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Achter Abend.
An- und Ausklänge der Argonautensage.

Was weiß man denn von den übrigen Helden des Argonautenzuges?« fragte am andern Abend Julius den Lehrer.

»Vom Kastor und Pollux weiß ich selbst etwas«, nahm sogleich Anton das Wort.

»Nun was weißt du denn?«

»Sie waren«, sagte Anton, »Söhne einer schönen lakedämonischen Königstochter, der Leda, und des Zeus und wurden deshalb auch Dioskuren (Zeussöhne) genannt. Der eine hieß Kastor, der andere Polydeukes oder Pollux. Jener ward ein trefflicher Wagenlenker, dieser ein tüchtiger Faustkämpfer. Beide liebten sich sehr und waren unzertrennlich, aber ein trauriges Orakel hatte dem Brüderpaar geweissagt, einer von ihnen solle sterblich, der andere unsterblich sein. Da sie sich nun einander aufs herzlichste liebten, so fürchtete jeder den andern zu überleben, und doch mußte die Todesstunde des einen irgend einmal kommen. Dies geschah, als beide Brüder um die Töchter des messenischen Königs Aphareus stritten. Ihre Gegner waren zwei Brüder der Mädchen, Idas und Lynkeus, rüstige Kämpfer, von denen der erstere dem Kastor seinen Speer durch die Brust stieß. Aber Zeus ergrimmte darüber so sehr, daß er sie beide mit seinem Blitzstrahl zerschmetterte.«

»Ganz recht;« sagte der Lehrer. »Und jener Lynkeus, der Luchsäugige, hatte einen so scharfen Blick, daß er in die Tiefe der Erde und bis in die Unterwelt hinab sehen konnte. Wie aber weiter?«

»Da nun Pollux seinen Bruder getötet sah, erkannte er, daß er selber derjenige sei, dem Zeus die Unsterblichkeit bestimmt habe. Aber dies Geschenk des Gottes ward für ihn zur Qual, wenn er bedachte, daß er es allein ohne den geliebten Bruder genießen sollte. Unter Thränen flehte er zum Zeus, noch knieend neben Kastors Leiche, daß er diesem entweder das Leben wiedergeben oder auch ihn vernichten solle. Da erschien, gerührt von so viel Liebe, der Gott und ließ ihm die Wahl, ob er fortan allein im Kreise der Himmlischen leben wolle, oder ob er abwechselnd einen Tag mit Kastor im Dunkel der Unterwelt verweilen wolle, um dann den andern mit diesem gemeinsam in den goldenen Hallen des Olymp zu wohnen. Pollux wählte das letztere, und so teilten beide Brüder die Nacht des Grabes und das Licht des Himmels.«

»Eine wunderbare Sage!« rief nachdenklich Wilhelm.

»Wunderbar freilich«, entgegnete der Lehrer, »und doch sicherlich nicht ohne Bedeutung! Worin diese letztere freilich bestehe ist schwer auszumitteln. Nur so viel darf man mit Wahrscheinlichkeit sagen, daß beide Helden gleichsam nur symbolische Gestalten, daß sie dichterische Verkörperungen (Personifikationen) für den Morgen- und Abendstern sind. Wußten die Alten auch nicht, daß das den Aufgang und Untergang der Sonne verkündigende Licht jenes Sternes eben einem und demselben Sterne angehöre, dachten sie vielmehr an zwei verschiedene Sterne, so ahnten sie doch die enge Zusammengehörigkeit beider und versinnlichten diesen Gedanken unter dem ergreifenden Bilde der Zwillingsbrüder, die Leben und Tod miteinander wechselnd teilten.«

»Indessen bleiben allerdings noch andere Deutungen, und da sie für euch zu fern liegen, so will ich euch lieber noch ein Geschichtchen von einem Argonauten erzählen, an dem zwar des Wahren äußerst wenig und die poetische Ausschmückung das meiste und beste ist, das ihr aber doch wissen müsset, weil darauf in Büchern und auf Kunstwerken sehr häufig Beziehung genommen wird.«

