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Die Pfingstküsse.

Diese Geschichte sollte man nicht erzählen, denn sie hat nicht die geringste Moral. Aber da der liebe Gott Herrn Willibald Himmelmayer in die Welt gestellt zu haben schien, um sich ein lebendiges Exempel dafür zu schaffen, wie er sich ungefähr das österreichische Musikantenblut vorstellte, so dürfen auch wir ihn nicht verdammen und mögen ihn ruhig betrachten; natürlich nur objektiv und als Exemplar.

Herr Willibald hatte schon seit ein paar Wintern Weib und Kind und war darüber vierzig Jahre alt geworden; die hatten sich wie eine Rinde langsam um ihn gelegt, ohne daß er auf den steifen Harnisch viel geachtet hatte, denn inwendig war er immer noch sechzehn. Am Morgen war ihm gratuliert worden; er hatte es gleich danach vergessen. Er hatte, nach dem Weihnachtsschlafrock, einen leichteren Sommerschlafrock zum Geschenk erhalten, denn es war der Sonntag zu Pfingsten. Er hatte die durchdringende Ironie des Ereignisses gar nicht bemerkt. Draußen war es lind und leuchtend blau, die helle Welt stand zur Verfügung wie eine schöne Frau in ihrer allerschwächsten Stunde und es war beruhigend für den Weltlauf, aber ein Wunder, daß nicht sämtliche Ehemänner ihren Frauen an diesem berauschenden Tage, an dem sich einst sogar die Jünger Christi aufs Schwadronieren verlegt hatten – durchbrannten.

Herrn Willibald war es höchlich danach zumute, und er beschaute sich auf seine vierzig Jahre hin im Spiegel. Er war sonst von so gleichgültiger Freudigkeit, daß er niemals in einen Spiegel schaute. Heute aber hatte er Angst um sich und tat's: Unter seinen Augen schmunzelte wahrhaftig schon kreuz und quer die schmerzlich humorvolle Zeit mit den wagerechten Fältchen, die vom vielen Lachen, und den schrägen, die von Nachtarbeit und anderen schlimmen Stunden entstanden waren, die sich auch über Herrn Willibald hergemacht hatten. Das sah also zwar charakteristisch aus, aber gar nicht so glatt, wie Porzellanmalerei. Der Bart, den er sich aus Abscheu vor der seifigen Hand des Barbiers wachsen hatte lassen und aus Eitelkeit so klein und knapp als möglich hielt, war noch kohlschwarz von blühender Jugend, die Augen frisch. Er wollte schon weg vom Spiegel. Aber da fuhr ihm etwas durch Mark und Bein.

War das möglich? Er sah genauer hin: Ein blondes Haar war das nicht! Er riß es aus und legte es auf seinen schwarzen Rockärmel: Das erste, schneeweiße Rabenaas unter tausenden schwarzen. Und Willibald hatte gar nicht daran gedacht, älter zu sein als höchstens sechsundzwanzig.

»Na ja« … sagte der Herr Kapellmeister, und über sein fluderwuschiges Herz lief eine Ahnung des Kreisganges dieser Welt; ja, es drehte ihm dieses Herz um und um. Er stand und sagte noch einmal sein resigniert ironisches: »Na ja,« aber im geheimsten wußte er, daß Sonnenwende sei, und das tat schauderhaft weh; so wehe wie Schnee im September, so wehe wie Allerseelen, ja gerade heraus: so wehe wie der Tod. Eine Seele, die jung, ahnungslos, verliebt, lebenstoll und noch gänzlich unbereitet wie die eines Kindes war, weil die Noten, samt Palestrina, Händel, Bach, Haydn und Mozart so ewig jung waren, eine Seele, die vor lauter Ewigkeit gar nicht daran gedacht hatte, daß sie bloß als Uhr in einem vermorschenden Kasten bestellt worden war, die wand sich jetzt vor Weh und Angst, als ob der Herr der Zeiten schon allväterlich und furchtbar gesagt hätte: »Zu Bette endlich, Lausbub.«

Nun stand das Geburtstagskind am Pfingstsonntag mit hängendem Kopfe da und hätte gern in der Eile irgendeine Philosophie erfunden, um den schaurigen Anhauch dieses unzeitgemäßen ersten Herbstwindes in Musik zu übersetzen. Aber Himmelmayer hatte nie den gramvollen Ringkampf des Gedankens mit dem Weh der Vergänglichkeit geübt, niemals die bittere Süßigkeit des Umlernens gekannt. Er hatte keinerlei Philosophie.

Also ging er spazieren, und war nun wenigstens mit den Beinen Peripatetiker.

Die große Provinzstadt hatte dreimal soviel Menschen in ihren Gassen, Alleen und Gärten als sonst, und fünf Sechstel davon schienen ihm jünger als er. Da schraubte er sich aus dem farbefrohen, verliebten, duftenden, nickenden Korso fort und ging in kleine Gassen hinaus, wo die Läden offen standen, weil es noch nicht zehn Uhr am Vormittage war. Hier war es stiller; hier, wo das Gras immer wieder zwischen den Pflastersteinen emporguckte, obwohl ihm dies zweimal des Jahres von rupfenden Händen als unstädtisch verwiesen wurde. Ja; es war still; hier kannte ihn niemand. Bloß Dienstmädchen gab es, und die beeilten sich, ihren Sonntagseinkauf zu machen.

Aber, o Menschenherz! Grade diese Dienstmädchen trugen schon die Sommerkleider mit den köstlichen, kurzen Ärmeln. Bis an den Ellbogen oder noch höher hinauf reckten sich die bisher winterbehüteten lichten und zarten, vollen Arme aus den hellen Blusen; die leuchtende Jugend blühte wieder herzbestrickend in freier Luft und es war eine Auferstehung des Fleisches, am Tage des Heiligen Geistes, von solcher Überzeugungskraft und aufrechter Leibesgegenwart, daß Herrn Willibalds Herz dreimal in der Minute gegen Himmel fuhr. Dieses immer erneute lustvolle Emporbrausen seines Herzens ließ sich nur mit einem Sommerfest vergleichen, wo eine Rakete nach der anderen unter »ah« und »seht« in die Höhe steigt.

Ach, es gab da mehr hübsche Weibsgelegenheiten in zweien kleinen, frühlingshellen Gassen, als Herr Willibald bisher in sieben Jahren geliebt und ersehnt hatte!

Da ging in seiner Seele folgendes Sprüchlein los: O ihr alle, alle, rosig wie Neujahrsschweinchen, blütenweiß wie zartester Zucker, klar wie firner Wein und viel, viel berauschender als er, all euch möchte ich drücken und abküssen! Herr der Herzen! Lust hätte ich zu einem ganzen Tanzsaal voll wehender Schürzen! Ja, wäre ich Kaiser, heut möchte ich nichts, als im Automobil durch eine telegraphisch vorbereitete Welt rasen und mich an siebzig Stadttoren durch bloßärmlige Empfangsjungfrauen hindurchknutschen!

An Schlimmeres dachte Willibald nicht, denn vor lauter Glücksgefühl blieb er schon am bekränzten Eingange seiner Phantasien stehen und war überwältigt. Inzwischen kamen und gingen in den Gassen die Mädchen in weiß, hellrosa und blaßblau, und der arme Willibald hatte ein ewiges Gruseln, weil er fühlte, daß solche Arme von Rechts wegen um seinen Hals geschlungen gehörten. Er verlief sich in immer einsamere Viertel, um solch herzbedrückendem Zauber zu entgehen und mündete endlich in der Au, in der lichtgoldgrünen Au, durch die der Fluß mit vielen Brüdern von kleinen Wasserläufen, Mühlgängen und stillen Tümpeln hinspielte. Dort hörten endlich, endlich die herzbewegenden Schürzen auf.

Da und dort stand noch ein Haus, eine Mühle, oder eine Fischerhütte mit ausgehängten Netzen, die weithin an die trocknende Luft ihren Flußtiefengeruch weitergaben, später ward das einzige Anzeichen der Menschenwesenschaft ein stark angeschnittener Heuschober. Endlich dann ward es einsam, und nun war Wiese, Gehölz, stilles Wasser und alle sonstige Natur unter sich. Und leise, leise ging Willibald durch die betäubend schöne, allseitig verliebte Welt seiner grünen Geschwister hindurch, die ringsum mit der Sonne eine Leuchtkraft an Blüte und Hellgrün loshatten, daß es den Sinnen schwindlig wurde.

Die Finken jauchzten wie verliebte Sennbuben ihr ji, ji, ji, ji, jijuhuhuhui alle durcheinander, die Amseln bliesen des Herrgotts Urflöte, die Grasmücken und Mönche übten allerfeinste, minderbemerkte Vokalkultur, und in diesem Losgelassensein aller Liebe einer lange gedrillten, armen Welt, stand der Musikant und hatte keine einzige Note zur Verfügung, außer einem dicken, schweren Seufzer und zwei Tränen, von denen eine dem schwächeren linken Auge zuerst entprallte, worauf auch die rechte süßschmerzlich und scheinbar so groß wie eine Kanonenkugel zur Welt kam.

