Honoré de Balzac
Physiologie der Ehe
Honoré de Balzac

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Die anständige Frau

Die vorhergehende Betrachtung hat uns gezeigt, daß wir in Frankreich eine Durchschnittszahl von einer Million Frauen besitzen, die das Vorrecht ausbeuten, Leidenschaften einzuflößen, die ein galanter Mann ohne Scham eingesteht oder mit Vergnügen verbirgt. Diese Million Frauen müssen wir also mit unserer Diogeneslaterne beleuchten, um die anständigen Frauen unseres Landes herauszufinden.

Diese Untersuchung veranlaßt uns jedoch zunächst zu einigen Abschweifungen.

Zwei gutgekleidete junge Herren, die mit ihrer schlanken Figur und ihren vorgebogenen Armen wie die Rammjungfer eines Straßenpflasterers aussehen, und deren Stiefel von hervorragender Eleganz sind, treffen sich eines Morgens auf dem Boulevard bei der Panoramapassage.

»Schau, du bist's!«

»Jawohl, mein Lieber; ich seh' mir ähnlich, nicht wahr?«

Und ein mehr oder weniger geistreiches Lachen, je nach der Güte des Scherzes, der die Unterhaltung eröffnet hat.

Nachdem sie sich mit der Neugier eines Gendarms, der einen Arrestanten mit der Personalbeschreibung eines Steckbriefes vergleicht, gegenseitig gemustert haben; nachdem sie sich überzeugt haben, daß beiderseits Handschuhe und Westen tadellos neu, daß ihre Krawatten mit der ganzen Grazie der letzten Mode gebunden sind; und nachdem sie sich einigermaßen vergewissert haben, daß keiner von ihnen im ›Dalles‹ ist – gehen sie Arm in Arm den Boulevard entlang und sind noch nicht bei Frascati, so haben sie schon eine etwas knollige Frage aneinander gerichtet, deren freie Übersetzung lautet:

»Mit wem sind wir augenblicklich verheiratet?«

Allgemeine Regel: es ist stets eine reizende Frau.

Welchem Pariser Spaziergänger wären nicht Tausende von Worten, die die Luft durchschwirren wie Kugeln an einem Schlachttage, in die Ohren geklungen? Und wer hätte nicht von diesen unzähligen Worten, die nach Rabelais' Ausdruck in der Luft gefroren sind, das eine oder andere erhascht? Aber die meisten Menschen spazieren in Paris herum, wie sie essen, wie sie leben – nämlich ohne sich was dabei zu denken. Es gibt wenig geschickte Musiker, wenig geübte Physiognomiker, die die Tonart dieser verstreuten Noten festzustellen, die Leidenschaft, der sie entstammen, zu erkennen vermögen. Oh! In Paris herumstreifen – anbetungswürdiges und köstliches Dasein. Flanieren ist eine Wissenschaft, ist die Feinschmeckerei des Auges. Spazierengehen ist vegetieren; Flanieren ist leben. Die junge hübsche Frau, die jahrelang glühenden Augen zur Weide dient, könnte viel eher Anspruch auf eine Belohnung machen, als der Garkoch, der dem mit weit aufgeblähter Nase die nahrhaften Düfte einsaugenden Limousiner zwanzig Sous abverlangte. Flanieren heißt genießen, heißt geistreiche Beobachtungen einheimsen, heißt erhabene Gemälde des Unglücks, der Liebe, der Freude, anmutige oder komische Porträts bewundern, heißt seine Blicke in die Tiefen von tausend Existenzen tauchen – heißt, solange man jung ist, alles begehren, alles besitzen; heißt, wenn man alt ist, das Leben eines Jünglings führen, die Leidenschaften eines Jünglings empfinden. Wie viele Antworten auf die kategorische Frage, die uns zu dieser Abschweifung veranlaßte, hat nicht ein Flanierkünstler gehört!

»Sie ist fünfunddreißig Jahre alt, aber du würdest ihr keine zwanzig geben!« sagt ein siedendheißer junger Mensch mit funkelnden Augen, eben vom Gymnasium gekommen, der wie Cherubin alle Frauen küssen möchte.

»Was meinst du wohl! wir haben Batistmorgenröcke und Nachtringe mit Diamanten!« sagt ein Advokatenschreiber.

»Sie hat Pferd und Wagen und eine Loge im Français!« sagt ein Militär.

»Einer wie ich!« ruft ein anderer, etwas älterer, der, wie es scheint, auf einen Angriff antwortet; »mir kostet das keinen Sou! Wenn man ein Kerl ist wie ich! ... was würdest du an meiner Stelle anfangen, mein würdiger Freund?«

Und dabei gibt der Herr seinem Kameraden einen leichten Schlag mit der flachen Hand auf den Bauch.

