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II.

Der Leser ist jetzt bei der Familie Lüders eingeführt; aber er möchte doch gern wissen, wo er sich eigentlich befindet, ob Riga, Triest, Perleberg, Bitterfeld, Aachen, oder vielleicht gar bei den Antipoden. Gewiß, Nichts ist natürlicher, und wir beeilen uns daher, ihm zu sagen, daß der Kaufmann Lüders in Hamburg wohnt oder richtiger wohnte, denn jetzt ist er von da fortgezogen, und zwar nach – doch davon später; wir müssen hier nämlich bemerken, daß diese wahre Geschichte vor etwa zwölf Jahren begann.

Hier sehe ich einen Leser an den Rand schreiben: Warum kommen denn diese nothwendigen Aufschlüsse so sonderbar hinterdrein gehinkt? Lieber Leser, nimm es mir nicht übel, es ist eine recht garstige Gewohnheit, dieses »an den Rand schreiben,« und ich abonnire schon seit Jahren in keiner Leihbibliothek mehr, einzig und allein, weil du sämmtliche darin befindlichen 55,999 Bände mit deinen geistreichen Randglossen versehen hast. Bist du mit meiner Art und Weise die Geschichte zu erzählen nicht einverstanden, und hast du etwas Anderes thun, oder etwas Besseres zu lesen, o, dann bürde deinen Gefühlen doch ja keinen Zwang auf, lege das Buch aus der Hand und laß uns in Frieden scheiden; nur – um das Eine bitte ich dich – schreibe mir keine Randglossen hinein. Ich bin überhaupt in manchen Dingen ein wenig eigen; so kann es z. B. meinen heftigsten Ingrimm erregen, wenn Jemand auf der Straße ganz laut Opernmelodien vor sich hin singt. Wenn mir ein Solcher begegnet, ist es mir jedesmal, als sause ein riesenhafter Brummer an mir vorüber, und sollte es sich einmal treffen, daß ich in einem solchen Augenblicke eine Fliegenklatsche in der Hand habe – – na, freu dich Brummer!

Und nun wende ich mich an jene meinem Herzen sehr theuren Leser, die diese üblen Gewohnheiten nicht haben. Der Kaufmann Lüders wohnte also in Hamburg, und zwar, wenn man es noch genauer wissen will, in einem großen, schönen Hause am Jungfernstieg in der Bel-Etage, die eine köstliche Aussicht über das Alster-Bassin gewährte; doch nur im Winter wohnte er hier, im Sommer bezog er seine allerliebste Villa jenseit Altona an der Blankeneser Chaussee. Aus der im vorigen Capitel mitgetheilten Unterredung des Kaufmanns mit seiner Frau wird man sie beide zur Genüge haben kennen lernen. Sie gehörten zu jenen »gemüthlichen Leuten,« die eine immer fröhliche Laune besitzen und für Jeden einen herzlichen Händedruck, einen Scherz und ein freundliches Lächeln bereit haben, die daher auch überall gern gesehen werden, zwei oder drei Mal wöchentlich zu opulenten Diners geladen sind, alle vierzehn Tage aber ihren Freunden ein solches geben, die im Stadttheater und in der Thalia Logen haben, Pferde, Wagen und beplüschte Bedienten halten und überhaupt sehr viel Geld verplempern.

Beiden konnte man eine gewisse Gutmüthigkeit nicht absprechen; aber es war jene Gutmüthigkeit, die so leicht für wahre Herzensgüte, ja für Edelmuth gehalten wird, obgleich sie eigentlich nichts Besseres ist als der Egoismus des Reichthums, der keine Armuth und keinen Kummer in seiner Nähe duldet, der, wenn er Wohlthaten übt, dieses nicht so sehr thut, um die Leiden Anderer zu mildern, als um sie selbst nicht zu sehen. Sie gaben gern und Viel und wurden von manchen armen Familien wegen ihrer Großmuth hochgepriesen; aber ihre Mildthätigkeit kostete nur Geld und verursachte ihnen keine Mühe, keine persönlichen Unannehmlichkeiten. Man wird jetzt verstehen, daß diese »gemüthlichen Leute« einen armen vierzehnjährigen Knaben, den sie an Kindes Statt zu sich genommen, erbarmungslos in die weite Welt hinausstoßen konnten aus gar keinem andern Grunde, als weil er in augenblicklicher Sinnestäuschung einen Rector für einen Krammetsvogel gehalten und ihn an die Leimruthe gepicht, und weil er einen Pudel nach seiner jugendlichen Phantasie costümirt hatte.

Die Lüders'schen Eheleute hatten zwei Töchter, die eine von vierzehn und die andere von zwölf Jahren, beide sehr hübsche Mädchen, aber unter sich in demselben Maße verschieden, wie die Eltern einander ähnlich waren.

Ida, die ältere, besaß ein ernstes aber weiches und empfängliches Gemüth, das fast zu einer gewissen Melancholie sich hinneigte. Man hätte es mit einem tiefen See vergleichen können, dessen glatte Oberfläche in dem einen Augenblick das getreue Spiegelbild jedes Baumes, jedes Busches, jedes noch so kleinen, an seinem Ufer wachsenden Grashalmes zurückwirft, und im nächsten von dem leisesten Lufthauche getrübt wird; über welches aber der heftigste Sturm dahinbraust, ohne auf demselben gefahrdrohende Wogen zu erzeugen. Sie mischte sich nicht gern in die lärmenden Unterhaltungen ihrer Gespielinnen, war äußerst empfindlich gegen jede harte, oder auch nur unfreundliche Aeußerung und vergoß oft bei den unbedeutendsten Veranlassungen die bittersten Thränen. Hugo behauptete, ihre Thränenfluth sei dem Nilstrome zu vergleichen, dessen Quellen Niemand kenne, und der muthwillige Knabe fand nur zu oft sein Vergnügen daran, dieselben durch kleine Neckereien hervorzulocken.

Wie ganz anders war ihre jüngere Schwester, Louise! Ihr heiteres, lebensfrisches Gemüth erinnerte – um bei dem obigen Gleichnisse stehen zu bleiben – an einen über bunten Kies dahinströmenden Bach, dessen krystallhelle Fluthen manches in dem finstern Gebirgsschachte losgetrennte Körnchen gediegenen Goldes mit sich führen und der, in sanfter Neigung durch schattiges Grün sich schlängelnd, mit Anemonen, Ranunkeln und Vergißmeinnicht kost, dann aber plötzlich über starre Felsen tosend und schäumend herabschießt. Der Maler erfreut sich an dem lebhaften Farbenspiel seiner Wellen und bereichert sein Skizzenbuch mit den anmuthigen Cascaden, die er hie und da bildet, während der Dichter träumend an seinem Ufer weilt und aus dem Gemurmel seiner plätschernden Wogen tiefsinnige, geheimnißvolle Märchen heraushört von den Kobolden und Berggeistern, die um seine dunkle Wiege hausen.

Ist es zu verwundern, daß Hugo, dessen fröhliche, ausgelassene Laune wir schon kennen lernten, mehr an seine jüngere Cousine als an die ältere sich anschloß?

Er war ein Knabe von Herz und Kopf und besaß eine scharfe Beobachtungsgabe, die ihn die kleinsten Schwächen der Menschen, mit denen er lebte, klar erkennen ließ. Er besaß aber auch die Gabe – wir wollen sie keine glückliche nennen, denn sie verursachte ihrem Inhaber manchen Verdruß – an Allem sogleich die lächerliche Seite herauszufühlen und sich daran zu ergötzen; und, so jung er war, er geißelte unbarmherzig die Fehler und Thorheiten der ihn Umgebenden mit der Zuchtruthe des Spottes. Das gespreizte Vornehmthun seiner Pflegeeltern bot ihm tausend Anlässe, seinen Witz zu üben; ihre scheinbare Gutherzigkeit bestach ihn nicht, ihre Vergnügungssucht, ihre Verschwendung belachte und verhöhnte er, ihre Diners und Soupers waren ihm zum Ekel. In der ganzen Familie, der er angehörte, ein Schock von Muhmen, Basen und Vettern mit eingerechnet, war Louise die einzige, in der er einen ihm selbst verwandten Geist entdeckt hatte. Darum widmete er ihr aber auch eine Liebe, die fast ins Romanhafte hinüberschweifte. Seine Empfindungen für die kleine, liebenswürdige, zwar manchmal recht launenhafte, aber von Grund aus zarte und gefühlvolle Gespielin hatte in seinem jugendlichen, allen edlen Anregungen offenen Herzen tiefe Wurzeln gefaßt und entsprachen weit mehr einem reiferen Alter, als seinen vierzehn Jahren; und Louise erwiederte seine mehr als brüderliche Zuneigung mit gleicher Wärme.


