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Sechzehnter Abend.
Theseus.

»Nun, wo waren wir denn gestern stehen geblieben?« fragte der Lehrer.

»Bei dem alten Ägeus«, riefen die Knaben, »der sich ins Meer gestürzt hatte.«

»Recht. Nach ihm, sagt man, hat eben dieses Meer den Namen des ägeischen erhalten, mit dem ihr es auch hier auf unserer Karte bezeichnet seht.« Theseus hatte nun noch eine heilige Pflicht zu erfüllen. Denn er hatte gelobt dem Apollon auf dessen Geburtsinsel Delos ein reiches Opfer zu bringen, wenn er von dem Zuge nach Kreta siegreich zurückgekehrt sein würde. Er reiste mit demselben Schiffe dahin, brachte das Opfer und weihte zugleich der Liebesgöttin Aphrodite daselbst zur Dankbarkeit für ihren Beistand in sofern Ariadnes Liebe ihm den Sieg erleichtert hatte eine von dem Künstler Dädalos verfertigte Bildsäule. Auch stiftete er zum Andenken an das Labyrinth einen Tanz auf der Insel Delos, in welchem die Krümmungen desselben artig nachgeahmt wurden; ein Tanz, der sich noch lange nachher dort erhalten hat, den neuere Reisende noch heutzutage bei den Neugriechinnen auf den Inseln des Archipelagos wiedergefunden haben wollen. Auch die Fahrt nach Delos ward von den dankbaren Athenern fortan jährlich um dieselbe Zeit wiederholt, und zwar auf demselben Schiffe, das den Theseus getragen hatte, und das zu dem Ende sorgfältig aufbewahrt und von Zeit zu Zeit erneuert wurde. Im Schmuck der Ölzweige erschienen die Abgeordneten vor den Altären des Gottes, ihm zu opfern. Man hieß diese jährlich wiederkehrende Bittfahrt eine Theorie (eine heilige Gesandtschaft), und während das Schiff auf derselben begriffen war, war es nicht erlaubt daheim einen Verurteilten hinzurichten. Denn da durch dieses Gelübde die Rettung der athenischen Jugend gefeiert wurde, so durfte man während der Zeit dem Tode keine Opfer bringen. Dieser Umstand fristete unter andern späterhin dem zum Giftbecher verurteilten Sokrates das Leben um einen ganzen Monat.

Man kann denken, mit welchem Jubel die Athener den Theseus nach solchen Thaten empfingen. Sie führten ihn als ihren Schutzgott zu den Thoren ein und riefen ihn an Ägeus' Stelle zum Könige aus, während die feindlich gesinnten Pallantiden die Stadt verließen oder sich dem Drange der Notwendigkeit fügten. Jetzt sann der Held darauf, wie er das herrliche Gebiet, dessen Herrschaft er überkommen hatte, zum mächtigsten unter den damaligen kleinen Reichen machen wolle. Dazu schien ihm besonders eine engere Vereinigung der Einwohner um einen Mittelpunkt und die Einführung einer gesetzlichen Ordnung nötig, wie er sie in Kreta gesehen hatte. Athen bestand damals noch aus einer bloßen Akropolis d.h. einer Burg und aus einigen um dieselbe herumgebauten Gassen, die zusammen von einer Mauer umschlossen waren. Rings umher lagen zwölf kleine Gemeinden. Aber diese Gemeinden, teils in einzelne Weiler zerstreut, teils kleinen Dörfern ähnlich, hatten jede ihren eigenen Beherrscher. Theseus durfte es im Vertrauen auf sein großes Ansehen schon wagen, diesen herrschenden Geschlechtern vorzuschlagen, daß sie auf ihre Gerichtsbarkeit verzichten und sich und ihre Gemeinden mit der Mutterstadt vereinigen möchten. Zur Entschädigung bot er ihnen an, sich ihnen völlig gleich zu setzen, sie zu einem Rate von Regierenden zu erheben und mithin an der Verwaltung des ganzen vereinigten Staats Anteil nehmen zu lassen. Das ließ man sich gefallen. Und nun verschwanden die engen Mauern von Athen; die zwölf Dörfer rückten dicht um den Mittelpunkt zusammen, und die Einwohner wurden in die drei Stände der Landbauer (Geomoren), der Handwerker Damien(Demiurgen) und der Adligen (Eupatriden) abgeteilt. Unter die letzteren wurden nun alle jene regierenden Familien aufgenommen und aus ihnen die Mitglieder des hohen Gerichtshofes und die Priester der angesehensten Gottheiten erwählt.