»Ich meine den Orpheus, den berühmten Sänger des Altertums. Er gilt als der älteste griechische Sänger, und sein Name ist von allen späteren Dichtern so hoch gefeiert morden, daß man die wunderbarsten Einkleidungen gewählt hat, um die Wirkung seines Gesanges darzustellen. Wenn er ein Lied zur Zither anstimmte, sagt die Fabel, so wurden die Vögel in der Luft, die Fische im Wasser, das Wild im Walde, ja selbst die Bäume, Felsen und Berge von einem solchen Zauber ergriffen, daß sie lauschend ihm folgten. Doch eine der schönsten Sagen handelt von seiner Liebe: eine Dichtung voll ernster Wehmut, aber auch voll hoher Feier der Kunst. Einmal tanzte seine junge Gemahlin Eurydike mit ihren Gespielinnen auf einer schönen Wiese, da biß eine im Grase lauernde Schlange sie plötzlich in den Fuß, und Eurydike mußte in der Blüte ihrer Jahre sterben. Jetzt ergoß der trostlose Gatte seine Klagen in den rührendsten, innigsten Tönen, daß allen, die sie vernahmen, das Herz brach. Ja, er wagte sich mit seiner Zither selbst hinab bis zu den Pforten des Tartaros, um von der Gemahlin des Höllengottes, der Persephone (Proserpina), die Wiederkehr seiner geliebten Eurydike zu erbitten. Und siehe da! Vor seinem Gesange schoben sich die ehernen Riegel von selbst zurück; mit immer zärtlicheren Tönen näherte er sich dem Orte, wo die abgeschiedenen Seelen wandelten. Kerberos (Cerberus), der dreiköpfige Hund, der den Eingang des Hades bewachte, schmiegte sich ihm sanft und zahm zu Füßen, als er vorüberging. Selbst Ixions Rad stand still, und Sisyphos hielt mit seiner vergeblichen Arbeit inne, um des Sängers Klagen zu lauschen. Ihr kennt doch diese beiden mythischen Personen?

Beide hatten sich schwer an den Göttern versündigt; da ward der erstere verurteilt, an ein Rad gebunden und immer und ewig von demselben umgetrieben zu werden, während Sisyphos einen großen Felsblock emporzuwälzen hatte, der ihm aber jedesmal, wenn er schon das Ziel erreicht hatte, wieder entglitt und ins tiefe Thal zurückrollte, um ihn zu immer neuer fruchtloser Arbeit zu zwingen.

Persephone hörte die Bitte des Sängers gnädig an und winkte ihm Erhörung. »Gehe zurück«, sprach sie, »wie du gekommen bist; Eurydike soll dir schweigend folgen. Doch hüte dich wohl, dich früher nach ihr umzuschauen, als bis du auf der Oberwelt angekommen bist. Ein einziger Blick vorher und du verlierst sie auf immer!«

Orpheus ging. Noch hatte er die Geliebte nicht gesehen. Folgte sie oder folgte sie nicht? Sollte die Göttin ihn getäuscht haben? Denn umsonst horchte er nach dem leisen Tritte ihres Fußes. Singend schritt er noch eine Weile fort; schon sah er von ferne das Licht der Oberwelt dämmern. »Eurydike!« rief er mit zärtlicher, forschender Stimme. Aber keine Antwort erwiderte seine Frage. Ungewißheit und Angst und ein unaussprechliches Verlangen verdüsterten ihm die Sinne, so daß er die Drohung der Götter nicht weiter achtete. Eine unwiderstehliche Macht wandte ihm das Haupt zurück, und siehe, dicht an seiner Ferse war die Gattin schweigend und leise gefolgt. Er wollte die Arme nach ihr ausstrecken, aber ach! in diesem Augenblicke sank Eurydike plötzlich hinter ihm zurück und ward nicht wieder von ihm gesehen!

Reue und Sehnsucht zernagten jetzt zwiefach sein Herz; er irrte trostlos mit seiner Zither in den thrakischen Wäldern umher, als einst ein Schwarm rasender Mänaden ihn klagend an einem Felsen fand.

» Mänaden?« fragte Wilhelm.

