Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die roten Falken

Der Luftexpress verließ den europäischen Zentralbahnhof Berlin-Tempelhof und hatte in einer kleinen Stunde die Insel Usedom erreicht. Diese Insel gehörte dem »Roten Falken«. Das waren die deutschen Kindergruppen der Vereinigten Staaten von Europa. In Falkenhorst, dem ehemaligen Heringsdorf, landeten die vier aneinandergekuppelten Flugmaschinen. Neue Gäste kamen aus Berlin. In den großen weiten Standhallen erhob sich zu ihrer Begrüßung ein lautes Singen. Die See rauschte. Aus ihrer mattgrünen Seide sprangen im alten Tanz die schaumgekrönten Wellen. Der hohe Buchenwald hinter dem Klubhaus flammte. Durch diesen grünen, sausenden Wald ging nachdenklich ein alter Mann. Als der Luftexpress andonnerte, lauschte er fröhlich empor. Nach einer Viertelstunde saß der Spaziergänger unter den Roten Falken aus Berlin und ließ sich von der Stadt erzählen.

»Genug erzählt, Genosse«, rief plötzlich ein zwölfjähriger Junge dazwischen, »fahr selber in die Stadt, und du wirst Augen machen, so groß wie deine Hornbrille. Sommerschuh, du kennst diese Insel und ihre Geschichte. Wenn schon erzählt werden soll, bist du an de Reihe. Erzähle uns, wie es damals war.«

»Damals war es ganz anders, Rote Falken«, sagte Sommerschuh und lächelte. »Dieser weite Strand von Swinemünde bis nach Zinnowitz und Karlshagen war nur für die reichen Leute da. Zur Erholung kamen sie ans Meer, wie sie sagten, aber ihr Leben war ja eine einzige Erholung. Sie brauchten in keiner Fabrik zu arbeiten, in keinem Bergwerk und in keiner Spinnerei. Sie hatten die Bäder an der Ostsee in sich aufgeteilt. Die Juden fuhren nach Heringsdorf, die Hakenkreuzler nach Bansin, die kleinen Bürger nach Ahlbeck und die großen Bürger nach Swinemünde und Herzingsdorf.«

»Damals sollen auch noch Fischer in diesem Dorf gearbeitet haben, erzähle uns lieber von den Fischern!« rief ein anderer Roter Falke dazwischen.

»Ja, es gab auch noch Fischer. Aber sie lebten kümmerlich. An den Küsten hatte die Ostsee keine Fische mehr, und die Fischer hier oben waren so arm, dass sie für die See keine großen Motorboote besaßen. Um Finnland, Bornholm, Schottland und Norwegen herum gab es noch sehr viele Fische. Die Leute hier oben waren wohl Fischer, aber sie fischten mehr nach den Menschen, die als Kurgäste an das Wasser kamen. Sie vermieteten ihre einzige Stube und schliefen in der Küche, um ein wenig Geld zu verdienen. Sie verdienten sehr wenig, denn sie wurden von den großen Hotels und Pensionen erdrückt. An der Küste entstand eine ganze Industrie zur Unterhaltung und Ausbeutung der Fremden. Der Strand mit den großen Bädern war wie der Kurfürstendamm und die Tauentzienstraße im alten Berlin. Große Cafés und Restaurants lagen da, Luxushotels ragten auf, Musik spielte, Tänzer und Künstler produzierten sich, die Frauen der damaligen Zeit hießen Damen und gingen hauptsächlich ans Meer, um ihre Toilette zu zeigen. Sie hatten sich angemalt und geschminkt. Sie spazierten in rauschender Seide und waren überhaupt keine richtigen Frauen. Ihr Dasein erfüllte ewige Gier nach neuen Sensationen. In den Filmen der alten Zeit kann man ja noch ihre Seele studieren, ihre Verlogenheit, ihre Feigheit und ihr Schmarotzerdasein. Der Tauentzien am Meer hatten den schönen Strand unserer Insel versaut!«

»Der Tauentzien, was war der Tauentzien?« fragte ein neuer Falke. »Der Tauentzien, wo die reißenden Frauen ziehn, Bernd«, zitierte der vierzehnjährige Führer der Falken. »Und was die reizenden Frauen für Weiber waren, hat ja der Genosse Sommerschuh erzählt.«

»Also Nutten!« sagte mit ernstem Gesicht der kleine Bernd.