Denn ringsum war die alte, neubetrogene Natur geradeso unerfahren, des Gottestages froh und unbelehrt wie dieses große Kind, das schon ein weißes Haar erlebt und dennoch immer noch nichts anderes getan, als daß es klingklanggloria zu Ehren des allersüßesten Lebens gesungen und gemusiziert hatte, als ob es mitten in der ewigen Seligkeit stünde. Hellgrün waren alle Blattspitzlein zugleich an den Tag geschossen, und die Sträucher, die jungen und die alten Bäume waren gleich eilig in ihrer lustvollen Torheit, zu leben und Vergänglichkeiten zu verüben.

»Na, denn los!« sagte Herr Willibald und schritt in die Ungewöhnlichkeit dieses liebeschweren Tages mit einer Lust hinein, als wäre die Geschichte mit den sechsundzwanzig Jahren dennoch wahr.

Dann blieb er plötzlich stehen, versuchte noch ein letztesmal zu philosophieren und faßte all seine Eigenschaften zusammen. Da wog ein weißes Haar, (und wenn's tausend waren), gegen das Gewicht eines ganz lieben Kerls, der einen brillanten Dirigenten, Geiger, Sänger und Frauenbeschwätzer abgab, dessen einzige, düstere Seite die unabwendbare Neigung war, bei Nacht zu komponieren, und der sonst eine Leichtigkeit des Lebens hatte, als bestände der Kampf ums Dasein für ihn darin, mit den Händen in den Hosentaschen durch diese Welt zu gehen und dabei sehr hübsch zu pfeifen.

Er hatte also, am Ende, dennoch Eigenschaften.

Schwermütige Welt: – wie bringt man nur dieses graue Haar zum Schweigen? Man beweist ihm, daß es unrecht hat; nicht wahr? Nun aber hervor mit dem Beweis.

Kapellmeister Willibald war also hell und voll gesammelt, sich im vierzigsten Jahre seines Lebens zu beweisen, daß er ein Jüngling war, als er aus der Au in die Feldweite hinaustrat. Voller Gold lag die Welt der Keime endlos vor ihm. Ferne war ein Dorf, dessen Dächer bis in die Feldschollen zu versinken schienen; es räkelte sich verliebt an die Erde wie ein wohliges Hündlein in der Sonne. In den leuchtblauen Himmel schnitten nur zwei Dinge hinein. Ein Kirchturm und ein Maibaum. Der Kirchturm war spitz und hatte ein rotes Dach und einen Wetterhahn, der sich je nach himmelspolitischen Umständen drehte. Geläute war keines mehr zu hören, denn es ging an Mittag; also war für den freundlichen Willibald der Kirchturm wesenlos. Der Maibaum aber wurde desto lieblicher, je näher man ihm kam. Schon fern glänzte sein heller, entrindeter Stamm in der verzückten Feldweitensonne, und bunte Bänder wehten von seinem Fichtenwipfel plaudernd in die Welt hinaus. Es war ein Maibaum, an dem Gott selber seine Freude haben mußte.

Da dachte der Musikus Willibald Himmelmayer mitten auf dem Feldwege an das Wesen des Volksbrauches, der den Maibaum erfunden hatte. Wem wird der Maibaum gesetzt? Dem schönsten Mädchen weit in der Runde. Wohlan, Willibald, beweise deinem weißen Haare dessen Niedertracht und Unzulänglichkeit, indem du dir das auf so holde Weise und hochauf angedeutete Mädchen eroberst, als seiest du ein junger Student!

Und er marschierte, sprühend vor Hoffnung und Ahnung kommenden Glückes, auf dem Feldwege gegen jenen Maibaum los, der sich kopfwiegend im leisen Winde bog und seine Bänder in bräutlicher Verheißung flattern ließ.

Und dann kam das Wirtshaus, das Wirtshaus an der Au! Links war die goldgrüne, windhauchwallende Feldweite, rechts erst ein paar, dann mehrere kühner beisammen stehende Traubenkirschen, die über und über blühten und berauschend nach Honig rochen, – ihr Duft ging in ganzen Wolken über Land, – und dann kam die Au: ein ganzer Wald von Pappeln und Espen, Weiden und Traubenkirschen, Hartriegeln, Eschen, Feldahorn, wilden Kirschbäumen und was Gott noch zuließ, je nachdem der Boden schwer, feucht oder steinig war.

Geradewegs aber ging Herr Himmelmayer in das feldstille Dorf ein und auf den Maibaum zu, und mit dem Augenblick seines Eingangs begannen alle drei Mittagsglocken aufzuläuten und machten einen wundervoll nachdenklichen Dreiklang, denn es waren tiefe Glocken, was eine reiche Gegend verriet. Tiefe Glocken müssen groß sein. Schwer schwangen und sangen sie und verkündigten drei Meilen hin für vier oder fünf Herzen Andacht und für eine Armee von fünfzigtausend Magen den glückseligen Pfingstsonntagsfraß. Und die ganze Welt lächelte, Gott mit inbegriffen und war zufrieden.

Da machte sich Meister Willibald im Gasthausgarten auf einer neugerammten Bank mit frohsinnigem Rucke seßhaft und sang in den Klang der Mittagsglocken bald in g, bald in h und bald in d das Hohelied seines Hungers: »Wirtshaus! Wirtshaus!«

Kam eine ganz junge Kellnerin heraus, schüchtern, hilflos und ungeschickt, so daß man sah, sie diente heute den ersten Tag. Sie zitterte mit der Stimme, wegen des feinen Herrn, der da gleich in ihren Weg gewettert kam: »Was befehlen Euer Gnaden?«

»Komm her, Kind,« sagte der Kapellmeister frohgemut. »Setz' dich da neben mich. Gäste sind noch nicht da.«

»Die kommen erst um fünfe oder sechse; wir haben noch recht wenig vorbereitet,« sagte das Mädchen ängstlich und setzte sich an den Rand der Bank.

Herr Willibald sang noch einige Sekunden hübsche Untertonläufe zu dem Klange der Glocken und das Mädchen dachte: ›Ein fideler Herr.‹

Dann hörten die Glocken auf und Willibald fragte: »Für wen ist der Maibaum vor euerm Haus?«

»Den haben neulich in der Nacht die Burschen gesetzt,« erzählte das Mädchen und ihre sommerschwarzen Kirschenaugen wurden lebhaft, »weil der Herr dann ein Fassel Bier freigeben muß. Unser Wirt hat eine solche Freud' gehabt, indem daß man sein Wirtshaus weit in der ganzen Ebene erkennt, wo es liegt, daß er zwei Fasserln hergegeben hat. Bei der Kegelbahn hat er sein Geld aber wieder hereingebracht,« schloß sie tröstend.

›O höchst verschlimmerte, moderne Welt,‹ dachte der Kapellmeister. ›Nun sind die jungen Burschen vom sittsamsten Mädel bis auf den freigebigsten Bierwirt herabgekommen. Bande!‹ Er war entrüstet. Das Volk hatte wieder eins seiner heiligen Güter verloren und er ein Mädel. Daß die junge Kellnerin auch nicht übel war, bemerkte er in seiner ärgerlichen Enttäuschung nicht gleich und fuhr sehr sachlich fort: »Was gibt's zu essen?«

»Mein Gott: nur eine schwäbische Brotsuppen mit Würsteln, Rindfleisch mit Semmelkren … Gugelhupf wär für die Jausen da.« – Sie schwieg und sah den schwermütig gewordenen Herrn ängstlich an.

»Aber Kind,« sagte er, »heute ist doch Pfingstsonntag. Ich möchte ein Backhuhn.«

»Ja, das kann recht gut geschehen. Backhendel sind wohl da. Nur leben sie noch.«

»Also abstechen,« entschied Willibald wehmütig. »Freilich, graue Haare haben sie noch nicht; ihre Zeit wäre noch fern. Aber jung sterben ist auch schön; ja es ist geradezu genial. Fragen Sie nur den Maler Raffael.«

»Ach den,« sagte das junge Ding verständnislos und bedrückt. Dann verschwand es.

»Backhendel mit Salat,« rief ihr der Kapellmeister nach. »Ja, mit Salat,« wiederholte sie etwas fröhlicher, verschwand im Wirtshaus und Willibald schaute sich die wunderschönen abgefallenen Kastanienblüten an, die über den ganzen Tisch gesät lagen, während oben in den Bäumen des Wirtsgartens noch hunderttausend, kerzenaufrecht und den Sommer weit über Feld hinausleuchtend, blühten. Über den Bäumen lag innige Sonne; unter ihnen war es heimlich wie Erinnerung; alle leeren Tische erzählten Liebesgeschichten aus ähnlicher Zeit wie heute.

Willibald träumte; träumte. Nun hätte er das bildschöne Wirtsmädel auskundschaften und her zu sich ziehen sollen, das ihm der Maibaum versprochen hatte. Damit war es aus. Die Wirtin war sicherlich auch nicht der Mühe wert, sie zu erweichen; sie hatte eine harte Stimme; das hörte man an der Art, wie sie mit der neuen, kleinen Kellnerin schalt: »Das muaß a Madel lernen! und a Kellnerin zuerst. Mit die Gäst hoppertatschig und mit die Hendeln in christlicher Bruderschaft sein, taugt net für unseren Stand. Das Hendel stichst ab und dem Herrn zeigst, daß du a jungs, fesches Madel bist. – – Wie? Du weißt net, wo ma'r an Hendel eini schneid't? Da: Schau her. Jetzt gehst hinter die Kegelbahn, haltst ihm die Flügel und die Haxen hinteri und stichst es ab. Halloh, mach g'schwind.«

Kurz nachher lief das Mädchen mit einem jungen Huhn verzweifelt über den Hof. Da schloß sich Herr Willibald ihr an.

