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Das andere Deutschland

Auch jetzt noch trifft man in Süddeutschland, am Neckar, an der Donau und am Bodensee ab und zu jenen merkwürdigen Menschenschlag, der sonst nur am Mittelmeer zu Hause ist: junge Mädchen mit römischen Gesichtern, alte Alpenbauern mit kühnen Adlernasen und jener Schweigsamkeit, die den Eroberer ziert und den Sklaven erniedrigt. Aus dem Schutt der zweitausend Jahre seit der Römerzeit, aus dem wüsten Gewoge der Völkerwanderung, aus dem Tumult der asiatischen Vorstöße, aus dem klirrenden Marsch der Kreuzzüge und aus der blutigen und mystischen Blütezeit des Mittelalters haben sich in jenen Landschaften viele Kulturen und viele Blutströme gemischt. Römisches Blut mischte sich mit keltischem, alemannisches mit lateinischem, bajuwarisches Blut mischte sich mit hunnischem Blut. Aus diesen purpurnen Kreuzungen heraus wachsen auch jetzt noch da unten im Süden viele Menschen, die an Rom und an das Mittelländische Meer erinnern.

Aber nicht nur Menschen wachsen aus dem Schutt der Jahrtausende. Der ganze Boden ist mit Blut gedüngt, und Blut ist Tod und Leben zu gleicher Zeit. Das viele Blut bewegte den gefesselten Stein und riss ihn im Mittelalter empor zu gotischen Türmen und Rathäusern und war Kitt für die Mauern der freien Reichstädte, die zwischen Main und Rhein, Neckar und Donau jahrhundertelang blühten. Herrlich blühten, vor allem in den Städten Nürnberg, Augsburg und Ulm.

Die Geschichte Süddeutschlands ist eine Geschichte des Handels und des Handwerks. Hier war das Ausfalltor der Barbaren und der Kaiser nach Italien und Kleinasien. Die grüne Fahne Mohammeds stand vor den Märchenschätzen Indiens. Die Kreuzzüge waren nichts als große Handelskriege.

Sommerschuh hatte Berlin verlassen und war auf dem Wege nach Ulm. Von Stuttgart, das rings von Bergen umkränzt wird und an Florenz erinnert, fuhr er den Neckar hinauf an der alten Reichsstadt Eßlingen vorüber. Vor Eßlingen flammten die scharlachfarbenen Weinberge. Zu Füßen des Weins lagen die großen Daimler-Werke, in denen Motoren und Automobile gebaut wurden. Schön war die Landschaft, aber die Fabriken zerrissen die Harmonie der Täler und Berge. Der Neckar ist ein lieblicher Strom. An seinem klaren Wasser haben sich viele Städte versammelt: Rottenburg, Tübingen, Eßlingen, Heilbronn und am Fuße des Odenwaldes das schöne Heidelberg. Nicht lange verfolgte die Eisenbahn den Neckar, die Weinberge versanken, und die Schattenrisse der Schwäbischen Alb standen am Himmel. Auch ein wenig Industrie rauchte vorüber. Dann rollten die Räder heftiger, die Schienen klirrten lauter, die Passhöhe bei Geißlingen war erreicht. Ehe der Freiheitsdichter Schubart auf dem Asperg bei Stuttgart verkam, lebte er zwei Jahre lang hier oben auf der Höhe der Schwäbischen Alb. Ganz dicht kommen die schroffen Kalkfelsen an die Bahnlinie, wie eine ohnmächtige Drohung. Als sich die Bahn in die Tiefe senkte, da wichen die Felsen und machten breiten Tälern, die mit Wald und Feld und viel Obst bestanden waren, geschwind Platz. Und dann stieg der schöne Turm des Ulmer Münsters aus dem Mittagsdunst. Die Stadt Ulm war von Musik und Umzügen überschwemmt. Das Reichsbanner marschierte, Fahnen wehten, Musik war wie strömendes Blut und wie Gelächter. Die Arbeiter und die Handwerker hatten sich die Stadt Ulm erobert, die alte, schöne republikanische Stadt, in der von 1397 an die Gilden bestimmten, bis Kaiser Karl V. Die demokratische Verfassung aufhob und die Gilden rechtlos und die Patrizier mächtig machte. Die Republik ist in Ulm keine Gehirnkonstruktion. Sie ist Geschichte und Erlebnis. In die Kämpfe des Handwerks mit den Patriziern haben die Flammenzeichen der französischen Revolution gelodert. Die Handwerker und Bürger rebellierten gegen den Stadtadel. Ehe sich die Kämpfe um die Macht entschieden hatten, wurde die Freie Reichsstadt Ulm entthront und fiel an Württemberg, an eins der neuen Königreiche, die der Kaiser Napoleon schuf um zu teilen, um zu herrschen.

