich Leben nennt, ausmacht, zu überstehen; und das blieb Augustin noch übrig. Wäre seine Frau ein ganzes Weib gewesen, so hätte sie noch etwas tun können – wie es Frauen können – um die zerrissenen Fäden seines Lebens wieder zu verbinden, und sie wieder zu einem festen und glänzenden Gewebe zu verarbeiten. Aber Marie St. Clare war nicht einmal imstande, zu sehen, daß sie zerrissen waren. Wie schon vorher erwähnt, bestand sie aus einer schönen Gestalt, ein paar glänzenden Augen und hunderttausend Dollar; und keiner von diesen Vorzügen war besonders geeignet einem kranken Gemüte beizustehen.

Als man Augustin totenbleich auf dem Sofa liegen fand und er ein plötzliches Kopfweh als die Ursache seiner Leiden angab, empfahl sie ihm Hirschhorngeist; und als die Totenblässe und das Kopfweh Woche nach Woche wiederkehrten, sagte sie nur, sie habe nie geglaubt, daß Mr. St. Clare kränklich sei; aber er scheine sehr an Kopfweh zu leiden, und es sei ein wahres Unglück für sie, daß er nicht mit ihr in Gesellschaft gehen könne, und es sei so seltsam, so kurz nach der Heirat allein Besuche zu machen. Augustin war innerlich froh, daß er eine so wenig scharfblickende Frau geheiratet hatte; aber wie der erste Glanz der Flitterwochen verschwunden war, entdeckte er, daß seine schöne junge Frau, die ihr ganzes Leben lang gehätschelt und bedient worden war, sich im häuslichen Leben als eine sehr harte Herrin herausstellen könne. Marie hatte nie viel Gemüt oder Gefühl besessen, und das wenige, was sie besaß, hatte sich zu einer sehr intensiven und unbewußten Selbstsucht verhärtet, eine Selbstsucht, die durch ihre ruhige Gefühllosigkeit, ihr gänzliches Blindsein gegen alle anderen Ansprüche, als ihre eigenen, nur um so unheilbarer war. Von ihrer Kindheit an war sie von Dienstboten umgeben gewesen, deren einziger Lebenszweck war, ihre Launen zu studieren; der Gedanke, daß sie Gefühle oder Rechte hätten, war ihr nie im mindesten aufgedämmert, selbst nicht in der Ferne. Ihr Vater, dessen einziges Kind sie gewesen, hatte ihr nie etwas versagt, was Menschenhänden erreichbar war; und als sie als schöne hochgebildete Erbin in das Leben eintrat, seufzten natürlich alle wünschenswerten und nicht wünschenswerten Bewerber zu ihren Füßen, und sie zweifelte gar nicht, daß Augustin ein höchst glückliches Los gezogen habe, indem sie ihm ihre Hand reichte. Es ist ein großer, obgleich sehr gewöhnlicher Irrtum, daß eine herzlose Frau eine gutmütige Gläubigerin im Austausche der Neigungen sei. Niemand auf Erden fordert unbarmherziger Liebe von andern, als ein durch und durch selbstisches Weib, und je unliebenswürdiger sie wird, desto eifersüchtiger und geiziger fordert sie Liebe bis auf den letzten Pfennig. Als daher St. Clare anfing, die Galanterien und kleinen Aufmerksamkeiten zu unterlassen, die durch die Gewohnheit der Liebeswerbung anfangs wie natürlich von ihm kamen, fand er seine Sultana durchaus nicht bereit, ihren Sklaven freizugeben; es fehlte nicht an Tränen, Schmollen und kleinen Stürmen; es kam zu Auftritten, Klagen und Beschwerden. St. Clare war gutmütig und indolent und suchte die Sache mit Geschenken und Schmeicheleien wieder ins Gleis zu bringen; und als Marie ihm eine liebliche Tochter gebar, fühlte er wirklich eine Zeitlang etwas wie Liebe für sie.

St. Clares Mutter war eine Frau von ungewöhnlicher Hoheit und Reinheit des Charakters gewesen, und er gab dieser Tochter den Namen seiner Mutter in der zärtlichen Hoffnung, daß sie ein Ebenbild von ihr werden möge. Seine Frau hatte es mit launischer Eifersucht bemerkt, und sie betrachtete ihres Gatten hingebende Liebe zu dem Kinde mit Mißtrauen und Widerwillen; alles, was die Tochter an Liebe erhielt, schien ihr ein an ihr begangener Raub zu sein. Von der Geburt dieses Kindes an fing sie an, leidend zu werden. Ein Leben beständiger körperlicher und geistiger Untätigkeit – die Reibung unaufhörlicher Langeweile und Unzufriedenheit, verbunden mit der gewöhnlichen Schwäche infolge ihrer Entbindung – machten im Verlauf weniger Jahre die blühende junge Schöne zu einer gelben verwelkten, kränklichen Frau, die ihre Zeit mit einer Mannigfaltigkeit phantastischer Krankheiten verbrachte, und die sich in jeder Hinsicht als die unglücklichste und am schlimmsten behandelte Person auf der ganzen Welt betrachtete.