»Was soll's denn, Fräul'n?«

»Ihner Hendel muß i abstechen, und das hab' i no nie net tan,« jammerte sie hoffnungslos.

»Na ja, aber,« sagte Willibald schüchtern, »wenn man bloß den Hals durchzuschneiden hat.«

»Aber das is es grad,« seufzte das junge Ding. »Mir wär's als ob i' an Christenmenschen abkrageln müsset. Und es zappelt und zappelt.«

»Lass'n wir's los,« sagte Willibald mitleidsvoll. »Mir ist der Gusto vergangen. Ich möchte gern Schinken, Wurst und Käse.«

»Ja, aber das soll jetzt mein Probestückl sein,« klagte die neue Kellnerin, »und ich muß doch Hendel abstechen lernen!«

»Guter Gott, ich kann's auch nicht,« sagte der arme Kapellmeister hilflos.

»Na, wird's bald?« schrie die Wirtin unsichtbar aber grellstimmig aus dem Küchenfenster herüber.

Da packte das arme Mädchen sein Huhn fester und lief hinter die Kegelbahn; Herr Himmelmayer schlich ihr entzückt nach, um die Tragödie bis zum Ende zu sehen.

Da mußte er erleben, wie das junge Ding in seiner Verzweiflung einen groben Hanffetzen, der zum Schutz gegen das Aufprellen der Kegelkugeln diente, von dem Bahnende wegriß, das Huhn hineinwickelte, damit sie es nicht sähe, einen Kegel in die Rechte nahm, die Augen zudrückte, den Kopf märtyrerkühn gegen Himmel drehte und zuerst viermal daneben hieb, bis sie ihr junges Opfer traf und still machte, sowohl zu Ehren des Pfingstsonntagsgastes, als auch um ihre Ehre als künftige Wirtin zu retten.

›Sie hat ein weiches, gottgefälliges Gemüt,‹ sagte sich Willibald Himmelmayer gerührt. ›Es ist geradezu etwas Gottesdienstliches in diesem gütigen Geschöpf. Wie sich das Braun ihrer Augen gegen Himmel zu drehte und das bläuliche Weiß des Augenkörpers feucht und schmerzlich die Übermacht in diesen süßen Augen bekam, wie der silberne Mond über die Nacht, das war einfach delikat. Judith konnte nicht schmerzlicher zu den Sternen geschaut haben, als sie das Haupt des Holofernes endlich 'runter hatte. Sie, sie verdiente den Maibaum!‹

Inzwischen trug das junge, mitleidige Herz das verreckte Huhn von dannen; dieses weiland Huhn streckte die Beine hinter sich wie ein fliegender Storch und war weich wie ein Abwischlappen, denn kein Knochen in seinem Leibe hatte dem Kegel zu widerstehen vermocht. Im Gehen machte die junge Weibskreatur noch schüchtern einen Schnitt in den Hals des toten Federgeschöpfes, dann überlieferte sie es der Wirtin.

»Marand Annerl, was hast denn mit dem Hendel g'macht?« schrie die Wirtin.

»I bin drüber herg'fallen und hab's a bisserl 'druckt,« log die kleine Nachfahrin Frau Evas.

Die Wirtin sah erwägend durch die Haustür in den Garten. »Na ja,« sagte sie dann, »es ist ein Stadtherr und ißt's sicherlich, wann die Gall' nicht mit zerdrückt worden ist. Aber Mariedl! Wann er Umständ' macht, so setzt du dich neben ihn und nötigst ihn und vertreibst ihm die Zeit, damit er Ruh gibt. Ich werd' wegen deiner kein zweites Hendel backen.«

Marie brachte also inzwischen gehorsam die Suppe und blieb neben dem Herrn Kapellmeister stehn, um mit ihm bekannt zu werden.

Der Herr aß ein bißchen und fragte dann: »Wie heißt du?«

»Marie,« sagte sie knicksend.

An dem Knicks erkannte der Kapellmeister die Unberührtheit des Neulings. Ihm ward mutvoll und zugleich bange um das Herz und er überlegte löffelnd, wie er aus dem Hause mit dem Maibaum ein herziges, kleines Abenteuer mit sich tragen könnte.

»Backhendel,« schrie die Wirtin aus der Küche. Ihre fette, scharfe Stimme prallte durch den winkligen Hausflur bis in den Garten, obwohl das Küchenfenster auf die Gasse ging.

Mariedl rannte fort und brachte das hellbraune Kunstwerk im spielenden Schatten der Kastanien angstvoll herangetragen.

»Marie,« sagte der Kapellmeister moll zu ihr, als sie das Küchenstück vor ihn setzte. »Marie! Warum hast du das arme Lebegeschöpf nicht laufen lassen, wie ich dir anriet?«

»Ich muß doch tun, was mir die Frau anschafft«, sagte das Mädchen bedrückt.

»Aber Marie,« sagte der Herr Kapellmeister weich, liebevoll und aus dem Grunde seines reichen Herzens: »Hat dir denn die Wirtin angeschafft, daß du es mit einem Kegel totschlagen sollst?«

Das arme Mädchen wurde butterblaß und begann sich mit Tauperlen zu bedecken, die ihr teils aus den Augen rollten, teils vor Angst aus den Poren quollen.

Der kluge Willibald nahm seinen Vorteil wahr. »Mitzi,« sagte er: »Mariemietz! Ich kann und kann das Hendel vor lauter Mitleid nicht essen. Ich bin gewissermaßen schuldig an seinem Ende. Habt ihr keinen Hund im Haus, der's essen möchte?«

»Ach Gott ja,« klagte die arme Marie. »Aber der flaniert den ganzen Tag in der Au und bringt dem Wirt Fasanen nach Haus.«

»Ein Goldhund,« sagte Willibald mit Wärme. »Aber was machen wir mit unserm Hendel?«

»Wenn es der Herr vielleicht doch versuchen wollten,« fragte das Mädchen mit herzlicher Bitte an.

»Marie,« sagte Willibald nachdenklich; »vielleicht ginge es so: Was ist euer bester Wein?«

»Der Kreuzwein,« sagte Marie mit sicherer Stimme.

»Kreuzwein?«

»Ja, weil er um das Kreuz dort mitten in den Weingärten am Berghang herum wachsen tut,« sagte Marie; »und das ist der beste. Er kostet aber einen Gulden, der Liter.«

»Her damit,« sagte Himmelmayer.

Sehr glücklich lief die junge Kellnerin davon und bestellte den Wein. Auch die Wirtin war zufrieden, daß ihre Kellnerin so animiersam auf Gäste wirkte und warf ihr ein kurzes Wort der Anerkennung hin. Dann kam das junge Mädchen hochrot mit ihrem Wein zum einsamen Herrn Gaste unter den mittagheißen Kastanien.

»Also,« sagte Herr Willibald respektvoll. »Da wäre der Kreuzwein. Mariemietz, nun setz' du dich neben mich.«

Marie wagte es und tat nach dem Gebote.

»Kind,« sagte der Herr Kapellmeister so milde, als sei er der Herr des letzten Abendmahls, »nun mußt du das Hendel essen.«

»Das geht nicht,« sagte Marie erschrocken und wollte aufstehen, Himmelmayer aber legte seine Hand auf ihren bloßen Arm, der ihm schon längst gefallen hatte und sagte: »Liebste, schönste Marie, kein Aufsehen, sonst wird die Wirtin bös. Das Hendel muß weg. Mir erbarmt es gar so sehr, und wenn ich den Salat esse, so ist es schon viel, weil Mitleid manchmal weher tut als Leid.« Er sprach das wunderschön; ganz schwer, ganz milde, ganz als wollte er von der Welt Abschied nehmen.

»Ja, aber der Herr hat doch das Abstechen befohlen,« sagte das Mädchen.

»Mein Gott,« erwiderte Herr Himmelmayer, »das ist eben unsere städtische Unerfahrenheit. Unsereins bestellt ein Backhendel, sieht ein Hendel nie anders als ganz lebendig oder aber ganz gebacken und glaubt, das wären verschiedene Geschöpfe. Er betrachtet ein Backhendel als ein separates Geschöpf, welches, wie es ist, fertig aus des Herrgotts gütiger Hand an ihn adressiert ist. Daß Mord und Totschlag dazwischen liegt, Marie, dafür ist unsereiner zu weichherzig. Wie alt bist du, Marie?«

»Siebzehn Jahr.«

»Siebzehn! Ich bin schon siebenundzwanzig,« seufzte der Kapellmeister. »Weißt du was, Marie? Wir nehmen uns einen Anlauf und essen miteinander das gebackene arme Tier, bevor es ganz kalt ist. Wenn nur du mir hilfst, dann geht es.«

Er zog die ängstliche, kleine Person an sich, legte ihr vor, schenkte ihr Wein ein, nötigte sie gründlich auszutrinken und dann begann das Mahl, als säße ein scheues Liebespaar unter den schattigen Bäumen. Herr Himmelmayer schälte nur die äußerste gebackene Haut von den ermordeten Gebeinen, die brave Marie aß aber gewissenhaft auch alles Fleisch. Wenn eins von den beiden vor einem zertrümmerten Tarsus oder einem Spinafragment erschrak, sprach ihm das andere Mut zu und Willibald unterstützte den wankenden Fleiß des Mädchens mit freundlichem Weinzuspruch. Da aßen und tranken sie, bis das Unglückshuhn in nichts mehr als abgenagten Resten zum Himmel emporklagte, und je mehr Marie aß und trank, desto lieblicher, tiefrotwangiger und frohäugiger wurde sie. Nun war sie schon ganz handsam. Ja, sie hatte um des Kapellmeisters Taufnamen angefragt. Der Schreibnamen ging sie nichts an und Ehering war keiner an Herrn Himmelmayer sichtbar.