»So hießen die Weiber«, sagte der Lehrer, »welche am Feste des Dionysos (Bacchus) sich sammelten und weinberauscht durch Straßen und Wälder zogen, um jedermann zur Teilnahme an ihren ausschweifenden Zügen aufzumuntern, durch die sie den göttlichen Freudenspender am besten zu ehren glaubten. Sie schlugen Becken und Pauken, bliesen auf Hörnern, auch schwenkten sie reben- und epheuumwundene Stabe, die man Thyrsosstäbe nannte, und ließen dabei unaufhörlich einen wildjauchzenden Festruf erschallen. In den früheren Zeiten Griechenlands scheinen alle Weiber, besonders die thrakischen und thessalischen, an dieser zügellosen Festfeier teilgenommen zu haben; späterhin, als die Sitten milder wurden, blieb sie nur noch der untersten Volksklasse eigen, und zuletzt verschwand sie ganz.«

Als jene Mänaden oder Bacchantinnen nun den klagenden Orpheus fanden, zerbrachen sie ihm sein Saitenspiel und forderten ihn auf, sich mit ihnen zu ergötzen. Mit Abscheu wies er sie von sich. Das aber war zu viel für einen Haufen rasender Weiber; sie steinigten ihn, rissen ihn dann in Stücke und warfen seine blutigen Glieder umher.

Der Lehrer schwieg. Doch Wilhelm war noch nicht befriedigt, »Wissen Sie nicht vielleicht noch eine andere Sage von einem Argonauten?« fragte er mit vertraulichem Schmeicheln.

»Von einer Argonautin konnte ich noch erzählen«, sagte der Lehrer, »wenn ihr's hören wolltet.«

»Wie?« fragte Julius voller Verwunderung; »sind denn auch Weiber mitgezogen?«

»Eine«, sagte der Lehrer, »und zwar eine Jungfrau, Namens Atalante, des böotischen Königs Schoeneus Tochter. Sie war, wenn wir der Sage trauen dürfen, eine Frauengestalt mit durchaus männlichem Wesen. Ihren starken Körper hatte sie früh durch kräftige, selbst rauhe Übungen abgehärtet, und so fand sie nicht bloß an der Jagd, sondern auch an kriegerischen Abenteuern ein lebhaftes Vergnügen. Das war die Folge ihrer ersten Erziehung; denn ihr Vater, der sich einen Sohn gewünscht hatte, hatte sie sogleich nach der Geburt ausgesetzt, und so war sie in der Wildnis von einer Bärin gesäugt und von Jägern großgezogen worden. An Schnelligkeit übertraf sie die berühmtesten Läufer ihrer Zeit, und in allen Wettrennen trug sie den Preis davon. Auf der Jagd eines ungeheuern Ebers, der die Felder von Kalydon verheerte und zu dessen Vertilgung Meleagros, der Beherrscher jener ätolischen Landschaft, eine Menge kühner Jünglinge aus der Nachbarschaft zu sich einlud, war sie es, die das wilde Tier zuerst in den Rücken schoß. Dagegen wollte keine weibliche Beschäftigung ihr gefallen, keine Neigung ihres Geschlechts berührte sie. Sie hatte sich's von ihrem Vater ausgebeten immer Jungfrau bleiben zu dürfen; aber ungeachtet dieser Vorsatz allgemein bekannt ward, so kehrte sich doch niemand daran, wahrscheinlich weil niemand ihn für ernstlich hielt. Um jedoch die vielen Freier, welche sich bei ihrem Vater einstellten, davon recht nachdrücklich zu überzeugen, machte sie es jedem, der noch fernerhin Anspruch auf ihre Hand machen würde, zur Pflicht, sich mit ihr in einen Wettlauf einzulassen unter der Bedingung, daß er, wenn er später als sie zum Ziele komme, sterben müsse. Der Bewerber lief unbewaffnet voraus, sie folgte mit einem Spieße; holte sie ihn ein, so durchstieß sie ihn und steckte seinen Kopf am Ziele auf. Schon mehrere Jünglinge, sagt die Fabel, hatten in solchem Wettlauf ihr Leben darangesetzt, als Milanion sich meldete und im Vertrauen auf den Beistand der Aphrodite sich dem gefährlichen Wagstück unterzog. Seine Schutzgöttin empfahl ihm eine List. Sie hatte ihm einige goldene Äpfel geschenkt mit der Weisung, einen nach dem andern während des Laufens fallen zu lassen und dadurch die Aufmerksamkeit der Läuferin abzulenken. Milanion befolgte den Rat. Kaum hörte er Atalantes Tritte hinter sich denn sie gab, wie bemerkt, ihren Läufern stets eine Strecke vor so ließ er wie von ungefähr einen seiner Äpfel fallen. Die Jungfrau, von Neugierde gereizt, bückte sich nach der schönen Frucht und hob sie auf. Doch hatte sie in kurzem den Jüngling wieder eingeholt. Da warf derselbe einen zweiten und einen dritten Apfel aus; und als Atalante auch dieser Lockung nicht widerstand, gewann er dadurch einen solchen Vorsprung, daß er siegreich zum Ziele gelangte. Atalante vermählte sich mit ihm; aber, fügt die Sage hinzu, da er der Aphrodite den Dank für ihre Hilfe zu bringen vergaß, so verwandelte die Göttin ihn und seine Gemahlin in Löwen und spannte sie vor ihren Wagen.«