Ihre verschiedenen Beschwerden wollten kein Ende nehmen; aber ihr Hauptleiden war ein nervöses Kopfweh, welches sie manchmal drei Tage von sechsen in ihrem Zimmer festhielt. Da natürlich die ganze häusliche Einrichtung in die Hände von Dienstboten fiel, so fand St. Clare seine Häuslichkeit nichts weniger als gemütlich. Die Gesundheit seiner Tochter war außerordentlich zart, und er fürchtete, daß sie ohne sorgliche Pflege und Aufsicht der Unfähigkeit der Mutter ganz zum Opfer fallen könne. Er war deshalb mit ihr nach Vermont gereist und hatte seine Cousine Miß Ophelia St. Clare bewogen, mit ihnen nach seinem Wohnsitze im Süden zurückzukehren; und sie befanden sich jetzt auf dem Boote, wo wir sie unseren Lesern vorgestellt haben, auf der Heimreise.

Und nun, während in der Ferne die Dome und Türme von New Orleans sich unseren Blicken zeigen, ist's gerade noch Zeit, Miß Ophelia einzuführen.

Wer einmal in den neuenglischen Staaten gereist ist, wird sich in einem kühlgelegenen Dorfe an das große Farmhaus erinnern mit dem reingefegten, grasbewachsenen Hofe, überschattet von dem dichten und schweren Laube des Zuckerahorns, und an den Eindruck von Ordnung und Stille, von Dauer und unveränderlicher Ruhe, der von dem Ganzen unzertrennlich ist. Nichts ist verloren oder außer Ordnung, kein Pfahl in der Ferne ist locker, kein Hälmchen Stroh liegt auf dem rasenbedeckten Hofe, dessen Holunderbüsche sich dicht an die Fenster drängen. Drinnen wird er nicht die geräumigen, reinlichen Zimmer vergessen, wo niemals, weder jetzt noch zukünftig, gearbeitet zu werden scheint, wo jegliche Sache gleich und für immer unbedingt auf ihrem Platze steht, und wo alle häuslichen Verrichtungen mit der pünktlichen Genauigkeit der alten Wanduhr in der Ecke vor sich gehen. In dem Familienzimmer wird er sich an den gesetzten, ehrwürdigen alten Bücherschrank mit Glasfenstern erinnern, wo Rollins Geschichte, Miltons verlorenes Paradies, Bunyans Pilgers Wanderfahrt und Scotts Familienbibel nebeneinander und in Gesellschaft mit einer Menge anderer, ebenso feierlicher und Achtung gebietender Bücher in höchst anständiger Ordnung stehen. Dienstboten sind nicht im Hause, aber die Dame in der schneeweißen Mütze mit der Brille, die jeden Nachmittag mit Näherei beschäftigt unter ihren Töchtern sitzt, als ob nie etwas gearbeitet würde oder gearbeitet werden sollte – sie und ihre Töchter haben in einer längst vergessenen Frühstunde des Tages alles in Ordnung gebracht, und für den Rest des Tages und wahrscheinlich in jeder Stunde, wo man hinkommen würde, ist alles in Ordnung. Die alte Küchenuhr scheint nie einen Fleck zu kennen; die Tische, Stühle und das verschiedene Küchengerät scheinen nie außer Ordnung zu sein, obgleich 3 und manchmal 4 Mahlzeiten des Tages hier bereitet werden, obgleich das Waschen und Plätten der Familie hier verrichtet wird, und obgleich viele Pfunde Butter und Käse hier in einer stillen und geheimnisvollen Weise bereitet werden.

Auf einer solchen Farm, in einem solchen Hause und in einer solchen Familie hat Miß Ophelia ein stilles Dasein von ungefähr 45 Jahren verlebt, als ihr Vetter sie einlud, seinen Wohnsitz im Süden zu besuchen. Obgleich die Älteste einer zahlreichen Familie, betrachtete sie doch Vater und Mutter noch wie eines von den Kindern, und der Vorschlag einer Reise nach New Orleans war für den Familienkreis eine Sache von der größten Wichtigkeit. Der alte grauköpfige Vater holte Morses Atlas aus dem Bücherschrank und sah sich genau Länge und Breite an; und las Flints Reisen im Süden und Westen, um sich einen kleinen Begriff von der wahren Beschaffenheit des Landes zu machen.

Die gute Mutter erkundigte sich ängstlich, ob Orleans nicht ein sehr gottloser Ort sei, und sagte, es käme ihr fast vor, wie eine Reise nach den Sandwichinseln oder anderswohin unter die Heiden.