»Marie,« sagte der Gast. »Trink noch ein Glas; ja? So, gut. Und nun sag' mir: Betrüg mich nicht. Der Maibaum ist deinetwegen gesetzt. So schön wie du, so lieb und jung und herzig wie du – – Im ganzen Lande, wenn ich irgendwo einen Maibaum setzen hätte sollen, dir hätte ich ihn gesetzt. Dein Liebhaber hat's angezettelt.«

Marie war glücklich. Dieser Herr war mitleidig gegen jedes Huhn, fröhlich, tischteilsam wie ein Kind, und nun glaubte er sogar, daß sie schön sei und einen Liebhaber besäße. Ach ja, einen solchen, wie den. Dann wollte sie wohl mal beginnen, dachte sie. Und sie schwor, daß der Maibaum dem Wirt gehöre, daß sie erst den zweiten Mai ins Dorf gekommen und gänzlich unbeachtet sei.

»Marie,« bat Willibald innig. »Unbeachtet? Und ich, der hier nicht mehr weg kann! Ich der mit dir jetzt zusammensitzt, wie zwei rechte Liebesleute sitzen. Ich beachte dich auch nicht?«

»Ja freilich,« sagte sie leise. »Der gnädige Herr war sehr lieb zu mir, den ganzen Mittag lang.«

»Mäderl,« drang der Musikant in sie: »Mäderl, nun soll ich fort und du willst mir fremd bleiben! Trink doch Bruderschaft mit mir, damit ich weiß, daß ich ein liebes Geschöpf irgendwo hab, denn ich muß nun hinaus in die glühende, fremde Welt.«

»Kommt der Herr wieder ins Dorf?« fragte sie.

»Zu dir, zu dir. Ich komme wieder!« versprach er. »Also trinken wir Bruderschaft?«

»Wie wird's gemacht?« fragte das Mädchen.

»So, Arm in Arm eingehängt, du dein Glas in der Hand und ich meins. Und nun trinken wir bis auf den letzten Tropfen leer. Ja?«

»Mhm,« sagte Marie trinkend.

»Und nun küssen wir uns,« sagte Willibald.

Beide sahen sich um. Dann breitete Marie ihre bloßen Arme aus, zog ihn an die Brust und legte diese sehnsüchtig schließfesten Arme voller Innigkeit um den Hals des ihr herzlich nahe gewordenen fremden Gastes. »Du guter, lieber Mensch,« sagte sie und ihre weinfeuchten Lippen legten sich frischgekühlt an die seinen und küßten, als ob pralle Weinbeeren an seinem Munde zersprängen. »Noch,« sagte er. Da verschenkte Marie nach ihrem, möglicherweise ersten Liebeskuß auch den zweiten und dritten; köstliche Stücke erglühender Neigung, bis zu elfen. Dann hielten sie inne, schauten sich in die heißen Augen und wollten von neuem beginnen, als die fette, ranzige Stimme der Wirtin von ferne durch den Torgang knarrte: »Marie?«

Noch hatte sie ihre bloßen Arme um seinen Hals und bekam sie beinahe nicht los, so teuer war ihr dieser Mensch geworden. Er umfing sie, küßte sie und drehte ihren zierlichen Körper wie im Tanze um sich. »Nun lauf, herziges Mädel,« sagte er.

Dann, leider in Gegenwart der Wirtin, zahlte er betrübt und ging. Sie sagten sich nur mehr mit den Augen durstig und in gieriger Sehnsucht: »Auf Wiedersehen!«

Hinter dem Herrn Kapellmeister lag wie ein Inselchen der köstlichen Jugend ein blühender Kastanienhain über niederem Strohdach, er selber wanderte im Sonnenschein über eine zirpende, summende und heiße Welt dahin und wußte nicht, warum er gegangen war, denn alles Glück war hinter ihm. Vor ihm war bloß Stimmung; freilich eine köstliche Stimmung inmitten der tiefwallenden Felder, darin die roten Mohnblumen und die Cyanen das Gloria der Schönheit hoch über alle Nützlichkeit des Korns und der Gerste sangen. Und die tausendfach gleichhalmige Jugend der Felder war mit ihnen schön, unter Gottes allergnädigstem Sonnenlächeln.

Ein Tag des Herrn, ein Tag der offenen Herzen und der roten Lippen! In hellem Siegergefühl wanderte Willibald weiter und seine Nerven musizierten sehr zart und sehr freudig im Nachhall der Küsse.

Durch die Ebene schwang sich ein Bahndamm. Was ohne Absicht auf Schönheit ausgeführt wird, gedeiht oft zu einem Wunder an Schönheit. Dieser arme Bahndamm nun, der, von oben gesehen, als ein ungeheurer, herrlich gerundeter Viertelbogen durch das Land hindurchrippte, war der überragende König der Gegend. Von ihm aus gesehen lag das Land gnädig zu Füßen hingewiesen und sein zirkelgerechter Bogenzug beherrschte kühngebietend alle Unordnung der bauernhaft einzelwesigen Parzellierung. Er fuhr durch das zerschachtelte Land wie ein Meteor über die ganze Sternenkonkurrenz; großherrlich, eigennützig, aber mit Schwung.

Dem Musikantenblut schien es schon längst eine Schwäche der Behörden, daß sie das Gehen auf Bahndämmen verboten; gerade das liebte er ja so sehr. Man hatte Luft, man war, der man war; der über das flache Land Erhabene, man sah weit umher und genoß die verbotene Frucht des Paradieses. Natürlich erhoppste er sogleich mit röckewehendem Schwung die Böschung des Dammes und ging nun als Herr aller niederen Dinge dieser Welt in verhältnismäßig göttlicher Höhe rhythmisch auf dem Gleise der Schienen dahin. Die Telegraphendrähte sangen im Winde zuerst einen famosen Mollakkord. Dann, durch eine Stange und wechselnde Spannung anders abgestimmt, kam die Tonica hinzu und bei der nächsten Stange solch eine famose Dissonanz, als freute sich Richard Strauß seiner neuen, wilden bunten Welt, die so sehr dieses herzzerrissene, vieltönige, aber alle Augenblicke erlösungsbereite Zeitalter trifft.

Derlei fröhliche Gedanken an seine Lieblinge balancierten mit dem Herrn Musikanten, als er auf einem Bahndamm eine Welt überragte, und stolz wie ein Seiltänzer über die Erde erhaben war. Denn er ging auf einer einzigen Eisenbahnschiene, hatte die Arme ausgebreitet, rutschte niemals ab und freute sich sehr über sein Artistentum. Die Telegraphendrähte schwirrten bald d, bald des, er sagte ihnen fröhlich ihre Tonart auf den Kopf zu und balancierte weiter. Die Grillen und Heupferdchen hatten ein famoses Pizzicato ringsum und der Herr Kapellmeister hielt die Arme segnend über diese musizierende Welt ausgestreckt, teils weil er sich auf den Eisenbahnschienen erhalten, teils aber auch, weil er etwas von der Lust des Taktschlagens in sich hatte. Und er überlegte, daß von allen Geschöpfen dieser Erde der schaffende Herrgott, ein steinerner, segnender Heiliger und ein Kapellmeister am längsten ihre Arme in der Schwebe zu erhalten vermöchten. Ein Fechter hat nach einer Stunde genug. Aarons Arme mußten während einer Schlacht horizontal gestützt werden, ja sogar Jehovah legt sich, in den Gemälden schwacher Menschen, stützende Englein zu. Der Kapellmeister allein segnet und segnet, von sieben bis zwölfe in der Nacht die Menschheit, – länger als sie aushält.

Er ging und jubelte in die Welt hinein, der Herr Lustblut, solange das Land um ihn blaute. Bahnwächter hielt ihn keiner auf. Erst als die weit vorgefelderten Häuschen eines fernen Marktes bis an den Bahndamm heranschoben, gewann er wieder Interesse für die Menschenwelt; ringsum in den Feldern jäteten gebückte blaue und rote Röcke das blühende Unkraut aus, Gärten waren ringsum, dann kamen enger aneinander schließende Häuser und endlich der geschlossene Marktflecken. Herr Willibald stieg sittsam vom Bahndamm herunter, weil, in der Nähe der Vorgesetzten, selbst die sonst naturmilden Bahnwächter Stimmungen verderben können. Er prallte an die Rückseite eines Krämerhauses; aus einem Fenster starrte ein junges Weib und achtete des Herabspringenden kaum als eines Vaganten. Das beleidigte nun Herrn Himmelmayer.