Es war Sonntag, und Hugo hatte die Morgenstunden – die lateinische Uebersetzung konnte ja am Nachmittag ausgearbeitet werden – auf das wichtige und interessante Geschäft verwendet, mittelst Heu aus einem seiner Anzüge eine Puppe herzustellen, die dazu bestimmt war, gegen Abend in der Speisekammer postirt zu werden, um der Köchin Trine einen gehörigen Schreck einzujagen. Es war, um die Wahrheit zu sagen, nicht das erste Mal, daß solche ausgestopfte Exemplare seines eigenen Ichs, seines Onkels, oder des Bedienten Christian aus dem Atelier unsres jungen Künstlers hervorgingen, und die erwartete Wirkung war noch immer in erwünschter Weise eingetreten. Einmal befand sich ein solcher Heu-Onkel an die Thür vom Arbeitscabinet des wirklichen Onkels dergestalt angelehnt, daß diesem, als er nach dem Morgenkaffee an sein Tagewerk gehen wollte, bei deren Oeffnung sein wohlbeleibtes Pseudo-Ich in die Arme sank; ein anderes Mal hatte sich ein Heu-Christian in das Bett der Tante verirrt, oder seine Heu-Köchin war in das der Gouvernante gerathen; kurz, es war dieses beliebte Thema schon in der anmuthigsten Weise und mit glänzender Virtuosität variirt worden, was aber nicht verhinderte, daß unser Hugo immer wieder mit besonderem Wohlgefallen darauf zurückkam.

Die Puppe war jetzt fertig, und sie machte ihrem Meister Ehre. Hätte er, wie einst Prometheus, dem Himmel einen Funken des ewigen Feuers entwenden können, damit sein Geschöpf zu beseelen, er wäre fortan ein Doppelgänger gewesen. Stramm und steif, mit ausgestreckten Armen saß die Puppe gravitätisch auf einem Stuhl, und Hugo hatte ihr eben eine Maske vor das Gesicht gebunden, als er Schritte auf dem schmalen Gange hörte, der in sein Stübchen führte.

Schnell stellte er einen Stuhl neben den der Puppe, warf ihr ein weißes Tuch über den Kopf, sich selbst ein anderes, und setzte sich ganz in derselben Positur neben sein Kunstwerk. Die Thür wurde geöffnet, und der eintretende Christian wich erschrocken zurück, als er statt eines Hugo zwei erblickte. Die Anrede die ihm schon auf der Zunge schwebte, und sich nicht mehr zurückhalten lassen wollte, fuhr ihm wie ein unarticulirtes: »Boh!« aus der Kehle, was ungefähr so klang, als wenn man den Kork aus einer gut gepfropften Flasche zieht.

»Wer von uns ist der Rechte?« erscholl es dumpf und hohl unter einem der Tücher hervor; Christian war nicht im Stande zu unterscheiden, unter welchem.

»Ach, was weiß ich,« entgegnete dieser, ein etwas griesgrämiger Mensch, »aber Sie sollen beide – – Schnack! – – – was ich sagen wollte – – – einer von ihnen – – – der Rechte – – zum Henker – – – – wer Sie wollen, was schiert's mich, gleich zu Ihrem Herrn Onkel kommen.«

Damit warf Christian ärgerlich die Thür hinter sich zu.

Einen Augenblick später stand der rechte Hugo im Arbeitscabinet seines Onkels, während der unrechte, gleichgültig gegen die Freuden und Leiden dieses Erdenlebens, in seiner steifen Haltung verharrte.

Herr Lüders hatte heute eine sehr würdevolle Miene angenommen, die ganz geeignet gewesen wäre, schwächere Gemüther zur tiefsten Ehrerbietung zu stimmen, aber bei Hugo verfehlte sie gänzlich ihre Wirkung; denn er konnte sich kaum eines Lächelns erwehren, als sein würdiger Onkel auf dem hohen, dreibeinigen Comptoirstuhl eine Viertelwendung machte, wobei die Schraube desselben unter der ungeheuren Last gar jämmerlich ächzte, und als er dann in strenger, feierlicher Weise anhub:

»Hugo, ich hab' sehr Wichtiges mit Dir zu besprechen, hm, setz' Dich, da steht ein Stuhl. Du hast jetzt ein Alter erreicht, mein Sohn, in welchem man aufhört ein Possenreißer und ein Pickelhäring zu sein, ein Alter, sag' ich, in welchem der Jüngling den Ernst des Lebens zu begreifen beginnt. Hm, ich hoffe, daß Du mich verstehst?«

»Gewiß, lieber Onkel,« sagte Hugo, neugierig auf den Ausgang dieses in so erhabener Weise eingeleiteten Gesprächs.

»Aber mit Betrübniß,« fuhr Herr Lüders fort, »mit großer Betrübniß sehe ich, daß Du Dich ganz anders benimmst, als ich von Dir zu erwarten wohlbegründete Ursache hätte.

Wie vergiltst Du die Wohlthaten, die ich Dir angedeihen lasse?«

Eine tiefe Purpurröthe überflog des Knaben Gesicht; der ihm innewohnende Trotz fing an, sich zu regen. »Statt Dich einer guten Aufführung zu befleißigen, begehst Du alle Tage neue Thorheiten. Wegen Deiner Possen in der Schule hat Dir der Rector einen wohlverdienten Verweis gegeben; ich mag darauf nicht weiter eingehen; aber was in des Teufels Namen hast Du gestern Abend schon wieder in dem Kaffeehause hier nebenan für einen heillosen Unfug getrieben? Ich hab' Dir doch aufs Strengste verboten, Dich da immerfort herumzutreiben.«

»Nun, Onkel, Du weißt ja, daß des Wirthes Albrecht mein Schulkamerad und bester Freund ist.«

»Ich weiß, daß Albrecht ein ganz abscheulicher Schlingel ist, der Dir bei allen Deinen losen Streichen getreulich beisteht. Was habt ihr gestern Abend angestiftet, frage ich.«

»Ich begreife nicht, Onkel, wie Du überhaupt auf die Vermuthung kommst, daß ich Etwas angestiftet habe, da doch kein Mensch mich in Verdacht haben kann.«

»Auf die Vermuthung bin ich gekommen, weil weder hier im Hause, noch in der Nachbarschaft eine halbe Meile in der Runde eine Albernheit verübt wird, von der nicht Du der Urheber bist. Willst Du etwa läugnen, daß Du gestern Abend im Kaffeehause den Höllenlärm verursacht hast?«

»Ich läugne nie, was ich gethan habe,« entgegnete Hugo stolz, » denn ich thue Nichts, dessen ich mich zu schämen brauche. Wenn Du es also durchaus zu wissen verlangst, so will ich es Dir sagen.«

»Es ist wirklich sehr gütig von Dir, meinem Befehle zu gehorchen.«

»Uebrigens ist es auch wohl des Anhörens werth, lieber Onkel, denn es war ein himmlischer Spaß, kann ich Dir versichern.«

»Zur Sache, wenn ich bitten darf.« Der Comptoirstuhl ließ ein gebieterisches Knarren hören.

»In dem Kaffeehause versammeln sich Abends mehrere alte Philister.«

»Sprich nicht in dieser Weise; es sind sehr ehrenwerthe Bürger, die da zusammenkommen.«

»Also, es versammeln sich da mehrere sehr ehrenwerthe Bürger. Unter diesen sind vier wunderliche alte Kauze, die jeden Sonnabend eine Partie Lhombre spielen, dabei aus großen Meerschaumpfeifen einen abscheulichen Kanaster qualmen und eine unsinnige Menge Punsch zu sich nehmen.«

»Du scheinst durchaus nicht ernsthaft reden zu wollen, Mosjö!« Der Stuhl krachte merklich.

