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Der Landler.

Es war die Zeit, bevor ich das werdende, das junge, gärende Österreich zu betrachten begann; da suchte ich voll Sehnsucht das alte Österreich, das einstmals war und das verschollene liebliche Wien aus den Tagen des Posthorns.

Ich sammelte Erinnerungen; ich sammelte in mein Gedächtnis stille Höfe mit übermoost rieselnden Brunnen aus den Zeiten italienischer Gartenbaukunst, Mansardendächer, schmiedeeiserne Gitter, verwitterte Sandsteingötter, Wein- und Efeugerank und bunte Vorgärtlein. Alle stillen Tage im Frühling und Herbst ging ich hinaus, wo die alte Zeit noch an den Berghängen des Dreimarksteins träumt, und nährte mein tiefes Weh, mein Heimweh nach dem alten, stillen, reintönig lebenden Wien.

Aus dieser Sammlung von Bildern und Erinnerungen will ich eine Szene zum besten geben, die sich in einem kleinen Heurigengarten zu Grinzing zugetragen hat:

Es war Frühling; ein wahres Mozartwetter. In den Wiesen, die hinter dem kleinen Hausgarten bergan nach den braunen, wartenden Weingärten führten, überjubelten sich die schalkhaft versteckten Veilchen in inbrünstigem Wettbewerb, und die Amsel stammelte ihre leidenschaftliche Erregung in immer neuen Ausrufen. Die kleinen Silberwölkchen aber neckten die junge Sonne alle Augenblick, hielten ihr verdunkelnd die Augen zu, gaben sie wieder frei, es wechselte innige Aprilbläue mit leisen, ziehenden Schatten, die ganze Welt lag von Blüten zugedeckt, Bienen wühlten, und im Straßengraben rieselte der neuerweckte Bach.

Die Menschen hatten alle zu tun; es war Werktag. Nur ich lag im Sonnenschein so still wie ein Kater; nein, wie ein Genesender; nein, wie eine Erdscholle, die nach Saat hungert.

Da zerschlug vielfaches Pferdegetrappel die heilige Einsamkeit, und just vor der kleinen Schenke hielt große Gesellschaft. Ein Wagen schüttete sechs Musikanten aus! Gitarre, Harmonika, süßes Hölzel, zwei Geigen und ein Brummbaß. Die seltenste Zusammenstellung, die ich je an Orchestern erlebte. Kaum saß das leichteste Blut von Wien und stimmte all sein Instrument, fuhr schon ein zweiter Wagen vor, voll Jugend, Sang, Juchhe und geschwungenen Stößern. Der Erste, der hereinkam, hatte ein vergnügt weinrotes Gesicht und einen ringelblumengelben Anzug. Er schaute im Garten umher, gab dem Tisch, den er sich erwählt hatte, einen Freundschaftshieb, entdeckte mich im äußersten Winkel und rief mir zu:

»Was? Fein san ma. Anders tuan ma's nöt: aner allani sechsspänni oder sechse in an Anspanner!«

Noch ein Wagen fuhr vor. Jetzt waren schon dritthalbdutzend Menschen da, je zwei Kinder auf einen ganzen gerechnet.

»Ja, wo ist denn die Ahndl?«

»Die kummt nach. Die fahrt langsam, daß s' es net so zerbeutelt. Seids stad. Hörts es? Da kommen die zwa Schimmerln.«

Richtig, noch ein Wagen: diesmal ein Gummiradler und zweispännig.

»Was gibt's denn?« fragte ich die Hauswirtstochter.

»An alte Großmutter hat ihren Geburtstag,« lachte sie, »und den feiern s' bei uns heraußen. Die alte Frau wär' seit ihrem dreiundzwanzigsten Jahr net mehr aufs Land kommen, seit dem Achtundvierzigerjahr! Es is ihr die Stadt zuviel ang'wachsen und sie hat die neuchen Straßen net abgehen mögen, weil 's zu lang dauert hätt'. Und jetzt haben s' halt ihre Enkerln im Wagen außerg'führt, damit s' no was Grüns zum sehen kriegt.«

Ich wartete gespannt auf die Urheberin dieser ganzen, famos genährten Menschheit. Ich stellte sie mir wie eine große Bütte vor; sie, aus der die ganze Bescherung gekommen war.