Es wurde bei dem Geistlichen und bei dem Doktor und in Miß Peabodys Putzladen bekannt, daß davon die Rede sei, Ophelia St. Clare mit ihrem Vetter nach Orleans hinunterreisen zu lassen; und natürlich konnte das ganze Dorf nicht weniger tun, als ihr in diesem sehr wichtigen Prozeß des davon Redens zu helfen. Der Geistliche, der sich sehr zu Abolitionisten-Ansichten neigte, war stark im Zweifel, ob ein solcher Schritt nicht einigermaßen beitragen könnte, die Bewohner des Südens im Behalten ihrer Sklaverei zu bestärken; während der Doktor, ein entschiedener Kolonisationist, mehr der Meinung war, daß Miß Ophelia gehen müsse, um den Leuten in Orleans zu zeigen, daß wir gar nicht so schlecht von ihnen dächten. Er war in der Tat überzeugt, daß die Bewohner des Südens der Ermutigung bedürften. Als jedoch dem Publikum die Tatsache vollkommen klar war, daß sie zu gehen entschlossen sei, luden alle ihre Freunde und Nachbarn sie alle vierzehn Tage lang feierlich zum Tee ein, um ihre Aussichten und Pläne gründlich durchzusprechen. Miß Moseley, die in das Haus kam, um bei dem Schneidern zu helfen, erlangte täglich größere Wichtigkeit durch die Enthüllungen, welche sie über Miß Ophelias Garderobe zu machen imstande war. Man erfuhr durch glaubwürdige Zeugen, daß Squire Sinclare, wie man seinen Namen in dieser Gegend gewöhnlich zusammenzog, 50 Dollar hingezählt und sie Miß Ophelia gegeben hatte, um alle für notwendig erachteten Kleidungsstücke anzukaufen, und daß zwei neue seidene Kleider und ein Hut von Boston angekommen waren. Hinsichtlich der Schicklichkeit dieser außerordentlichen Ausgabe war die öffentliche Meinung geteilt; einige meinten, es sei wohl, wenn man alles in Betracht ziehe, einmal im Leben erlaubt, während andere mit Entschiedenheit behaupteten, daß man besser getan hätte, das Geld an die Missionare zu schicken; aber alle stimmten darin überein, daß man in diesen Gegenden noch keinen solchen Sonnenschirm gesehen, als der von New York eingetroffen, und daß sie ein seidenes Kleid habe, welches recht gut allein aufrecht stehen könne, was man immer von dessen Herrin sagen möge. Es gingen auch glaubwürdige Gerüchte von einem Taschentuch mit einem Steppsaum um; ja das Gerücht ging sogar so weit zu behaupten, Miß Ophelia habe ein Taschentuch ganz mit Spitzen besetzt – einige wollten sogar wissen, es sei in den Zipfeln gestickt; aber dieser letztere Punkt konnte nie genügend festgestellt werden und ist in Wahrheit heute noch dunkel.

Wie der Leser gegenwärtig Miß Ophelia sieht, steht sie vor ihm in einem sehr glänzenden Reiseanzug von ungebleichtem Leinen, eine lange, starkknochige und eckige Gestalt. Ihr Gesicht war hager und etwas spitz in seinen Umrissen; die Lippen fest geschlossen, wie bei einer Person, die gewohnt ist, sich über alle Gegenstände gleich bestimmt zu entschließen; während die lebhaften dunklen Augen einen eigentümlich forschenden und überlegenden Ausdruck hatten und über alles hinwegschweiften, als ob sie etwas, was unter ihre Obhut zu nehmen sei, suchten.

Alle diese Bewegungen waren scharf bestimmt und energisch; und obgleich sie niemals viel sprach, gingen doch ihre Worte merkwürdig gerade auf ihr Ziel los, wenn sie einmal anfing.

In ihren Gewohnheiten war sie eine lebendige Personifikation von Ordnung, Methode und Genauigkeit. Ihre Pünktlichkeit war so zuverlässig, wie die einer Uhr, und unerbittlich, wie eine Eisenbahnmaschine; und sie hatte vor allem von einem entgegengesetzten Charakter eine höchst entschiedene Verachtung und Abscheu.

Die große Sünde der Sünder in ihrem Auge – die Summe aller Übel bezeichnete sie durch einen in ihrem Munde sehr häufigen und wichtigen Ausdruck – »Ratlosigkeit«. Ihr letzter und entschiedenster Ausdruck der Verachtung war ein sehr emphatisches Aussprechen des Wortes ratlos; und damit bezeichnete sie jede Handlungsweise, welche keinen geraden und unvermeidlichen Bezug auf die Erreichung eines vorgesetzten Zieles hatten. Leute, die nichts taten oder die nicht recht wußten, was sie tun wollten, oder die nicht den geradesten Weg zur Erreichung des Unternommenen wählten, waren der Gegenstand ihrer tiefsten Verachtung; eine Verachtung, die sich weniger häufig durch Worte, als durch einen starren Ernst in ihrem Gesichte zeigte, als ob sie verschmähe, ein Wort darüber zu verlieren.

Was ihre geistige Bildung betrifft, so hatte sie einen klaren, starken, tätigen Geist, war gut und gründlich in der Geschichte von den älteren, englischen Klassikern belesen und dachte innerhalb gewisser Grenzen mit großer Entschiedenheit. Ihre theologischen Glaubenssätze waren alle fertig in der bestimmtesten und deutlichsten Weise bezettelt und wie die Bündel in ihrem Musterkoffer eingepackt; sie hatte genau so viele, und es sollten nie mehr werden. Ebenso waren ihre Begriffe über die meisten Fragen des praktischen Lebens, z. B. über die Wirtschaft in allen ihren Zweigen und die verschiedenen politischen Beziehungen ihres Heimatdorfes. Und unter allem tiefer als alles andere und höher und breiter lag das kräftigste Prinzip ihrer Individualität – die Gewissenhaftigkeit. Nirgends ist das Gewissen so allbeherrschend und alles andere verzehrend, als bei den Frauen von Neu-England. Es ist die Granitformation, welche am tiefsten liegt, aber hervorbricht, um die Spitzen der höchsten Berge zu bilden.

