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Das Tor zur Unterwelt

Der tugendhafte Hamburger nennt Sankt Pauli »Sankt Liederlich«, aber damit kann nur schwach seine Missstimmung über die langweilige Tugend verdeckt werden. Sankt Liederlich liegt viel zu nahe an den Wassern, viel zu nahe an den Dampfern, um im Sumpf abgestandener Späße und Albernheiten zu verkommen. Die Landungsbrücken von Sankt Pauli sind wie Fäuste, die nach der Arbeit und dem Meer greifen. Die breite Reeperbahn ist neben die Arbeit und neben das Meer gestellt worden wie die Narrenpritsche neben die Weisheit.

Das Sankt Pauli in der Reeperbahn ist dasselbe wie das am Hafen. Wenn auch sein Gesicht anders geschminkt ist und seine Stimme einen anderen Ton hat. Das Sankt Pauli da oben ist die große Vergnügungsmaschine, der singende Jahrmarkt für die Seefahrer, die nach den langen und schwingenden Fahrten übe die Weltmeere an das feste Land kommen und sich vom rauen Männerdasein befreien. Bei willigen Frauen, bei Bier, Wein, Schnaps und jagendem Betrieb rollt an der Reeperbahn das Geld, die Dollars, die Pfunde, die Kronen, die Gulden.

Jeden Abend strahlt dieses Sankt Pauli im grellen Licht der vielen Lampen und im Glanz der lockenden Lichter von den Bierhallen, Kabaretts, Lichtspielhäusern, Tanzsalons, Dielen, Cafés und Destillen. Musik braust durch die Dunkelheit. Die kleinen Mädchen segeln über das Straßenpflaster. In den Bars sitzen sie, an den Ecken kauern sie, in den Kneipen hocken sie, an den Türen lauern sie; der Seemann geht durch die Straßen und Cafés und läßt sich locken und verlocken. Englische Matrosen, chinesische Heizer, deutsche Kohlentrimmer, schwarze Neger, weiße, flinke Franzosen, breite Holländer, kühle Amerikaner: der Ozean herrscht nicht mehr über die Männer. In dieser Stunde herrscht die Frau. Die Frau regiert, die immer im Hafen und am festen Land bleibt, die selber wie ein Hafen ist, und vielleicht noch wilder als der wildeste Sturm.

Wenn man die Reeperbahn verlässt und in die Straßen einbiegt, die einen edlen Namen haben, de der Freiheit (es gibt dort eine Große Freiheit und eine Kleine Freiheit), beginnen die Nationen sich zu vermischen. Es gibt keine Holländer, Franzosen, Russen, Spanier, Schweden oder Chinesen mehr. Es gibt nur noch eine Gattung Mensch: den Seemann. Er kann im »Rheingold« dünne sentimentale Mädchen tanzen sehen, oder im chinesischen Café des Cheong Shup oder in der Japanischen Bar oder im Keller des Chop Shuy sitzen, er kann Wein und Weiber haben, soviel er nur will und soweit seine Heuer reicht. Er kann Karussell fahren oder im Hippodrom reiten, und dann bei den Mädchen sitzen. Viel kann er erleben in Sankt Pauli, aber er kann auch krepieren in einer dunklen, abseitigen Gasse, und die jungen Kerle, die dort an den Ecken stehen, kennen die Welt, das Leben und den schnellen Tod. Auch sie befahren ein Meer, das nächtliche Meer der großen Stadt. Der Jahrmarkt der Nacht rollt vorüber. Erst in den frühen Morgenstunden löschen die Lampen. Wenn der Tag beginnt und am anderen Ende von Sankt Pauli die Arbeit aufsteht und sich bewegt, leeren sich die Cafés und Singspielhallen. Dann liegt die Reeperbahn wie tot im Licht.