»Ja, mehr oder weniger«, antwortete Sommerschuh und fuhr fort: »Laßt euch von einem Wochenende an der Ostsee erzählen. Von Berlin aus fuhr ich einmal nach Swinemünde. Mit der Eisenbahn brauchte man damals über drei Stunden. In diesen Tagen kamen über zweitausend Sänger aus Pommern an die See. Es war im achten Jahr der bürgerlichen Republik, und Swinemünde hatte an jenem Tag über tausend Fahnen der Kaiserzeit gehisst, in der die zehn bis zwölf Fahnen der Republik hoffnungslos untergingen. Das war typisch für die damalige Zeit, denn Deutschland war mehr kaiserlich als republikanisch. Swinemünde war eine Festung. Auch eine Torpedobootshalbflottille lag da. Die Offiziere waren natürlich monarchistisch, beschimpften und bekämpften die Republik und ließen sich von ihr bezahlen. Die zweitausend Sänger aus Pommern zogen durch die Stadt. Sie sangen »patriotische« Lieder vom deutschen Rhein und stellten vor diesen schönen Strom die aufgeschwemmten Figuren ihrer hässlichen Kadaver. Am Abend waren sie alle betrunken. Sie grölten das nächtliche, rauschende Meer an und waren in ihrer Gesinnung dunkelstes Mittelalter. Sie stammten ja aus Pommern. Die Junker herrschten dort und in ihrem Schatten die kleinen Handwerker. In Deutschland gab es damals zwei bis drei Millionen Landarbeiter. Diese Landarbeiter lebten nicht gut, aber ihre Kinder lebten noch schlechter. Die Ferien auf dem Lande waren zum großen Teil nur dazu da, in der Erntezeit dem Junker billige Kinderhände zur Arbeit zu geben. Es gab in verschiedenen Bezirken Ferien, die in die Zeit des Rübenverziehens fielen, andre Ferien wurden in die Zeit der Kornernte verlegt und wieder andre in die Zeit der Kartoffelernte. Da zogen die Kinder im Alter von acht bis vierzehn Jahren von morgens früh um sechs Uhr auf die Felder, lagen krumm und schmutzig auf der Erde und schufteten für die Gutsbesitzer, die nicht einmal einen Finger krumm gemacht hatten zur Arbeit. Darüber könnte ich noch viel erzählen, aber das gehört nur soweit zu meiner Geschichte, als die zweitausend Sänger aus Pommern stammten, wo die Landarbeiter und ihre Kinder maßlos ausgebeutet wurden... Morgen fahren wir nach Swinemünde. Ihr werdet die Leuchttürme sehen und den Industriehafen mit der Werft. Schwedische Erzschiffe kommen angefahren, finnische Holzschiffe und die Getreideschiffe aus Russland. Sie fahren durch den engen Kanal der Swine nach dem Haff und weiter nach Stettin, dem Vorhafen nach Berlin. Ihr werdet das Tempo der Arbeit erleben und die Musik der Werften. Als ich damals in Swinemünde war, lagen die Werften still, und der Schiffsverkehr war halb erdrosselt. Damals ging Deutschland beinahe kaputt, bis endlich der Umsturz kam.«

»Und du hast mitgekämpft?« fragte der Rote Falke Bernd.