Diese Einrichtungen, so einfach sie uns jetzt erscheinen, waren doch ein weiterer Schritt zur Kultur, den die Landschaft Attika vor allen andern griechischen Staaten voraus that. Wirklich gewann auch der athenische Staat dadurch ein Ansehn, das nicht bloß den Neid, sondern auch die Nacheiferung der andern Stämme erregte und somit den ersten Anstoß zu dem späteren großartigen Aufschwünge der Griechen und namentlich der Athener gab. Theseus that noch mehr. Er vereinigte auch den benachbarten Staat von Megara mit Athen, maß die Grenzen von Attika ab und unterhielt durch die Stiftung neuer Feste und Spiele eine fortdauernde und immer bedeutungsvollere Verbindung Athens mit den übrigen Griechen.

Da er indessen bei der Umgestaltung des Staats sich selbst so wenig bedacht hatte, so war seine Gegenwart auch gar nicht immer notwendig. Die Geschäfte wurden von dem großen Gerichtshofe der vereinigten Oberhäupter verwaltet, und er für seine Person hatte sich eigentlich nur das Heerführeramt im Kriege vorbehalten. Da aber im Vaterlande für jetzt alle Fehden ruhten, so ergriff er sein Schwert und seine Keule, um, dem Herakles gleich, in der Ferne neue Abenteuer aufzusuchen.

Hier hatte er nun das langst ersehnte Glück, einmal im Gefolge seines großen Vorbildes einem Heldenzuge beiwohnen zu können. Herakles hatte eben damals den Auftrag bekommen den Gürtel der Amazonenkönigin zu holen, und warb überall in Griechenland tapfere Jünglinge zu Teilnehmern seines gefährlichen Unternehmens. Theseus begleitete ihn auf demselben, wie wir wissen, und gewann so sehr die Liebe des Herakles, daß ihm dieser die schönste Sklavin aus der Beute, die Amazone Antiope, schenkte. Hierauf wohnte er der großen Eberjagd bei, welche Meleagros in Kalydon veranstaltete, und von der ich gleichfalls schon einmal geredet habe. Er soll dann auch einen Zug gegen die Kentauren unternommen, ja, wie einige meinen, selbst dem Argonautenzuge beigewohnt haben. Indem er wieder nach Hause zurückkehren wollte, traf er auf einen verwegenen Jüngling, Namens Peirithoos, den Sohn des Lapithenkönigs Ixion aus Thessalien, der in das marathonische Gefilde eingebrochen war, um von dort eine zahlreiche Herde zu rauben. Es war nicht sowohl Raubsucht, als Übermut, was den Jüngling zu dem kühnen Streiche veranlaßte; denn auch in ihm brannte die Begierde, unter den Starken und Berühmten seiner Zeit genannt zu werden. Noch hatte er Herakles und Theseus nicht gesehen; aber er sehnte sich nach ihrem Anblick mit ungeduldig edlem Verlangen, ja, er hatte sogar den Einfall in Marathon nur in der Hoffnung gemacht, vielleicht dadurch den Theseus zu reizen und ihm bekannt zu werden.

Mit froher Bewunderung sah er hierauf wirklich den Helden erscheinen; denn daß es Theseus war, verriet ihm sogleich der Adel der Gestalt und die Würde des Ganges und der Stimme. So etwas hatte er nie gesehen; erstaunend stand er still, faßte sich dann und rief ihm entgegen, indem er ihm zum Zeichen des Friedens die Hand hinstreckte: »Würdigster Held, ich weiche dir ehrfurchtsvoll. Sei selbst mein Richter. Welche Genugthuung verlangst du?« Theseus sah ihn mit Wohlgefallen an. »Daß du mein Waffenbruder werdest!« antwortete er ihm. Freudig fiel ihm Peirithoos um den Hals, und beide beschworen einen unzertrennlichen Freundschaftsbund.