Sommerschuh blieb einige Tage in Ulm. Er wanderte den alten Straßen und Gassen nach, stand lange vor den bunten Mauern des Rathauses und staunte das mächtige Dach des Kornhauses an. Der lief auch durch die alten Klosterhöfe und die kühlen Tore der Kaiserpfalz und strich stundenlang zwischen den alten Häusern an der Blau und Donau hin und her. Am »Schwörhaus«, dem mittelalterlichen Sitze der Gildenherrschaft, fand er den Schneider Robert Bundschuh und am Münster den Buchhändler Theo Würstle. Zwischen dem Theo Würstle und dem Robert Bundschuh schien sich die Stadt zu bewegen zwischen großer Vergangenheit und nichtssagender Neuzeit. Aber auch das war falsch, der Theo Würstle sagte schon etwas Neues, und wenn auch nur in den endlosen Reihen seiner Bücher und in den bunten Fächern seiner Zeitschriften. Das Münster, diese erhabene Dichtung des Mittelalters. Besuchte Sommerschuh viele Male. An diesem Dom haben ganze Generationen gearbeitet, Baumeister, Steinmetze, Maler, Holzschnitzer und Arbeiter. Der Journalist fand an diesem Dom in den rührenden Figuren der Heiligen Geschichte das innerliche Buddhalächeln, das auch die Steingesichter an den Kirchen in Nürnberg, Naumburg oder Köln verklärt, das unvergleichliche, süße Lächeln religiöser Ergebung und Paradiesgläubigkeit. Er sah auch die Holzschnitzereien und die Gemälde und Schmiedearbeiten der Ulmer Meister. Vor allem ergriff sein Herz die Glut der großen, gemalten Chorfenster, das flammende Licht nach der gotischen Wölbung des Schiffes und seiner strebenden Säulenreihen.

Über dreihundert Jahre ruhte das Ulmer Münster unvollendet im tiefen Schlaf. Die Jahrhunderte brausten vorüber, der Dreißigjährige Krieg, die Flugfeuer der Französischen Revolution, der Untergang der freien Stadtrepublik Ulm, der Einzug Napoleons und der Fall an das neue Königreich Württemberg. Siebzig Meter hoch strebte damals der viereckige Turm des Domes in den Himmel. Alte Bilder zeigen das Münster und erinnern an die französischen Dome, die auch niemals fertig wurden. Man denkt an die Kathedrale von Reims, die doch gerade in ihrer Unvollkommenheit so schön und bezaubernd ist. Erst der deutschen Kaiserzeit blieb der traurige Ruhm, die deutschen Dome des Mittelalters auszubauen und auf siebzig Meter alter Zeit (zum Beispiel in Ulm) neunzig Meter neue Zeit zu setzen. Die alten Dome rühren unser Herz, weil ja auch ihre Zeit unvollkommen war, Glanz und Feuer von jenseits der Berge, Widerschein griechischer und asiatischer Kultur.

Der Blick vom Hauptturm des Münsters schweift weit ins Land, folgt dem schwungvollen Lauf der Donau, trifft auf die Zackenkrone der Alpen, ruht auf den Höhenzügen des Schwarzwaldes aus und findet aus der Umhüllung der neuen Stadt den goldenen Kern der Altstadt mit den Türmen, Mauern, Kastellen, Höfen und Giebeldächern. Der Blick wandert auch das liebliche Tal der Blau entlang, und als Sommerschuh die Blau sah, musste er an Mörike denken und an seine Geschichten von der schönen Lau. Da beschloss er, nach Blaubeuren zu fahren, um die schöne Lau zu suchen.

Die Blau ist ein winziges Flüsslein und mündet kaum zwanzig Kilometer von ihrer Quelle bei Ulm in die Donau. Ihr Wasser ist von einer ungeheuren Leuchtkraft. Blau heißt der Fluss, und leuchtend blau ist auch das Spiel seiner Wellen. Von Ulm aus fährt der Eisenbahnzug eine kleine Stunde ein wunderschönes Tal am Rande der Schwäbischen Alb entlang. Grellweißes, nacktes Kalkgestein, schwarze Wälder, blühende Wiesen und kleine Dörfer gehen und verschwinden in wechselnder Fülle.

Inmitten schöner Landschaft stehen an den Bergrändern Kalksteinfabriken. Das Land ist arm. Der Stein gibt Brot und wird Kalk oder Zement. Kurz vor Blaubeuren kommen die Berge ganz dicht an die Bahn. Schroffe Zinnen und nackter Fels ragen auf. Manche Kuppe ist ruinengekrönt. Ja, und dann liegt Blaubeuren tief in den Bergen und ist eine kleine, liebevolle Stadt. In einem verlassenen Kloster sind die Schätze Ulmer Malerei und Holzschnitzkunst zu sehen. Und einen Sprung von dem verlassenen Kloster, zwei Sprünge von dem Stadtmuseum liegt einer der schönsten Quelltöpfe Deutschlands, der Blautopf.

Unter dem grünen Schleier alter Buchen rundet sich die Quelle der Blau. Aber das ist keine Quelle wie sonst auf der Welt, das ist ein kleiner lieblicher See, der von den Bergen in zärtlichem Halbrund umfasst wird. Er schimmert im unwahrscheinlichen Farbenspiel von dunklem Kobaltblau bis zum hellen Blaugrün. Er schimmert unter der gotischen Wölbung der Buchen, Eschen und etlicher Holunderbüsche. Die Buchenschleier sind mattgrün und goldgrün. Das Mysterium der Natur enthüllt sich, aus der in früheren Jahren Märchen und Sagen emporgestiegen sind. Heute steigen keine Märchen mehr aus dem Quelltopf der Blau. Nur das leuchtende Wasser steigt auf und stürzt rauschend zum ersten Wehr, ist im Sturz vollkommen farblos und nur mit weißem Gischtschaum umrändert. Dann wird es schneeblau wie der Schnee in einer Winternacht. Die Blau sammelt noch einmal ihr Leuchten, ehe sie ihren liebevollen Lauf beginnt, ist noch einmal trunken voll Blau und Grün, stürzt noch einmal rauschend hinab, krönt sich mit weißem Schaum und findet auf der Reise das kräftige Spiel der Farben wieder, die an der schönen Quelle schimmern.