Miß Ophelia war die unbedingte Sklavin der Pflicht. Hatte man sie einmal überzeugt, daß der Pfad der Pflicht, wie sie es nannte, nach einer bestimmten Richtung hin ging, so konnten Feuer und Wasser sie nicht vom Ziele abhalten. Sie wäre geradewegs in einen Brunnen hinunter oder bis vor die Mündung einer geladenen Kanone gegangen, wenn sie einmal bestimmt wußte, daß der Weg dorthin führte. Ihr Pflichtbegriff war so hoch, so allumfassend, so ins einzelne gehend und hatte so wenig Nachsicht mit menschlicher Schwäche, daß sie, obgleich mit heldenmütiger Begeisterung nach seiner Verwirklichung strebend, sich doch nie genug tat und sich deshalb von einem beständigen und oft quälenden Gefühle der Mangelhaftigkeit bedrückt fühlte. Dies gab ihrem religiösen Charakter eine strenge und etwas düstere Färbung.

Aber wie in aller Welt konnte Miß Ophelia mit Augustin St. Clare auskommen – mit dem fröhlichen, alles leichtnehmenden, unpünktlichen, unpraktischen, skeptischen Jüngling, der mit frecher und unbekümmerter Freiheit ihre liebsten Meinungen und Neigungen ohne Ausnahme mit Füßen trat?

Um die Wahrheit zu sagen, Miß Ophelia liebte ihn. Als er noch ein Knabe war, hatte sie ihn den Katechismus gelehrt, seine Kleider geflickt, ihm das Haar gekämmt und ihm im allgemeinen den Weg gezeigt, den er gehen sollte; da nun ihr Herz auch eine warme Seite hatte, so war es Augustin, wie bei den meisten Leuten, auch hier gelungen, einen großen Teil davon für sich zu monopolisieren, und deshalb wurde es ihm nicht schwer, sie zu überreden, daß der Weg der Pflicht in der Richtung von New Orleans liege, und daß sie mit ihm reisen müsse, um Eva unter ihre Obhut zu nehmen und seine Häuslichkeit während der häufigen Krankheiten seiner Frau vor gänzlicher Zerrüttung zu bewahren. Der Gedanke an ein Haus, das niemand unter seine Obhut nahm, ging ihr zu Herzen; dann liebte sie das liebliche kleine Mädchen, was überhaupt wenige umhin konnten zu tun; und obgleich sie in Augustin nicht viel mehr als einen Heiden sah, so liebte sie ihn doch, lachte über seine Witze und duldete seine Schwächen in einer Ausdehnung, welche denjenigen, welche sie näher kannten, ganz unglaublich erschien. Aber was noch weiter von Miß Ophelia bekannt zu werden verdient, muß der Leser durch persönliche Bekanntschaft entdecken.

Dort sitzt sie in ihrer Staatskajüte, umgeben von einer bunten Menge von großen und kleinen Reisesäcken, Schachteln und Körben, von denen jedes eine besondere Verantwortlichkeit enthält, die sie jetzt mit sehr ernstem Gesicht einpackt, zusammenbindet oder einschließt.

»Nun, Eva, hast du deine Sachen gezählt? Natürlich nicht – Kinder tun das nie. Der gefleckte Reisesack und die kleine blaue Schachtel mit deinem besten Hut sind zwei; die Gummitasche sind drei; mein Band- und Nadelkästchen vier; meine Hutschachtel fünf; meine Kragenschachtel sechs; und der kleine Roßhaarkoffer sieben. Wo hast du deinen Knicker? Gib ihn her, ich will ihn in Papier wickeln und ihn mit meinem Knicker an meinen Regenschirm binden; so!«

»Aber Tantchen, wir gehen ja nur nach unserem Hause – wozu nützt denn das?«

»Damit alles hübsch bleibt, Kind; wer im Leben zu etwas kommen will, muß seine Sachen in acht nehmen. Hast du deinen Fingerhut weggetan, Eva?«

»Wirklich, Tantchen, das weiß ich nicht.«

»Nun, schadet nichts; ich will dein Arbeitskästchen nachsehen; Fingerhut, Wachs, zwei Löffel, Schere, Messer, Bandnadel; alles richtig – tue es hier herein. Wie bist du nur durchgekommen, Kind, wie du nur mit deinem Papa heraufreistest? Ich sollte meinen, du hättest alle deine Sachen verlieren müssen.«

»O ja, Tantchen, es ging mir viel verloren; und wenn wir dann wo anhielten, kaufte mir Papa wieder, was ich verloren hatte.«

»Aber Kind, was ist das für eine Art!«

»Es war eine sehr bequeme Art, Tantchen«, sagte Eva.

»Es ist eine schrecklich liederliche Art«, sagte Tantchen.

»Aber Tantchen, was willst du jetzt machen?« sagte Eva. »Der Koffer ist zu voll und geht nicht zu.«

»Er muß zugehen«, sagte Tantchen mit der Miene eines Generals, als sie die Sachen hineinpreßte und sich auf den Deckel stellte; aber immer noch blieb ein kleiner Zwischenraum an der Vorderseite offen.