Sie sannen nun auf gemeinschaftliche Abenteuer, und keine Gefahr war so groß, daß die Helden sich nicht einander zur Seite gestanden hätten. Da es vor der Hand weder Eber zu töten noch Riesen zu bekämpfen gab, so beschlossen sie einmal etwas anderes, das nach unseren Begriffen allerdings keine Heldenthat war, nämlich, ein paar Jungfrauen zu entführen. Theseus war in heftiger Liebe zu der damals noch sehr jungen Helena entbrannt. Peirithoos hatte gleiche Leidenschaft für die Persephone. Um der ersten willen zogen beide Kämpfer nach Sparta, entführten die Helena mit Gewalt und List, und schleppten sie nach Aphidnä, wo damals Äthra, Theseus' Mutter, wohnte. Dieser gaben sie dieselbe in Gewahrsam, und nachdem sie vorher durch das Loos bestimmt hatten, daß derjenige, dem die Helena zufallen würde, dem andern zur Erlangung einer gleichen Schönheit behilflich sein solle, begannen sie rasch den zweiten Zug nach dem viel weiter entlegenen rauhen Epeiros. Hier kamen sie aber so gut nicht weg. Sie wurden von den Einwohnern überwältigt und so lange festgehalten, daß man im übrigen Griechenland sie schon längst für tot hielt. Endlich kehrte Theseus in Herakles' Gesellschaft zurück, aber Peirithoos ward nicht wieder gesehen.

Diese Geschichte ist von den Dichtern wunderbar ausgeschmückt worden, weil den eiteln Athenern sehr darum zu thun war, ihren Nationalhelden dem der Thebaner so gleich als möglich zu machen, Herakles war in der Unterwelt gewesen, also mußte Theseus dieselbe auch besucht haben, und das Märchen, das daraus entstanden ist, lautet folgendermaßen:

Pluton hatte dem Peirithoos eine frühere Braut, die thessalische Fürstentochter Hippodameia, durch den Tod entrissen. Aus Rache entwarf dieser den Plan, mit Hilfe seines Freundes Theseus dem Pluton seine eigene Gemahlin Persephone aus der Unterwelt zu entführen, und um dieses Wagstücks willen stiegen beide Helden zum Schattenreiche hinab. Aber Pluton ergriff die Frevler, fesselte den Theseus und wälzte dem Peirithoos ein großes Felsstück auf den Leib. So schmachteten sie lange in der Stätte der Finsternis, bis Herakles, als er den Kerberos heraufzuholen gesandt ward, in den nächtlichen Schlund hinabstieg. Hier sah er erschreckt die beiden Freunde; Peirithoos reichte ihm die Hand, aber Herakles, so stark er war, konnte ihn doch nicht unter dem Felsen hervorziehen. Dem Theseus dagegen lösete er die Bande und bat ihn von der Persephone frei.

Während dieser Abwesenheit hatten die Athener den vermessenen Übermut ihres Helden empfindlich büßen müssen. Bekanntlich hatte Helena zwei tapfere Brüder, Kastor und Pollux (Polydeukes), und diese sahen der eben erzählten Beschimpfung ihres Hauses nicht stillschweigend und unthätig zu. Sie zogen mit bewaffneter Mannschaft nach Athen und klagten den Theseus öffentlich an; allein da niemand etwas von ihm wußte, noch den Aufenthalt der geraubten Jungfrau anzeigen konnte, so verheerten sie rachedürstend die Stadt und das Land umher, bis sie endlich erfuhren, ihre Schwester sei in Aphidnä. Allsobald begaben sie sich dorthin, um dieselbe wieder heim zu führen.