Wahrend dieser Erzählung hatte Wilhelm den Zug der Argonauten, der ihn noch immer aufs lebhafteste beschäftigte, wiederum auf der Karte verfolgt. Jetzt bat er den Lehrer ihm zu sagen, ob der Hellespont noch immer so heiße.

»Nein«, sagte dieser; »jetzt nennt man jene Meerenge die Dardanellen, nach einigen festen Schlössern an den Küsten derselben.«

»Und die Propontis

»Heißt jetzt, wie neulich schon erwähnt wurde, das Marmarameer, und sie führt diesen letzteren Namen nach einer kleinen Insel Marmara.«

»Was bedeutet denn aber der Name Bosporus

»Rinderfurt, Durchgang für Rinder.«

»Und wie ist dieser seltsame Name entstanden?«

»Er erinnert uns, wie der Name Hellespont, ebenfalls an eine Sage, und mit dieser wollen wir für heute schließen. Ihr wißt aus unseren früheren Erzählungen, daß der Vater der Götter gar oft mit seiner Gemahlin haderte, und daß er sein Herz wohl auch anderen Göttinnen, ja selbst sterblichen Weibern zuwendete. Unter allerlei Gestalten nahte er diesen, sie desto sicherer zu berücken. So erschien er der Leda als Schwan, der tyrischen Königstochter Europa als Stier, der schönen Danaë gar als ein goldener Regen. Einst, so erzählt die alte Dichtung, sahe der liebesbedürftige Gott auf den feuchten Triften von Lerna Lerna oder Lerne lag am argolischen Meerbusen. eine Jungfrau aus königlichem Geschlecht, die soeben die Herde ihres Vaters weidete. Es war Io, die Tochter des Inachos, des Herrschers von Argos. Mit Wohlgefallen ruhte der Blick des Zeus auf der Schönheit des Mädchens, und alsbald von Liebe ergriffen, trat er vor sie hin mit dem Angesicht und dem Wesen eines Jünglings. Aber erschreckt von seiner dreist schmeichelnden Rede, wandte sich Io zur Flucht, und nun verwandelte sich der allgewaltige Olympier in die unverdächtige Gestalt eines Stieres, als jene eben im Tempel der Here den heiligen Dienst versah. Zeus schien seine Zwecke kaum noch verfehlen zu können, denn zu alle dem entzog ein dichter Nebel ihn jedem Blicke. Allein wenn er auf diese Weise auch die Jungfrau täuschen mochte, so täuschte er um so weniger das wachsame Auge der Here. Diese, das treulose Spiel des Gatten ahnend, erschien plötzlich an der Schwelle des Heiligtums, und sicherlich würde Io das Opfer ihrer Rache geworden sein, hätte Zeus dieselbe nicht sofort in einer schützenden Hülle verborgen. Er verwandelte sie in eine weiße Kuh. Aber die List fruchtete wenig. Here, um dem Gatten jeden Besitz der Geliebten unmöglich zu machen, bat sich das schöne Tier zum Geschenk aus, und wollte dieser der Eifersüchtigen nicht neuen Verdacht erregen, so durfte er die Bitte nicht verweigern. Io blieb in tierischer Gestalt gefangen; ja damit nicht begnügt, setzte ihr Here einen unbestechlichen, untrüglichen Wächter. Argos hieß der grimme Riese, und hundert Augen funkelten ihm im Haupte. Mochte sich auch jede Nacht der Schlaf dem müden Hüter nahen: es schloß sich doch immer nur ein Augenpaar, während alle die anderen, von keinem Schlummer berührt, ihres Amtes warteten. So schien für Zeus jede Hoffnung auf eine Erlösung der Io verloren. Tagüber