»Mein Gott, Onkel, ich erzähle so ernsthaft, wie es mir möglich ist.«

»Fahre fort.«

»Diese vier alten Spießbürger traf ich da gestern Abend wieder an ihrem gewohnten Tische nahe bei der Thür. Ich hatte schon lange darüber nachgesonnen, wie ich ihnen einen artigen Schabernack spielen könne.«

»Du hättest Dein Nachdenken besseren Dingen widmen können.«

»Du willst ja die volle Wahrheit hören, Onkel.«

»Weiter, weiter.«

»Sie saßen also wieder bei ihrem Lhombre in der vorderen Stube und zwar bei offenen Thüren und Fenstern, denn es war sehr heiß, und sie hatten sich in eine Tabackswolke gehüllt, daß sie aussahen, wie die Nebelgeister in Deiner illustrirten Ausgabe des Ossian. Außer den Lichtern und den Jetonkasten standen auf dem Tische noch vier Gläser mit dampfendem Punsch. Ich setzte mich einen Augenblick zu ihnen und sah ihrem Spiele zu.«

»Was verstehst Du Kiekindiewelt vom Lhombre-Spiel?«

»Ich kenn' es gar nicht, aber ich wollte ja auch nur die vier kuriosen alten Eulengesichter betrachten, die so steif und ernsthaft dreinschauten und in ihre Karten glotzten wie ......«

»Machs kurz, wenn ich bitten darf.«

»Also kurz und gut, während ich so da saß, zog ich einen langen, starken Strick aus der Tasche.«

»Was sagst Du? Einen Strick? Wie in aller Welt kamst Du denn zu einem Strick?«

»Mein Gott, Onkel, jeder Mensch kann doch sehr oft in den Fall kommen, einen Strick nöthig zu haben, z. B. wenn – –«

»O ja, z. B. wenn man immer auf Narrenpossen sinnt. Du wirst es noch dahin bringen, daß man den Strick an Dir selbst in Anwendung bringt.« Der Comptoirstuhl begleitete diese Prophezeiung mit einem unheildrohenden Jammern.

»O, das fürchte ich nicht, Onkel, wegen eines solchen kleinen Juxes wird man nicht gleich gehängt.«

»Schon gut; was thatest Du mit dem Strick?«

»Ich band das eine Ende davon um das Tischbein, das nämlich, welches der offenen Hausthür am nächsten war. Dann stand ich auf und ging hinaus. Die Philister – ehrenwerthen Bürgersleute, wollt' ich sagen – hatten Nichts gemerkt. Vor dem Hause hatte ich, als ich das Kaffeehaus betrat, eine Droschke halten sehen; sie war noch immer da, und ich band nun schnell das andere Ende meines Strickes hinten an die Droschke fest. Die Laterne war noch nicht angezündet und der Abend ziemlich dunkel, und so konnte ich glücklich damit fertig werden, ohne daß der Kutscher auf dem Bock, oder sonst Jemand Wind davon bekommen hätte. Ich ging nun wieder zu meinen vier Lhombre-Spielern, die schweigend und grämlich fortrauchten und eifrig in die Karten guckten. Gleich darauf hörte ich einen Peitschen-Knall, das Droschkenpferd zog an, und jetzt hättest Du einen köstlichen Spaß sehen sollen, Onkel! Der Tisch bekam erst einen höllischen Ruck, so daß die Lichter, Punschgläser und Jetonkasten darauf herumtanzten, dann riß er den der Thür zunächstsitzenden ehrenwerthen Bürger mitsammt dem Stuhl rücklings zu Boden, rumpelte dann über ihn hinweg – das war mir das wahre Tischrücken – und prallte endlich mit solcher Gewalt gegen die Thür an, daß sich der Strick von ihm ablöste. Der ehrenwerthe Bürger lag auf dem Rücken, in glühheißem Punsch gebadet, mit den Beinen strampelnd und mit den Armen um sich schlagend und brüllte wie ein Ochse, die drei andern aber hatten vor Schreck die Pfeifen aus dem Munde und die Karten aus der Hand fallen lassen und saßen da mit offenen Mäulern und starrten so dumm verwundert drein, wie drei alte Oelgötzen ... ach, Onkel, es war zum Todtlachen! Alle andern Gäste brachen denn auch in ein Gelächter aus, daß die Wände wackelten, und wärest Du dabei gewesen, Onkel, Du hättest auch gelacht. Das Schönste bei der ganzen Geschichte ist, daß in der Verwirrung und bei der Schnelligkeit, womit das Alles geschah, Niemand den Strick gesehen hat, und meine vier Knasterbärte noch zur Stunde steif und fest behaupten, es sei ein Wunder geschehen. Da hast Du nun den ganzen Hergang, bester Onkel, und Du wirst einräumen, daß es ein capitaler Jux war.«

Der Onkel, der durchaus nicht zu den Feinden eines capitalen Juxes gehörte, hätte gar zu gern seiner Lachlust den Zügel schießen lassen, aber es galt, dem Neffen gegenüber seine hohe Würde zu behaupten, und er unterdrückte diese Neigung, so gut es gehen wollte. Verhindern konnte der brave Mann indeß nicht, daß einige höchst wunderbare, mit dem Aechzen des Comptoirstuhles angenehm harmonirende Gurgeltöne sich durch seinen fetten Hals hervordrängten, daß sein Gesicht nach und nach eine Färbung annahm, welche der eines gekochten Hummers nicht unähnlich war, und daß seine dicken Backen in bedenklicher Weise anschwollen. Wer es nicht besser gewußt, hätte denken können, Herr Lüders sei mit dem lebensgefährlichen Versuche beschäftigt, eine zweipfündige Kanonenkugel zu verschlucken, und Hugo konnte sich nicht enthalten, bei diesem sonderbaren Anblicke laut aufzulachen.

Das half. Herr Lüders fühlte, daß er in diesem Augenblick eine komische Figur mache, und seine Lachlust ging plötzlich in eine Anwandlung des heftigsten Unwillens über. Er machte auf seinem Stuhle eine weitere Viertelschwenkung und zeigte seinem Neffen die ganze, breite Fronte.

»Lache nicht, ungerathener Knabe,« platzte er heraus. »Du magst Deine Possenreißereien sehr ergötzlich finden, mir aber sind sie lästig und ich bin nicht gesonnen, sie länger zu dulden; und, um eine unangenehme Sache kurz abzumachen, Du mußt mein Haus verlassen.«

»Mein guter Onkel!« rief Hugo betroffen.

»Ach was, guter Onkel! ich bin nur zu lange der gute Onkel gewesen; nun hat es ein Ende. Mit einem Wort, Hugo, Du wirst mit meinem Schiffe, der Anna Maria, wenn die Ladung eingenommen ist, und sobald der Wind günstig wird, nach Rio de Janeiro unter Segel gehen. Damit hat das Junkerleben, welches Du hier im Hause geführt hast, wohl ein Ende, und Deine Bajazzorolle ist ausgespielt; aber im Uebrigen wirst Du Dich nicht gar zu sehr zu beklagen haben. Der Capitain Töxen ist ein braver Mann, er wird Dich freundlich behandeln. Gefällt Dir das Leben zur See, nun gut, dann bleibst Du auf dem Schiffe und bildest Dich zum Seemann aus. Du bist groß und stark und ganz dazu geeignet, und Du kannst es mit der Zeit dahin bringen, selbst eines meiner Schiffe zu führen. Willst Du das nicht, auch gut, dann bleibst Du in Rio bei meinem alten Geschäftsfreunde, Grube, an den ich Dir ein Schreiben mitgebe. Er ist mir große Verbindlichkeiten schuldig und wird mir gern meinen Wunsch erfüllen, Dich auf seinem Handelscomptoir zu beschäftigen. Ich lasse Dir zwischen diesen zwei Alternativen freie Wahl; eine dritte giebt es nicht. Für eine anständige Equipirung ist schon gesorgt, und auf meine fernere, bereitwillige Unterstützung kannst Du immer rechnen, insofern Du Dich, was ich nicht bezweifeln will, darnach beträgst.«

Dem armen Knaben war es zu Muthe, als lege sich eine eisigkalte Hand um sein Herz, als bohre sich ein bittrer Schmerz tief in dasselbe ein. Wie sehr hatte ihn sein Onkel mißkannt, wie schonungslos hatte er sein Ehrgefühl verletzt, wie lieblos zerriß er das Band, welches ihn an seine Heimath knüpfte, an Alles, was seinem Herzen theuer war, wie kalt, wie so ganz von allem Mitleid entblößt stieß er ihn hinaus auf einen neuen Lebenspfad.