Diese Gelegenheit benutzten die alten Feinde des Theseus, die Pallantiden, um ihn bei dem Volke verhaßt zu machen und ihm seine Herrscherwürde zu entreißen. Wegen der langen Abwesenheit des Helden war das auch nicht schwer. Ohnehin, was vergißt der Mensch leichter als Wohlthaten! Man kann also denken, wie wenig die Aufnahme, welche Theseus bei der Rückkehr nach Athen erfuhr, seiner Erwartung entsprochen habe. Überall erfuhr er nichts als Unzufriedenheit, Vorwürfe, selbst Beleidigungen. Noch mehr betrübte ihn der Tod seiner zweiten Gemahlin und seines Sohnes Hippolytos. Er hatte ihn selbst verschuldet. Nachdem nämlich die schöne Amazone Hippolyte, die erste Gattin des Theseus, gestorben und dieser selbst längere Zeit unvermählt geblieben war, warb er um die reizende Phädra, die Schwester des Kreterkönigs Deukalion. An Gestalt der unvergessenen, vielgeliebten Ariadne ähnlich, schien sie dem alternden Theseus gleichsam eine zweite Jugend zurückzubringen. Aber ihrer Schönheit glich nicht ihre Treue. Sie wandte ihr Herz ganz ihrem jugendlichen Stiefsohne Hippolytos zu, und nachdem sie lange vergebens die immer heftiger entbrennende Neigung bekämpft, gab sie endlich ihrer Leidenschaft Worte und drang in den Jüngling, den Vater vom Throne zu stoßen und sich mit ihr zu vermählen. Allein Hippolytos verschloß der Treulosen Ohr und Herz, ja er floh ihre verbrecherische Nähe. So sich verschmäht sehend, verwandelte sie ihre Liebe in Haß und verklagte den Hippolyt beim Theseus, als habe jener selbst sie zur Untreue verleiten wollen. Theseus, seines Zornes nicht mächtig, verwünschte den unnatürlichen Sohn, und kaum war der Fluch über seine Lippen gekommen, als ein Meeresungeheuer aus den Fluten emporstieg, vor dessen Anblick des Hippolytos Pferde sich derart scheuten, daß sie den Unglücklichen schleiften und zerrissen. Als Phädra dies vernahm, gab sie sich selbst den Tod, und Theseus, der zu spät die Unschuld seines Sohnes erfuhr, war der Verzweiflung nahe. Wider sich selber und das Schicksal zürnend, faßte er den Entschluß, seine undankbare Vaterstadt auf immer zu verlassen und sein Leben unter fremden Völkern zu beschließen. Nachdem er den Athenern in einer harten Rede ihre Ungerechtigkeit gegen ihn vorgeworfen hatte, wanderte er wirklich in demselben Aufzuge, in welchem er einst nach Athen gekommen war, wieder hinaus, schüttelte draußen den Staub von seinen Füßen, zum Zeichen der gänzlichen Lossagung, und rief der Stadt seinen Fluch nach. Der Ort, wo dies geschah, hieß noch lange nachher der Ort der Verwünschungen. Die Pallantiden brachten hierauf an seiner Stelle einen aus ihrer Mitte, Namens Menestheus, auf den Thron, der in der Folge auch den trojanischen Krieg mitgemacht hat, und dessen ich früher öfter gedacht habe.

Ein Schiff führte hierauf den Theseus nach der Insel Skyros, eben derselben, auf welcher einige dreißig Jahre später Achilleus als Mädchen unter den Töchtern des Lykomedes verweilte. Diese Töchter waren jetzt noch nicht geboren, aber der König Lykomedes regierte schon und nahm den Verbannten anscheinend gütig auf. Anscheinend, sage ich; denn insgeheim war er den Pallantiden befreundet, und da zwischen Skyros und Athen ein Handelsbündnis bestand und die Skyrer der Athener bedurften, so fürchtete er es mit dem jetzt regierenden Könige zu verderben, wenn er den Theseus bei sich beherberge. Ja er hätte wohl gar in den Verdacht kommen können, als gehe er damit um, den Landflüchtigen mit seiner Macht zu unterstützen und an den Athenern zu rächen. Diese Besorgnisse peinigten den König um so mehr, als Theseus nicht willens schien ihn bald wieder zu verlassen. So machte ihn denn die Furcht zum Verbrecher. Indem er einmal mit seinem Gaste die Insel durchwanderte und Theseus den Wunsch äußerte von einer Felsenspitze herab das ganze Land und das weite Meer zu überschauen, hielt der arglistige Feigling dies für ein Götterzeichen und stürzte ihn in den Abgrund hinab. So fiel der Held, dem ganz Griechenland Ruhe und Sicherheit, sein Vaterland aber Rettung und Größe verdankte.

Die Zeit löschte indessen in den Gemütern der Athener alles aus, was darin etwa von Haß gegen ihren großen Mitbürger übrig war. Man gedachte nur noch seiner Wohlthaten und Verdienste, und wünschte reuig das Unrecht wieder sühnen zu können, das man ihm während seines Lebens zugefügt hatte. Es wurden zu seinem Andenken Altäre, Tempel (das Theseion) und Denkmäler errichtet; man versetzte ihn unter die Halbgötter und weihte ihm Feste und Opfer; und noch achthundert Jahre nach seinem Tode machte Kimon, ein athenischer Feldherr, seinen Mitbürgern die Freude, die angeblich in Skyros noch vorgefundenen Gebeine des Theseus unter großem Gepränge abzuholen und nach Athen zu bringen.


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