»Stell dich hier herauf, Evchen«, sagte Miß Ophelia ermutigend; »was man einmal zuwege gebracht hat, muß auch zum zweiten Male geschehen können. Dieser Koffer muß zugemacht und verschlossen werden – das läßt sich nur auf einerlei Weise machen.«

Und der jedenfalls durch diese entschlossene Äußerung eingeschüchterte Koffer gab nach. Der Haspen schnappte in den Riegel ein und Miß Ophelia drehte den Schlüssel um und steckte ihn triumphierend in die Tasche.

»Nun sind wir fertig. Wo ist dein Papa? Es ist Zeit, daß wir das Gepäck hinaufbringen. Sieh dich einmal um, Eva, ob du ihn finden kannst.«

»O ja, er steht am unteren Ende der Herrenkajüte und ißt eine Orange.«

»Er kann gar nicht wissen, daß wir gleich anlegen«, sagte Tantchen. »Wäre es nicht besser, du liefst hin und sagtest es ihm?«

»Papa hat nie Eile«, sagte Eva, »und wir sind noch nicht am Landungsplatze. Tantchen, komm auf die Galerie. Sieh nur, das ist unser Haus, die Straße hinauf!«

Das Boot machte sich jetzt bereit, sich mit schwerem Stöhnen wie ein riesiges müdes Ungeheuer durch die zahlreichen Dampfer am Levee zu drängen. Voll Freude zeigte Eva die verschiedenen Türme, Dome und Wegzeichen, an welchen sie ihre Geburtsstadt erkannte.

»Ja, ja, liebes Kind, sehr schön«, sagte Miß Ophelia. »Aber gnädiger Himmel! Das Boot hält an! Wo ist dein Vater?«

Und jetzt folgte die gewöhnliche Verwirrung beim Landen – Kellner, die auf einmal Zwanzigerlei Wege rannten –, Männer, die Koffer, Reisesäcke, Schachteln schleppten – Frauen, die angstvoll ihre Kinder riefen, und alles das wälzte sich in einer dichtgedrängten Masse nach der zum Landungsplatze führenden Planke.

Miß Ophelia setzte sich mit entschlossener Miene auf den vorhin besiegten Koffer, stellte alle ihre Mobilien in schöner militärischer Ordnung auf und schien gewillt zu sein, sie aufs äußerste zu verteidigen.

»Soll ich Ihren Koffer nehmen, Ma'm?« – »Soll ich Ihr Gepäck nehmen?« – »Lassen Sie mich Ihr Gepäck besorgen, Missis.« – »Soll ich das für Sie ans Land tragen, Missis?« schallte unbeachtet an ihr Ohr. Mit dräuender Entschlossenheit, aufrecht, wie eine in ein Brett gesteckte Stopfnadel saß sie da, ihr Bündel von Regenschirmen und Sonnenschirmen festhaltend, und antwortete mit einer Entschiedenheit, die selbst einem Fiakerkutscher Furcht einflößen konnte, und äußerte in jeder Pause gegen Eva ihre Verwunderung »woran nur Papa denken könne; er könne doch nicht über Bord gefallen sein – aber etwas müsse geschehen sein«. Und gerade als sie sich in wirkliche Besorgnisse hineinräsoniert hatte, kam er in seiner gewöhnlichen, sorglosen Weise an, reichte Eva ein Viertel von seiner Orange und sagte: »Nun, Cousine Vermont, du bist wohl fertig?«

»Ich bin fertig und warte fast schon eine Stunde«, sagte Miß Ophelia; »Ich wurde wirklich besorgt um dich.«

»Das ist wirklich hübsch«, sagte er. »Der Wagen wartet, und das Gedränge ist jetzt vorbei, so daß man wie ein anständiger Mensch und guter Christ ans Land gehen kann, ohne geschoben und gestoßen zu werden. Hier«, sagte er zu dem hinter ihm stehenden Kutscher, »nimm diese Sachen.«

»Ich werde mitgehn und auf das Einpacken achten«, sagte Miß Ophelia.

»Ich bitte dich, Cousine, wozu das?« sagte St. Clare.

»Nun, jedenfalls will ich das und das und das tragen«, sagte Miß Ophelia und nahm drei Schachteln und einen kleinen Reisesack.

»Meine liebe Miß Vermont, das geht hier durchaus nicht in der Weise. Jedenfalls, liebe Cousine, mußt du dir etwas von südländischen Sitten angewöhnen und darfst nicht mit dieser ganzen Last ans Land gehen. Sie halten dich ja für eine Kammerzofe; gib die Sachen dem Burschen da; er wird sie so zärtlich behandeln, als wären es rohe Eier.«

Miß Ophelia machte ein verzweifeltes Gesicht, als der Vetter ihr alle ihre Schätze abnahm, und frohlockte erst wieder, als sie dieselben sicher im Wagen vorfand.

»Wo ist Tom?« sagte Eva.