Zum ersten Mal trat ihm jetzt ein wirkliches Lebensverhältniß in deutlicher Gestalt entgegen, aber es ragte so riesengroß, so drohend über den Ideenkreis hinaus, in welchem er sich bisher bewegt hatte, daß es ihn überwältigte und sein inneres Gleichgewicht störte.

Eine Weile konnte er sich über die Natur der ihn bestürmenden Gefühle keine Rechenschaft geben; aber der Grundzug seines Charakters war ein unbegrenzter Ehrgeiz, und dieser trug denn auch schnell über alle andern Regungen seines Gemüthes den Sieg davon.

»Onkel!« sagte er, und seine dunkeln Augen blitzen vor Trotz und Unwillen, »wenn ich Dich betrübt oder gekränkt habe; so thut es mir leid; es geschah jedoch nur aus muthwilliger Laune, mein Herz hatte daran keinen Theil. Bis jetzt ließest Du mich in Allem frei gewähren, Du hast mir über meine Possenreißereien, wie Du es nennst, noch nie eine ernste Vorstellung gemacht, im Gegentheil, sie schienen Dich zu belustigen. Was hab' ich denn jetzt verbrochen, daß Du mich so hart bestrafen willst?«

»Von Strafe ist hier gar nicht die Rede,« entgegnete Herr Lüders, betroffen über den Ton, in welchem Hugo sprach. »Ich habe nur Dein Wohl vor Augen, mein Sohn, und da ich glaube, daß Du einen zu unruhigen Geist besitzest und zu abenteuerliche Neigungen hegst, um für die ernsten Verhältnisse des Alltagslebens zu passen, so halte ich es für gut, daß Du Dich einige Jahre hindurch auf dem großen, bunten Schauplatze des Lebens umhertummelst, wo Du schneller die nöthigen Erfahrungen sammeln wirst, – – – die dazu gehören – – – und durchaus nöthig sind – – – um – – – um – – – Du verstehst mich – – –«

Dem Herrn Lüders schien der Ariadne-Faden entschlüpft zu sein, welcher ihn durch das mitunter dunkle Labyrinth seiner Gedanken leitete, und er bekam plötzlich einen kleinen Anfall von Husten. Der Comptoirstuhl hustete in seiner Weise mit.

»Sage lieber, daß Du es für gut hältst, Onkel, mich in den engen Raum eines Schiffes einzusperren und dort der strengen Disciplin des Capitains Töxen anzuvertrauen, der alle seine Untergebenen rauh und barsch behandelt und von dem Du denkst, daß er mir bald den Muthwillen austreiben werde.«

»Du bist zu jung, mein Sohn, um beurtheilen zu können, was zu Deinem wahren Wohle dient; überlaß dies Deinem väterlichen Freunde, der, das kann ich wohl sagen, bisher gut für Dich sorgte, und mit seinen Wohlthaten gegen Dich nicht geizte.«

Das Wort Wohlthat, welches Herr Lüders jetzt schon zum zweiten Male anzuwenden für gut fand, fiel in Hugo's Herz wie der brennende Zunder in eine Pulvertonne.

»Gut, Onkel,« sagte er heftig, indem er sich rasch von seinem Sitze erhob, »ich werde Deinem Befehle gehorchen und zur See gehen. Aber ich will Dir nur sagen, weshalb ich es thue. Allein deshalb, weil ich kein anderes Mittel sehe, um ein Haus zu verlassen, in welchem ich lästig geworden bin, und wo man mir die Wohlthaten vorrückt, die mir zu Theil werden!«

»Wie? So wagst Du mit mir zu sprechen, Du undankbarer Schlingel!« fuhr Herr Lüders heraus.

»Ich bin nicht undankbar,« entgegnete Hugo hitzig, »so wenig, wie ich Dir ungehorsam gewesen wäre, wenn Du es je der Mühe werth gehalten hättest, mir Deine Wünsche und Rathschläge hinsichtlich meines Betragens mitzutheilen. Aber ich sehe wohl, daß Ihr beide, Du und die Tante, mich mißkennt, daß Ihr mich nicht mehr lieb habt, und kann also nur wünschen, Euch nicht mehr zur Last zu sein.«

Mit diesen Worten stürzte er aus dem Zimmer. Der Onkel saß noch eine Weile mit weit aufgerissenen Augen da und starrte nach dem Fleck hin, wo sein Neffe gestanden. Die Worte und das Benehmen des Knaben hatten ihn fast erschreckt, er schnappte ängstlich nach Luft, indem eine finstere Ahnung in ihm aufstieg, daß er zu dem heutigen Diner bei dem Consul Blumenthal nicht den gewöhnlichen Appetit mitbringen werde. Der Lieutenant Binzer hatte ihm gestern Abend im Theater den ganzen Speisezettel mitgetheilt, es befand sich darauf sein Leibgericht: echte Schildkrötensuppe! – – – und dazu keinen echten Appetit – o, entsetzlich! Der geängstigte Mann machte eine retrograde Schwenkung seinem Schreibpulte zu und brummte leise vor sich hin: »Es ist hohe Zeit, daß der Bursche zur See kommt.« Und der Comptoirstuhl brummte ganz vernehmlich mit: »zur See, zur See!«

Hugo war aus dem Arbeitscabinet seines Onkels in das Nebenzimmer getreten, wo der alte Buchhalter Lempke vor einem ungeheuern Protokoll saß und anscheinend eifrig schrieb.

Lempke war eine grundehrliche Haut und verbarg unter einer etwas rauhen, vergilbten, runzligen Hülle ein zart und tief fühlendes Herz. Der Himmel weiß es, er hatte von dem Muthwillen des Knaben fast Unerhörtes zu erdulden gehabt, aber er hatte es mit einer Sanftmuth ertragen, die ihn einer Märtyrerkrone würdig machte. Es hätte ihn auch bald seine Hingebung für den Knaben zu einem heftigen Zusammenstoß mit seinem fetten Principal geführt, als dieser ihm mittheilte, daß er den Knaben fortschicken wolle.

Der ehrliche Lempke hatte das Gespräch zwischen Onkel und Neffen – – – behorcht ist ein häßliches Wort, da ich mich aber einer historischen Gewissenhaftigkeit befleißige, so muß ich es hinschreiben – – – also behorcht, und als nun Hugo mit glühendem Gesichte und zornblitzendem Auge zu ihm in's Zimmer trat, fuhr der alte Mann mit seinem blaucarrirten Schnupftuch schnell über die Augen und vergrub dann die Nase in das Protokoll. Dem Knaben entging die Rührung seines alten Freundes nicht, und beinahe wäre er seinem ersten Antriebe gefolgt, ihm um den Hals zu fallen und seinen Kummer an der treuen Brust auszuweinen.

Aber als nun Lempke sich erhob, um nach einem vor ihm liegenden mächtigen Stoß Papiere zu langen und dabei die Brille verlor, die unglücklicherweise in das Tintenfaß fiel, da gewann der in dem Herzen Hugo's sein Wesen treibende Teufel des Muthwillens und zugleich auch des Trotzes die Oberhand. Er durfte keine Possen treiben, man hatte es nicht versucht, ihn durch liebevolle Vorstellungen davon abzuhalten, nein, man bestrafte ihn dafür hart, ja grausam, man verstieß ihn wegen seiner tollen Streiche, o, jetzt erst war es ihm ein Hochgenuß, sie zu verüben. Er ging an Lempke, der ihm den Rücken zugekehrt hatte, vorbei und zog geräuschlos auf dem weichen Teppich dessen Stuhl um eine Elle zurück; dann durchschritt er rasch das Zimmer und eilte hinaus. Vor der Thür horchte er noch einen Augenblick und lachte hell auf, trotzdem daß sein Herz blutete, als er den Buchhalter unter den Tisch rollen und leise wimmern hörte; sodann sprang er die Treppe hinauf, die in den obern Stock führte, in welchem sich seine Kammer befand.