Die Quelle der Blau ist tief in den Bergen. Der Quellgrund des Topfes ist zwanzig Meter tief und holt seine Farbe aus den eisenhaltigen Kalksteinen der Berge. Aus den Häusern der Gerber und Färber in Ulm mündet die Blau in die grüne reißende Donau. Auch den Lauf der Donau verfolgte Sommerschuh, aber vorher wanderte er nach dem Rand der schroffen Alb, wanderte durch Sommerregen und den würzigen Duft hohen Waldes. Holunder und Heckenrosen blühten. Von den Bergen ging Sommerschuh nach Blaubeuren zurück, und dort am Bahnhof, in der Nähe der großen Portlandzementfabrik, die das süße Landschaftsbild beschmutzt und schändet, traf er ein kleines Mädchen. Das war nicht die schöne Lau, wovon Mörike schreibt, das war die Paula Brück,. Eine achtzehnjährige Fabrikarbeiterin, mit der Sommerschuh einen Abend lang in Ulm männliche Abenteuer erlebte.

Die Geschichte der Paula Brück ist bald erzählt. Das Mädchen aus einem der armen Dörfer am Rande der Schwäbischen Alb, lebte schon vier Jahre in Ulm, wen man sich großmütig darauf einigen will, dass neun Stunden Fabrikarbeit jeden Tag das Leben ist. Die zwei Menschen liefen also durch Ulm, saßen in einem Café, und auf dem nächtlichen Spaziergang an der Donau gab die Paula Brück dem Sommerschuh alles, was ein Mädchen einem Mann geben kann. Sie gab es ohne Ziererei und sagte, als sie sich trennten, noch Danke schön für den Kaffee, für den Wein, für die Küsse. Diese vier Stunden Paula Brück waren für den Journalisten ein ebenso großes Ereignis wie das Ulmer Münster. Er erlebte die Gegenwart, den heutigen Tag und seine Klasse. Die Paula Brück war keine bezaubernde Schönheit. Aber das Erlebnis mit ihr war schön. Und die helle Nacht an der Donau, die Wanderung durch die mittelalterliche Stadt, das heiße achtzehnjährige Blut des Mädchens, ihre Umarmung und Küsse, ihre Seufzer und Schluchzer. Also stieg doch die schöne Lau aus den Tiefen der Blauquelle...

Die Geschichte vom Ulmer Spatz ist bekannt. Es ist eine Geschichte aus Schilda: ein Spatz zeigt den Ulmern, dass lange Hölzer nicht quer durch einen Torbogen fahren können. Auch die Geschichte vom Schneider Berblinger kennen viele Menschen. Das ist die Geschichte von dem unverzagten Schneider, der am 31. Mai 1811 mit einem selbstgemachten Schwingenapparat von der Stadtmauer seinen ersten Flug wagte und in der Donau landete. Berblinger lebt in Ulm mehr in der Karikatur weiter als in der Stadtgeschichte. Es ist schon so: zwischen einem Bundschuh und einem Würstle lebt und blüht Ulm. Und nicht nur Ulm an der Donau mit dem Münster, dem Schwörhaus, der Paula Brück und der Blau... O Deutschland!

Noch einmal berührte der Reisende Blaubeuren, aber dann ging die Fahrt das Tal der Donau entlang durch romantische Landschaft mit Bergen und Tälern, alten Städten und Schlössern. Hinter Sigmaringen wurde das Tal wild und herrlich, zeigte nackte Felswände, alte Raubritterschlösser, zerstörte Burgen und verschlafene Dörfer. Auch ein wenig Industrie qualmte. Nach einem letzten verzückten Schauspiel wilder Bergzacken und Bergwälder öffnete sich die Ebene, die Industriestadt Tuttlingen begann den Himmel anzuschwärzen. Dann kam weite, fruchtbare Wiesenlandschaft. Auf den Wiesen von Donaueschingen standen schwarze Gruppen hoher Tannen. Es war, als besprächen diese feierlichen Bäume ihren Vormarsch nach den blauen Höhen des Schwarzwaldes, der nach dem Himmel schwebte.

Das Bad Donaueschingen lebt hauptsächlich von zwei Dingen: von der Quelle der Donau und den Fürsten von Fürstenberg. Der Fürst ist einer der reichsten Männer Deutschlands, und als sein Land 1806 an das Großherzogtum Baden kam, fiel er auf die goldenen Sessel seines Besitzes. Die Fürstenbergs sind auch heute noch die ungekrönten Herrscher des Gebietes. Auch heute noch wird eine Hymne auf sie gesungen, die der Domänenrat Xaver Seemann (Wes Brot ich ess', des Lied ich sing') 1840 heldenhaft dichtete. In diesem Liede heißt es zum Schluss: »Drum hangen wir mit alter Lust an unserm Fürstenhaus und rufen mit bewegter Brust und voller Seele aus: Solang die Höhn des Schwarzwalds stehn, die Baar mit Früchten prangt, der Donau Quell springt reich und hell, nie unsre Treue wankt.«