»Oh, er sitzt auf dem Bock draußen, Mäuschen. Ich will Tom der Mutter als Versöhnungsgeschenk bringen, zum Ersatz für den betrunkenen Kerl, der den Wagen umgeworfen hat.«

»Oh, Tom wird einen vortrefflichen Kutscher abgeben, das weiß ich schon«, sagte Eva. »Er wird sich nie betrinken.«

Der Wagen hielt vor einem alten palastartigen Hause, erbaut in der seltsamen Mischung von spanischem und französischem Stil, von welcher man Beispiele in einigen Teilen von New Orleans findet. Es war nach maurischer Art gebaut – ein einen Hof einschließendes Viereck, in welches der Wagen durch einen gewölbten Torweg einfuhr. Inwendig war der Hof offenbar zur Befriedigung eines malerischen und üppigen Idealismus eingerichtet. Breite Galerien liefen um alle vier Seiten, deren maurische Bogen, schlanke Pfeiler und Arabeskenverzierungen die Phantasie wie in einem Traume unter die Herrschaft orientalischer Romantik in Spanien zurücktrugen. In der Mitte des Hofes sandte ein Springbrunnen seinen Silberstrahl hoch empor und ließ ihn in einem nie versiegenden Regen in ein marmornes Becken, umgeben von einem breiten Rand duftender Veilchen, fallen. Das Wasser im Brunnen, hell wie Kristall, schwärmte von Tausenden von Gold- und Silberfischen, die darin herumfunkelten und -schossen, wie lauter lebendige Edelsteine. Um den Brunnen ging ein mit einem Mosaik von Kieselsteinen in phantastischer Weise gepflasterter Weg; und diesen wieder faßte ein Rasenplatz, weich und sanft wie grüner Sammet, ein, während das Ganze der Fahrweg umschloß. Zwei große Orangenbäume, jetzt von Blüten duftend, gaben köstlichen Schatten; und in einem Kreise auf dem Rasen standen marmorne Vasen im arabischen Geschmack mit den auserlesensten Blumen der tropischen Gegenden. Große Granatbäume mit ihren glänzenden Blättern und flammenfarbigen Blüten, dunkelbelaubte arabische Jasmine mit ihren Silbersternen, Geranien, üppige Rosenbüsche, deren Zweige sich unter der reichen Last ihrer Blumen bogen, Gold-Jasmine, zitronenduftendes Verbenum vereinigten alle ihre Blütenpracht und ihren Blütenduft, während hier und da eine mystische alte Aloe mit ihren seltsamen massigen Blättern wie ein alter grauer Zauberer herniederblickte und in düsterer Größe unter dem vergänglichen Glanze und Dufte ringsumher schaute.

Die den Hof umgebenden Galerien hatten Vorhänge von einem maurischen Stoff, die nach Belieben heruntergelassen werden konnten, um die Sonnenstrahlen auszuschließen. Im ganzen war die Erscheinung des Hauses üppig und romantisch.

Wie der Wagen durch den Torweg fuhr, erschien Eva in der aufgeregten Leidenschaft ihrer Freude wie ein Vogel, bereit, aus seinem Käfig herauszubrechen.

»Oh, ist es nicht schön, herrlich, mein liebes, liebes Haus! Ist es nicht schön?« sagte sie zu Ophelia. »Es ist sehr hübsch«, sagte Miß Ophelia, als sie ausstieg, »obgleich es mir etwas alt und heidnisch vorkommt.«

St. Clare, der in seinem Herzen ein poetischer Genußmensch war, lächelte, als Miß Ophelia ihre Bemerkungen über die Umgebung machte, und sagte zu Tom, der sich mit einem vor Bewunderung strahlenden Gesicht umsah: »Nun, Tom, hier scheint dir's zu gefallen?«

»Ja, Master, das sieht aus wie was Rechtes«, sagte Tom.

Alles dies geschah in einem Augenblicke, während Koffer ins Haus geschleppt wurden, der Fiaker Bezahlung empfing, und eine Menschenmenge von jedem Alter und jeder Größe – Männer, Frauen und Kinder unten und oben durch die Galerien rannten, um Master ankommen zu sehen. In erster Reihe stand ein bedeutend aufgeputzter junger Mulatte, offenbar eine sehr distinguierte Person, nach der allerneuesten Mode gekleidet, und graziös mit einem wohlriechenden Taschentuche wedelnd.

Dieser junge Mann hatte sich mit großer Lebhaftigkeit bemüht, die ganze Schar der übrigen Dienerschaft nach dem anderen Ende der Veranda zu treiben.

»Zurück, ihr alle. Ich schäme mich über euch!« sagte er in befehlendem Tone. »Wollt ihr euch in der ersten Stunde von Masters Rückkehr in seine häuslichen Verhältnisse eindrängen?«

Alle fühlten sich beschämt von dieser eleganten Rede, die mit sehr wichtiger Miene vorgetragen wurde, und drängten sich in einer achtungsvollen Entfernung zusammen, mit Ausnahme von zwei kräftigen Trägern, welche das Gepäck hineinschafften.

Infolge von Mr. Adolfs systematischen Anordnungen war, als St. Clare, nachdem er den Kutscher bezahlt hatte, sich umdrehte, niemand zu sehen, als Mr. Adolf selbst, in der Atlasweste, der goldenen Uhrkette und weißen Beinkleidern, sich mit unaussprechlicher Anmut freundlich verbeugend.

»Ach, Adolf, bist du's?« sagte sein Herr und bot ihm die Hand. »Wie geht dir's, mein Junge?« während Adolf mit großer Geläufigkeit eine Stegreifrede hielt, die er mit Sorgfalt seit 14 Tagen auswendig gelernt hatte.