Endlich hielten die Schimmel, und ein paar zärtliche ältere Menschen führten ein kleines, ganz eingehutzeltes Frauchen herein, in einem havannabraunen Seidenkleid, das zu Kaiserin Elisabeths jungen Jahren modern gewesen war, und in drei Jahren, der Farbe nach wenigstens, abermals modern geworden wäre.

Die Rüschen und Falbeln gaben mehr aus als das ganze Körperchen, und die starre alte Seide sah ganz so aus, als ob sie es wäre, die das alte Weibchen aufrecht hielt.

Ein zimmerbleiches Gesicht, schwarze, freundlich-müde Augen tief im Kopf drinnen, die ängstlich herumforschten, wie ein Kind unter der Dachtraufe bei Wetterregen.

Und die dünnen weißgelben Haare waren rund um das Gesicht in Löckchen gelegt, wie ein alter Schnörkelrahmen. Man sah auf den ersten Blick, daß hier achtzigster Geburtstag war …

Die Kinder, Enkel und Urenkel umdrängten sie alle; jedes rief sie an, als ob von ihr alle Kraft und aller Segen noch einmal strömen solle; sie aber stand wie ein verdorrtes Papstgreislein und zitterte müde Wünsche auf alle umher: »Gott, Gott sei mit euch, meine lieben Kinder! Setz'n mer uns.«

Ja, das war ein erlösendes Wort. Die Ahndl bekam den Ehrenplatz, ein großer Eßkorb wurde ausgepackt, auf dem alle Augen mit inniger Freundlichkeit ruhten und mit jedem kalten Huhn eine kleine Auferstehung und Wanderschaft über den Tisch feierten, dann brach Gläserklingen los, Tellerklappern, Fraß und Musik.

Die kleine Greisin saß teilnahmslos und nippte vorsichtig den grünlichen Heurigenwein.

Die Musikanten spielten ein beliebtes Brettellied, und eine der Schwiegertöchter sang und tanzte dazu, während sich alles mit vollen Backen freute. Die Alte aber ließ Musik und Mimik, Blütenduft, Sonnenschein und Aprilluft um und über sich ergehen, als verstände sie all das längst nicht mehr. Der Wein erweckte sie nicht, die Geigen erweckten sie nicht, der Frühling erweckte sie nicht. Hohlbrüstig und eingesunken nickte sie vor sich hin und hielt das Weinglas in zitternder Hand.

Über ein halb Jahrhundert sonnenloses Traumgeduck in einem Zinshofe! Über ein halb Jahrhundert fand der Blick eines Menschenkindes, das sich vielleicht ehedem nach Grenzenlosigkeit sehnte, das Ende seiner Welt an der nahen Feuermauer des Nachbarhauses.

Wie sah ein Ausflug in den Jahren aus, als sie jung und schön war und Urgroßvater sie ins Grüne begleitete? Damals zog man für die liebe Sonntagsnatur den schönsten Bratenrock an und setzte den kübelhaftesten Zylinder auf, der in ganz Wien zu haben war. Ein Viertelstündchen bei der Josefstadt oder dem Alsergrund nach Währing hinaus, und man war im Grünen.

In Wiese und Feld und sonnträumenden Rebgärten wehte der Wind, wo jetzt graue Straßen starren. Das alte Wien war voll Wiese. Am Linienwall begann die endlos freie Welt; dort spielten die Buben Krieg, zehntausend Grillen besangen den grünen Mai, und die Vororte waren aus der Ferne nur als Bauminseln kenntlich, denn über die niederen trauten Dächer reichten sich hinüberreichend die Nachbargärten siegreich die Hände. Ganz verschüttet in Baumlaub, ganz goldgrün in seinem Wiesenreichtum leuchtend, so war das alte Wien. Da war der Gang in das nächste Weindorf ein großer Weg über die freie, wehend grüne Welt, und sehr weit durfte der Gang nicht sein, damit Urgroßvater den jugendschönen blauen Frack nicht verschwitzte.