»Ja«, sagte Sommerschuh, »wir alle haben mitgekämpft. Aber lasst mich weitererzählen. Es war im Juni. Das Meer war herrlich wie immer, aber die reichen Leute waren noch nicht vollzählig da. Sie hatten erst ihre Vorläufer geschickt. Sie selbst kamen im Juli und August. Diese zwei Monate nannten sie Saison. Es gehörte zu ihrem Lebensstil, im Juli und im August zu verreisen. Das Ziel ihrer Reise, die See oder das Gebirge, beschäftigte sie monatelang vorher. Aber auch die Vorläufer im Juni leben mehr der Wollust des Bauches als der Wollust des Herzens. Wenn es einmal regnete und stürmte, hätten sie am liebsten hohe Quarzlampen am Strand aufgestellt, um künstliche Sonne zu haben. Ihr ganzes Dasein war ja künstlich... In Swinemünde blieb ich nicht lange. Die Sänger und die Hurrafahnen vertrieben mich. Auch die gemalten Weiber und die geschminkten Mädchen. Die jungen Männer der Bürgerklasse nannten sich »Kavaliere«. Sie dienten nur zwei Dingen auf der Welt, der Hetzjagd ums Geld und den geschminkten Mädchen. Den ganzen Strand säumten die hohen Etagen der Villen und Hotels ein. Dort wohnten die Bürger. Die Proleten und kleinen Leute von Swinemünde dagegen wohnten in niedrigen, hässlichen Häusern der Innenstadt. Am Strand entlang wanderte ich nach dem kleinen Ahlbeck und sah die ausgespannten Netze der Fischer. Aber, das sagte ich schon, die Fischer blieben arme Leute, wenn sie aufs Meer fuhren. Sie wurden manchmal wohlhabend, wenn sie sich der Fremdenindustrie anschlossen, Postkarten, Reiseandenken und Zeitschriften verkauften und Segelboote und Strandkörbe vermieteten. Dann wanderte ich nach Heringsdorf und fuhr mit einem Motorboot nach Bansin. Aber es war durchaus nicht alles schön. Auf dem Bahnhof in Heringsdorf traf ich eine junge Frau, die von einem Wirt auf die Straße gesetzt wurde, weil er in jenem Juli wenig Gäste hatte. Die junge Frau war kein Gast. Sie war eine sogenannte Mamsell. Das heißt, sie kochte für die Gäste das Essen. Und weil keine Gäste kamen, wurde sie auf die Straße geschmissen.«

»Aber hat denn die Polizei nicht geholfen?« fragte ein Roter Falke.

»Nein, Roter Falke, die Polizei hat nicht geholfen«, sagte Sommerschuh. »Das war ja das Verrückte in unsrer Zeit, dass die Polizei fast immer dem Manne half, der unrecht hatte, und dass sie mehr oder weniger die Schutzgarde der Kapitalisten war. In unserem Fall gab sie der jungen Frau das Fahrgeld nach Berlin. Das ausgelegte Geld wurde dann sicher in einer durchzechten Nacht bei dem Wirt einkassiert.«

»Und was wurde mit jener Frau?« fragte der Führer der Falken.

»Das weiß ich nicht genau, Roter Falke. Sie fuhr nach Berlin zurück und war dann verschollen«, sagte Sommerschuh.

»Du hättest dich um sie kümmern müssen«, sagte der Falke. »Du hättest trotzdem auf die Polizei gehen müssen, wie kann man so kalt an dem Unglück eines Mitmenschen vorübergehen!«

»Ja, « antwortete Sommerschuh, »ich hätte mich mehr um sie kümmern müssen. Aber so war unsre Zeit: jeder war nur mit sich und seinen Sorgen beschäftigt und hatte für den andern wenig oder gar kein Herz. Der Tag, an dem ich die Frau traf, war ein Sonntag, und ich musste nach Berlin zurückfahren.«

»Das war nicht richtig von dir, Genosse«, sagte ein neuer Falke. »Und nun erzähle, was hast du an dem Tag noch erlebt?«

