Honoré de Balzac
Lebensbilder - Band 1
Honoré de Balzac

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Schluß- und Nutzanwendung

»Aber, lieber Raphael, das Abendessen ist aufgetragen, Herr und Madame Rastignac warten schon seit einer Stunde. Ist es recht, dir Gäste zu bitten, die ich unterhalten muß?«

»Nur einen Augenblick, Pauline – so – nun bin ich fertig!« Er legte bei diesen Worten die Feder hin, stand auf, umarmte seine reizende Gattin und war hochvergnügt.

»Hast du den garstigen Traum vom Elendsfell, wie ich dich gebeten, ausgelassen?«

»Nein, liebes Kind. Ich schrieb alles, wie ich's dir erzählte.«

»Also ein Märchen und ein häßliches, mitten in der Wirklichkeit!«

»Haben unsere Flitterwochen nicht auch für dich Märchenhaftes? – Wer besitzt eine Gattin wie Pauline und wagt's, seines ersten Glückes Hochgefühle im Tone einfacher Wirklichkeit auszudrücken?! Übrigens, mein Kind, war mein anfängliches Leben so bunt und bewegt, daß die bloße Herrechnung meines späteren Glücksfalls sich matt und farblos dagegen ausnehmen muß. – Der Schmerz ist einmal die Tiefe der Poesie. Er ist die Bedeutung des Lebens; in dem meinigen zog er sich freilich aus den äußern Umgebungen ganz in mein Inneres hinein, darum mußte ich zum Phantastischen und Märchenhaften die Zuflucht nehmen, um ihn sichtbar zu machen, um Haltung und Zusammenhang in das ganze Bild zu bringen. – Bedenk' nur, am Abend, wo ich Lust hatte, in die Seine zu springen, begegnen mir drei Freunde, führen mich verhungert und verschmachtet zu einem glänzenden Gastmahl, und dort erfahre ich den Tod eines längst verloren geglaubten Oheims und werde unmäßig reich. – Der Vorfall an sich ist trivial, er steht widersprechend und störend zu meinem früheren zusammenhängenden Schicksal, er ist ein unziemlicher Deus ex machina, der die Erzählung nicht beschließt, sondern nur verlängert. Die dichterische Auffassung des Lebens kann sich mit den Spielen eines rohen Zufalls nie befreunden. Der Vorfall hatte, wie gesagt, mein inneres Leben im höchsten Grade begünstigt; dieses beginnt, aber es führt mich zu keinem Glücke, bis ein eben so willkürlicher Zufall dich mir entgegenführte. Gedenke auch jenes Morgens, an welchem sich zuerst deine Zunge löste, die dein ganzes teures Wesen, und in deinem Wesen einen Himmel, mir erschloß, und wie du mir erklärtest, daß das Wunder, welches dich so bald und schön zur Jungfrau erblühen machte, die Liebe zu mir sei.«

»Und wie du, zum Lohne dafür, im selben Augenblick mich sterben läßt!«

»Ja! denn du gewannst einen so rührenden, tieffesselnden Reiz, dein seelenvolles Leben ward in diesem Augenblick etwas so Tragisches, Überirdisches, was auf Abschließung dringt. – Ich kann dich nur als tragische Figur in meinen Poesien gebrauchen.«

»O Raphael, so ist der Ungestüm deiner Empfindung noch immer nicht durch Vernunft und Ergebenheit gemildert, wie du mich glauben machen willst!«

»Er ist's! – Laß der Poesie ihre Rechte, mich hast du ja zum besseren Menschen gemacht. Sieh, meine rasende Ehrbegier hat sich auf redliche Tätigkeit beschränkt. Ich lebe nicht mehr ganz und gar im Dichtertum, durch dich hat auch die Wirklichkeit Reiz für mich. Oh, es ist so verführerisch, sich in die selbstgeschaffenen Träume zu versenken, der Welt zu entsagen und nur den Einflüsterungen der Muse zu gehorchen: und es ist gefährlich, denn es führt zu Aberwitz und Verzweiflung. Wohl dem, den so holde poetische Wirklichkeit stets umgibt, erweckt und verjüngt!« – Innig umarmte er sein Weib.

