Honoré de Balzac
Lebensbilder - Band 1
Honoré de Balzac

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III. Die Gutherzige

An einem regnerischen Dezembertage wanderte ein mindestens sechzigjähriger Greis durch die Rue de Varennes und blieb, des schlechten Wetters ungeachtet, vor jedem Hotel stehen, um nach der Adresse des Herrn Marquis von Valenti emsig zu forschen. Der Alte schien von Leiden nicht minder als von Jahren niedergebeugt, und in den Runzeln und Furchen seines vom langen, greisen Haare spärlich umflatterten Angesichts lag Beharrlichkeit, Ernst und Starrheit. Er hatte endlich sein Ziel gefunden und pochte an die Pforte eines prächtigen Hotels.

»Ist Herr Raphael zu Hause?« fragte er den betreßten Schweizer: dieser tauchte eine bedeutende Butterschnitte in eine große Bowle Kaffee, schob sie lüstern in den Mund und gab schmatzend zur Antwort: »Der Herr Marquis empfangen niemand.«

Der Alte deutete auf eine völlig angeschirrte Equipage, die unter einem hölzernen, zeltartigen Schauer hielt: »Da steht sein Wagen,« sagte er, »ich will warten, bis er einsteigt.«

»Da könnt Ihr bis morgen und noch länger warten,« erwiderte der Schweizer. »Ein Wagen steht beständig für den Herrn ln Bereitschaft, wenn er auch nicht ausfährt. Aber geht! geht, guter Vater, ich bitte Euch sehr, denn ich verliere eine Leibrente von jährlich 600 Franken, wenn ich ohne seinen Befehl jemanden einlasse.«

Indem erschien ein alter, in feines Schwarz gekleideter Diener und schritt hastig und lautlos die mit Decken belegten Treppen herab, überhaupt herrschte lm ganzen Palast eine unheimliche Stille.

»Da ist Herr Jonathan,« sagte der Schweizer, »reden Sie mit dem!«

Jonathans ernstes Ansehen schien mit dem Geheimnis des öden Palastes in naher Beziehung zu stehen. Als Raphael nämlich die unermeßliche Erbschaft seines Oheims erhoben hatte, war es seine erste Sorge gewesen, jenen alten Diener, der so wohlwollend damals ihm riet: »Seien Sie nur recht sparsam, Herr Raphael!« auszufinden und zu sich zu nehmen. Jonathan weinte vor Freude, seinen jungen Herrn wiederzusehen, was er nimmermehr gehofft, und weinte vor Freude, als dieser ihm die wichtige Funktion eines Intendanten übertrug. Seitdem schaltete er über das ganze Vermögen seines Herrn, übte dessen Befehle blindlings, streng und pünktlich aus und war gleichsam der Vermittler zwischen diesem und der Welt, Raphaels sechster Sinn, der ihn mit den Erscheinungen des Lebens in Beziehung brachte.

Der greise Diener und der greise Fremde betrachteten sich aufmerksam und nicht ohne Überraschung. Sie schienen sich zu kennen.

»Mein Herr, ich wünsche sehr, den Herrn Marquis zu sprechen.«

»Sprechen? den Herrn Marquis? das darf ich kaum, mein Herr! und habe ihn doch auferzogen, und meine Frau hat ihn gesäugt!«

»Aber auch ich habe ihn auferzogen, mein Herr, und wenn Sie ihn an die Brust Ihrer Frau gelegt, so legte ich ihn an die Brüste der Weisheit und der Musen.«

»Wären der Herr etwa Herr Professor Perriguet?«

»Freilich! aber, mein Herr –!«

»Stille!« rief Jonathan in die Küche hinein, wo zwei Mägde sich viel zu laut für das heilige Schweigen des Hauses machten.