Die Stadt Hamburg liegt im Zusammenprall zweier Ströme. Der eine Strom ist die Flut der Auswanderer, die sich in die Welt drängen und hier allen Schmutz und Hass, alle Verzweiflung und Verbitterung abladen. Viele Lumpenproletarier und viele Hoffnungslose mit der letzten Sehnsucht im Herzen kommen nach Hamburg. Der Gegenstrom, der um diese Stadt brandet, kommt aus der Welt und bringt die Rückwanderer, die Enttäuschten, die Versunkenen. Wo sich zwei Ströme treffen, sind wilde Wirbel und tiefe Schlammbänke. Der flüchtige Besucher weiß wenig davon, nur ab und zu sieht er einen Spritzer, wenn er die Tragödien und Trauerspiele gequälter Menschheit sieht, die in den Notizen von den Gerichtsverhandlungen blitzschnell auftauchen. Er erlebt diese Tragödien, wenn er in die Kanäle der Gesellschaft hinabsteigt. Sommerschuh erlebte an einem Ostertag am Kohlenschiffhafen ein Trauerspiel. Zwei Schiffer zogen die Leiche eines dreißigjährigen unbekannten Mannes aus dem Wasser, dessen Gesicht von den Schrauben der Dampfer entsetzlich verstümmelt war. Am selben Tag wurde ein anderer Mensch, unbekannt, blond, bartlos, an den Landungsbrücken herausgefischt. Der dritte Ostertag schwemmte einen dritten Mann an. Welches Schicksal warf die drei Männer vom festen Land in das treibende Wasser? Wollten sie schwimmend das andere Ufer erreichen, das schwarze Ufer des Schweigens und der unendlichen Ruhe?

Der Journalist Karl Sommerschuh hatte in seien früheren Jahren des Öfteren im Gefängnis gesessen, einmal wegen Vagabundage, und dann wegen politischer Geschichten. Nun bildete er sich keinesfalls ein, Fachmann in Strafsachen zu sein. Aber er liebte den heroischen Kampf des einzelnen gegen die Gesellschaft und gegen den Staat. Sommerschuh hätte, wenn er Richter gewesen wäre, sicherlich die sonderbarsten Urteile gefällt. Auch in Hamburg saß er oft über die Richter zu Gericht, wenn er ihre Urteile in den Zeitungen las. Sein Herz war fast immer bei den Verurteilten. Es war auch bei der Stewardess Maria R., die am 30. Dezember 1925 auf hoher See und auf dem Dampfer »Ussumka« alle ihr zugetanen Beleidigungen rächte und einen Steward mit kochendem Wasser verbrühte. Vor Gericht gab sie in der rauen Sprache des Volkes an, sie hätte das nur getan, damit er endlich einmal die Fresse hielte. Sie sagte auch, die Ursache seines Todes sei nicht auf das heiße Wasser zurückzuführen, vielmehr auf das Feuerwasser, das der Steward sehr liebte. Im Übrigen seien nach ihrer Erfahrung die Stewardessen nichts anderes als Arbeitspferde und schutzloses Freiwild für die Männer. Die Arbeitszeit auf hoher See beginne früh um fünf Uhr und ende nachts um elf. In sechs Wochen habe sie ganze zwei englische Pfund verdient. Es habe an dem Steward, der jetzt leider verstorben sei, gelegen, dass sie nicht mehr verdiente. Die Zeugenaussagen schwankten hin und her und neigten sich endlich zugunsten der Stewardess Maria. Sie sei ein nachdenkliches Mädchen, sagten die einen aus, in der Bibliothek habe sie sich stets die besseren Sachen ausgesucht. Sie sei auch nicht so gewöhnlich gewesen, wie es sonst Stewardessen zu sein pflegen. Fleißig und sauber habe sie ihren Dienst verrichtet.

Der Oberstaatsanwalt hielt die Angeklagte für eine selbstherrliche Person, die nur auf sich bedacht gewesen sei, und sich nicht um andere gekümmert habe. Auch haben sich keine Gewissensbisse irgendwelcher Art offenbart. Sie sei aber nicht berufen, als Richter über ein Menschenleben zu verfügen. Der Verstorbene habe für Angehörige zu sorgen gehabt. Sie habe ein Menschenleben, das einen Wert darstellt, ausgelöscht und müsse dafür hart bestraft werden. Er beantragte wegen Totschlags mit Todeserfolg vier Jahre Gefängnis.