»Oh! Sie liebt mich!« sagt ein anderer. »Und wie! – man kann sich keinen Begriff davon machen; aber sie hat den dümmsten Mann von der Welt. Ah! Buffons Beschreibung der Tiere ist ganz ausgezeichnet, aber der Zweifüßler, Ehemann genannt ...«

Wie angenehm es ist, so etwas zu hören, wenn man verheiratet ist!

»Oh! Mein liebet Freund, wie ein Engel!« ist die Antwort auf eine diskret ins Ohr geflüsterte Frage.

»Kannst du mir ihren Namen nennen oder sie mir zeigen?«

»O nein! sie ist eine anständige Frau.«

Wenn ein Student von einer Kellnerin geliebt wird, nennt er sie mit Stolz und führt seine Freunde hin, um bei ihr zu frühstücken. Wenn ein junger Mann eine Frau liebt, deren Mann mit allernotwendigsten Lebensbedürfnissen handelt, wird er auf eine solche Frage errötend antworten: »Sie ist Wäschenäherin, sie ist die Frau eines Buchbinders, eines Strumpfwirkers, eines Tuchhändlers, eines Kanzleirats« usw.

Aber dieses Geständnis einer in untergeordneten Kreisen sich bewegenden Liebe, die unter Warenballen, Zuckerhüten oder Flanellkamisolen aufgeblüht und groß geworden ist, begleitet stets eine pomphafte Lobpreisung des Vermögens der Dame. Nur der Mann befaßt sich mit dem Geschäft, er ist reich, er hat schöne Möbel; übrigens kommt die Herzallerliebste zu ihrem Liebhaber; sie hat einen Kaschmirschal, ein Landhaus usw.

Kurz, einem jungen Menschen fehlt es niemals an ausgezeichneten Gründen, um zu beweisen, daß seine Geliebte in allernächster Zeit eine anständige Frau werden wird, wenn sie es nicht bereits ist. Diese Unterscheidung, die durch die Eleganz unserer Sitten hervorgerufen wurde, läßt sich ebensowenig genau bezeichnen, wie die Linie, bei der der gute Ton beginnt. Was ist denn also eine anständige Frau?

Dieser Stoff steht in zu innigen Beziehungen zur Eitelkeit der Frauen, zur Eitelkeit ihrer Liebhaber, ja sogar zur Eitelkeit eines Ehemanns, als daß wir nicht hier die allgemeinen Regeln feststellen sollten, die das Ergebnis einer langen Beobachtung sind.

Unsere Million von Bevorzugten stellt eine Menge von Frauen dar, die zum glorreichen Titel einer anständigen Frau berufen sind – aber nicht alle werden auserwählt. Die Grundsätze, nach denen diese Auswahl sich vollzieht, sind in folgenden Denksprüchen niedergelegt:

Aphorismen

I. Eine anständige Frau ist notwendigerweise verheiratet.

II. Eine anständige Frau ist weniger als vierzig Jahre alt.

III. Eine verheiratete Frau, deren Gunstbezeigungen gegen Barzahlung käuflich sind, ist keine anständige Frau.

IV. Eine verheiratete Frau, die eigene Equipage hat, ist eine anständige Frau.

V. Eine Frau, die in ihrer Haushaltung ihre Küche selbst besorgt, ist keine anständige Frau.

VI. Wenn ein Mann zwanzigtausend Franken Rente verdient hat, ist seine Frau eine anständige Frau, einerlei, welcher Art von Geschäft er sein Vermögen verdankt.

VII. Eine Frau, die ›der Petroleum‹, ›ebend‹ statt ›eben‹, ›Marcht‹ statt ›Markt‹ sagt – kann niemals eine anständige Frau sein, einerlei, wie groß ihr Vermögen ist.Da es keinen Sinn hätte, die von Balzac ausgewählten Beispiele eines schlechten Französisch in der deutschen Ausgabe mitzuteilen, hat der Übersetzer sich erlaubt, dafür einige Ausdrücke zu geben, die in Berlin auch von Leuten gebraucht werden, die sich zu den ›Gebildeten‹ rechnen.

VIII. Eine anständige Frau muß in Vermögensverhältnissen leben, die es ihrem Liebhaber erlauben, zu denken, daß sie ihm niemals in irgendeiner Weise zur Last fallen werde.