»Gnädige Frau,« sagte er ernsthaft. »Verzeihen Sie, daß ich Sie anspreche, aber es geschieht von Staats wegen, weil ich Ingenieur bin. Man beklagt sich über diesen Bahndamm, weil er den bürgerlichen Hausgärten Sonne wegnimmt, erfuhr ich?«

Die junge Frau sah ihn erstaunt an. »Davon hab' ich nun wenig gehört,« sagte sie.

»Nun sehen Sie an,« rief Willibald, »was für unnötiges Zeug an die Regierung geschickt wird! Unser Bahndamm bringt doch so viel Leben nach diesem Markt, und man schilt nun wegen einem Dutzend beschatteter Bohnstangen.«

»Na ja,« sagte die junge Frau schüchtern; »in unserm Garten wächst auch nur wenig, soweit der Schatten hinfällt, und mein Zimmer da ist das allertraurigste im ganzen Haus.«

»Gnädige Frau, Ihr Zimmer geht eben nahezu nach Norden,« log Himmelmayer mutig. »Gibt Ihnen da nicht der Bahndamm den Reflex der Mittagssonne? Gibt er Ihnen nicht das glänzende Grün seines Rasens, den hellen Widerschein seiner kleinen Welt?«

»Das habe ich nie angesehen,« sagte die arme, bedrückte Frau mißmutig.

»Aber Ihre Kinder, gnädige Frau?« erwiderte der falsche Bahningenieur fröhlich.

»Ich bin erstens keine gnädige Frau und zweitens habe ich keine Kinder,« trotzte die junge Frau mißmutig, schwenkte um, rannte vom Fenster weg und ging nur wegen der staatlichen Obrigkeit und deren freundlicher Rede wieder zum Fenster zurück.

»Verzeihen Sie, gnädige Frau,« sagte Himmelmayer, »es gehört zwar ganz und gar nicht zu meinem Bahndamm, aber wenn ich nicht im Dienste wäre, so würde ich mir gehorsamst zu sagen erlauben, daß einer solchen Frau dennoch sowohl Gnädigkeit, das heißt ein freundliches Lächeln, als auch Kinder beschert sein müßten. Ich bin nur Ingenieur und muß Bahndämme freundlich gestalten: aber das Leben einer Frau, die solche Augen hat wie Sie, das möchte ich mir denn doch nebenbei auch sonnig und in leichter Linie zu gestalten getrauen, wie unser guter Bahndamm ist. Jedoch, gnädige Frau, wenn Sie nun verraten, daß ich da, statt Beschwerden einzuholen, Komplimente mache, bringen Sie freilich meine Stelle in Gefahr.«

Die hübsche, traurige Frau lächelte. Das Gefühl, einen Menschen zu begnadigen, tut dem ins Weltliche übersetzten Mitleid Gottes – als welches die Frauen angesehen werden müssen – sehr wohl.

»Beamter sind Sie,« lächelte sie; »aber Sie sehen aus wie ein Schlankel österreichisch für Galgenstrick.. Bleiben Sie lieb und brav; ja? dann werde ich Sie nicht verraten.«

Eilig stieg nun Willibald gänzlich vom Damm herunter und kam nahe an das Fenster der traurigen Frau, die er nun schon so sehr erheitert und frischblickend gemacht hatte.

»Ach aber, gnädige Frau,« sagte er: »Sollen wir nun vom Bahndamm reden oder von Ihnen? Mir ist so weh ums Herz, seit ich Ihre traurigen Augen gesehen habe. Und kinderlos?«

»Vom Bahndamm, vom Bahndamm sollen Sie sprechen, Herr Ingenieur,« sagte die junge Frau, halb mit der fröhlichen Nüchternheit ihres widerstandskräftigen Geschlechtes, halb phantastisch erregt, was da werden solle. Denn Romane gelesen hatte auch sie.

»O weh,« klagte Himmelmayer traurig. »Also denn: Ich soll die Ortsbewohner im Namen der Regierung umstimmen, damit der Damm bleibt, wie er ist; – aber es scheint, daß ich kein Geschick habe. Die erste Frau, die ich anspreche, treibt ihren Spott mit mir.«

»Aber nein,« sagte sie lachend.

»Ja doch,« lamentierte er fröhlich weiter. »Ich kann Brücken bauen, gnädige Frau, aus Eisenlamellen, T-, U-, H-förmigen Eisenrippen; zart, weitschwingend, gewaltig. Aber sprechen, beschwätzen, das ist mir versagt. Ach, gnädige Frau,« fuhr er fort, »einmal bei Erbauung einer Hochbahn hingen wir in einem Brückenbogen; die Arbeiter hämmerten donnernd die glühenden Nieten in die Eisenbindungen hinein, über uns sauste der Sturm und unter uns brüllte der Wildbach. Ich als Ingenieur aber hing wie eine kleine Spinne am höchsten der Eisengewebe zwischen der blauen Luft und den Felsen der Bergwände über dem tödlichen Wildwasser und kroch umher, um jede Niete zu untersuchen … Die Eisenschienen sahen aus der Ferne und Tiefe wie Drähte aus, ich war ein Punkt; und doch waren sie so dick, daß ich sie mit der Armbeuge kaum fassen konnte: so, gnädige Frau: Ihr Nacken ist viel dünner, als solch eine Hauptrippe.«

»Das glaube ich,« lächelte sie und bog den geschmeidigen Kopf nach vorne, um sich einer leisen Umarmung zu entziehen, wobei er, um sie nicht zu verstimmen, sogleich galant, leicht und gehorsam den Arm weggleiten ließ.

»Ja, nun wegen des Bahndammes,« sagte er sachlich und ein wenig streng.

»Ach,« bat sie; »erzählen Sie mir von der Brücke. Also, was geschah dort oben, hoch in den Eisendrähten?«

»Jaja,« seufzte er. »Diese Brückendrähte, an denen wir Spinnen der Technik hängen, erinnern mich, daß ich klein, so klein bin, daß jede kleine Frau mich auslacht.«

»Nein, sie sind groß und gewaltig; seien Sie doch etwas mehr stolz auf sich,« mahnte tröstend die junge Frau, die nun ganz aufrecht und zu Hause war. »Also, was war ihr Gefühl dort oben?«

»Winzig, gnädige Frau. Es ging mir wie dem kleinen Kinde, das den Eltern im Walde durchgebrannt ist, und dem nun die Erde zehntausendfach zu leer und groß ist! Am Zeichenblock schien die Brücke zierlich; nun kroch vor mir die lebensgroße eigene Idee mit Riesenspinnengriffen ins Endlose. Oben der Bergwind, unten der Wildbachtod, in mir der Schwindel: so hing ich im eigenen Werke wichthaft, elend, verlacht und erschüttert von demselben Gotte, der mich in der Stube Berge überspannen hieß!«

»Und? Dann?« atmete die junge Frau. Sie hoffte was von Hinunterfallen zu hören und war dabei froh, daß der hübsche Mensch vor ihr stand, das zu erzählen.

Der arme Kapellmeister drehte den Kopf links und rechts in die Lüfte; die technischen Erfindungen gingen ihm aus. Über ihm sangen die Telegraphendrähte. Da griff er nach rückwärts zu seiner Musik.

»Also,« sagte er. »Da nun um mich der Sturmwind, in diese Enge gepreßt, mit neunzigtausend Metern Geschwindigkeit pro Stunde durch das Tal brauste und unter mir der Wildbach brüllte und ich armer Mensch die einzelnen Nieten für einen Gehalt von vierhundert Kronen monatlich abrevidierte, da begannen die Eisentraversen zu vibrieren, daß mir die Arme anfangs spannweit hin- und hergerissen wurden; je weiter ich kroch, desto größer wurden die Schwingungen. Zuletzt schwang ich selber mit; es rüttelte mich, daß ich von unten dreimal so dick aussah, so sehr fieberten die Brückenspangen; und ich hing oben und betete Gott an, denn von der entsetzlichen Harmonie der Sphären bekam ich mein Teil ab! Alle diese Eisensaiten waren eine brausende Harfe geworden; der Wildbach gröhlte ein tiefstes D, die Brücke wimmerte schauderhaft in h-moll, es war scheußlich, gnädige Frau!«

»Das glaube ich,« sagte die junge Frau ehrlich überzeugt; denn im Orte war ein einziges Klavier, das ward alle Nacht im Wirtshaus gequält – – – und redete also eine Sprache von dem Elend der Welt, daß die arme, stille Frau von den bloßen Begriffen zweier Tonarten viel schauriger erschüttert und erschreckt wurde als von hundert Metern Spannweite einer Eisenbrücke.

»Dazu brausten die Fichten der Bergwälder in, in –« Der Kapellmeister suchte interessiert nach einer Auflösung. Aber die junge Frau sagte schaudernd: »Schweigen Sie, es muß unerträglich gewesen sein.«

Das waren ihre Begriffe von Musik. Sie hatte fortab das angstvollste, tiefste Mitgefühl für Ingenieure.

»Sind Sie denn noch bei dem Geschäft?« fragte sie dann vorsichtig.

»Ach, das ist es ja eben. Ich hielt es so zwischen Himmel und Erde nicht mehr aus, und nun verwendet mich die Regierung bloß mehr auf Bahndämmen. Und wenn ich diesen Ort nicht dazu kriege, daß er dem Bahndamm, wie er jetzt ist, zustimmt, so verliere ich weitere hundert Kronen von meinem Gehalt.«

»Das ist aber sehr traurig,« sagte die hübsche Frau.