Der Verteidiger bat um mildere Verurteilung. Die Verhandlung habe ergeben, dass nur beleidigtes Schamgefühl der Angeklagten die Triebfeder für ihre Handlung gewesen sei. Sie habe sich nur verteidigt, weil sie nirgends Schutz fand.

Das Urteil lautete wegen Körperverletzung mit tödlichem Ausgang auf drei Jahre Gefängnis. In der Begründung hieß es, die Angeklagte habe mit Vorbedacht die ungewöhnliche und grausame Tat, durch die dem Verstorbenen außergewöhnliche Qualen bereitet wurden, ausgeführt. Diese außerordentlich verwerfliche Tat verlange eine strenge Sühne.

In jenen Ostertagen standen viele kleine Leute vor den Hamburger Gerichten, und Sommerschuh las einen ganzen Schwung tragischer Fälle und wusste nun, dass diese Stadt nicht nur das Tor zur Welt, er wusste, dass sie auch das Tor zur Unterwelt sei. Er wollte damit durchaus nicht sagen, dass vielleicht Berlin oder Köln in bethlehemitischer Klarheit strahlen, er wollte nur die andre Schale einer Richterwaage füllen. In der einen Schale lagen der Hafen, die Arbeit, das Licht und der freie Ozean. In der andern Schale lagen der Sturz in die Tiefe, die Tiefe selbst, und der arme gefesselte Mensch. Aber auch die Bestie Mensch lag da, ihr Tatzenhieb und ihre Mordlust. Sommerschuh schloss vor den Tatsachen des Lebens durchaus nicht die Augen, aber er wusste, der Mensch ist schwach, und das Leben ist hart; und daraus ergeben sich beinahe alle Tragödien auf der Welt.

Die Angeklagten hatten alle das versteinerte Gesicht der Medusa. Sie waren aufgestellt am Tor der Unterwelt. Dieses Tor ist ein dunkles, unheimliches Tor und beginnt in der Nähe der Singspielhallen. Das Tor zum Zuchthaus und Gefängnis ist nicht in der Nähe des brausenden Hafens. Es liegt weit draußen an dem flachen Tal der Alster in Fuhlsbüttel.

Auch auf der Fahrt nach Fuhlsbüttel berührt die Untergrundbahn den Hafen und steigt nordwärts empor ans Licht. Man sieht das süße Grün der Landschaft, rattert an den Vororten mit den vielen Neubauten vorüber, steigt in Ohlsdorf aus, überschreitet die Alster und geht nach den vergitterten Häfen, zu den Zuchthäuslern, die lebendig begraben sind.

Die Leitung der Hamburger Strafanstalten liegt in demokratischen Händen. Das sonst übliche System der Rache und Vergeltung ist umgebogen zu einem System der Erziehung für die Arbeit und für die menschliche Gesellschaft. Auch die strenge Teilung zwischen Zuchthäuslern und Sträflingen ist aufgehoben. In der Schlosserei, der Bäckerei und Druckerei arbeiten die Männer zusammen. Die meisten von ihnen erlernen hier einen richtigen Beruf. Sie werden Schlosser, Bäcker, Buchdrucker, Korbmacher oder Schneider. Fuhlsbüttel hat auch sein eigenes Gefängnisgeld.