IX. Eine Frau, die im dritten Stock wohnt – ausgenommen in der Rue de Rivoli und in der Rue de Castiglione – ist keine anständige Frau.

X. Die Frau eines Bankiers ist stets eine anständige Frau; aber eine Frau, die mit im Kontor sitzt, kann nur dann eine anständige Frau sein, wenn ihr Mann ein sehr ausgedehntes Geschäft betreibt, und wenn sie nicht über dem Laden wohnt.

XI. Die unverheiratete Nichte eines Bischofs kann – wenn sie bei ihm im Hause wohnt – für eine anständige Frau gelten, weil sie, um eine Liebesintrige zu haben, genötigt ist, ihren Onkel zu hintergehen.

XII. Anständig ist eine Frau, wenn man sie zu kompromittieren befürchtet.

XIII. Die Frau eines Künstlers ist stets eine anständige Frau.

Indem er diese Grundsätze zur Anwendung bringt, kann sogar ein Provinziale aus dem Departement Ardeche aller Schwierigkeiten Herr werden, die auf diesem Gebiet zutage treten.

Um nicht selber ihre Küche besorgen zu müssen, um eine glänzende Erziehung empfangen zu haben, um mit Gefühl kokett zu sein, um das Recht zu haben, ganze Stunden in einem Boudoir auf dem Sofa liegend zu verbringen und sich ihrem Seelenleben hinzugeben – braucht eine Frau zum mindesten ein Jahreseinkommen von sechstausend Franken in der Provinz oder von zwanzigtausend Franken in Paris ... Diese beiden Vermögensgrenzpunkte werden uns einen Anhalt geben, wie viele anständige Frauen sich in der als Bruttoergebnis unserer Statistik erhaltenen Million befinden: Dreihunderttausend Rentner mit fünfzehnhundert Franken jährlich beanspruchen die Gesamtsumme der vom Staatsschatz gezahlten Pensionen, lebenslänglichen und ewigen Renten.

Dreihunderttausend Grundeigentümer mit einem Einkommen von dreitausendfünfhundert Franken bedeuten den ganzen französischen Grundbesitz.

In die Ausgaben des Staatshaushalts teilen sich zweihunderttausend Bezieher von je fünfzehnhundert Franken, nachdem wir den Betrag der Staatsschuldverzinsung und der Besoldung der Geistlichen in Abzug gebracht und auch unsern Helden zu fünf Sous pro Tag ihren Sold und ihre Wäsche, Bewaffnung, Verköstigung, Bekleidung usw. bewilligt haben.

Zweihunderttausend Geschäftsvermögen von je zwanzigtausend Franken Kapital stellen alle industriellen Unternehmungen dar, die in Frankreich möglich sind.

Nun, da haben wir unsere Million Ehemänner!

Aber wie viele Rentner würden wir zählen, die nur mit zehn, fünfzig, hundert, zwei-, drei-, vier-, fünf-, sechshundert Franken Rente im Großen Buch usw. eingeschrieben stehen?

Wie viele Grundbesitzer gibt es, die nicht mehr als fünf, zwanzig, hundert, zweihundert oder zweihundertachtzig Franken Steuern bezahlen?

Wie viele arme Federfuchser nähren sich an der Staatskrippe, die nur ein Gehalt von sechshundert Franken haben?

Wie viele Geschäftsleute verfügen nur über ein fiktives Kapital? Sie genießen eines ansehnlichen Kredits, haben keinen baren Sou und sind mit Sieben zu vergleichen, durch die unaufhörlich der Goldstrom hindurchläuft. Und wie viele Kaufleute gibt es, die nur ein wirkliches Kapital von tausend, zweitausend, viertausend, fünftausend Franken besitzen? O Industrie – meinen Gruß!

Wir wollen mehr Glückliche annehmen, als es vielleicht gibt, und diese Million in zwei Teile teilen: fünfhunderttausend Verheiratete sollen eine Rente von hundert bis zu dreitausend Franken haben, und fünfhunderttausend Frauen würden die Bedingungen erfüllen, die unerläßlich sind, um sich zu den anständigen Frauen rechnen zu dürfen.

Nach den zum Schluß unserer statistischen Betrachtung angeführten Beobachtungen dürfen wir von dieser Zahl hunderttausend abziehen: man kann folglich als mathematisch bewiesen ansehen, daß es in Frankreich nur vierhunderttausend Frauen gibt, deren Besitz feinfühligen Männern die auserlesenen Genüsse verschafft, die sie in der Liebe suchen.