»Freilich,« seufzte er. »Und nun unterschreiben Sie den Petitionsbogen zur Beibehaltung des Dammes?«

»Wer ist denn schon unterschrieben?« fragte sie.

»Sie sollten anfangen,« sagte er kleinlaut.

»Mein Mann ist nicht zu Hause, drei Tage lang,« sagte sie entschieden. »Die Politik macht er. Gott bewahre mich, daß ich ihm da dreinrede; ich hab' es so schon schwer genug.« Sie atmete gepreßt; das ganze Herz tat ihr weh vor Mitleid. Denn Willibald setzte sich bei ihrer Antwort wie ein kleiner Bub hucklings und total mutlos auf den Bahndamm nieder. »Alles ist aus,« sagte er.

»Gehen Sie doch, versuchen Sie es nur bei der Bürgermeisterin und der Apothekerin und der Majorin,« drängte sie ängstlich. »Wenn die unterschrieben haben, tu ich's auch.«

»Ich bin fertig; ich getraue mich nicht mehr,« sagte der Gauner beklommen. »Wenn ich von der hübschesten Frau des Ortes eine solche Absage bekomme, was soll ich bei den häßlichen erwarten?«

»Ja, Sie Ärmster,« lächelte das junge Weibsgebilde; »hübsch sind die alle dreie nicht.«

»Gnädige Frau,« bat Willibald.

»Was denn?« fragte sie weich.

»Machen Sie mir Mut.«

»Wie denn?« fragte sie milde.

»Einen leisen, leichten Kuß, und ich lasse Sie mit der Unterschrift ganz aus. Die Unterschrift könnte politische Unannehmlichkeiten haben, die Verweigerung auch; denn ich weiß nicht, wie Ihr Herr Gemahl darüber denkt. Ich bin sehr traurig, ich habe sehr stark meine Pflicht vergessen und dennoch, daß ich meine Stelle verlieren soll, erscheint mir jetzt klein. Nur Sie, Sie darf ich jetzt nicht mehr verlieren!«

»Ach,« sagte sie. »Ihre Stelle ist lang, und ein Kuß ist kurz.«

»Er ist eine Ewigkeit an Erinnerung,« widersprach er demütig. »Und dann liegt es ja an Ihnen, ihn zu verlängern?«

Sie drehte sich fort und verschwand in der dunklen, niederen Wohnung. Sie war ein Restchen böse.

»Gnädige Frau,« bat er ins Fenster hinein.

Da kam sie wieder. Er war still. Sie stand mitten im Zimmer und ließ die Arme hängen. Sie war schön, nur durch vieles Einerlei des Lebens allzu regelmäßig und schlafensmüde im Antlitz. Nun versuchte sie nachzudenken über eine Sache, für die es zu spät war.

»Kommen Sie,« sagte sie dann. »Dort im Zaun die kleine Tür ist offen.«

Er aber sah links und rechts. Der Nachmittag war totenstill, heiß und summend. Da stieg er gleich geradeaus durchs Fenster und schlang seine Arme um die regungslos Stehende. »Zittern Sie? Nicht, nicht!« bat er.

»Ich bin die Brücke, an die Sie sich klammern,« lächelte sie und hielt ihm die Lippen entgegen. Der erste Kuß war leicht, fast spielend; als spränge beim Schließen eines Rockes ein Knopf, der bloß an einem Faden gehangen.

Der zweite hielt länger und fester.

Beim dritten zuckten ihre Lippen in Weh und Leid, und dieser Kuß war der seltsamste und süßeste von den dreien, denn die armen wehereichen Lippen vibrierten lange auf den seinen und blieben dennoch enge und heiß an ihm, so daß er das leise Auslösen des vierten Kusses erst an den Tränen merkte, die aus ihren Augen über beider Lippen tropften.

Er sagte: »Weine nicht!« und küßte sie wieder. Da rang sie sich von ihm los und sah ihm in die Augen.

»Einen Mann möchte ich geküßt haben, einen endlich, der besser ist, als der meine,« sagte sie mit tiefer Stimme.

Da erschrak Herr Himmelmayer und vergaß ihr zu sagen, was sie ja doch gerne hören wollte, um wieviel er besser sei als der Ortskrämer.

»Zweifelst du an mir?« fragte er mit dem Reste seiner Frechheit.

»Geh, geh,« sagte sie. »Geh zu der Bürgermeisterin und sonst, wohin du mußt, sammle deine Unterschriften und komm nur dann wieder zu mir, wenn du mir schwören kannst, daß auf Glaube und Liebe zu bauen sei. Kannst du das, so darfst du so spät am Abend kommen, als du willst. Ich bleibe wach und warte. Geh nun, geh!«

Willibald ging; erst rücklings, dann vorwärts und hinaus, aber er ging beinahe gern. Es war alles gar so geschwind gekommen; – er hatte gelogen wie ein bettelnder Vagabund, und sie hatte ihm ein schwerbeladenes Herz dafür entgegengehalten. Es waren Küsse mit Salz gewesen. Da blieb es ihm gar nicht wohl. Er fuhr winkend von dannen und sagte, als er in Sicherheit war: »Sapperlot, mein Mund zuckt, als wär' es der ihre. Ich bin nicht gesonnen, mit ihr zu weinen. Ärmstes, unglückliches Geschöpf. – Ich bin zwar ein Lump, aber ändern kann ich das in der Geschwindigkeit nicht. Auf und davon also!«

Durch die Feldweite pfiff ein Bahnzug daher, der erste nach Stunden. Er benutzte ihn sofort, drei Stationen weit und stieg erst in einem kleinen Bergtal wieder aus, wo die Gegend gänzlich anders war. Nun tat's ihm leid, die hübsche traurige Gelegenheit verlassen zu haben. Aber diese Frau verlangte nach einem guten Menschen! War er das? Nun also.

In der Nähe summte ein Wirtsgarten übervoll von Ausflüglern aus der Stadt. Dorthin ging er, denn er war sowohl traurig wegen seiner Nichtswürdigkeit, als auch durstig wegen des vielen Redens und der Küsse.

Er setzte sich, bestellte Bier, trank rasch, als wollte er einen entstehenden Feuerschaden in sich ausgießen und schaute dann umher, damit ihm beim Anblick frischer Frauengesichter wieder wohl würde. Es gab da so mancherlei, was lustvoll zu betrachten war, aber Herrn Himmelmayers Herz schien heute dazu bestimmt, in Wehe aufzuschrecken. In einer Ecke des Gartens saß ein alter Straßenmusikant, der machte eben Pause und hätte essen sollen, tat's aber nicht. Er hielt den zerrupften Stengel eines Kastanienblattes im Mund und hatte einen kleinen, dünnen Schädel und zerschlissenes graues Haar, das bei seiner Kürze an vielen Stellen die Haut des armseligen schwachen Köpfleins durchschimmern ließ. Er ließ dieses kleine Haupt hängen, das magere Stechmückengesicht spitzte sich gegen den Boden: wenn dem jetzt sein ganzes Hundeelend zum erstenmal im Leben kennbar wurde, konnte er sich nicht gebeugter halten und nicht zertretener aussehen. Wohl streckte er die langen dünnen Beine gegrätscht von sich aus, das war aber nur längst vergessene Flottheit; er hätte eher kniespitzig dasitzen können. Von den Händen hing eine herab, eine hielt die Gabel und lag neben dem Teller. Seine Geige lag auf dem Tisch und war viel hübscher als er.

Da ließ es dem Kapellmeister keine Ruhe. Er dachte daran, daß er vor kurzem engagementslos gewesen war und auch sein Kopf so über unberührtem Essen gehangen hatte. Er dachte daran, daß er einen Ruf an ein Hoftheater in Aussicht hatte, und sein Mitleid wuchs hoch. Er ging zu dem armen Teufel hin: »Na, Musikant, warum issest du dein Gulasch nicht?«

Der Straßensänger schaute auf, nahm den Blattstengel heraus und sagte: »Weil sie mir kein Schweinsgulasch, sondern ein Saugulasch hergestellt haben. Das ist der echte Misthaufen. Ich bin bessere Zeiten gewohnt.«

»Bruder, Bruder, mach' mir keine großen Gebärden vor,« mahnte Himmelmayer herzlich; »ich bin ja selber Musikant und weiß, daß wir ein bißchen maulen müssen, weil uns die Leute sonst gleich von vornherein für abgebrochene Topfhenkel ansehen. Na! wo fehlt's denn, Bruder?«

Der Musikant hob den dünnen Kopf so hoch, daß am Halse der heraustretende Adamsapfel mit ihm an Größe zu konkurrieren begann und sah den Himmelmayer sehr müde an, dann zog er die linke Hand aus der Tasche und schlug darauf. »Klimpert's?« fragte er. »Nein. – Unsere alte Berufskrankheit, Herr Kollege.«

»O weh, die kenn' ich und möchte nur heute die Säcke voll haben; für Sie, lieber Freund!«

Der Alte schaute in das Gewirr der Weiberhüte, Bäume, Ankommenden und Kellner, die über den sitzenden Gästen die Aussicht versperrten, hob dann den dünnknochigen Arm und winkte mit dem gebogenen Zeigefinger. Da drängte sich ein volles, schönes Mädchen heran; stark, bräunlich aber blaß. »Wir müssen wieder anfangen, Risa. Was hast du zusammengebracht? – Das ist meine Tochter.«

Das Mädel drehte seine Kitteltasche um, indem es nach dem hübschen, fremden Menschen zur Seite des Vaters hinübersah, daß ihre Augen mit dem Weiß in der Mitte abschnitten. Sie leerte alles aus, was sie hatte, und der Alte schob das dürre Kupfer mit hungrigen Händen gruppenweise und zählte; sehr bald war er zu Ende.