Das Zuchthaus ist kein schöner Ort, und über ein Gefängnis kann man keine Hymnen schreiben. Das Neue in Fuhlsbüttel ist, dass die Sträflinge als Menschen gewertet werden, denen man auch menschlich begegnen muss. Aus dieser Einsicht heraus veranstaltet die Leitung jeden Sonnabend in einem der vielen Höfe für die Gefangenen ein öffentliches Konzert mit guter Musik. Aus dieser Einsicht heraus öffnete man die Kasten in der Kirche und schnitt die trennenden Wände von Nachbar zu Nachbar hinweg. Aus dieser menschlichen Einsicht heraus gliedert man die Sträfliche in Klassen, gab ihnen die Möglichkeit zum Aufstieg und zu kleinen Annehmlichkeiten: ein paar Bilder in die kahle Zelle, eine Stunde länger Licht, verantwortliche Arbeit. Auch die Schmutzkonkurrenz mit dem Handwerk wird beseitigt. Neu Verträge mit den Unternehmern, die von den Allerärmsten leben, werden nicht mehr gemacht. Der Verdienst der arbeitenden Gefangenen ist winzig und beträgt zwanzig bis dreißig Pfennig am Tage, aber auch das ist noch mehr, als sonst in den deutschen Gefängnissen oder Zuchthäusern verdient wird.

Die Gefangenen, die von einem Tag bis zu einem Jahr eingesperrt sind, leben in Baracken. Ein Torpedonetz umgibt ihre Holzhäuser. Diese Baracken stehen rund um einen Spielplatz. Der Platz ist nicht zur Dekoration da. Auf ihm wird richtig gespielt. Jugendliche Gefangene sind auf der Insel Hahnöfersand in der Unterelbe untergebracht. Diese Insel wird durch die Arbeit der Jugendlichen kultiviert. Die Hamburger Strafanstalten besitzen auch einige Güter und Moore, auf denen frei gearbeitet wird.

Natürlich können alle diese Dinge nicht über die Schwere der Haft und über die Verzweiflung in den Zellen hinwegtäuschen. Sommerschuh besuchte das Gefängnis und das Zuchthaus und war auch in der Schlosserei und in der Druckerei. Auf dem Hof sah er den Rundmarsch der Gefangenen, die miteinander sprachen. Ein kleiner Chinese lief schweigend hinter den Kameraden, deren Sprache er nicht verstand. In der Zuchthausbibliothek fragte Sommerschuh einen Gefangenen, was für Bücher hauptsächlich gelesen werden. »Philosophie und Reisebeschreibungen«, antwortete der gefangene Mann. Philosophie, um wieder mit dem Leben in Einklang zu kommen, um alle Niederlagen zu überwinden, ja, und dann Reisebeschreibungen aus der fernen Welt, um selber frei zu sein und zu wissen von der Freiheit in den andern Ländern...

Von April 1925 bis zum März 1926 wurden in Fuhlsbüttel 6037 Männer und 2503 Frauen eingeliefert. Unter den weiblichen Gefangenen waren 1844 Mädchen wegen Übertretung der sittenpolizeilichen Vorschriften. Von den Männern wurden eingeliefert wegen Diebstahls 1434, über 600 wegen Betrugs, 136 wegen Obdachlosigkeit, 103 Homosexuelle, 36 wegen Desertion, 36 wegen Glückspiels, einer wegen Mordes, und so geht es weiter: Kinderraub, Beihilfe zum Mord, Bigamie, Begünstigung, Beamtenbeleidigung, Passvergehen, Münzverbrechen, Kuppelei, Meineid, grober Unfug und so weiter. Die in den letzten Jahren verurteilten Männer und Frauen waren zu achtzig Prozent nichthamburgische Reichsdeutsche; sechs Prozent waren Ausländer. Der Rest stammt aus dem Hamburger Staatsgebiet.

Am interessantesten ist die Besichtigung des kleinen Museums, das ein früherer Journalist zusammengestellt hat, und das viel tiefere Einblicke in das Leben der Gefangenen gibt als jede Gerichtsverhandlung oder Gefängnisbesichtigung.