»Schon gut, schon gut«, sagte St. Clare, der mit seiner gewöhnlichen Gleichgültigkeit und spöttischen Miene weiterging, »recht hübsch gemacht, Adolf. Sieh zu, daß das Gepäck gut untergebracht wird. Ich werde gleich zu den Leuten kommen.« – Und mit diesen Worten führte er Miß Ophelia in ein großes neben der Veranda liegendes Zimmer.

Während dies alles vor sich ging, war Eva wie ein Vogel durch die Vorhalle und das Zimmer in ein kleines Boudoir geflogen, dessen Tür ebenfalls auf die Veranda hinausging.

Eine hohe bleiche Dame mit dunklen Augen erhob sich halb von einem Sofa, auf welchem sie ruhte.

»Mama«, sagte Eva und fiel ihr voll Leidenschaft um den Hals und umarmte sie immer und immer wieder.

»Schon gut – nimm dich in acht, Kind, – damit ich kein Kopfweh bekomme!« sagte die Mutter, nachdem sie das Kind matt geküßt hatte.

St. Clare trat ein, umarmte seine Gattin im echten Ehemannsstile und stellte ihr dann seine Cousine vor.

Marie heftete ihre großen Augen mit einer Art Neugier auf ihre Cousine und empfing sie mit schläfriger Höflichkeit. Ein Gedränge von Dienstboten sperrte jetzt die Eingangstür und unter ihnen eine Mulattin in mittlerem Alter von sehr respektablem Aussehen, die vor Erwartung und Freude zitternd in erster Reihe an der Tür stand.

»Ach, da ist Mammy«, sagte Eva, als sie nach der Tür flog, sich in ihre Arme warf und sie wiederholt küßte.

Diese Frau sagte ihr nicht, daß sie Kopfschmerzen bekomme, sondern drückte sie im Gegenteil an sich und lachte und weinte, bis man an ihrem Verstande zweifeln mußte; und als sie Eva losgelassen hatte, flog diese von einem zum andern und schüttelte Hände und teilte Küsse aus auf eine Weise, daß es, wie Miß Ophelia später erklärte, dieser übel wurde.

»Das muß ich sagen«, sagte Miß Ophelia, »ihr südländischen Kinder könnt etwas tun, was ich nicht tun könnte.«

»Was gibt's?« sagte St. Clare.

»Nun, ich will gern mit jedermann freundlich sein und niemand weh tun; aber küssen –«

»Nigger zu küssen, könntet ihr nicht übers Herz bringen, eh?« sagte St. Clare.

»Ja, das ist's. Wie ist's ihr nur möglich!« St. Clare lachte, wie er auf den Gang hinaustrat.

»Heda, hier, was gibt's? Nun ihr alle – Mammy, Jimmy, Polly, Sukey – freut euch, Master wiederzusehen?« sagte er, als er allen die Hände schüttelnd im Kreise herumging. »Halt da, nehmt die Kleinen in acht!« setzte er hinzu, wie er über einen kleinen schwarzen Bengel stolperte, der auf allen vieren herkroch. »Wenn ich jemanden trete, so mag er sich nur melden.«

Vielfaches Lachen und Segnen begrüßte Master, als St. Clare kleine Münzen unter sie verteilte.

»Nun, jetzt macht, daß ihr fortkommt, wie folgsame Leutchen«, und die ganze Schar, die Dunklen und die Hellen, verschwand durch eine Tür, die auf eine große Veranda führte. Ihnen folgte Eva mit einer großen Tasche, die sie während der ganzen Heimreise mit Äpfeln, Nüssen, Kandiszucker, Bändern, Spitzen und Tändeleien aller Art gefüllt hatte.

Als St. Clare sich umdrehte, um zu gehen, fiel sein Auge auf Tom, der in großer Befangenheit und von einem Fuß auf den andern wechselnd dastand; während Adolf sich nachlässig an das Geländer lehnte und mit einer Miene, die jedem Dandy Ehre gemacht hätte, den andern durch ein Opernglas musterte.

»Da, Laffe!« sagte sein Herr und schlug ihm das Opernglas herunter. »Behandelst du so deine Kameraden? Es kommt mir vor, Dolf«, setzte er hinzu und legte den Finger auf die elegant gemusterte Atlasweste, in der Adolf herumstolzierte, »es kommt mir vor, als war das meine Weste!«

»O! Master, die Weste war voller Weinflecken! – Natürlich kann ein Herr, wie Sie, Master, so eine Weste nicht tragen. Ich dachte, ich sollte sie nehmen. Für einen armen Nigger, wie ich bin, geht sie noch.«

Und Adolf warf den Kopf in die Höhe und fuhr mit Grazie mit den Fingern durch das parfümierte Haar.

»So, das ist's also?« sagte St. Clare gleichgültig. »Ich will jetzt Tom seiner Herrin vorstellen, und dann nimmst du ihn mit in die Küche; und daß du mir nicht gegen ihn den Vornehmen spielst. Er ist zwei solche Laffen wert, wie du einer bist.«

»Master will immer seinen Spaß haben«, sagte Adolf lachend. »Es freut mich, Master in so guter Laune zu sehen.«

»Komm, Tom«, sagte St. Clare und winkte ihm.