»Sechsundvierzig,« sagte er mit trauriger Bestätigung. »Na, Herr Kollege? Verdienen Sie auch so schlecht?«

Dem gutmütigen Kapellmeister rann innerlich schon lange eine Träne nach der andern übers Herz wegen dieses gequälten, kleinen, dummen, dünnen, armen Greisenschädels, der wie vom Hagel des Lebens ausgewuchert dahing. Daß nun diese Tochter ihre Tasche so resolut umdrehte und dennoch so wenig darin war, schien ihm noch ein Augenblickchen unsicher, bis er, nach jenem Blick, der ihm gegolten, den hilflos zuschauenden Ausdruck ihres Gesichtes beobachtet hatte, mit dem sie der Hand des Alten beim Zählen folgte. Die hatte nicht einen Kreuzer behalten, mochte sie sonst ein feiles Ding sein: hier dem Vater war sie treu!

Spielend griff Willibald nach der Geige, klimperte und stimmte ein wenig und setzte sie dann unter das Kinn. Dann griff er nach dem Fiedelbogen und tat einen Strich, der sang, trog und log wie die Seele eines Zigeunerprimas. Und bei diesem einen Striche fuhren die Gäste mit ihren Köpfen empor, denn das klang nach dem bisherigen Gekratze des Alten und dem festen aber nur gutgemeinten Gitarrespiel der Tochter, als flöge ein Singschwan mit sehnsuchtsvollem Fanfarenstoße über das schäumende Meer. Glücklich und energisch bog der Kapellmeister den Kopf. Es war alles beisammen: Hand, Herz, Geige und Entschluß waren freudig. »Kind,« sagte er zu dem hochauf wartenden Mädchen. »Wenn du mich begleiten kannst, dann tue sehr leise und sehr bescheiden mit.« Und er riß den Fiedelbogen über die Saiten, als schüttle sich ein wildes Roß.

»Es ist eine Galgenbande, sonst spielte ich ihnen ein altes Minnesängerlied,« sagte Himmelmayer; »etwa das von Wizlaf: ›Die Erde ist erslozzen.‹ Sie verdienen's nicht, aber einen Heidenspektakel, den sie halb und halb kennen, gaukle ich ihnen auf den vier Saiten vor, als wär's ein Orchester.«

Es war Publikum aus der Provinzstadt, das sah er; die hörten im Konzerte leidlich gute Sachen, die aus Gründen irgendeiner Gemeinverständlichkeit zum Spektakelstück erniedrigt worden waren. Nun hatte er oft auf der bloßen Geige alle Unarten eines Orchesters karikiert, womöglich mit Nachahmung der Klangfarbe des Englisch-Horns, des Fagotts, ja sogar der Hoboe; wo ihm dabei die Geige nicht mitging, besonders wenn Hörner einsetzen sollten, da half er so diskret mit dem Mund und durch die Nase nach, daß man glaubte, sie seien wenigstens in der Nähe, hinter irgendeinem Busch versteckt, denn er war sein Lebetag ein vollendeter, allerliebster Lausbub gewesen.

So begann er denn die zweite ungarische Rhapsodie des Liszt mit einem Ernst, mit schmerzlich gezogenen Geigenstrichen und schrummenden Bässen, so gedehnt, so schwermutvoll und großlinig, als läge die tödlich braune Ebene im angrauenden Morgen einsam da, bis die Schellchen an den Pferden der ersten hunnischen Patrouille am Flusse erklangen. Dichter und dichter mehrten sich die antanzenden kleinen Rößlein, aus einzelnen Spähern wurden Schwärme, aus Schwärmen Scharen, aus Scharen ein Heer, das sich mit reißender Wucht in den Strom stürzte, ihn brausend zu durchringen, mit seinen Wirbeln zu kämpfen, bis der wild gellende Jubelruf der ersten aufjauchzte, die das andere Ufer erkämpft hatten. Neues Gejohle zitterte dem ersten nach, dann erstampfte unaufhaltsam die ganze wimmelnde Horde das neu gewonnene Land – Schellen, Pferdehufe, Waffengeklirr, Schreien, Stimmengewirr und Gewieher, alles rollt überwältigend durcheinander und reitet davon. Dann noch ein paar jener Nachzügler, ein paar müde Pferde, ein paar verhallende, verlorene Glöckchen … Breit, wuchtig, schwermütig und einsam liegt wieder die brandbraune Ebene, und nichts bleibt, als ein rotes Drohen der emporrückenden Sonne über tödlicher Verlassenheit.

So empfand's der Kapellmeister, und während er das Wirren der Instrumente, das Aufbrausen des Hunnenjubels, das tiefe Grunzen von Kontrabaß und Fagott karikierte, schwoll ihm das übervolle Künstlerherz vor verliebter Lust an dem Meisterwerke, das er so spitzbubentoll nachahmte. Alles war in ihm und er war glücklich, das alles für sich nachäffen zu können. Durch solches Temperament und solch wilde Lust an dem Kunstwerk wirkte er überwältigend und zwang seine Zuhörer stets vom »Hallo« wieder zu hingerissenem »Ah!« hinüber.

Der ganze Garten lauschte dem begeisterten Lausejungenstreich, und der wildgewordene Himmelmayer riß Töne aus der Geige, wie der Stahl dem Steine das heilige Feuer in langen, goldglühenden Funkensträhnen entsprengt. Kaum klimperten da und dort ein Paar unverbesserliche Freßgabeln, aber selbst die Kellner schlichen auf den Zehen und gaben nur da und dort flüsternde Kunde hin und her: »Der Kapellmeister Himmelmayer ist's, aus der Stadt; er kommt weg; – ans Hoftheater.«

Die herzbetörendste Kantilene hätten sie der Geige des lustigen Musikanten nicht halb so innig geglaubt, wie diese beglückte, kreuzfidele Barbarei! Und als die Ebene ausgeklungen hatte und Himmelmayer mit einem Ruck Geige und Bogen senkte und die Absätze bei seiner Verbeugung wie ein Militärkapellmeister zusammenklappte, da brauste und stürmte dieses sonntagsschwere Biergartenvolk empor, als sei die Gnade aus den Wolken niedergebrochen und zucke in Feuerflammen aus ihren Häuptern. Es ging los wie der Strom durch die offene Schleuse in Bergtiefen donnert, mit Hurra, Hoch, Bravo und Prosit und Himmelmayer hatte einen Triumph, der all seine früheren einfach zerstampfte.

Die Geigerstochter aber brannte ihm aus dem ganzen Antlitz entgegen und ihre wilden, heißen Augen überstürzten von schimmernder Feuchte. Sie warf sich dem glücklich lachenden Menschen an die Brust und umrang und band ihn mit den wildbegehrlichen Armen, als sei er das Glück dieser Erde. Auf Mund und Stirn und Augen flammten ihm ihre glühenden Küsse, jeder ein rundes, rotes Brandmal, jeder toll, verliebt, seufzend, dankbar, rein und verworfen zugleich, – das schöne wilde Weibstier wußte selber nicht, was alles.

Himmelmayer aber küßte fröhlich und aus allen Kräften zurück; da war der gesamte Biergarten erlöst und schrie Bravo! und Wohl bekomm's!, und eine ganze Menschenwelt freute sich über das temperamentvolle Künstlergeschmatz.

Dann aber nahm Himmelmayer den Filz des Alten und wollte absammeln gehn, aber er kam gar nicht dazu. Die Menschen erstürmten seinen Tisch, Silberzwanziger, ja Gulden rollten und kollerten regenreich hinein, die Männer schüttelten ihm die Hände und die Frauen küßten sie ihm und als die Raserei ihr Ende erreicht hatte, da war der Hut des Alten voll grauem und blinkendem Metallplattengeringel und schwer wie ein in zwei Hände zusammengefaßtes Panzerhemd.

Der alte Musikant heulte wie ein Hund vor der Drehorgel, so bis in den Hals hinein ergriffen und nervös war er; aber glücklich, überglücklich.

»Noch was! Noch was!« schrien die Gäste. Da nahm Willibald Geige und Bogen und spielte eine bezaubernd liebe, leise, altniederländische Liebesklage des Orlandus Lassus. Die Kastanien warfen im Abendhauch ihr leisestes Blütengeriesel hernieder, nachdenklich blickten die Biergäste in ihre Krüge und selten fischte einer die Blüten heraus; es war, als sänge der übervolle Mai aus einem Herzen voll Weh und süßem Verlangen.

Immer leiser wurde das Lied, als ginge der Musikus fern und ferner durch die Bäume davon und in die blühenden Roggenfelder hinaus; endlich schluchzte die Geige eine zarte Skale hinan, dann kam noch eine feine, herzige Reflexion, einer jener hinreißenden kleinen Schnörkel alter Tage, die der Gesangsweise gleichsam noch einen Abschiedskuß geben, – und dann blieb es still. Verlegenes Wundern über diese gänzlich andere Welt gegen die frühere, ergriffenes Murmeln ging allein umher.