Der Drang nach Freiheit brennt in jedem Gefangenen wie ein ewiges Feuer. Um dieses Feuer kreisen seine Gedanken. Eine Stunde ohne Mauer sein, ohne Gitter, ohne Vorschriften, ohne Wärter. Vergitterte Fenster sperren den Weg zur Freiheit. Aber der Stahl ist schärfer als Eisen. Eine Strickleiter besiegt die Mauerwände. In dem kleinen Museum sieht man also Ausbruchwerkzeuge, Sägen, Feilen, Strickleitern, Löffelstiele als Schlüssel, Dietriche und Totschläger, ungeschmiedete Stahlklingen, Kassiber und Geheimverstecke, Ein Schwachsinniger machte sich aus Sackleinwand einen Anzug, nähte an die Zuchthauskappe einen Pappschirm und versuchte den Ausbruch. Mit dieser lächerlichen Maskerade kam er gar nicht auf die Straße. An seiner Mütze fand man die Buchstaben P. B. befestigt. Und als man ihn nach dem Sinn dieser Zeichen befragte, erklärte er missmutig, das hieße »Polizeibehörde«, und er verstehe nicht, warum man ihn habe fassen können. In einem besonderen Saal ist wohlgeordnet der »geistige Überbau«, wenn man so sagen darf. Man findet – das Kartenspiel ist verboten – naive und selbstverfertigte Spielkarten. Daneben liegen falsche Stempel. Wenn ein Mensch aus dem Zuchthaus kommt, will er sein Spur verdecken und unverfängliche Papiere haben. Man findet Glücksspiele und Brettspiele und aus gekautem Brot bunte Nippes. Die Scherenschnitte schwarzer Landschaften verlaufen in weichen, weiblichen Linien und erotischen Kurven. Man findet kleine Püppchen, und unter ihnen den »Waschküchentrost«, eine kleine Stoffpuppe, die in der Waschküche allmonatlich ihre Besitzerin wechselt, vier Wochen seliges Kindlein war und sich in den mütterlichen Sturzwellen unterdrückter Zärtlichkeit badete. Sommerschuh fand auch eine glänzende Zeichnung, die »Zuchthausklatsch« hieß und einen unheimlichen Männerkopf zeigte, wie ihn nur der Maler Kubin sonst malen kann. Ein verhasster Wärter ist dargestellt mit Feldwebelvisage und Kaiser-Wilhelm-Bart. Aus den Männerzellen stammen kleine Spiegel, Brennscheren, Rasiermesser, und die Sammelüberschrift des Kastens »Die liebe Eitelkeit« verdeckt nur schwach das Triebleben der von der Frau und der Welt abgesperrten Männer. Aber auch Hohn spritzt auf. Sommerschuh fand einen »Orden«, der aus einem Pappschlüssel und einem Pappknüppel, den magischen Zeichen der Zuchthauswärter, bestand. Dieser Orden wurde an einen Gefangenen gegeben, der seine Kameraden verpetzt hatte. Am gab ihm das Verächtlichste. Furchtbar sollte ihn die Rache treffen. Und was ist für einen Eingekerkerten das Verächtlichste? Der Wärter, der die Tür schließt, der Mann, der den Schlüssel zur Freiheit versteckt. Der Zuchthäusler, der Genossen verklatscht, ist genau so ein Schuft wie der Mann, der ihn einschließt. Sommerschuh ging an den Schiffsmodellen vorüber, die ein englischer Spion nach fünf Jahren Einzelhaft anfertigen durfte, als der Wahnsinn schon heranrauschte. Nur soviel hat man aus den Modellen ersehen, dass es ein Schiffsbauingenieur sein musste, den man kurz vor dem Krieg verurteilte, und der mit englischem Geld in den Werften spionierte.