»Aber ist es recht, daß du die Geheimnisse unserer Liebe der Öffentlichkeit hingibst?«

»Närrchen, als ob die Welt es erriete! Solange man nicht die Kleider beschreibt und Gesicht und Wuchs samt allen üblen Angewohnheiten porträtiert, hat's keine Gefahr. Aus den Gedanken und Empfindungen erkennt man jetzt so wenig den Menschen, als man an diesen Gedanken und Empfindungen merkt. Wäre dies nicht, so dürften Herr und Madame Rastignac zürnen, ja, vor Gericht mich verklagen.«

»Denkst du, sie erkennen sich nicht in ihrer Pseudonymität?«

»Sie nicht! denn wer so in der Gefühlsfalschheit die Gefühlswahrheit zu finden glaubt, erkennt sich nicht im Spiegel. Er ist ein Schelm, und wie seine Schelmerei ihn freut, wird auch sein wohlgetroffnes Bild ihn ergötzen.«

»So laß uns zu Ihnen!«

»Fast möchte ich noch verweilen, um unser Gespräch meinem Werke hinzuzufügen: es fehlt noch zu seiner Vollständigkeit.«

»Und mit einem Male soll alles wieder Wirklichkeit sein! Lieber Mann, du nimmst dir große Freiheiten!«

»Dafür, liebes Kind, ist die Welt liberal, und mit der Freiheit geht sie um wie mit der Poesie, das heißt: Beide bestehen heut darin, daß sie sich Freiheiten herausnehmen und dafür sich begeistern. – Fragt man mich einmal nach meiner Gesinnung, so werde ich antworten: Ich bin sehr republikanisch gesinnt, wenn das ganze Volk Verstand hat; ich bin sehr aristokratisch gesinnt, wenn die Bessern im Volke Verstand haben, und sehr monarchisch, wenn der einzige im Volke ihn hat. Aber ich bin nicht republikanisch gesinnt, wenn das ganze Volk noch niemals Verstand bewiesen, nicht aristokratisch, wenn die Bessern im Volke mit ihrem Verstande Bankrott machen, weil sie mehr brauchen als haben, und nicht monarchisch, wenn der einzige im Volke seinen Verstand verloren und sich schämt, den Verlust bekanntzumachen. Unsere ganze Nation ringt nach Gleichheit. Aber die Gleichheit ist da; jedermann ist jetzt gleich verrückt, daher ist jede Partei mit sich selbst zufrieden und zuckt die Achseln nur über die Gegenparteien.«

»Über seine ganze Nation so zu reden, ist aber doch! –«

»Unverschämt! das ist zeitgemäß. Unverschämtheit ist jetzt Losung, und jeder ist's, bis auf die, welche energisch sein sollten, aber es noch nicht bis zur Unverschämtheit gebracht haben. Der dümmste Bauer im Lande wirft sich jetzt zum Kunstkenner, Staatsmann und Religionslehrer auf: alles pfuscht und raisoniert in den Tag hinein und schwatzt und urteilt und verachtet. Man hat aufgehört zu glauben und zu verehren. Nur denen glaubt man noch, die diesen allgemeinen Unsinn gutheißen und das schlimmste Beispiel der Verächtlichkeit gewahren. – Ich habe einst mit dem Schöpfer gehadert, daß er mich zu einer Zeit schuf, wo Dichter und Schriftsteller so verachtet werden; jetzt erkenne ich darin die weise Einrichtung der göttlichen Vorsehung. Was sollte daraus werden, wenn man unsere Schriftsteller zu achten, zu verehren anfinge, die von Gott, Menschen, Weltleben, von ihrer Kunst und alten Mustern nur wissen, was ihnen selbst darüber einfällt? – Drum will ich getrost in dieser Zeit dem Dichterruhm entsagen. Mein Streben sei, im Hause glücklich zu sein; denn auch das wird in unserm liberalen Lande immer seltener. Bald wird man nicht mehr wissen: wer ist Hausvater, Hausfrau, Kind, Diener, Magd!« –

 


 


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