Honoré de Balzac
Lebensbilder - Band 1
Honoré de Balzac

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Drittes Blatt

Ich hatte früher schon eine Übersetzung des »Sturm« von Shakespeare, der »Runenburg« und des »Liebeszauber« von Tieck und der »Melusine« von Goethe begonnen. Es war ein schwieriges Unternehmen. Ich ließ es liegen, weil es meine Kräfte zu übersteigen schien, doch mit erneutem Mut dachte ich jetzt an diese Arbeiten. – Balzac bürgte mir dafür, daß Frankreich nicht ganz poetisch verwahrlost sei. Ich versprach mir Erfolg; wo nicht, so hat doch mancher Maler sich gebildet, indem er die Muster seiner Kunst kopierte. Übersetzen ist Kopieren. Doch nur in Paris durfte ich hoffen, mein Dichtertalent geltend zu machen, und im schlimmsten Falle verließ ich mich auf meine 11 120 Franken.

Mit freudig schwindelndem Kopfe und hochschlagendem Herzen durchirrte ich ganz Paris, besonders aber die entlegensten Winkel, um eine Wohnung mir zu suchen, freundlich, frei und angemessen meinem Leben und meiner Beschäftigung. So kam ich eines Abends in die Rue des Cordiers. Der Himmel war heiter, die Lüfte wehten lau; vor allen Türen saßen Männer und Weiber auf Bänken, Stühlen, schwatzten miteinander oder arbeiteten. Woher diese Dorfsitte, fragte ich, mitten in Paris? Aber die Straße war vollkommen einsam und entlegen. An der Ecke der Straße Cluny spielten mehrere Kinder Federball. Ein kleines Mädchen von etwa vierzehn Jahren zog besonders alle Blicke der Nachbarn wie auch die meinigen auf sich. Es gibt eine Mädchenschönheit, in ihrer Unreifheit der Formen himmlisch, weil sie dem frischgefallenen Schnee, dem diamantklaren Eise gleicht, das, einmal nur erwärmt, den Glanz der Makellosigkeit verliert. Es gibt keine Göttin der Unschuld, sonst hätte ich diesem Mädchen ihren Namen gegeben. Jawohl! die Bildnerkunst muß bei der Natur in die Schule gehen, wenigstens die Gestalt der Unschuldsgöttin kann sich nur in natürlicher Naivheit zeigen, wo obendrein jede freudige Bewegung, jedes Lächeln des Kinderglücks zur Bestätigung ihres Wesens dient. Man liebte dies kleine Wunder, wie man es sah, aber leidenschaft- und fast empfindungslos: man betrachtete es mit einer Regung von Zärtlichkeit, aber sein eigen wagte niemand es zu nennen. Unschuld ist überhaupt ein schwierlges Künstlergefühl.

Während ich so denkend dastand, fiel mir ein, daß Rousseau in dieser Straße gewohnt haben müsse. Ich suchte nach dem Hotel St. Quentin, aber ich stand davor. Es schien sehr verfallen, und sicher konnte ich ein billiges Stülbchen in demselben finden.

Ich betrat ein niederes Gemach. Blankgescheuerte kupferne Leuchter mit ihren Lichtern versehen, und die Schlüssel daneben, hingen in der Reihe an den Wanden. Überall herrschte Reinlichkeit und Ordnung, das Ganze, mit seinen Möbeln, Geräten, dem blauen Bett und den altertümlichen Vorhängen, gewährte den Anblick eines Genregemäldes. Ich hatte nach der Wirtin gefragt, und eine Frau von etwa vierzig Jahren erhob sich und kam mir entgegen. In ihren Zügen lag tiefer Gram und Leid, und ihr Auge schien durch vieles Weinen verfinstert. Ich sagte ihr, zu welchem Preise ich ungefähr wohnen möchte. Sie schien über die geringe Angabe nicht verwundert und suchte still nach einem Schlüssel.

Sie führte mich mehrere Treppen hinauf in ein Zimmer mit einer weiten Aussicht über Dächer, Hotels mit finstern Höfen und deren Nachbargebäuden, über Grasplätze, bedeckt mit Wäsche zum Bleichen, und auf einen großen, weiten Himmel. Die Wände waren durch die Biegung des Daches unregelmäßig, aber sie gewährten Raum genug für ein Bett, einen Tisch und Stühle. – Ich hatte meine Heimat gefunden.

Die kleine Pauline, so hieß das liebe Kind, welches gleichsam mich hierher gebracht, war die Tochter meiner Wirtin. Ihr Anblick gewährte mir, so oft sie mir auch erschien, Freude, und dies freute wiederum sie und ihre Mutter. Beide gewannen mich lieb. Pauline ließ es sich schon nicht mehr nehmen, alle kleinen Dienste um mich zu verrichten; auch die Mutter fing an, als ihren Schützling mich mit allem auf beste zu versorgen und war auf keine Weise zu bewegen, einen Lohn dafür anzunehmen.

Eines Abends erzählte mir Pauline mit kindischer Offenheit ihre Geschichte. Ihr Vater, Rittmeister der Grenadiers à cheval der kaiserlichen Garde, ward an der Beresina von den Russen gefangen. Napoleon wollte ihn auswechseln, vergebens aber suchten ihn die russischen Behörden in Sibirien. Nach der Aussage einiger Mitgefangenen war er entkommen und sollte den Vorsatz gefaßt haben, nach Indien zu gehen. Seitdem hatte Madame Gaudin, so nannte sich meine Wirtin, nichts von ihm gehört. Die unglücklichen Jahre von 1814 und 1815 hatten ihr all ihr Vermögen geraubt. Sie mußte, um sich und ihre Tochter zu ernähren, ein Hotel garni mieten, hoffte aber immer noch ihren Mann wiederzusehen. – Ihr größtes Leid war, daß Pauline nicht eine ihrem ehmaligen Stande gemäße Erziehung genoß. Die Prinzessin von Borghese war ihre Patin, so vertraute mir Madame Gaudin und fügte mit bitteren Tränen hinzu: »Pauline entspricht wahrlich einem Schicksal, wie solche Beschützerin es ihr gewähren konnte, und gern gäbe ich den Adelsbrief darum, der meinen Mann zum Reichsbaron macht, gern die Rechte, die wir noch an das Gut Witschnau haben, könnte ich nur mein Kind zu St. Denis erziehen lassen. O Gott! – lebte nur der Kaiser noch!«

Jetzt sah ich eine Gelegenheit, für so viel mir erwiesene uneigennützige Sorgfalt mich dankbar zu zeigen. Ich beschloß, Paulinen zu unterrichten. Am ersten paßlichen Abend beschäftigte ich mich nur oberflächlich und gesprächsweise mit ihr; aber es reichte hin, ihr die Lust zu wecken, alle die Eigenschaften, die den Augen der Mutter so begehrenswert erschienen, sich anzueignen. Ohne weitere Verabredung stellte sie sich am folgenden Abend wie von ohngefähr wieder ein und so fort, bis uns allen eine Gewohnheit daraus ward. – Ich hätte damals nie gedacht, einst von ihr belehrt werden zu können, obschon ich oft, sie lehrend, lernte.


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