Noch ganz erschüttert von all den Dingen kam Sommerschuh in den Raum, wo die Hamburger Guillotine steht, das Fallbeil, der eiserne Racheblitz der Gesellschaft. Dann sah er die neunzehn bleichen, weißen Köpfe der zuletzt Hingerichteten. Er sah drei Frauenköpfe und das verzerrt Gesicht eines Italieners, der sich in der Nacht vor der Hinrichtung erhängte. Da stand auch der jugendliche Kopf eines Soldaten, der 1878 einen Sergeanten, einen Menschenschinder, totschlug und deshalb zum Tode verurteilt wurde. Auch er erhängte sich in der Nacht, wie der Italiener. Eine halbe Stunde nach seinem Selbstmord kam die Begnadigung. Lande und verwundert starrte Sommerschuh auf den Kopf es Dienstknechtes Meißner, der 1912 bei Cuxhaven ein Gastwirtsehepaar ermordete. Als Meißner auf das Schafottbrett geschnallt wurde, rief er in den grauen Morgen: »Fertig, abfahren!« Und er fuhr ab. Sie alle fuhren ab, diese neunzehn Menschen in der schrecklichen Nacht des Todes, brüllend vor Entsetzen, mit Hohn im Herzen oder voll tierischer Angst.

Auch der Flugplatz von Fuhlsbüttel ist Land der Strafanstalten. Die eiligen Leute, die von Hamburg nach Paris oder Zürich fliegen wollen, wissen das nicht. Ab und zu sehen sie wohl eine Rotte von Sträflingen, die dort arbeiten, aber sie sind bei ihren Geschäften, steigen in die schönen Kabinen, verlassen die Erde und fliegen nach ihrem Ziel. Auch Karl Sommerschuh flog an einem Frühlingstag von jenem Sträflingsfeld hoch in den blauen Raum.

Das Flugzeug, mit er aufstieg, war ein kleines Metallflugzeug. Der Pilot war ein adliger Offizier. Der Leiter der Fliegerschule war ein Graf. Am frühen Morgen waren die Herren über dem Sachsenwald gewesen und hatten am Grabe Bismarcks einen Kranz abgeworfen. Die jungen Offiziere hatten Adlergesichter und waren im Krieg mit ihren Flugzeugen durch halb Europa geflogen. Sie wollten die Erde erobern, doch ihnen blieb nur der Luftraum. Sie hatten noch einige Flugzeuge und träumten sicherlich, wenn sie aufstiegen, von neuen Siegen und Eroberungen. Sie gehörten zu jener Gruppe de Flieger, die Deutschland in den Mittelpunkt des Weltflugverkehrs rückten. Das Flugzeug war ein Einsitzer. Als der Mann angeschnallt war und der Flug begann, war es zuerst gar kein Flug. Es war die Fahrt eines Autos über grünen Rasen und dann ein unmerkliches Gleiten über die Erde, ein schleifender Aufstieg zur Eroberung der Luft, dann ein kühnes Aufwärtsschrauben in den Dunst und dann erst sausender Flug durch den reinen, klaren Raum. Die Landschaft lag wohlorganisiert unter den Fliegern. Die Straßen waren unendliche Bänder. Die Spiegelblitze der Gewässer leuchteten auf. Dann kamen graue Felder, gründe Felder, gelber Sand, schwarze Wälder, die mattsilberne Alster, eine Rennbahn und tief im Dunst die Stadt Hamburg mit den rauchenden Hafenanlagen. Das Flugzeug tanzte auf und ab. Die goldnen Blitze des Propellers strahlten. Der Alarm des Auspuffrohrs war wie Krawall in einer Kesselschmiede. Höher und höher drehte sich das Flugzeug. Die Straßen waren keine laufenden Bänder mehr, sie waren jetzt die mystischen Runenzeichen einer unbekannten Schrift quer über die Erde. Durch den grauen und lila Dunst sah der fliegende Mensch die Häuser der Siedlungen wie aus einem Spielzeugkasten. Die Felder verschwammen immer mehr und mehr. Sie vereinigten die Farben, rückten zusammen und waren wie ein Riesenschachbrett, das nur mit einer Figur, den Bauern, beschickt wird. Das graue Licht der Dunstschicht stieß am fernen Horizont auf die grüne, breite Mündung der Elbe. Das war schon der befreite Fluss mit der Umarmung der Nordsee bei Glückstadt. Nach dem Hafen zu wehte und webte weißer Nebel. Als Sommerschuh den weißen Nebel erreichte und den Blick wandte, sah er unter sich ein Nebelmeer in allen Farben von stumpfem Rosa bis zum matten Blau. Und immer noch stieg der Flieger empor. Als sie endlich 2000 Meter über der Erde flogen, da sahen sie den Hafen in beinahe vollkommener Klarheit unter sich liegen. Sie sahen die Schiffe wie Spielzeuge an den Kais verankert im weißen, runden Kielwasser der Fahrt und Schiffe, die wie Baumstämme eines großen Floßes aneinandergereiht waren. Die Kläranlagen eines Wasserwerkes glänzten wie die glasgedeckten Beete einer Riesengärtnerei empor. Der Wind schmetterte und stieß vorbei, hämmerte und schrie, und das Geisterrad des Propellers kreiste unermüdlich. Von den Werften kam dicker, weißer Rauch. Die Alster wurde überflogen, und dann war keine Landschaft mehr da. Die Mühe der Arbeit in den Feldern war nicht mehr zu sehen. Wie eine Zieranlage, wie ein schöner Garten lag alles mattschimmernd unter den Fliegern.