Damals gehörte der Staat noch nicht allen Menschen, aber dafür gehörten die Menschen sich selber. Sie gaben die gute Stunde nicht für eine Partei dahin, aber sie bemühten sich, recht viel gute Stunden zu sammeln. Sie waren »wie die gute Stund' selber«. Und in dieselbe hellgrüne Welt, die heute von den Ausflüglerarmeen, oft von dreimalhunderttausend armen, lufthungrigen Sonntagsheuschrecken verheert, zerstampft und kahlgefressen wird, zogen damals ein paar Tausend hinaus. Meister und Gesell zusammen, raßfrei, klaßfrei, haßfrei.

Urgroßvater, der hatte sicherlich noch das arge Jahr achtundvierzig als Junggesell in hohem Schwunge mitgemacht. Dann war eine Zeitlang gut unterducken und heiraten. Da gab der neue Hausstand viel Sorgen, und bis man sich wieder zur Behaglichkeit eines Sonntagsausfluges herangewirtschaftet hatte, waren ein paar Jahre vergangen.

Dann hatten sie vielleicht einmal einen Gang zum »Biersack« probiert, aber rings um den »Biersack« war Wiese und Garten verbaut. Dann versuchten sie es mit dem Weinjackl. Aber der alte Weinjackl war tot, der junge hatte abgehaust und ein Großpächter hatte die Gemütlichkeit mit vier Kellnern hinausgejagt. Der alte Wirtsgarten war nur mehr ein Schlot zwischen vier Feuermauern.

Mutter war müde, sie blieb zu Hause. Vater allein hatte die Energie, mit guten Freunden den immer weiter entlegenen grünen Ausweg aus dem Labyrinth des Werktages und des großen Mörtelbackwerkes zu suchen.

Ein paarmal hatte sie nach den Veigerln und Amserln geseufzt, dann waren ihr die Weindörfer durch einige mitheimgebrachte Herrnvaterräusche gänzlich verleidet worden. Sie mochte nimmer hinaus, nicht einmal mit dem Zeiserlwagen. Es war ja auch die ganze Welt, die sie kannte und liebte, zugebaut worden.

Nun saß sie schon eine halbe Stunde in demselben Gartengrün, an denselben in die Erde gespießten Rohholztischen und ganz im selben Frühling wie damals und war gänzlich verschreckt und verhudert. Sie kam sich wie aus ihrem tappsigen Leben weggehoben und sechzig Jahre zurückgetragen vor. Sogar der Wein war ganz derselbe, ganz derselbe …

Und er machte beinahe grade so jung und warm wie früher.

Sie streckte den Hals weiter aus ihrem braunknitterigen Seidenkleid vor, das von ihr wegstand wie eine Schildkrötenschale. Zum erstenmal seit langer Zeit schaute sie wieder neugierig.

Bloß die verdeixelte Musik war nicht von ihrer jenseitigen, lieben Welt; sonst alles. Denn ihre Leutchen plauschten genau so wie es vor sechzig Jahren Brauch war; man verstand beinahe nichts, es lachte nur der heiße, junge, grüne Wein überlaut.

Wenn drei oder vier Frauenzimmer die Köpfe zu einem lustigen Geheimnis zusammensteckten und dann hell aufkuderten, so klang es wie das Emporgackern von Hühnern. Es war komplette Natur im Weingärtchen zu Grinzing.

Und da fiel es den Musikanten bei, eine von den ganz altmodischen, lächerlich treuherzigen Herrnväterweisen zu spielen, die man ehedem sehr lieb hatte. Sie waren über die »Giggeritschen und Gaggeratschen« in ihrem Übermut so weit zurückgelangt und wollten die Urgroßahndl damit ein bißchen necken.

»Marandannerl, was is denn dös?« fragten die Kinder umher und horchten.

Da sagte die Alte ganz leise und glücklich:

»A Landler.«

»Du, Großmutterl, wie war denn der?«

»Du mei. Der war schon zu meiner Zeit bald aus der Mod'. Nur mir einfachen Leut' hab'n an no tanzt.«

»Ja, aber, wie is er denn gangen? So wie der Walzer?«

»Na, er war …, er war so g'wiß 's Ahndl vom Walzer. Ma' hat si' immer nur ganz a wengerl schüchtern z'sammg'faßt und draht, und nachher hat a jed's wieder allani tanzt oder 's andre nur bei die Händ' g'halten. Mehr hätt'n ma uns dazumal net traut.«

Und wahrhaftig, die Großmutter stand auf und trat auf den Rasen. Ja, der junge Wein!