»Zukünftige Dinge«, sagte Sommerschuh. »Ich malte mir aus, wie es einmal auf dieser Insel aussehen würde. Ich dachte an die schmutzigen Kinder auf den Gutshöfen und in den Kohlenrevieren und an die lichtlosen Hinterhöfe Berlins. Damals baute ich schon in Gedanken an den großen Strandhallen von Falkenhorst. Auch damals kamen Kinder an die See. Sie hatten alle gleiche Uniform an, und es war keine richtige herzüberquellende Freude an ihnen. Einige reiche Leute hatten hier oben Kinderheime erbauen lassen. Auch einige Schulen schickten schwindsüchtige, unterernährte Schüler an die See. Aber diese Kinder waren eigentlich nur geduldet und lebten am Rande der großen Bäder, wie sie damals auch in der Stadt nur am Rande des Lebens gelebt hatten. An der Nordsee und an der Ostsee gab es auch schon einige Bäder, die von proletarischen Organisationen eingerichtet waren.

»Erzähle uns noch von andern Dörfern der Ostsee, Sommerschuh«, sagte ein andrer Falke. »Fische gibt es genug in den Meeren Europas. Fast alle Fischer haben Barkassen und Motorboote, und die Meeresstationen zeigen durch Licht- und Wassersignale die Wanderung der großen Fischzüge an. Erzähle uns, wie es früher war. Erzähle uns die Geschichte vom Fischer Witt.«

»Mit einigen Freunden war ich einmal in dem Dorfe Lubmin am Greifswalder Bodden«, erzählte der Mann. »Ich war bei dem Fischer Witt einquartiert. Das war ein altes Männlein schon. Er hatte einen Vogelkopf und helle, ausgewaschene Augen. Er war so arm, dass er eine Tabakspfeife ohne Spitze rauchte und sich wie ein Kind freut, wenn er eine Zigarre geschenkt bekam. Mit seiner Freundin fuhr er einmal nachts zum Fang hinaus. Das Segelboot gehörte nun nicht einmal dem alten Witt allein. Zwei andre Fischer waren Mitbesitzer. Es war mitten in der Nacht oder vielleicht morgens um zwei Uhr, als wir die dunkle Dorfstraße zum Strand hinunterwanderten. Der Mond stand noch am Himmel. Die Fliederbüsche dufteten. Die Kastanien waren schon verblüht, aber von den Feldern und von den Wiesen stiegen Wohlgerüche auf. Witt erzählte von dem letzten Fischzug. Heringe sollten gefangen werden. Da waren also am Nachmittag drei starke Männer auf das Wasser hinausgefahren, hatten das Netz ausgelegt und in der Nacht wieder eingeholt. Sie hatten acht Stunden auf dem Wasser gelegen und vierzehn Stück Heringe gefangen!«

»Unser Bodden ist leer, der Krieg hat ihn ausgeräumt«, erzählte Witt. »Wenn die Badegäste nicht wären, wir litten große Not.«

Das Dorf war erst in den letzten Jahren ein kleiner Badeort geworden. Geld und Betrieb kamen in die Hütten. Mäßige Hotels blühten langsam auf. Auch eine Straße war schon gepflastert. Die neue Fischerei, die Menschenfischerei, hat begonnen. Manchmal spürte man auch den Pulsschlag der fernen Stadt, wenn es auch nur der Fieberpuls der Hetze um das Geld war. In jenem Dorf lebte ein junger Kellner, der den Riesenbetrieb eines Cafés allein bewältigte. Georg, so hieß der junge Mann, hatte Anlagen zu einem Plattfuß, aber er war zu einem Drittel an einem Fischerboot beteiligt und vermietete außerdem, wenn die Saison kam, Strandkörbe. Er war ein geschickter Mensch und hatte auf seinen früheren Reisen viel mit Geldleuten und Spekulanten zu tun gehabt, ihren Schwindel gesehen und davon gelernt. Nach fünf Jahren war der Kellner Georg ein Mann mit quälenden Plattfüßen. So sehr hatte er für die Gäste springen müssen. Doch nun besaß er ein schönes Hotel und ließ andre junge Kellner für sich und seine Gäste springen. Der Georg war nur einer von den kleinen Schiebern des Dorfes und lange nicht so mächtig wie der Fleischer oder Bäcker, die ihre Hände in neuen Gründungen hatten, sich hassten und vor Neid beinahe auffraßen. Die alten Fischer blieben der See treu, auch wenn sie nichts oder wenig fingen. Tag und Nacht fuhren sie auf das gründe Wasser hinaus und brachten manchmal vierzehn Heringe, drei Hechte oder neunzehn Pfund Schollen herein. Am festen Land fingen sie ab und zu einen Sommergast. Und in jenem Sommer wurden meine Freunde und ich vom Fischer Witt gefangen.