In dieser saß noch auf seinem Stuhle der Heu-Hugo in asketischer Selbstbeschauung vertieft, die Arme vor sich hingestreckt, wie um alle störenden Einwirkungen der grobsinnlichen Außenwelt von sich abzuwehren; ach, der Aermste sollte auf eine entsetzliche Weise aus seiner contemplativen Ruhe gerissen werden.

»Oho! Dich hatte ich ganz vergessen, Du miserabler Tropf Du!« rief Hugo, »wart', Nichtswürdiger, an Dir will ich meine ganze Wuth auslassen; da, nimm zuvörderst diese Backpfeife!«

Die Backpfeife folgte unmittelbar den drohenden Worten, und hinunter vom Stuhle flog der Asketiker. Selten wohl hat eine Ohrfeige so schreckliche Wirkungen hervorgebracht, als diese. Der Kopf des unglücklichen Opfers blinder Leidenschaft lag unter dem Bette, die Nase saß ihm im Nacken, ein Paar wollene Strümpfe quollen ihm aus dem Schädel, der linke Arm hatte eine grauenhafte Verrenkung erlitten, so daß der Besenstiel darin sichtbar war, der rechte Fuß lag in einer, allen anatomischen Theorien hohnsprechenden Weise neben dem linken Ohr, während der andre noch an der Stuhllehne festhing.

» Sic eunt fata hominum!«So gehen die menschlichen Schicksale. sagte Hugo mit entsprechendem Pathos; und als ob er einem innern, zu gewaltsam comprimirten Thatendrange durch diese grausame Hinrichtung ein Ventil geöffnet und dadurch seine geistige Spannkraft wieder ins Gleichgewicht gebracht hätte, begann er etwas beruhigt im Zimmer auf und ab zu gehen.

Aber noch immer gährte und tobte es in dem Herzen des Knaben. Er schaute um sich; da auf dem kleinen Bord standen seine Bücher; er hatte sie nie mit übertriebener Zärtlichkeit geliebt, aber jetzt, da er sich von ihnen trennen sollte, schienen sie ihn so wehmüthig anzublicken und ihm liebevolle, ernste Vorwürfe zu machen; und ein weiches, sympathetisches Gefühl wurde in ihm rege.

»Warum willst Du in die weite Welt hinaus?« schien der alte Plutarch zu sagen. »Geh, söhne Dich mit Deinem Onkel aus und bleib' bei uns!«

»Hättest Du meine Aufsätze › de officiis‹ fleißiger gelesen und zu Herzen genommen«, schaltete der weise Cicero ein, »es wäre Vieles anders gekommen.«

Auch der ehrwürdige Homer gab seine Meinung zu erkennen; aber seine Worte klangen ein wenig dumpf und leise, »Hättest Du Dich besser aufgeführt«, so schloß er,

»Nie dann würde in Schiffen der Erdenstürmer dich schrecken,
Heftige Wind' aufregend zum Ungestüm des Orkanes.«

»Haltet das Maul, Alle mit einander!« rief Hugo, seine Rührung gewaltsam unterdrückend, »eure Eulenpredigt kommt jetzt zu spät.« Er wandte sich nach einer andern Seite hin. Ach, da waren die Widderköpfe, die als Verzierungen am Ofen angebracht waren; sie hielten noch immer in treuer Pflichterfüllung die zierliche Rosenguirlande in den Mäulern, aber auch sie schienen sich des Nahens der Abschiedsstunde bewußt zu sein, denn sie schauten gar weinerlich drein, ja, dicke eiserne Thränen hingen ihnen an den Wimpern. Und dort der bronzene Löwe auf dem Papierbeschwerer, war er nicht zur Sphinx geworden, die über tausendjährige Geheimnisse brütet und jetzt den ehernen Mund zu öffnen schien, um ihm das dunkle Räthsel seines Lebens vorzulegen.

Es wurde dem armen Hugo zu eng in dem kleinen, dumpfigen Zimmer; er wollte hinaus ins Freie, wo keine alten Klassiker, keine eisernen Widder und bronzenen Löwen ihm das Herz schwer machten, hinaus in die freie Natur, wo träumerische Blumen sich duftende Märchen ins Ohr flüstern, wo im frischen Winde mächtige Bäume rauschen und in ihren Wipfeln fröhliche Finken ihr lustiges Lied trillern, wo leichte Wolken am Himmelsgewölbe ziehen, und die Lerche darunter sich jubelnd in den Lüften wiegt; ja hinaus, hinaus – – – aber da öffnete sich plötzlich die Thür, und Louise stand vor ihm mit glühenden Wangen und rothgeweinten Augen.

Sie sahen sich einen Augenblick an ohne ein Wort zu sprechen; ach, gab es denn auch Worte für den bittern Schmerz, der in ihrem Innern tobte? Dann fielen sie sich in die Arme, und eine Fluth von Thränen machte ihren beengten Herzen Luft.

»Hugo,« stammelte Louise endlich, und ihre Worte wurden oft von heftigem Schluchzen unterbrochen, »Du darfst uns nicht verlassen. Ach, ich würde nie wieder froh werden, wenn das geschähe. Komm, laß uns zu den Eltern gehen; ich will für Dich bitten, daß sie Dir verzeihen und Dich hier behalten.«

»Du meinst es gut, liebe Louise,« entgegnete Hugo, »aber sieh, wenn ich das wollte, so würd' ich es selbst thun; doch ich will nicht, nein, nein,« und er stampfte heftig mit dem Fuße, »den Triumph gönne ich ihnen nicht. Ja, selbst wenn Dein Vater andern Sinnes würde und mich bäte, zu bleiben, ich thät' es nicht.«

»Wie kannst Du nur so sprechen, Hugo,« sagte das Mädchen, »o gewiß, Du hast uns gar nicht mehr lieb!« Und sie setzte sich auf einen Stuhl, hielt die Schürze vor die Augen und weinte bitterlich.

»Dich hab' ich lieb, Louise!« rief Hugo, schloß sie von Neuem in die Arme und küßte sie, »Dich hab' ich lieb, wie... wie... wie keinen andern Menschen auf der ganzen Welt; und Dich zu verlassen, o, glaub' mir, das thut mir weh... aber die Andern« –

»Was haben Dir denn die Andern gethan?«

»Sieh, Louise, ich will es Dir erklären,« sagte Hugo, zog einen Stuhl dicht an den ihrigen heran und setzte sich neben sie. »Sie haben mir – das heißt bis jetzt – eigentlich gar Nichts gethan, nichts Böses, aber auch nichts Gutes. Sie haben mich nie verstanden und sich nie um mich bekümmert. Darum hänge ich denn auch nicht so an ihnen, wie an Dir. Ich war immer nur das angenommene Kind, das man duldet, so lange es sich fein artig beträgt und nicht lästig wird, das man aber kalt und herzlos von sich stößt, so bald es anfängt, die Ruhe des Hauses zu stören.«

»Da thust Du den Eltern Unrecht, Hugo; sie sind doch so seelengut; o, sag' nicht, daß sie gegen Dich kalt und herzlos sind.«

»Weshalb schickt mich denn Dein Vater zur See, Louise?«

»Ich weiß es nicht; Du mußt ihn doch wohl sehr erzürnt haben.«

»Was hab' ich denn gegen ihn verbrochen? Bin ich wirklich ein so großer Sünder, weil ich in der Schule und hier im Hause einige lustige Streiche verübt habe? Sag', Louise, ist das etwas so gar Schreckliches?«

»O gewiß nicht, wenn es weiter Nichts wäre...«

»Es ist aber weiter Nichts, das kannst Du mir glauben.«

»Ach, ich weiß nicht, was ich glauben soll, Hugo. Wenn ich so recht bedenke, wie Vieles Du dem Vater zu verdanken hast – –«

»Was hab' ich ihm denn zu verdanken? Willst Du mir nun auch von den Wohlthaten sprechen, mit denen er mich überhäuft hat? O, um die geb' ich keinen Pfifferling!«

»Aber Hugo doch!«

»Ja, ich bleibe dabei, keinen Pfifferling geb' ich drum. Pah! es ist leicht, den Wohlthäter zu spielen, wenn man reich ist, das kann Jeder; aber dadurch allein gewinnt man die Herzen nicht. Hätten Deine Eltern, statt mir schöne Kleider und eine Menge Taschengeld zu geben und einen Pony zu halten, hin und wieder ein freundliches Wort zu mir gesagt, hätten sie mich nur im Geringsten liebreich behandelt, gewiß, ich wäre für sie durch's Feuer gegangen; aber – – sie haben kein Herz!«

»Hugo, wenn Du so von meinen Eltern sprichst, so geh' ich fort und mag Dich gar nicht mehr leiden.« Sie stand auf, betrachtete ihn unwillig und schickte sich an, ihre Drohung auszuführen.