Die Fürsten von Fürstenberg haben in der Kaiserzeit eine große Rolle in Deutschland gespielt. Ihr Bier war nicht nur das Tafelgetränk des getürmten Kaisers. Wilhelm II war oft in Donaueschingen. Im November 108, als sich zum erstenmal das deutsche Volk gegen seinen Zaren wandte, spielte sich im Schloss des Fürsten von Fürstenberg jene Tragödie ab, die der frühere Hofmarschall von Zedlitz folgendermaßen beschreibt: »Plötzlich erschien (auf einem Fest) Graf Hülsen-Häseler als Balletttänzerin kostümiert, was er auch sonst gelegentlich getan, und begann zu tanzen. Alles war aufs höchste amüsiert, und es hatte ja auch etwas Eigenartiges, den Chef des Militärkabinetts, als Dame kostümiert, ein Ballett aufführen zu sehen. Als der Graf eben seinen Tanz beendet hatte, begab er sich auf die anstoßende Galerie, um Luft zu schöpfen. Ich stand vier Schritte vom Eingang und hörte dort plötzlich einen schweren Fall. Ich eilte hin und sah den Grafen ausgestreckt, mit dem Kopf in der Fensternische, auf der Erde liegend.«

Der Chef des Militärkabinetts war an einem Herzschlag gestorben. Die patriotische Geschichtsschreibung verklärt den Park von Donaueschingen und läßt den früheren Kaiser mit dem Fürsten von Fürstenberg im Mondschein unter hohen Bäumen wandeln und in leidenschaftlichen Gesprächen über das Wohl des Vaterlandes reden. Der Park von Donaueschingen ist schon schön, die fürstlichen Kunstsammlungen umschließen Juwelen alter Malerei, auch die neue Musik hat hier eine Heimstädte gefunden, aber der runde Quelltopf in jenem Park, der als Donauquelle gezeigt wird, ist nicht die Donau. Wie die Weser, besteht auch die Donau aus zwei Quellflüssen. Die Quellflüsse der Donau heißen Brigach und Bregach und kommen von den Höhen des Schwarzwaldes. Bei Donaueschingen vereinigen sie sich. Das blaue Wasser im Schlosspark der Fürstenbergs, das wunderschön eingefasst und mit allegorischen Figuren verziert ist, heißt die Donau, fließt in die Bregach und macht die Quellflüsse namenlos und treibt dann groß und mächtig quer durch Europa in das Schwarze Meer.

Die Quelle der Donau stößt in einer einzigen Minute 120 Liter Wasser aus dem weißen Sand. Der Boden zuckt, zittert und bebt wie ein unruhiges Herz. Von Donaueschingen bis in die Dobruscka am Schwarzen Meer sind es 2840 Kilometer. Aber nicht alles Wasser strömt nach den Osten. Auf ihrer Wanderschaft nach Tuttlingen versinkt die Donau zweimal und läuft unterirdisch durch die Erde. Der Bodensee ist nicht weit, und seinem großen Anziehungsgesetz unterliegt auch der unterirdische Fluss und gibt viel von seinem blauen Wasser an die Zuflüsse des Sees ab, durch den die grüne Rinne des Rheins strömt. Und wenn jetzt die großen Pläne des Donau-Rhein-Kanals vollendet werden sollen, so wird doch nur vollendet, was alte Erdgesetze begonnen haben. Die Donau und der Rhein sind heute schon miteinander verbunden.

Von den Hängen des Schwarzwaldes springt die Donau nach Ulm an flammenden Mohnfeldern vorüber, die wie Tulpenfelder oder Gärten blühender Pfingstrosen leuchten. Durch Bayern und Österreich geht der grüne und blaue Sturz des Wassers nach dem Balkan. Große, berauschende Wanderschaft und großes, rauschendes Ziel, das Meer. Viele Städte und viele Dörfer liegen am Strom, viele Klöster und viele Burgen. Auch viele Völker haben sich an der alten Völkerstraße der Donau angesiedelt. Die Römer zogen die Donau entlang, die Hunnen, die Goten, die Türken und die Slawen. Die neue Völkerwanderung erlebte Sommerschuh in Donaueschingen. Er sah zwanzig junge Tippelbrüder, die vom Bodensee, vom Schwarzwald, aus Tirol und aus der Schweiz in die Stille des schönen Parks einfielen, lärmten oder still waren und in das kühle Zucken des Quellgrundes starrten.

Schon auf seiner ersten Reise nach Hamburg hatte Sommerschuh die bewegten Straßen gesehen, das laufende Band von Stadt zu Stadt, von Dorf zu Dorf, das laufende Band der vielen Arbeitslose, die aus den Städten wie junge Tiere aufbrachen, im Herzen Bitternis oder die Gläubigkeit an die Ferne. Der Chauffeur Eimeck saß jetzt wieder in Hameln und hatte drei Monate als Spitzhackenmonteur gearbeitet, das heißt: er machte Notstandsarbeit. Der geschickte Monteur und Kraftwagenführer stand neben einem abgebauten Kaufmann, einem blassen Kellner, einem ewig hustenden Maurer und einem stillen Geiger mitten auf der Landstraße von Hameln nach Hannover und karrte Schotterung. Die zwanzig jungen Menschen im Park des Fürsten zu Fürstenberg waren fast alles gelernte Arbeiter. Sie waren Schlosser, Glasbläser, Gärtner, Metalldreher, Tischler, Mechaniker und Maschinenarbeiter, aber die Fabriken lagen still oder arbeiteten verkürzt. Der Sommer lockt, die Straße, die Landschaft, der Schwarzwald und die Alpenkette. Und so waren sie vor vielen Monaten aus Sachsen, Thüringen, Berlin, Hamburg und aus dem Ruhrgebiet aufgebrochen, um den Jammer der Arbeitslosigkeit zu umgehen, um ihr heißes Blut zu verkühlen. Und sie verkühlten ihr heißes Blut in der schönen südlichen Landschaft. Sie sahen den Schwarzwald, die Alpen, die Quellen und die Gefängnisse. Sie waren noch jung, und ihr Mut war ungebrochen. Die Gefängnisse, in denen sie ab und zu wegen Bettlerei saßen, konnten den Glanz der hohen Berge und der klaren Flüsse nicht verdunkeln. Diese zwanzig Mann im Park von Donaueschingen waren wie der Stoßtrupp der zweihunderttausend Tippelbrüder, die im Sommer 1926 auf den deutschen Landstraßen waren, wenn man sie zusammengezählt hätte, die erwachsenen Männer einer Millionenstadt. Auch diese Bild fügt sich in den Park von Donaueschingen ein: eine Millionenstadt ist auf der Wanderschaft und streift durch die Landschaften, um dem Hunger in den großen und in den kleinen Städten zu entgehen!