Da lag nun die große, arbeitsame Stadt am Strom, und ihr gegenüber der Hafen mit den Schiffen, Kais, Lagerhallen, Werften, Schwimmdocks, Helgen und Rauch, und zweitausend Meter über allem tanzte und ratterte ein kleines Metallflugzeug. Darin saß der Journalist Sommerschuh und der adlige Pilot. Zweimal überflogen sie diese Stadt und diesen Hafen. Sie hatten keine Angst in ihrer Höhe. Als die grünen Türme der Kirchen Sankt Petri und Michael aufspießten, da überfiel Begeisterung das Herz des Fliegers. Er sah die grünen Stängel der Türme ohne Blumen und dachte: »Wir sind die Blüte, die Blume, der blaue Glockenkelch über den Dingen.« Über eine Stunde fuhr der junge Mann über Stadt und Hafen, Feld und Siedlung, war glücklich und dachte nicht mehr an die Zuchthäuser und Gefängnisse und an das Tor zur Unterwelt. Lächerlich schien es ihm, als sie in den Dunstkreis der Erde hinabstiegen, dass sich das Leben dort unten lohne. Aber nicht lange dachte er so. Wie ein Film rollte sich plötzlich die Landschaft auf. Das Flugzeug drehte sich, lag auf der Seite, tanzte und fiel. Sommerschuh wusste nicht mehr, wo der Himmel und die Erde lagen. Und es war gut so, dieser jähe Fall, dieser leichte Taumel, diese blitzschnelle Verwirrung. Als sich das Flugzeug beruhigt hatte und sich der Erde in weit ausholenden Schleifen näherte, da sah Sommerschuh auch im Dunst die Klarheit. ER kam ja von der Höhe. Er wusste, der Dunstkreis der gesellschaftlichen Schichtung ist viel grauer und trostloser als jede andre Dunstschicht über der Erde.

Aber das dachte er nur im Niedersturz. Ein wenig Angst und Herzklopfen war dabei, und noch mehr Weltbegeisterung. Als er dann auf der festen Erde stand, kam der Hochmut. Lachhaft schien es ihm, mit den Füßen zu gehen, wenn man eben geisterhafte Flügel gehabt hat.

Die Sonne strahlte. Immer noch sangen die Lerchen über den Feldern. Sommerschuh lebte sich in der Welt wieder ein. Ehe er das Zuchthaus erreichte, sah er den ersten Zitronenfalter des Jahres. Am Zuchthaus wurde die Polizeiwache abgelöst. Neun grüne Soldaten marschierten mit ihren Karabinern nach dem Bahnhof. Die Menschen lebten, als ob es keine Höhe gäbe. Auf den Feldern arbeiteten die Sträflinge. Arbeiter schufteten an einer neuen Straße. Die Vorortzüge ratterten. Ab es blühten auch Blumen. Junges Gras zitterte. Hähne krähten, und in einem Garten vor der Strafanstalt waren Glucken und Hühnermist zum Verkauf ausgeschrieben.


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