»Alsd'n, da is der Großvater g'standen,« erklärte sie, und die Musik begann von neuem.

Und die Greisin begann den lieben, scheuen, zärtlichen, koketten Tanz der alten Zeit, der eine ganze Liebesgeschichte erzählte: Angucken, ›Speanzeln‹, Werbung, Sprödigkeit, Annäherung – und endlich dann – als ehelich gestattete Erlösung – das umschlingende Miteinander.

Die Alte reichte ihre Fingerspitzen erst weit hinaus in die Luft und warf ein kurzes scheues Augenblitzlein nach Gegenüber. Dann sah sie zu Boden, hob schüchtern den Rock und tanzte ein wenig zurück; im Wegdrehen guckte sie aber doch noch über die Schulter: wo Er wäre?

Und es ging wahrhaftig zu, als ob Urgroßvater zu ihr auf den geliebten Wiesenplan herabträte, jung, lebensfroh und von heller Schönheit, in seinem blauen Frack mit den Goldknöpfen. Dem reichte sie die Hand; er ließ den Arm neckend über ihren Kopf gleiten und sie duckte fügsam durch. Auseinander drehten sie; sie trotzte und er trotzte, aber er kam nach, ließ sich von ihr hänseln und sah sie links um Vergebung an, und sah sie rechts an, bis er sie um den Leib nehmen durfte. Dann erst kam der Tanz, aus dem der Walzer entstand, und viermal tanzte ihn die Ahndl allein auf der Wiese herum, sodann war sie sehr schwindlig.

Es gab einen unerhörten Beifall; sie wurde wieder auf ihr Plätzchen geführt, aber die ehedem so schwindenden Augen waren jetzt hellbraun und rund, wie man sie auf den alten Bildern sieht, die so unsterblich frisch zu schauen verstehen, und diese Augen vermochten sich nicht von dem kleinen Wiesenplatze zu trennen, denn dort stand noch immer Urgroßvater und war höchst schüchtern, denn er durfte sich nicht mit zu den Lebenden setzen.

Langsam entschwand er dann den Augen der Greisin und retirierte immer blasser in den Dunst der sonnbebrüteten Weingärten zurück. Endlich entrann er in den blauen Himmel. Und die Augen der Alten wurden wieder langsam müde, trüb und verkrochen.

»Ja, ja,« sagte sie. »Damals haben wir jungen Leut' uns kaum traut, uns an die Fingerspitzen zu nehmen, und haben uns damit alles g'sagt, so spitzig die Alten aufpaßt haben. Nacher haben 's der Lanner und der Strauß schon g'schwinder g'macht, und heut' bleibt das Vorspiel, was ja do das Schönste von allem is, gar ganz weg. Die Leut' haben eben ka Zeit mehr.

Jetzt nehmen sie sich gleich in die Arm', und der Luisl hat mir erzählt, daß a Tanz aufkommen is, wo die Weiber glei' die Schuhsohlen herzeigen – und was dran hängt … Es geht eben heut' alles g'schwinder.

Damals hat eben a jedes glaubt, es hat achtzig Jahrln Zeit auf derer Welt.

Na ja. Wann 's euch nur guat geht, Kinder.«

Und sie sank zusammen wie ein Häuflein verlöschende Asche und blieb fortan teilnahmslos.

Weinerlich, falsch und müde wurde wieder die Musik, die sich in den allerneuesten Weisen erging. Froh und laut aber blieben die Menschen, und sie waren erhoben durch das große Beispiel, achtzig Jahre zu leben und dann noch einen Landler zu tanzen. Weiter dachten sie nicht, und Tor sei gescholten, wer mehr von ihnen verlangt.

Nur einer, einer blieb jung wie dazumal, als Großvater den schüchtern anfragenden Landler tanzte; der liebe, unsterbliche, grünlichhelle Wein.

* * *


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