Mit einigen der jungen Burschen kam Sommerschuh ins Gespräch. Sie erzählten ihm von ihren Fahrten und Erlebnissen. Es waren dieselben Erlebnisse, die er in seien frühen Jahren hatte: das Land war ein vergittertes Land. Das zärtlichste Tal, die schönste Quelle macht nicht satt. Um die allerschönste Stadt schwebt noch der Schatten des Kampfes um das bisschen Brot. Zwei Feinde hat der Wanderer, die sich in ein Bild verschmelzen: den Schutzmann und den Wachhund. Aber das feurige Herz der Jugend überwindet alle Gitter und Feinde, die Sternenruhe einer durchwanderten Nacht kühlt alle Wunden. Sommerschuh, der Dreißigjährige, saß dann mit väterlichen Gefühlen in einem Gasthaus an dem Tisch der Achtzehnjährigen und Zwanzigjährigen und war über den heftigen Dank der jungen Menschen bestürzt, als er sich verabschiedete.

Am Bahnhof traf er noch einen Tippelbruder. Das war ein alter Mann. Als Sommerschuh genau hinsah, erkannter er in ihm den Heinrich Müller aus Dessau, den Mann der Demut von der ersten Reise. Müller hatte wohl die Ostsee wieder abgebettelt und löste die Preisfrage der Reisezeit auf eigene Faust, die Frage nämlich, ob man an die See oder ins Gebirge fahren soll. Müller fuhr erst an die See und reiste dann ins Gebirge. Immer noch trug er die abgestandenen Kleider des Frühlings. Das Haar hatte er wachsen lassen, und sein Bart war ein Prophetenbart. Der arme Mensch hatte wieder die alte Maske des Winters vor seinem Gesicht. Zweihunderttausend Menschen lagen auf den Straßen, junge Menschen, geschickte Menschen, sie fraßen und bettelten den alten Leuten das Brot weg. Heinrich Müller aus Dessau wehrte sich und machte sich ehrwürdig. Er erkannte den Journalisten nicht mehr. Auch Sommerschuh hatte wenig Lust auf ein neues Gespräch. Der Alte war auf dem Weg zum Schlosse der Fürsten zu Fürstenberg, um die zwanzig Pfennig Reiseunterstützung abzuheben, die an jeden Wanderer verteilt wurden. Die Quelle der Donau besuchte er nicht. Er war müde all der Quellen und Mündungen. Er war ja schon selbst nahe seiner eigenen Mündung.

Von Donaueschingen reiste Sommerschuh durch die schönen Täler des südlichen Schwarzwaldes hinunter nach dem Bodensee. Zwischen Engen und Singen erhoben sich fünf wilde Basaltkuppen, die früher von Ritter- und Räuberburgen gekrönt waren, pathetisch aus dem flachen Land. Der Hohenhoven, der Mägdeberg, der wilde Hohenkrähen, der Staufen und der steile Hohentwiel tauchten auf, den der Dichter Scheffel besungen hat. Abendlicht flammte um die Stadt Singen und den vulkanischen Berg Hohentwiel, Abendlicht flammte auch um die Fabrik Maggi, die sich in Singen breit macht, als wolle sie aus den Knochen alter Geschlechter, die hier schon zweitausend Jahre schlummern, ihre kräftige Brühe kochen. Endlich vor Radolfzell kam der Bodensee in Sicht.

Im Abend standen die hohen Pappeln ganz wie italienische Zypressen gegen das dunkle Silber des Wassers. Ehe in der warmen Sommernacht die Dunkelheit kam, drängte sich der Schienenstrang der Eisenbahn ganz dicht an das leise und letzte Wellenspiel des Sees, an die besänftigte Flut. Radolfzell war bald vorüber. Mitten aus der Wasserfläche hoben sich die Schattenrisse der Insel Reichenau. Schon blühten die Lichter der Stadt Konstanz. Vor den Lichtern der Stadt donnerte die Bahn über die Rheinbrücke. Der Rhein verließ hier den See, um sich bei Schaffhausen in die Tiefe seiner Aufgabe zu stürzen, um Strom zu werden und schiffbar zu sein von Basel bis hinunter in die holländische Nordsee. Sommerschuh bummelte noch eine Stunde durch die alte Stadt Konstanz. Er stand auf der Rheinbrücke und dann am See vor dem alten Konstanz, er starrte in die bunten Signale der Schiffe und in die Lichter der nahen Städte und Dörfer der Schweiz, er hörte das Schlagen und Schäumen der Wellen, die Musik und das Fieber der Stadt, ihre Schreie vor der Nacht, ihre Träume, ihre Atemzüge.