Tom trat ins Zimmer. Er sah verlegen auf die Samt-Teppiche und die vorher nie geträumte Pracht von Spiegeln, Gemälden, Statuen und Vorhängen und fühlte wie die Königin von Saba vor Salomo keinen Geist mehr in sich. Er getraute sich kaum, seinen Fuß wohin zu setzen. »Sieh her, Marie«, sagte St. Clare zu seiner Gattin, »ich habe dir endlich einen Kutscher nach Wunsch gekauft. Ich sage dir, er ist ein wahrer Leichenwagen an Schwärze und Gesetztheit und fährt dich wie zu einem Grabgeleite, wenn du es verlangst. Mach deine Augen auf und besieh dir ihn. Nun sage mir nicht, daß ich in der Abwesenheit niemals an dich denke.« Marie schlug die Augen auf und heftete sie auf Tom, ohne sich aufzurichten.

»Ich weiß schon, er wird sich betrinken«, sagte sie.

»Nein, er ist mir als frommer und nüchterner Artikel garantiert.«

»Nun, ich will hoffen, er macht sich gut«, sagte die Dame, »doch ist das mehr, als ich erwarte.«

»Dolf«, sagte St. Clare, »bring Tom in die Küche hinunter und vergiß nicht, was ich dir gesagt habe«, setzte er hinzu.

Adolf hüpfte graziös voraus, während Tom ihm mit schwerem Schritte folgte.

»Das ist ja ein wahrer Behemot!« sagte Marie.

»Nun, Marie, sei gnädig und sage deinem Mann ein freundliches Wort«, sagte St. Clare und nahm auf einem Stuhl neben dem Sofa Platz.

»Du bist 14 Tage über die Zeit weggeblieben«, schmollte die Dame.

»Aber du weißt ja, ich habe dir geschrieben, warum.«

»Einen so kurzen, kalten Brief«, sagte die Dame.

»Mein Gott! Es war unmittelbar vor Abgang der Post, und ich konnte nur kurz oder gar nicht schreiben.«

»So ist's immer«, sagte die Dame, »es geschieht stets etwas, um deine Reisen lang und deine Briefe kurz zu machen.«

»Sieh!« sagte er jetzt, indem er ein elegantes sammetüberzogenes Etui aus der Tasche zog und es aufmachte. »Hier habe ich dir von New York etwas mitgebracht.« Es war ein Daguerreotyp, klar und weich, wie ein Kupferstich und stellte Eva und ihren Vater Hand in Hand nebeneinander sitzend dar.

Marie betrachtete es mit einer unbefriedigten Miene.

»Warum hast du in einer so linkischen Stellung gesessen?« sagte sie.

»Nun, die Stellung mag Geschmackssache sein; aber was sagst du von der Ähnlichkeit!«

»Wenn du in dem einen Falle nichts auf meinen Geschmack gibst, so kann er dir auch in dem andern gleichgültig sein«, sagte die Dame und machte das Daguerreotyp zu.

»Hol der Henker die Frau!« sagte St. Clare innerlich; laut aber setzte er hinzu: »Aber sag doch, Marie, was meinst du von der Ähnlichkeit? Sei doch vernünftig.«

»Es ist rücksichtslos von dir, St. Clare«, sagte die Dame, »durchaus auf dies Reden und Ansehen von Sachen zu bestehen. Du weißt, ich habe den ganzen Tag an Kopfweh krank gelegen; und seit deiner Ankunft war beständig ein solcher Lärm, daß ich halb tot bin.«

»Sie leiden an nervösem Kopfweh, Madame?« sagte Miß Ophelia, indem sie sich plötzlich aus den Tiefen eines großen Lehnstuhles erhob, wo sie ruhig dagesessen, ein Inventar über die Möbel aufgenommen und ihre Kosten berechnet hatte.

»Ja, ich leide schrecklich daran«, sagte die Dame.

»Wacholderbeerentee ist gut für nervöses Kopfweh«, sagte Miß Ophelia, »wenigstens sagte es Auguste, Dekan Abraham Perrys Frau; und sie verstand sich vortrefflich auf solche Sachen.«

»Ich werde die ersten Wacholderbeeren, die in unserem Garten am See reif werden, besonders zu diesem Zwecke herschicken lassen«, sagte St. Clare und zog mit ernsthaftem Gesicht an der Klingel. »Unterdessen, Cousine, wirst du wünschen, dich nach deiner Reise auf dein Zimmer zurückzuziehen und dich ein wenig zu erholen. Dolf«, befahl er diesem, »laß Mammy heraufkommen.«

Die Mulattin, die Eva mit so großer Lebhaftigkeit liebkost hatte, trat bald ein; sie war sauber gekleidet und hatte einen hohen, rot und gelben Turban auf dem Kopfe, ein eben erst von Eva erhaltenes Geschenk, welches das Kind ihr selbst aufgesetzt hatte.

»Mammy«, sagte St. Clare, »ich stelle diese Dame unter deine Obhut; sie ist müde und der Ruhe bedürftig. Führe sie in ihr Zimmer und trag Sorge, daß sie alle Bequemlichkeiten findet.«


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