Der Strand war bald erreicht. Die See schimmerte im Mondlicht. Aber der Mond verfärbte sich, wurde ockergelb und orange und fiel dann in die blauen Dunstschleier am fernen Horizont, zeigte noch eine Weile die greisenhafte Stirn und war dann plötzlich verschwunden. Die See verfärbte sich auch und wurde bleiern. Über die Kräuselwellen huschten schon die Lichter der glühenden Morgenröte. Unser Boot wurde fertig gemacht. Die Segel blähten sich im frischen Wind. Dann begann die Fahrt nach der Insel Rügen zu.

In derselben Stunde begann auch an der ganzen zerklüfteten Küste ein großes Rühren und Händeregen. Immer neue Segler und Fischerboote sausten in die See hinaus. Das erste Licht des Tages füllte die weißen und ziegelroten Tücher. Im Westen stiegen die Schattenrisse der Stadt Greifswald empor. Viele hundert Segelboot senkten ihre Schleppnetze auf den Grund der See.

Dann kam die Sonne. Der wehende Schimmer im Osten hatte ihre Ankunft schon lange verkündet, als der orangefarbene Mond ins lächerliche Nichts zerfiel. Nun kam sie in Flammen und wie mit Posaunenstößen! Eine feurige Lohe schlug über dem Wasser empor. Dann zeigte sich beinahe ein blütenweißes Sonnengesicht über den Wellen, das von einer strahlenden Lichtkrone umgeben war. Aber nicht lange leuchtete uns dieses Schauspiel. O nein, nur einige Herzschläge lang, denn das Feuer schoss wie Blut in das weiße Sonnengesicht. Dann erhob sich die Sonne aus dem Wasser und schüttete ihr Licht in die schrägen Segel der Fischerboote. Auch in unser Segel, auch in unser Boot.

Die Fischer hatten keinen Blick für den Sonnenaufgang übrig. Die Netze waren ausgelegt und wurden schnell wieder heraufgeholt, um in das grüne Wasser zu fallen. Einige Stunden ging das Auf und Ab der triefenden Netze. Als die Sonne am Himmel stand, teilte auch ich meine Aufmerksamkeit zwischen dem Fischfang und dem großen, flammenden Licht. Wenn die Schleifnetze heraufgeholt wurden, zappelten in ihnen die plattgedrückten Schollen. Ab und zu kamen auch einige Seesterne herauf. Uns wo wie die Fische waren, waren auch die Menschen unserer Zeit: wenn man sie aus der Tiefe emporriss, da sperrten sie nur die runden Mäuler und die blinden Augen auf. Sie wehrten sich vor der Klarheit und wollten lieber im Schlamm der Tiefe leben.