Der Journalist gab es auf, im Schutt der Geschichte zu wühlen. Nur so viel notierte er sich, dass auch in Konstanz die Römer saßen, und dass vor den Römern die Kelten da waren. Die keltischen Spuren sieht man noch in den alten Pfahlbauten. Nach den Römern kamen die Alemannen. Aber Rom siegte mit seiner Kirche und mit seinem Recht endgültig. Kaiser und Bischöfe zogen in Konstanz ein, Krieg und Blut, Sieg und Niederlage, Handel und Gewinn wogten um die Mauern der Stadt. Der Bauernaufstand wühlte die Dörfer auf, der Bundschuh ging um, und die Scheiterhaufen flammten. Das Münster wurde gebaut, die Gilden kämpften blutige Kämpfe gegen die Patrizier, das Bistum von Konstanz war das größte aller deutschen Bistümer vor der Reformation. Die Geschichte von Konstanz im Mittelalter ist eine glorreiche Geschichte, eine Geschichte von Macht und Wahnsinn. Als in den Jahren 1414 bis 1418 in dieser Stadt das berühmte Konzil tagte, in dem drei Gegenpäpste abgesetzt wurden, da flammten auch zwei Scheiterhaufen auf: der eine für den Johannes Hus aus Husinetz und der andre für seinen Freund Hieronymus von Prag.

Hus ist ein slawischer Name und heißt auf Deutsch Gans. Und als die wilde Gans böhmischer Freiheit auf dem Scheiterhaufen stand und widerrufen sollte (sie glaubte nicht an die Verwandlung der Hostie, sie verachtete den Glauben an die Unfehlbarkeit des Papstes und die Anflehung der Heiligen, sie bestritt die Kraft des Absolution eines lasterhaften Priesters und die Beichte bei ihm, die wilde Gans aus Böhmen verwarf den bedingungslosen Gehorsam gegen die Obrigkeit, sie verwarf das Gebot der Priesterehe und nannte den Ablass eine Sünde gegen den heiligen Geist), als Johannes Hus auf dem Scheiterhaufen widerrufen sollte, damit er nicht brate und brenne, soll er gesagt haben: »Heut bratet ihr eine magere Gans, aber in hundert Jahren werdet ihr einen Schwan singen hören, den sollt ihr ungebraten lassen, und weder Netz noch Masche wird ihn euch fangen!«...

»Das Konzil dauerte von 1414 bis 1418, und waren allda aller Nationen Menschen... Die Summe aller waren sechzigtausendfünfhundert, worunter 346 Erz- und Bischöfe, 564 Äbte und Doktores, Fürsten, Herzöge, Grafen, Freiherr und Edelleute zusammen 16000. 37 Akademien, 67 Apotheker und Materialisten mit ihren Bedienten, 45 Goldarbeiter mit ihren Leuten, 330 Kaufleute mit ihren Dienern, 285 Schneider mit ihren Gesellen, Schuster und Schusterknechte 70, Schmiede 93, Kürschner 48, Zuckerbäcker 250, Bäcker, die mit ausländischem Weizen handelten, 83, andre Marketender 95, 58 Bankiers, 45 Herolde samt ihren Dienern, Trompeter, Pfeifer und andre Spielleute 346, 306 Barbiere, und damit die Herren vom Konzil auch ihre Ergötzung auf ihre Arbeit hätten, über 700 schlechte Dirnen, welche von Haus zu Haus anzutreffen waren. Von schwäbischen Städten hatten ihre Gesandten dahin geschickt: Ulm, Augsburg, Hall, Überlingen, Biberach, Ravensburg, Lindau, Ißny, Buchhern, Memmingen und Riedlingen....« meldet der Geschichtsschreiber Crusius von jenem Konzil. Andre Berichte bemerken nur die Beteiligung von zwanzigtausend Menschen. Aber das ist nicht so wichtig. Wichtig sind zwei Dinge: Hus wurde verbrannt, und nach hundert Jahren sang durch Deutschland und Böhmen ein wilder Schwan. Der große Bauernkrieg hatte begonnen. Auch am Bodensee bewegten sich die Gewalthaufen der Bauern, Lieder von Freiheit des Menschengeschlechts auf den Lippen, die Morgensterne und Flamberge in den Fäusten...

Auch das notierte sich Sommerschuh, dass im Jahre 1417 in Konstanz der Burggraf Friedrich von Hohenzollern aus Nürnberg mit der Mark Brandenburg belehnt wurde. Der erste Preuße kam aus dem Süden! Die preußischen Könige waren Franken! Die Habsburger waren Schweizer! Die Koburger waren Engländer! Da lachte der Herr Sommerschuh. Natürlich besuchte er das alte Münster, in dem Hus verdammt und verurteilt wurde. Auch das Eckhaus, von dem aus Hecker 1848 zum erstenmal die deutsche Republik ausrief, besichtigte er. Von da war es bis zur Rheinbrücke nicht mehr weit, von der in unserm Jahre des Heils einige Reichswehrsoldaten der endlichen Republik die schwarzrotgoldene Fahne heruntergerissen und von den Richtern freigesprochen wurden. Mit dem Dichter Wöhrle saß der Reisende an dem grünen Ufer des Sees, der seinen Namen von der fränkischen Königspfalz Bodman bekommen hat.