»Nein, Louise, bleib!« rief der Knabe und ergriff ihre Hand, »es war Unrecht von mir, mich so gegen Dich auszusprechen. Sei mir nicht böse, wende Du Dich nicht auch von mir. Mein Gott, es ist ja mein einziger Trost, daß doch Du zuweilen an mich denken und mich vermissen wirst, wenn ich fern von hier unter lauter fremden Menschen rauhe Behandlung und Ungemach aller Art erdulden werde, und – – die Andern mich längst vergessen haben. Wolltest auch Du mir zürnen – – so halt' ich es nicht mehr aus – nein, dann bricht mir das Herz. O, sag', daß Du mich lieb hast und immer lieb behalten willst, dann will ich alles Andere geduldig über mich ergehen lassen, möge in des Teufels Namen kommen, was da will!«

»Du bist doch ein rechter Strudelkopf, Hugo,« sagte Louise und streichelte ihm die glühende Wange, »aber doch so gut, so herzensgut, und nie, glaub' ich, könnt' ich Dir recht ernsthaft böse sein.«

»Sieh, Louise,« entgegnete er, »ich hab' neulich ein Märchen gelesen von einem Manne, der viele Kinder hatte. Alle machten ihm Freude, denn sie waren die artigsten, fleißigsten und besten Kinder von der Welt. Nur der jüngste Sohn war so ein Wildfang, wie ich; der trieb von Morgen bis Abend den tollsten Unfug, gerade wie ich, und der Vater konnte ihn nicht bändigen und verstieß ihn. Als nun der Mann alt und hinfällig geworden war und sein ganzes Besitzthum unter die guten Kinder vertheilt hatte, da verließen sie ihn, und er stand ganz allein, verlassen und hülflos in der Welt. Aber da kam der jüngste Sohn zurück aus der Fremde, wo er sich brav gehalten hatte und ein Allerweltskerl geworden war. Er war so klug, so klug, daß er das Gras wachsen hörte, und im Kriege war er gewesen und die größten Heldenthaten hatte er vollbracht; ein mächtiger König aber hatte ihn zum Thronerben ernannt und mit Reichthümern überhäuft; ja, so reich war er geworden, daß er die Nikolaikirche von purem Golde hätte bauen können. Er nahm sich seines armen alten Vaters an, und dieser sah nun wohl ein, daß mitunter die artigsten und folgsamsten Kinder recht nichtsnutzige Lumpen werden, wogegen oft die wildesten und unbändigsten das Herz auf dem rechten Fleck haben und es in der Welt zu was Tüchtigem bringen können. So möchte ich auch einmal zu Euch zurückkehren, Louise, und wenn dann Deine Eltern arm und hülfsbedürftig wären, o, dann sollten sie es wohl innewerden, daß sie mir Unrecht gethan haben.«

»Du kannst doch nicht wünschen, Hugo, daß meine Eltern arm und unglücklich werden?«

»Das hab' ich nicht gesagt, ich meine nur, wenn sie es würden, und ich käme dann zurück als – –«

»Als ein Kronprinz mit einem reichen, glänzenden Gefolge; o, das wäre herrlich!«

»Dann solltest Du meine Kronprinzessin sein. Ja, wahrhaftig, ich würde Dich heirathen, und fände ich Dich in der elendesten Hütte und in Lumpen gekleidet.«

»Das heißt, wenn ich Dich haben wollte, Du Wildfang?«

»O, Du würdest mich schon nehmen. Aber jetzt laß uns in den Garten gehen, denn hier ist es zum Ersticken heiß.« Und er ergriff die Hand seiner kleinen Cousine, und beide sprangen so fröhlich die Treppe hinunter, als hinge ihnen der Himmel voller Geigen.


Während der folgenden Tage wurden die Vorbereitungen zur Abreise Hugos beendigt. Näherinnen waren in vollster Activität, um Leinenzeug in reichlicher Menge herzurichten, Schuster und Schneider brachten die bestellten Kleidungsstücke, und Christian mußte einen neuen großen Koffer herbeischaffen. Herr Lüders schenkte seinem Neffen ein kostbares Fernrohr, und die Tante machte für ihn Einkäufe von hübschen Reisenecessaires, ja selbst die Rasirmesser für den zu erwartenden Bart wurden nicht vergessen.

Zwischen dem Knaben und seinen Pflegeeltern war aber eine Kälte eingetreten, die durch die Sorgfalt, welche diese auf seine Equipirung verwandten, nicht vermindert wurde. Hugo besaß ein zu scharfes Urtheil, um sich, trotz aller Freundlichkeiten, die ihm jetzt erwiesen wurden, über die wahren Gesinnungen seiner Angehörigen täuschen zu lassen.

»Sie wollen meiner los sein,« dachte er, »aber es soll jedoch bei Leibe nicht aussehen, als ob sie das angenommene Kind, den Sohn der einzigen Schwester, verstießen; da spendirt man denn noch im letzten Augenblick ein paar hundert Thaler, um den Schein der liebenden Sorgfalt zu bewahren; doch es steckt Nichts dahinter, Nichts als Selbstsucht und Großthuerei!«

In dem Kopfe des lebhaften Knaben haftete jedoch nicht lange ein und derselbe Gedanke. Wie bei einem Feuerwerk Raketen, Leuchtkugeln, Sonnen, Girandolen und farbige Sprühregen in schneller Folge entstehen und verpuffen, um in den Zwischenräumen die Finsterniß umher desto undurchdringlicher erscheinen zu lassen, so wechselten in seinem Gehirn die buntesten und abenteuerlichsten Ideen mit ernsten, trüben Vorstellungen. So oft die Herzlosigkeit seiner Pflegeeltern in seinem Gemüthe einen wahren Orkan des heftigsten Unmuths und Grolls hervorgerufen hatte, folgte auch unmittelbar darauf eine heitere Windstille, und vor seinem inneren Auge zogen liebliche Bilder vorüber von all dem Schönen und Wunderbaren, was drüben in der neuen Welt seiner wartete.

»Ich werde nie zurückkehren,« sagte er oft für sich, indem er sich vor Wuth die Lippen blutig biß und heftig mit dem Fuße stampfte, »nein, niemals, und sie sollen auch nie etwas von mir hören, wenn es mir schlecht geht; lieber will ich im Elend umkommen, als ihre Gnade anrufen. Ich will die alten Narrenpossen aufgeben, ich will fleißig sein, ich will arbeiten wie ein Sklave, und – gottlob – auf den Kopf gefallen bin ich ja eben nicht; o, es haben schon Andre ihr Glück gemacht in Amerika, warum sollte ich es nicht auch?«

Dann versetzte er sich in Gedanken an die herrlichen Gestade Brasiliens, und seine rege Phantasie zeigte ihm alle Wunder des gepriesenen Feenlandes. Thurmhohe, schlanke Palmen wiegten träumerisch ihre Wipfel im glühenden Sonnenstrahle, und Schaaren von bunten Papageien kletterten lärmend und schreiend an ihren Stämmen auf und ab, drollige Affen mit drei Ellen langen Ringelschwänzen schaukelten sich in den zierlichen Guirlanden der Lianen, die sich von Baum zu Baum fortsetzten, winzige, glitzernde Kolibris, nicht größer als Bienen, schossen pfeilschnell durch die Luft und hingen dann schwirrend an duftenden, farbenreichen Blumenkelchen, die wie Polypen oder wie Menschengesichter aussahen, während Schmetterlinge, so groß wie Suppenteller und mit metallglänzenden Flügeln über die üppige Pflanzendecke dahinsegelten.