Vier Stunden sind wir damals über die See gefahren. Drei Männer in einem kleinen, aber tapferen Boot mit dem schrägen Segel hatten zwanzig Pfund Schollen gefangen. Witt, der Schmeichler, sagte: »Heute haben wir Glück, weil die Herrschaften mit hinausgefahren sind.« Aber wir lachten nur über die Herrschaften. Dann lief das Boot den Strand an. Die Fische mussten ja verkauft werden. Die Pensionen und Hotels brauchten sie für ihre Gäste, und auch die Hauptnahrung des Dorfes bestand aus Fischen. Sechs Stunden waren die Fischer unterwegs gewesen und hatten zusammen mit dem Boot kaum acht Mark verdient. Als wir den Strand erreichten, stand die Sonne ganz hoch am Himmel. In den weichen Betten schliefen noch die Sommergäste. Das waren kleine Leute, kümmerliche Beamte und sterbender Mittelstand mit der Illusion eigener Kultur, aber wenn sie aufwachten, tranken sie Kaffee, gingen an den Strand, und dann war der Tisch gedeckt. Keiner von ihnen ahnte oder wusste, wieviel Mühe und verlorener Schlaf nur um einen der gebratenen Fische war. Hinter die Qualen der Geburt aller Dinge sind die Menschen später gekommen, als mit den Göttern im Himmel auf die Götter auf der Erde zerfielen.«

»Die Qualen der Geburt, was ist das, Sommerschuh?« fragte der Führer der Falken. »Kennst du auch noch andre Dörfer an der See?«

»Ja, ich kenne auch noch andre Dörfer an der See«, sagte Sommerschuh, »und die Qual der Geburt ist für uns kein Geheimnis. In unserm Zeitalter wurde die Ware angebetet und der Mensch darüber vergessen. Der Mensch nämlich, der diese Ware gemacht hatte. Ihr wisst, wieviel Schmerz eine Mutter zu erdulden hat, ehe das Kind geboren wird. Genau so viele Schmerzen sind aber um alle verarbeiteten Dinge in der Welt, um einen Tisch, um ein Messer, um ein Kleid oder um ein Hemd. In der Arbeitsschule habt ihr ja den Werdegang des Rohproduktes verfolgen können, seine große und vielfache Verwandlung aus dem unbeseelten Stoff zum lebendigen und herzklopfenden Gegenstand. Ehe die Arbeiter aber befreit wurden, waren die Tage und Jahre in der Fabrik große Qual. Heute reden wir so viel von der Arbeitsteilung und wissen, dass sie allein die Quelle des großen Überflusses ist, der über das ganze Land ausströmt, und der allen Menschen gehört. Früher war auch eine Arbeitsteilung da, eine grausam doppelte. Erstens wurde die schwarze und schmutzige Arbeit nur von den sogenannten Proletariern gemacht. Das waren Sklaven bis in das zwanzigste Jahrhundert hinein. Auch die Arbeit wurde zerteilt und zerlegt. Der Mensch hatte keine Übersicht mehr. Er war nur ein Rad oder Hebel in der Maschine einer großen Fabrik. Sein Geist verkrüppelte, und sein Leib verkam. Der schnelle Tod brachte Schwindsucht, Magenkrebs und Blutvergiftung. Im Ruhrgebiet, unserm heutigen elektrischen Kraftzentrum und Ölrevier, verunglückten in meiner Jugend jedes Jahr über tausend Bergleute tödlich.«

»Was du erzählst, Sommerschuh«, sagte der kleine Bernd, »war sicher dem Volk nicht bekannt. Es hat doch auch damals große Zeitungen gegeben, die darüber schreiben und die Welt aufklärten. Die das Menschenleben höher einschätzten als die Profitrate der Unternehmer. Ich denke, die Jugend muss aufgebrüllt und für die Neuordnung der Welt gekämpft haben.«