Hier müssen wir nämlich die Adepten, für die wir schreiben, auf etwas aufmerksam machen: Liebe besteht nicht aus einigen in traulichem Geplauder vorgebrachten Werbungen, aus einigen Nächten sinnlicher Lust, aus einer mehr oder weniger raffinierten Liebkosung, aus einem Funken von Eitelkeit, dem wir den Namen Eifersucht geben! Unsere vierhunderttausend Frauen gehören nicht zur Zahl derer, von denen man sagen könnte: »Das schönste Mädchen von der Welt gibt nur, was es hat.« Nein, sie sind reich mit Schätzen ausgestattet, die sie unsern glühenden Einbildungen darleihen; sie wissen teuer zu verkaufen, was sie nicht haben – und dies ist ein Ausgleich für die Gewöhnlichkeit dessen, was sie geben.

Empfindet ihr, indem ihr den Handschuh einer Grisette küßt, mehr Vergnügen, als wenn ihr jene Wonne von fünf Minuten auskostet, die euch irgendeine Frau gewährt? Kann die Unterhaltung eines Ladenmädchens in euch die Hoffnung auf unendliche Genüsse erwecken?

Im Verkehr zwischen euch und einer Frau, die unter euch steht, gehören alle Entzückungen der Eigenliebe ihr. Von dem Geheimnis des Glücks, das ihr spendet, habt ihr selber keine Ahnung. Im Verkehr zwischen euch und einer Frau, die durch ihr Vermögen oder ihre gesellschaftliche Stellung über euch steht, ist die kitzelnde Lust der Eitelkeit unermeßlich und wird zu gleichen Teilen geteilt. Ein Mann hat noch niemals seine Geliebte zu seiner Höhe emporheben können; aber eine Frau gibt ihrem Liebhaber stets den gleichen hohen Rang, den sie selber einnimmt. »Ich kann Prinzen zur Welt bringen, Sie aber werden stets nur Bankerte machen!« – das ist eine Antwort, die von Wahrheit sprüht.

Warum ist die Liebe die erste unter allen Leidenschaften? Weil sie ihnen allen zusammen schmeichelt. Der Grad unserer Liebe richtet sich nach der Anzahl der Saiten, die die Finger unserer schönen Geliebten in unserm Herzen erklingen lassen.

Der Goldschmiedssohn Biron besteigt das Bett der Herzogin von Kurland und bringt sie dahin, das Versprechen zu unterzeichnen, wonach er zum Herrscher des Landes erklärt werden soll, wie er bereits der Herrscher der jungen hübschen Herrscherin ist. Dies ist vorbildlich für das Glück, das unsere vierhunderttausend Frauen ihren Liebhabern verschaffen müssen.

Um sich aus all den Köpfen, die sich in einem Salon zusammendrängen, gleichsam einen Fußboden machen zu dürfen, muß man der Liebhaber einer dieser Elitefrauen sein. Herrschen aber wollen wir alle gern.

Auf diesen glänzenden Teil der Nation richten sich denn auch alle Angriffe der Männer, die durch Erziehung, Talent oder Geist Anspruch darauf haben, bei der Verteilung der menschlichen Glücksgüter, auf die die Völker stolz sind, berücksichtigt zu werden; und nur in dieser Klasse findet sich die Frau, deren Herz ›unser‹ Ehemann bis zum letzten Blutstropfen verteidigen wird.

Ob die Betrachtungen, zu denen unsere weibliche Aristokratie Anlaß gibt, sich auch auf die andern Gesellschaftsklassen anwenden lassen oder nicht – was macht das aus? Was für diese Frauen gilt, deren Benehmen, Sprache, Denken so gewählt ist; in denen eine exklusive Erziehung den Geschmack an schönen Künsten, die Fähigkeit des Fühlens, Vergleichens, Nachdenkens entwickelt hat; die einen so erhabenen Begriff von Schicklichkeit und Höflichkeit haben und für die Sitten Frankreichs tonangebend sind – was für diese gilt, das muß sich auch auf die Frauen aller Nationen und aller Rassen anwenden lassen. Der überlegene Mensch, dem dieses Buch gewidmet ist, besitzt notwendigerweise eine gewisse Gedankenoptik, vermöge deren er die Lichtabstufungen in jeder Klasse verfolgen und erkennen kann, bis zu welchem Grade von Zivilisation jede einzelne Beobachtung noch ihre Wahrheit behält.

Ist es also nicht von hohem Interesse für die Moral, wenn wir jetzt versuchen, die Anzahl der tugendhaften Frauen festzustellen, die sich etwa unter diesen anbetungswürdigen Geschöpfen befinden? Liegt darin nicht eine marito-nationale Frage?


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