»Ach, wär' ich nur dort!« jubelte er dann, »potztausend! das wird doch ein ganz andres Leben sein, als in der dumpfigen Schulstube zu hocken und das langweilige Geplörre des dicken Rectors anzuhören. Das noch länger auszuhalten – jamais – und extra pfui Teufel! davon hab' ich genug gehabt.«

Daß er wirklich genug davon gehabt hatte, mochten auch der Rector und der Onkel denken, denn sie ließen ihn die Schule nicht mehr besuchen; und man wird es daher sehr natürlich und seiner Gemüthsart angemessen finden – das Gelübde, die alten Narrenpossen aufzugeben, bezog sich selbstverständlich auf die Zukunft – man wird es sehr natürlich finden, sagen wir, daß er seine ledige Zeit auf einige ganz aparte Eulenspiegelstreiche verwandte, um diesen Abschnitt seines Lebens würdig zu beschließen.

Wir möchten nicht gern eine Gelegenheit vorübergehen lassen, zur Erbauung und Belehrung der lieben Jugend, die wir einmal ins Herz geschlossen haben, etwas beizutragen, und indem wir nicht bezweifelten, daß unter den Thaten, die Hugo noch zu guter Letzt vollbrachte, einige nachahmungswürdige wären, so gaben wir uns alle Mühe, diesen auf die Spur zu kommen; aber unser redlicher Eifer wurde nur unvollständig belohnt, und wir sehen uns leider nicht im Stande, mehr als einen einzigen der Auszeichnung würdigen Geniestreich zu liefern.

Dicht neben dem Landhause des Herrn Lüders wohnte ein Bauer Namens Jonas Böhm, ein erzdummer, tölpischer und dabei sehr abergläubiger Mensch; diesem einen artigen Possen zu spielen, war schon lange der sehnlichste Wunsch Hugo's, sowie seines Freundes Albrecht und noch einiger geistreicher und thatendurstiger Schulknaben gewesen, und Dank der Erfindungsgabe jener hellen Köpfe wurde das große Problem denn auch glücklich gelöst.

Jonas Böhm fuhr in diesen Tagen Heu ein, und so oft er Abends das letzte Fuder eingebracht, ließ er den abgeladenen Wagen die Nacht über neben dem Scheunenthor unter der Luke des Heubodens stehen. Die Scheune war durch einen ziemlich weitläufigen Hof von dem Wohnhause getrennt, und die Luke des Heubodens befand sich an der diesem entgegengesetzten Seite. Auf dem Hofe war kein Kettenhund, der durch sein Bellen das Unternehmen hätte stören können, und von Jonas Böhm und seiner pausbäckigen Ehehälfte ließ sich mit Grund vermuthen, daß sie nach der schweren Tagesarbeit im tiefen Schlafe lägen. So wurden denn alle nöthigen Werkzeuge herbeigeschafft, und die Knaben, sieben an der Zahl, machten sich in einer mondhellen Nacht getrost an das Werk. Zuerst wurde der Heuwagen in seine einzelnen Bestandtheile zerlegt, die Räder abgeschraubt, die Deichsel herausgenommen, der Langwagen losgetrennt und Vorder- und Hintergestell von einander gesondert. Sodann wurde die unter dem Scheunendache hangende Leiter heruntergehoben und an die Luke gelegt; nun aber begann die schwerste Arbeit, es sollte nämlich jedes einzelne Stück des Wagens die Leiter hinaufgeschleppt werden. In der That, es kostete den Knaben eine ungeheure Anstrengung, aber Geduld überwindet Hutzelbrühe und Sauerkraut, sagt man, warum sollte sie nicht auch einen Heuwagen überwinden? Auch war für Alles gesorgt, was die Arbeit erleichtern konnte, für lange, starke Stricke – der Leser weiß aus dem Vorhergehenden, daß Hugo in der Regel mit solchen versehen war – sowie für Bretter, die an die Leiter gelegt wurden, um das Hinaufziehen der gewichtigen Massen zu ermöglichen. Und kurz und gut, die Knaben sahen denn auch endlich ihre saure Arbeit mit dem günstigsten Erfolge gekrönt, denn in weniger als zwei Stunden stand der Wagen hübsch sauber zusammengesetzt auf dem Heuboden, die Deichsel keck aus der Lake hervorstreckend.

Die Knaben hätten jetzt gern ein dreimaliges donnerndes Hurrah ertönen lassen, wenn es hätte angehen können; aber sie blieben klugerweise mäuschenstill und entfernten sich, nachdem die Leiter wieder an ihren Platz gehängt war, Stricke und Bretter entfernt und alle Spuren ihres nächtlichen Treibens vertilgt worden waren.

Die dämmernde Eos hatte so eben mit ihren zarten Rosenfingern das goldne Himmelsthor geöffnet, um Blumen auf den Pfad des Sonnengottes zu streuen, da gähnte Jonas Böhm zum dritten Mal und erhob sich schlaftrunken von seinem Lager; und nachdem er seinen heißen Morgenkaffee eingeschlürft hatte – wobei er sich nicht mehr als vier Mal die Zunge verbrannte – begab er sich, obgleich es Sonntag war, in den Stall und zog den Grauen und den Braunen heraus, denn er wollte durchaus noch heute die Heuernte beendigen. Die klugen und geduldigen Thiere gingen, obgleich sie im Stillen die bevorstehende Arbeit verwünschen mochten, ganz gutwillig von selbst um die Scheune herum der Stelle zu, wo der ihnen verhaßte Wagen stehen sollte; noch immer halb im Schlaf folgte ihnen Jonas Böhm. Aber wo in aller Welt war der Wagen? Jonas Böhm schaute stumm – ringsum, schob die Mütze vom rechten Ohr und kratzte sich lange an dem dicken Schädel. In immer weiteren Kreisen schweiften seine Blicke hinaus in nebelhafte Fernen, dann zogen sie sich gleichsam spiralförmig wieder zurück und begannen die nächste Nähe gewissenhaft zu mustern.

Der arme Jonas lugte über den Gartenzaun hinüber in die Kohl- und Rübenbeete, prüfte genau die Obstbäume, bückte sich und warf einen forschenden Blick unter die Schubkarre, sah verstohlen in die große Theertonne und langte zuletzt mit beiden Fäusten in die Hosentaschen, als ließe sich die Möglichkeit doch nicht ganz und gar hinwegläugnen, er könnte in der Zerstreuung den Heuwagen eingesteckt haben. Endlich aber erhob er mit einem schweren Seufzer die Augen gen Himmel, wie um von diesem die Lösung des Räthsels zu erfahren; und es war auch das Gescheiteste, was er thun konnte, denn die Antwort auf seine stumme Frage sollte wirklich von dort oben kommen. – Auf dem Heuboden – es war keine Sinnentäuschung – mein Gott, er war ja doch wach – er hatte ja seinen Kaffee getrunken – noch brannte ihm davon die Zunge – dort stand der Wagen und schaute seinen Besitzer ebenso dumm verwundert an, wie dieser ihn.

Lange stand Jonas Böhm so da und blickte träumerisch in die Höhe, dann entrangen sich ihm mühsam die Worte: »Jesus, meine Güte, es ist Sonntag!« Unwillkürlich zog er die Mütze vom Kopf, hielt sie vor den Magen, faltete über ihr die Hände und murmelte ganz leise in reuevoller Zerknirschung und unter demuthvoller Beherzigung des ihm so deutlich gegebenen Fingerzeigs ein Vaterunser.

Hierauf zog er den Grauen und den Braunen wieder in den Stall, und man hat nie wieder gehört, daß Jonas Böhm an einem Sonntage Heu eingefahren hat.


Wir haben vorhin unser Bedauern ausgesprochen, von den Geniestreichen, die unser junger Held noch in den letzten Tagen vor seinem Scheiden ausführte, nur den obenstehenden berichten zu können; aber, Alles wohl erwogen, es ist so doch vielleicht besser, denn sonst wäre der geneigte Leser im Stande – und das würde uns unendlich leid thun – sich der Ansicht der Lüders'schen Eheleute anzuschließen, daß man in der That nichts Besseres habe thun können, als diesen Ausbund von Schelmerei möglichst weit fortzuschicken, am liebsten nach einem von Halb- oder Ganzwilden bewohnten Eilande eines noch wenig beschifften Meeres, etwa nach den Aleuten oder Kurilen dort oben hinter der äußersten Spitze von Kamtschatka, oder nach der Nimrods-Gruppe, oder den Macquaria-Inseln in der Südsee.