»Ja und nein, Roter Falke. Nicht alle Zeitungen schreiben darüber. Aber der Tod und auf der andern Seite das Leben ergänzten sich wohl nach geheimnisvollen Gesetzen. Wenn hundert Menschen starben, wurden hundertfünfzig neue Kinder geboren. Das Leben war mächtiger als der Tod, und wenn das Leben auch meistens nur ein Sterben auf lange oder kurze Sicht war. Und die Jugend? Es gab keine allgemeine Jugend wie heute, keine Blütezeit des Volkes. Die Jugend unsrer Tage war Klassenjugend, und wenn sie blühte, blühte sie rot oder weiß. Das heißt nämlich: die Arbeiterjugend war rot, und die Bürgerjugend war zum größten Teil weiß. Die weiße Jugend lebte ja auch von dieser verdammten Arbeitsteilung. Sie studierte an den Universitäten, um später die Macht im Staat zu übernehmen. Sie waren daran interessiert, dass alles beim alten blieb. Sie standen jenseits der Barrikade, wie man damals sagte, und schwärmten für die alte Zeit. Sie waren auch zum großen Teil heimlich bewaffnet. Sie beschimpften die Republik, sie hetzten die wenigen freiheitlichen Professoren halb zu Tode und hatten überall in den Staatsstellen ihre Gönner und Vertrauensleute. Als der Umsturz kam, lief ein großer Teil der weißen Jugend zu den Franzosen über, um den Aufstand mit fremder Hilfe niederzuwerfen. Aber auch die Genossen in Frankreich eroberten ihren Staat.«

»Ja, und dann wurden sie zurückgebracht, in die letzten Sümpfe und Ödländer gesetzt, und ihr habt ihnen das Arbeiten gelehrt«, lachte Bernd. »Und als sie erst hinter die Qualen der Geburt gekommen waren, wie du es nennst, Sommerschuh, da wurden viele von ihnen ganz richtige und tapfere Genossen. Du siehst, Barthel«, wandte er sich an einen Roten Falken, »da siehst du also, wie wundertätig auch die schwarze und schmutzige Arbeit ist.«

Nun erhob sich ein großes Gelächter, denn der Rote Falke Barthel war dafür bekannt, dass er der schwarzen und schmutzigen Arbeit gern aus dem Weg ging und lieber das Spiel der Vögel verfolgte und das Schwellen der ersten Blütenknospen leidenschaftlicher beobachtete als die strenge Ordnung im Bund der Roten Falken, der ein jeder unterlag, ob er nun die Blumen liebte oder die Arbeit an der Drehbank. Auch Sommerschuh stimmte in das Gelächter ein. Ehe das Signal zum Mittagessen rief, berichtete er noch von den andern Dörfern an der See und erzählte von Rügen und der kleinen Insel Hiddensee, auf der sich damals im Sommer die bekannten deutschen Dichter und Künstler gerne ansiedelten. Sommerschuh erzählte auch von der schweren Arbeit der Hochseefischer und von dem Kampf der Landarbeiter auf den großen Gütern. Die Roten Falken lauschten, und die Erzählungen des alten Mannes waren ihnen dasselbe, was den Kindern in früherer Zeit grausige Sagen und tolle Märchen waren.

Das helle Signal zum Essen riss die Roten Falken aus dem Klubhaus nach den Strandhallen. Auch Sommerschuh verließ das Haus. Er kam gerade noch zur rechten Zeit, um mit dem Luftexpress nach Berlin zu fahren. Die Zehnmillionenstadt Berlin lockte. Die Schiffsmaschinen sausten und sangen. Sommerschuh wurde müde und schlief ein. Und als er in Berlin aufwachte, in einem Eisenbahnzug und in keinem Luftexpress, da lächelte er schmerzlich. Ja, er kam vom Meer und war auf der Insel Usedom gewesen und hatte den donnernden Sturz schaumgekrönter Wogen nach dem weißen Strand erlebt, die unbeschreiblich schönen Buchenwälder und die geisthaften Dinge, die unsichtbar um die Wälder schwebten und dann in einem Traum lebendig wurden.

Dann riss er sich zusammen und sagte ein Gedicht auf, das er früher einmal geschrieben hatte:

Das Meer, das Meer, das weite Meer!
O wie die Brandung schäumt!
So ging mein Blut, das wilde Blut,
Als es vom Meer geträumt.
Das Meer, das Meer, das weite Meer!
Ich sag' es ohne Ruh',
Und meine Wanderseele sehnt
Sich seiner Heimat zu...


 << zurück weiter >>