trieb Argos sie zur Weide, und ging die Sonne unter, so fesselte er ihr die Füße und sperrte sie ein. Da vermochte endlich der Göttervater den Jammer um das Geschick der Unglücklichen nicht mehr zu tragen, und er sandte insgeheim seinen treuen Sohn und Diener Hermes ab, um den Argos zu töten. Der vielgewandte Götterbote verhüllte sich in die Tracht eines jungen Hirten und stimmte ein bezauberndes Lied auf seiner Flöte an. Entzückt und erstaunt lauschte Argos. Aber bald kam ein süßer, unwiderstehlicher Schlummer über ihn, so daß ihm ein Auge nach dem andern zufiel, bis endlich selbst das hundertste sich schloß. Da ergriff Hermes ein Schwert und hieb dem Schlafenden den Kopf ab. Im mykenischen Hain, da wo ein hoher Felsen aufragte, floß das Blut des Riesen. Und doch war Io auch jetzt noch nicht frei. Denn Heres eifersüchtiger Blick hatte sogleich die List ihres Gemahls erkannt, und die unglückliche Jungfrau sollte nun ihre Rache doppelt empfinden. Eine große Bremse mußte die geängstigte Kuh von einem Orte zum andern, ja aus einem Lande ins andere jagen, von Mykenä nach Korinth, von da durch den Isthmos nach Hellas, durch Thessalien über den Hämos, durch Skythien und Illyrien wieder zurück nach Thrakien, wo sie an eben jene Meerenge kam, die seitdem von ihrer Flucht Rinderfurt oder Bosporos genannt worden ist. Nachdem auf solche Weise das gequälte Tier, immerfort von der giftigen Fliege verfolgt, viele Länder in Asien und Europa durchirrt hatte, kam es nach Ägypten, um hier endlich des bösen Zaubers ledig zu werden. Ein Machtspruch des Zeus gab der Io die vorige Gestalt zurück. Auch mochte sich der Zorn der Here endlich abgekühlt haben. Die Alten, welche freilich gern die Mythen anderer Länder miteinander verweben, sagen, sie sei hier die Gemahlin des Königs Telegonos geworden und habe nach ihrem Tode unter dem Namen Isis göttliche Ehre erhalten.

»Was das für wunderliche Dichtungen sind!« rief Anton.

»Und doch liegt ihnen eine tiefe Bedeutung zu Grunde, welche selbst den alten Schriftstellern nicht ganz entgangen ist. Argos, der Hüter, ist der Sternenhimmel, der mit seinen unzähligen Augen die unzähligen Sterne versinnbildet, und die Kuh bezeichnet in jenen alten Sagen die Erde sowohl als den Mond. Hermes aber, der Erwürger des Argos, hat als Ordner und Erhalter der bestehenden Götterherrschaft die Herden zu weiden, die am Himmel glänzen. Bedeutete nun die jungfräuliche Io (d. h. die Wandlerin am Himmel) den Mond, so verwandelt sich dieser zunächst in den gehörnten Halbmond; die Flucht in die entferntesten Gegenden bezeichnet das allmähliche Verschwinden, und die endliche Wiederkehr in die Heimat die neue Erscheinung des Vollmondes.

»O, ehe Sie gehen, lieber Lehrer«, bat Julius, »sagen Sie uns noch, was wir morgen hören werden!«

»Ach ja!« riefen die andern.

»Soll ich euch die Mythen vom Herakles erzählen?« fragte der Lehrer.

Die Kinder brachen auf dieses Wort in lauten Jubel aus; denn gerade von diesem Helden versprachen sie sich das Außerordentlichste.


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