Wie gesagt, es würde uns den bittersten Schmerz verursachen, wenn wir bei dem Leser solche Gedanken hervorgerufen haben sollten, ja, der erhabene Zweck unserer mühevollen Arbeit wäre von vorn herein halbwegs vereitelt; wir wollen uns daher beeilen, unsern Hugo, für den wir noch einmal die Sympathie aller zärtlichen Mütter und Tanten in Anspruch nehmen, unter Segel gehen zu lassen, indem wir zugleich den strengen Vätern und Onkeln ihre eigenen Knabenstreiche, von welchen sie wohl auch Manches zu erzählen wüßten, unter die Nase zu reiben durchaus keinen Anstand nehmen.

Es war am Freitage den 7. August des Jahres so und so, Morgens 8 Uhr, als der Capitain Töxen seinem Rehder die Meldung brachte, daß die »Anna Maria« Nachmittags 4 Uhr, von dem Dampfschiffe »Vorwärts« bugsirt, den Hamburger Hafen verlassen werde. Im Laufe des Vormittags wurden die Effecten des Knaben an Bord gebracht, und die kleine Ida, die alle Vorbereitungen zur Abreise ihres Vetters mit einer Sündfluth von Thränen begrüßt hatte, schien in bittere Zähren schier zerfließen zu wollen, als die zwei handfesten Matrosen, mit Koffern, Kisten, Reisetaschen etc. schwer beladen, das Haus verließen. Aber sie hatte gestern fast ebenso bitterlich geweint, als die kleine Katze mit ihrer Lieblingspuppe gespielt und dieser das glatte Papiermache-Gesicht auf eine – wir können es freilich nicht in Abrede stellen – wahrhaft gräßliche Weise tättowirt hatte. Hugo zog hieraus den Schluß, daß er in dem Herzen des Mädchens gerade einen ebenso großen und keinen größeren Platz einnehme, als »Babette«, und es ist ihm daher nicht zu verargen, daß er sich durch den Schmerz seiner ältesten Cousine nicht übermäßig geschmeichelt fühlte.

Anders verhielt es sich mit Louisen; sie hatte weniger Thränen als ihre Schwester, aber – so schien es wenigstens – mehr wahres, tiefes Gefühl. Es war ihr und Hugo, als habe sich um ihre Herzen ein Zaubernetz gelegt, dessen starke Fäden der Zeit und der Entfernung trotzen würden, es war ihnen, als verhieße ihnen eine ferne Zukunft eine Welt von herrlichen Freuden – ach, sie wußten selbst nicht, was sie fühlten und hofften, aber eine wunderbare geheimnißvolle Macht hatte sie berührt, deren Herrschaft sie sich vertrauensvoll hingaben, und in ihrer kindlichen Einfalt gelobten sie sich, daß sie täglich und stündlich an einander denken, daß sie sich immer, immer lieb behalten wollten.

»O, es wird doch so kommen,« hören wir hier eine erfahrene Leserin sagen, »es wird doch so kommen, wie ich gleich von Anfang an gedacht, die beiden werden ein Paar werden.«

Ach, meine Gnädige, bedenken Sie doch, daß es nur kindliche Träumerein sind, von welchen wir hier reden, Seifenblasen, die, wie herrlich sie auch im bunten Farbenschmuck der jugendlich frischen Phantasie prangen, doch bei dem ersten unfreundlichen Lufthauche zerplatzen; und wenn Sie mich aufs Gewissen fragen wollten, ob Sie nicht dennoch richtig gerathen haben, parole d'honneur! ich wäre nicht im Stande, es Ihnen zu sagen, denn Sie müssen wissen, daß ich diese wahre Geschichte einem gewaltig dicken, fast unleserlich geschriebenen Manuscripte – im Vertrauen gesagt, der Arbeit des ehrlichen Buchhalters Lempke – entnehme, und ich habe mir noch gar nicht die Mühe gegeben, es ganz durchzulesen.

Herr Lüders pflegte alle Tage um die Mittagszeit zur Börse zu fahren, und er sah keinen Grund, an dem heutigen von dieser Regel abzuweichen. So sagte er denn seinem Neffen Lebewohl, versah ihn noch zu guter Letzt mit einer beträchtlichem Quantität von guten Rathschlägen und Ermahnungen, drückte ihm freundlich die Hand, drückte dann sich selbst in die weichen Kissen seines Wagens und fuhr davon.

Bald darauf hielt ein zweiter Wagen vor der Hausthür; es war die Droschke, welche Hugo nach dem Hafen bringen sollte. Die beiden Cousinen, namentlich Louise, hatten die Mutter flehentlich gebeten, dem Vetter das Geleit geben zu dürfen, aber sie waren abschlägig beschieden worden, denn Madame Lüders war der Ansicht – und wir pflichten ihr hierin bei – daß man den Schmerz des Abschiedes nicht ungebührlich in die Länge ziehen solle, weil das der Gesundheit keineswegs zuträglich sei.

Nur der gute Lempke hatte sich's nicht nehmen lassen, seinen Liebling an Bord zu begleiten; er hatte sich für heute von seinen Geschäften losgemacht und stand jetzt unten am Wagen, in einem fort schnupfend und über die drückende Hitze klagend, die ihm – er hätte das mit größerem Recht von seiner Rührung sagen können – fast den Athem benehme.

Hugo war unterdessen zu seiner Tante in deren Boudoir gerufen worden, und mit größerer Herzlichkeit, als er ihr zugetraut hatte, schloß sie ihn in die Arme und küßte ihn zu wiederholten Malen auf Stirn und Mund.

»Bleib' brav und gut, mein lieber Junge,« sagte die corpulente Frau, und Thränen flossen über ihre runden Wangen, »laß oft von Dir hören und sei versichert, daß mir nichts eine größere Freude machen wird, als zu erfahren, daß es Dir nach Wunsch ergeht, und daß Du Dich gut beträgst.«

Hugo war durch die Güte und Freundlichkeit seiner Tante bis ins Innerste seines Herzens erschüttert.

»Ach, wäre sie doch immer so gegen mich gewesen,« dachte er, »nie würde ich ihr den mindesten Grund gegeben haben, sich über mich zu beklagen.«

Und als sie nun eine gewichtige Börse in seine Hände gleiten ließ, indem sie ihn bat, diese Kleinigkeit aufzusparen für den Fall, daß ihm alle sonstigen Mittel ausgehen sollten, denn alsdann sei sie überzeugt, werde ihm das Geld Segen bringen, da faßte er den festen Entschluß, ihre Worte getreu im Herzen zu bewahren, und aus diesem ihren letzten Geschenke den größtmöglichen Nutzen zu ziehen.

Nun folgte der Abschied von dem Hausgesinde, dann von Ida und zuletzt von Louisen, die er stürmisch umarmte und sich dann schnell von ihr losriß, um in drei Sätzen die Treppe hinunter und mit einem vierten in den Wagen zu springen.

Eine Stunde später entsandte das kleine Dampfboot »Vorwärts« eine dicke Rauchwolke aus seinem Schornstein, seine Maschine stöhnte und schnaubte wie ein dem Gebote einer höheren Macht unterworfener Dämon, seine Räder peitschten die trägen Fluthen der Elbe, weiße Schaumstreifen nach rechts und links werfend, und hinterdrein folgte in mäjestätischer Ruhe der gewaltige Dreimaster, seine zierlichen Spieren und Raaen in den Lüften wiegend und stolz herabschauend auf den winzigen Vorspann, der seinen ungeheuren Bau dem offenen, endlosen Meere zuführen sollte.

Am Hintersteven des Schiffes stand der jetzt sich selbst und seinen Gedanken überlassene Knabe, aber seine Gedanken mochten nicht die heitersten sein; denn ein Ausdruck des herbsten Schmerzes lag in seinen Zügen, seine Brauen waren finster zusammengezogen und seine Lippen krampfhaft aufeinander gepreßt. Mitunter schien es, als wolle sich eine Thräne unter seinen Wimpern hervorstehlen, aber er drängte sie zurück, murmelte halblaut vor sich hin ein heftiges: »Nein, nein!« und ballte die Fäuste, wie im Unmuth über sich selbst, weil er es nicht besser verstehe, seine Gefühle zu beherrschen.



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