Der Bodensee ist in eine Landschaft versenkt, die immer und immer wieder begeistert. Auf der schweizerischen Seite bauen sich hinter dem bewaldeten Vorgebirge die Pyramiden der Hochalpen auf. Als Wächter steht vor ihnen der silbergraue Säntis. Im Badischen und im Württembergischen wächst edler Wein. Fruchtbare Felder mit viel Obst und fettem Vieh sind da, und der harmonische Ausgleich von Wasser und Hochgebirge. Alte Städte, kleine Dörfer mit Fischern und Weinbauern, die unendliche Fläche der gletschergrünen Flut, gepflegte Anlagen, Klöster, Schlösser, Villen und Hotels, die Pracht des Sommers, verdunkeltes Wasser, wenn der Föhn von den Bergen stürzt: so ist das Schwäbische Meer, an dessen Ufern die deutschen Stämme gastlich wohnen.

Von Konstanz aus fuhr der Journalist nach Meersburg hinüber, das durch seinen Wein und durch die alte Burg berühmt ist, in der die Dichterin Annette von Droste-Hülshoff ihre letzten Jahre verbrachte. In Meersburg öffnet sich die Schönheit des Sees wie ein Schauspiel auf der Bühne. Sommerschuh lief durch die alte Stadt und kletterte auf die Berghöhe. Er streifte auch durch die alte Burg, die grauenvoll und schön ist, grauenvoll durch das viele Blut, das um jede Ritterburg strömt, und schön durch die Kulisse der felsigen Landschaft. Soll erzählt werden, dass der Besucher mit feierlichem Herzen im Sterbezimmer der Dichterin und in ihrem roten Turmzimmer, in dem sie so gern lebte, stand? Soll auch das gesagt sein, dass er sich für den Meersburger Wein begeisterte? Wir haben ab und zu ein wenig von dem Menschen Sommerschuh erzählt, von seiner Bereitschaft zum Dasein, wir wissen, dass er kein pathetischer Mucker ist und kein Freiheitsbeamter.

Die Bischöfe von Konstanz waren früher auch die Herren über Meersburg. In der dunklen Burg hängen ihre Bilder. Wenn man aus den Steinmauern flüchtet und nach der breiten Terrasse von dem geistlichen Seminar geht, führt der Blick ins Endlose. Die steilen Hänge nach der Höhe sind mit Wein bepflanzt. Die grünen Rebstöcke flammen. Sommerschuh sah den Wein wachsen und dachte an sein kühles Feuer, das bis in die Sterne erhebt. Da riss ihn der Anblick von drei gebeugten Weibern auf die Erde. Drei Frauen in bäuerlicher Kleidung arbeiteten in den Weinbergen. Ihr Nacken war gebückt, ihr Kreuz war krumm, ihre Augen hafteten auf dem steinigen Boden. Der Wein riss sie nicht bis in die Sterne. Für sie war der Wein viel Mühe und viel Arbeit, krumme Rücken. Gebeugte Nacken und verarbeitete Hände.

Und dennoch war die Landschaft zur Freude da. Die Wolken um die Berge der Schweiz waren richtige Wolken und nicht Qualm aus Fabriken. Der grüne See wogte auf und ab. Vom Überlinger See knallten die Explosionen der Motorboote, die sich in tanzender Kette bewegten. Die Fischer in den Booten hatten ihre Netze ausgeworfen und fingen silberne Blaufelchen. Durch die Wolken stießen die Zacken der kahlen, schneebedeckten Berge. Voll von eigener Schwere schwammen die großen Schiffe von Ufer zu Ufer. Schwalben blitzten über dem Wasser. Möwen segelten vorbei.

Abends um zehn war Meersburg tot. Die Lichtspritzer ferner Dörfer leuchteten noch. Aus den Weinkneipen kam Gesang. Dann regnete es sich langsam ein. Wenn die Wassertropfen in den fahlen See fielen, sprang wie flüssiges Metall eine kleine Fontäne hoch.

Sommerschuh überdachte seine Reise an den See. Die Landschaft war nicht bedingungslos schön. Die Fremdenindustrie hatte auch ihre Netze gestellt, und viele tausend Reisende verfingen sich in ihr wie die Felchen da draußen in den Netzen der Fischer. Im letzten Licht aber sprangen die kleinen Fische im See wie schmale, zuckende Dolche aus dem Wasser. Sommerschuh lächelte. Darauf kam es an, auf den Sprung durch die Netze.

Der Reisende erwachte kurz vor Tag. Die Amseln flöteten durch die aufblühende Dämmerung. In dem beseligenden Konzert dachte Sommerschuh, der Narr, an den Vater des Dichters Wöhrle, der seinen Sohn also weckte:

»Steh auf, der Schinder braucht die Haut!«

Der Schinder, der die Haut braucht, hat auch den Grafen Zeppelin geschunden. Der Graf wurde am 8. Juni 1838 in Konstanz geboren. Er durchlief die militärische Laufbahn und brachte es bis zum Generalmajor. 1891 bekam er seinen Abschied. Ehe er aber aus seiner glänzenden militärischen Karriere abstürzte (er war nie ein Kommisskopf im üblichen Sinne gewesen), hatte er sich mit dem Flugwesen beschäftigt. Seine große Idee kreiste um das lenkbare Luftschiff. Vier Jahre vor seiner Verabschiedung arbeitete er eine Denkschrift aus und schrieb: »Wesentliche Fortschritte in der Vervollkommenheit der lenkbaren Luftschiffe blieben zu machen in Erfindung einer zum Durchschneiden der Luft geeigneten Form und der Möglichkeit, ohne Ballastverminderung zu steigen und ohne Gasverlust zu sinken. Gelänge es, dieses Problem zu lösen, so sei der Luftschifffahrt eine noch ganz unschätzbare Bedeutung nicht allein für die Kriegsführung, sondern auch für den allgemeinen Verkehr (kürzeste Verbindung durch Gebirge oder Meere getrennter Orte), für die Erforschung der Erde (Nordpol, Innerafrika) in der Zukunft gewiss.« Der Graf Zeppelin kämpfte beinahe zwanzig Jahre lang um sein Werk. Das Kriegsministerium sabotierte. Ein Berliner Butterhändler namens Dobert stellte bedingungslos sechshunderttausend Mark zur Verfügung. Die ersten Schiffe des Grafen gehen unter. Aber Zeppelin war wie ein Bildhauer, der aus Schöpfertrotz immer vollkommenere Bildwerke meißelte.

Ein einzelner Mann hätte all die Fehlschläge nicht ertragen können. Am Anfang seines Weges stand der Ingenieur Kober. Im neuen Jahrhundert stellte sich der Ingenieur Dürr neben den Grafen. Erst das vierte Schiff, das am 4. August 1908, sechs Jahre vor Ausbruch des Krieges, aufstieg, und auch das dritte Schiff aus dem Jahre 1906 zeigten der Welt die Eroberung der Luft an. Der preußische Adler krächzte verwundert. Also war der verabschiedete Generalmajor doch kein vollkommener Narr. Millionen Menschen hatten die Flugschiffe fliegen gesehen. Es war, als sei die uralte Sehnsucht des Menschen, die Anziehungskraft der Erde zu besiegen und vogelleicht im Raum zu schweben, erwacht. Als das vierte Luftschiff bei Echterding zerstört war, schien der Rausch des Fliegens das Volk erfasst zu haben. In wenigen Monaten waren über sechs Millionen Mark gesammelt. Endlich konnte der Graf seine neuen Schiffe bauen. Auch das Kriegsministerium gab seinen Widerstand auf und bestellte zwei Luftkreuzer. Das Misstrauen blieb, denn der verrückte Graf hatte ja auch in seiner Denkschrift davon geschrieben, dass man mit den Luftschiffen nach Innerafrika und nach dem Nordpol fliegen könne. Nach dem Nordpol, was für eine Idee! Lag dort oben Paris? Versammelte sich in der Kalahariwüste die französische Armee?

Was der Frieden nicht geben sollte, brachte der Krieg: die Entwicklung und Ausgestaltung der lenkbaren Luftschiffe. Die Form der Schiffe vereinfachte sich. Ihre Flughöhe betrug anfänglich dreitausenzweihundert Meter, die sich 1916 auf 6000 Meter und dann auf 7000 Meter steigerte. Mitten im Weltkrieg schien es, als verwirkliche sich ein Traum Zeppelins. Das Marineluftschiff »L.59« trat seine berühmte Reise nach Afrika an, überflog das Mittelländische Meer und den Nil. Über hundert Schiffe sind aus den Hallen von Friedrichshafen aufgestiegen, Friedensschiffe, Kriegsschiffe und wiederum Friedensschiffe. Zeppelin ist tot. Es war ein Gruß des Unsterblichen an die Sterblichen, als das Amerikaluftschiff ›Z.R.3‹, das Schiff Nummer 126, seine Triumphfahrt über das Weltmeer begann und in einundachtzig Stunden glücklich beendete. Die Idee des Friedens siegte über den Krieg.

Sommerschuh besuchte in Friedrichshafen die Zeppelinwerft und fand tote leere Hallen, in denen einige Leute Notstandsarbeiten verrichteten. Er hörte den Alarm der nahen Maybachwerke, die ihre Motoren auf die erste Fahrt über den Pol in das Luftschiff des Italieners Nobile mitgegeben hatten. Er hörte die Jagd der Dornierwasserflugzeuge, die über den See sausten, und wusste, dass Maybach, Dornier und die Zeppelinwerft ein einziger Konzern sind, und dass in naher Zukunft vielleicht neue, schlanke und blanke Luftschiffe aufsteigen. Nach Japan. Nach Südamerika.

Im Zeppelinmuseum sah er die ersten Pläne und Konstruktionen des Grafen und seiner Ingenieure. Er sah die Vereinfachung der Schiffe demonstriert, ihre Siegesfahrten, ihre Todesstürze, ihre Friedensfahrten und ihre Kriegsfahrten. Ihm wurde auch die Bombenabwurfkonstruktion erklärt und die schöne, harmonische Musik der Viertaktmotoren, die in den Luftschiffen schmettert. An den vielen Säulen hingen bitterböse Karikaturen aus dem »Simplizissimus«, der für den Grafen kämpfte, als ihn der ehemalige Kaiser noch als den »Dümmsten von allen Süddeutschen« beschimpfte. Über eine Stunde lief der Journalist durch das Museum, das sich weitete zur Werkstatt eines unverzagten, von einer großen Idee beflammten Menschen, der mit seinen Freunden trotz Krieg und Blut für den Frieden gearbeitet hat.

Durch das schöne Allgäu reiste Sommerschuh nach München hinauf.


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