Leise legte Himmelmayer Geige und Fiedelbogen hin, klappte einen Gulden daneben, sprach zum Alten: »Zahl' meine Zeche,« sagte: »Servus, herziges Mädel,« und schritt durch den Garten in den blassen Frühabend hinaus. Als dann hinter ihm langsam, dann anprasselnd und rückrufend ein überraschter Beifall dreinknatterte, war er schon in der silbertönigen, schleierstillen, abendlichen Feldweite. Hinter ihm zündeten sich die Lichter des Biergartens ferne an, mehrten sich, von weither erklang das Brausen der erlustigten Gäste, dann geleitete ihn nur mehr das lange Ziehen der wehmütigen Abendgrillen ringsum, als Rest einer reichverwirrten Welt von Lauten.

Es war gottgnädiger Friede, und nur sein Herz schwankte noch hochauf und ab, wie das Blut des Seemannes, der nach langer wellenbergreicher Meerfahrt das Land betreten hat und in ihm geht es noch im tiefschwingenden Rhythmus der weißschaumigen Wellenrosse auf und nieder.

Er war glücklich und gerührt, als sei er ein guter Mensch nach seiner schönsten Tat.

Kaum konnte er von dieser grünwallenden Welt des Friedens los und langsam, langsam wandelte er nach der fernen Stadt, wo er spät am Abende ankam. Da und dort grüßten ihn mit lautem Zuruf Bekannte, die vom Bahnhof kamen; in den drei letzten Abendzügen war von nichts die Rede gewesen, als von seinem warmherzigen Künstlerstreich im großen Biergarten; nun war die ganze Stadt in ihn verliebt.

An einer Ecke ward er festgehalten; eine große Gesellschaft ging dort auseinander und es brauste aus ihr mit Heilrufen nach dem Künstler hinüber, der lächelnd stehen blieb. So gewahrte er, wie ein junges Mädchen sich von dem tumultreichen Schwarm löste und seitab nach einer Haltestelle der elektrischen Bahn ging, wo es wartend stehen blieb. Da machte Willibald kehrt, legte ein Stück der Gasse zurück, bis sich die Gesellschaft verlaufen hatte und trat dann zu dem jungen, jungen Ding, das pflichtgetreu wie ein weißes Kerzlein stand und auf ihren sicheren Straßenbahnwagen harrte. Er kannte sie obenhin; es war ein liebes, trotziges Backfischchen, dessen Augen so schwarz waren, daß sie aus dem lebhaften roten Antlitz fast zornig zu funkeln schienen.

Zu der sagte er nun: »Der Wagen bleibt vielleicht zehn Minuten aus, Fräulein Dora. Bis dahin werden Sie zehnmal belästigt. Ich will Sie begleiten; gehen wir?«

»Ach ja,« sagte das junge Menschenkind kurz und ging mit ihm fort.

Er sprach wenig, sie gar nicht. In ihm schwang immer noch der liebreiche Tag mit all seinem Trug und seiner Lust, seinen seltsamen und so menschlichen Mischungen von Torheit und Gnade dahin; er hätte gern geschwätzt, denn das aufrechte, vertrotzte Jungferlein neben ihm hatte ihm längst gefallen. Aber es spann sich nirgend was an; sie war scheu und schien halb zornig mit ihm zu gehen, er war weich, reich und hilflos. So kamen sie an ihre Haustür.

»Ja, nun sind Sie mich los,« sagte sie mit einer leisen Härte in der Stimme. »Schön Dank auch für Ihre Pflichttreue!«

»Ah«, lächelte er; »es ist nicht so arg mit der Pflichttreue, denn ich begleite Sie viel zu gern.«

»Lassen Sie das,« befahl sie. »Ich bin doch groß genug, um Ihnen nicht zu glauben. Sie haben ein junges dummes Hunderl nach Hause begleitet und waren sehr mitleidig.«

»Fräulein, ich habe ein junges Weib nach Hause begleitet und mir ist sehr bang,« sagte der schlimme Kerl.

»Ihnen? der Sie heute von einem berühmt schönen Mädchen geküßt worden sind, und um dessen Hände Frauen sich gestoßen haben, sie zu küssen.«

»Sie waren ja doch nicht darunter.«

»Nein, ich nicht; drängen würde ich mich nicht.«

Da sagte er sanft und demütig: »Also darf man bitten?«

»Herr Kapellmeister!« rief sie erschrocken.

»Darf man sehr innig bitten?«

»Liegt Ihnen daran?« fragte sie leise.

Und beide sahen ringsum nach den Fenstern, nahmen sich im dunkelsten Gassenwinkel an den Händen, und sie gab ihm einen Kuß. Kurz, erschrocken, herb, fast wegprallend vor Erschrecken über das eigene Hinwachsen der Lippen.

»Ich bin verliebt in Sie, verliebt, verliebt!« sagte sie zornig und stampfte mit dem Fuß. »Ich will's schon wieder wegbekommen. Aber heute hätte ich Sie fast gebeten, Sie küssen zu dürfen. Sie edler Mensch! Sie großer Künstler! Sie, Sie sind ein Gott.« – – Eine ganze Weile schwieg sie tief ergriffen.

»Und verheiratet, verheiratet sind Sie auch,« sagte sie dann mit dem unsäglich wichtigen Hohn des Backfisches. »Adieu! Kennen Sie mich nicht mehr, ich bitte!«

Und energisch zog sie die Klingel am Haustor.

»Fräulein,« bat er. »Sie haben mich geküßt wie ein zerplatzendes Rührmichnichtan. Das war ja gar nichts. Nur noch einmal. Weiblicher! Ja?«

»Adieu!« sagte sie zitternd.

»Können Sie's denn gar nicht?« fragte er.

Sie begann zu weinen. »O Sie, Sie, lassen Sie mein Herz aus Ihren Händen!«

»Fräulein – –« begann er nochmals. Da klappte aber schon der Schlüssel des Hausbesorgers im Schlüsselloch und er mußte zusehen, daß er rasche Flucht nahm.

Nun ging er doch nach Hause. Seine Frau empfing ihn, lieb, schlicht, schüchtern und blond.

»War's ein schöner Tag?« fragte sie.

»Wie man ihn nehmen mag,« sagte er heiter. »Gib mir nur rasch noch was zu essen und ich will dir was Dummes erzählen.«

Dann begann er fröhlich seine Biergartengeschichte, die ja doch am übernächsten Tage in den Zeitungen stand und seine Frau schaute ihn verliebt an.

Dann nahm sie den unbekümmerten Künstler in die leisen, heilsamen Hände und gab ihm einen vorsichtigen Gutenachtkuß.

»Ach, werden dich die Weiber jetzt wieder verfolgen,« sagte sie besorgt, glücklich und halb vertrauensvoll.

Er lächelte wehmütig. »Ich bin ein altes Grautier,« schmollte er. »Heute hat's das erste weiße Haar gegeben.«

»Aber geh, wo denn?« fragte sie freudig.

»Da,« sagte er und zeigte hin.

Sie küßte die arme Stelle, aus der dieser heillose Tag entsprungen war und freute sich in ihrem kleinen Herzen, daß ihr Mann doch endlich einmal nicht mehr gar zu gefährlich sein sollte.

»Gott segne dich,« sagte sie. »Gute Nacht Liebster.«

»Gute Nacht, Haselmaus.«

Nun lag er neben ihr, die Arme unter dem lockigen Haupte verschränkt. Sie schlief, er bohrte seine heißen, offenen, glücklichen Augen in die Nachtschwärze.

»Nicht alt, nicht grau, und wenn schon ein Esel, so doch der umjubelte vom Palmsonntag. O Glück, Reichtum! Elf, zwölf, dreizehn, vierzehn, fünfzehn bis einundzwanzig; – dann der unvollkommene zweiundzwanzigste, dazu noch zwei recht beruhigende von meiner lieben, herzigen, allerbesten Frau. Macht volle zwei Dutzend Küsse. Sapperlot, Willibald!«

Und in überglücklichem Gefühl, was für ein Herrgottskerl er sei, wickelte er sich links und rechts in seine Decken und in sein Hallo, wie eine Seidenspinnraupe, und schlief ein, als sängen alle Englein Gottes um ihn und in ihm ein Gloria zu seinen Ehren mit graziös verteilten Pauken und vielen holdesten Geigen.

* * *

Es ist ja wahr. Diese Geschichte, die nun vorläufig zu Ende ist, sollte nicht so heiter wiedererzählt werden, denn sie ist ohne Moral, ja verwerflich.

Nicht einmal das Wort ›Sparkassebuch‹ kommt darin vor.

Sie ist gar nichts für uns ernste, sittliche Deutsche.

Wir wollen diesen Willibald Himmelmayer hiermit auch nur betrachtet haben, wie den linken Schächer in Oberammergau, selbst auf die Gefahr hin, daß der Musikant hübscher wäre; – aber wir haben ihn rein objektiv und nur als Exemplar genommen. Als Exemplar aus Österreich.

Und Schelm sei genannt, wer sich über diese Geschichte am Ende noch freut.

* * *


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