Befremdet über die Geheimnisse, fragte der Greis: »Der Herr Marquis sind doch nicht krank?«

»Bester Herr Perriguet,« nahm Jonathan wieder das Wort, »weiß der Himmel, was ihm fehlt. Vor etwa zwei Monaten kaufte er dies Haus, ein Herzog und Pair hatte es vor ihm besessen. Für das Ameublement gab er dreimalhunderttausend Franken aus. Eine schöne Summe, dafür ist aber auch jedes Zimmer ein Wunder. Gut, dachte ich bei mir, er macht's wie der selige Herr, sein Vater, und wird den ganzen Hof, die ganze Stadt bei sich sehen. Aber nein! niemand sieht er bei sich und führt ein seltsames und unbegreifliches Leben. Täglich steht er zur selben Stunde auf, nur ich darf seine Gemächer betreten, und winters und sommers öffne ich Punkt sieben Uhr und sage: ›Herr Marquis, Sie müssen aufstehen und sich ankleiden.‹ Dann reiche ich ihm seinen Schlafrock, lege ihm die Zeitungen stets auf denselben Fleck, barbiere ihn zur bestimmten Minute, und der Koch würde sein Gehalt verlieren, wenn nicht Frühstück und Diner präzis auf dem Tische stehen. Ist das Wetter gut, so komme ich und sage: ›Herr Marquis, Sie müssen ausfahren!‹ worauf er dann antwortet: ja oder nein; sagt er ja, so steht hier schon sein Wagen, und die Pferde sind angeschirrt: der Kutscher wacht unerbittlich mit der Peitsche daneben, wie Sie hier sehen. Punkt acht Uhr ist er wieder zu Hause, und Punkt elf geht er zu Bette. Die übrige Zeit hindurch liest und schreibt er immerwährend. Ich muß alle neuen Werke kaufen, damit er sie am Tage ihres Erscheinens auf dem Kamin finde; von Stunde zu Stunde muß ich nach dem Feuer sehen und nach allem, damit es schon da ist, bevor er's begehrt. Ich habe ein kleines Büchlein, worin all meine Funktionen verzeichnet stehen, und das ich wie den Katechismus auswendig gelernt habe. Sommers muß ich durch Eisstücke die Luft kühlen, winters die stets gleichmäßige Temperatur erhalten und von Zeit zu Zeit überall frische Blumen hinstellen. Ach! man sollte es kaum glauben, wie weit er seine Sonderbarkeit treibt! – So zum Beispiel liegen seine Gemächer alle in einer Reihe, und keine Tür hat eine Klinke; wie er auf die Schwelle tritt, öffnen sie sich durch Springfedern, und wenn eine Tür sich öffnet, öffnen sich alle, und er spaziert, ohne eine Tür zu öffnen, durch alle seine Zimmer. Das ist bequem, nicht wahr? Je nun, er ist reich, er hat an 1000 Taler täglich zu verzehren. Das arme Kind, er weiß auch, was Armut ist, es fehlte ihm eine Zeitlang am Nötigsten. Und sehen Sie nur, er ist so gut, er hindert niemanden, man hört kein lautes Wort von ihm. Welche Stille zum Beispiel hier im Hause, hier im Garten, und doch geht alles seinen richtigen, pünktlichen Gang. Aber, Herr Perriguet, Freude werden Sie nicht an Ihrem Schüler erleben. Er hat so manche ausländische Sprache bei Ihnen gelernt und konnte ehemals, wie die Apostel zu Pfingsten, in allen Zungen reden. Aber was hilft das, er gewöhnt sich das Sprechen ganz ab; wenn's so fort geht, müssen Sie von vorn wieder mit ihm anfangen.«

»Nicht doch,« fiel der Professor ein, »Sie sagen ja, der Herr Marquis liest und schreibt den ganzen Tag.«

»Freilich und kümmert sich um nichts, denn ich bin gleichsam Herr im Hause. ›Jonathan!‹ sagte er im Anfang zu mir, ›sorge für mich wie für ein Kind in den Windeln. Denk du an alle meine Bedürfnisse, damit ich es nicht brauche.‹ Warum? Er ist Herr, und ich bin Diener, mehr begreife ich nicht davon, und das übrige mag Gott wissen.«

»Er dichtet!« rief der alte Professor.

»Meinen Sie? Aber er sagt ja, daß er ein Pflanzenleben führe! Neulich brachte ich ihm eine kostbare Tulpe, aufmerksam betrachtete er sie – es war gerade beim Ankleiden – und sagte: ›Mein armer Jonathan, sieh da mein Leben!‹«

»Dies alles, Herr Jonathan, beweist mir,« sagte der Professor mit pedantischer Strenge, der Jonathan großen Respekt erwies, »daß Herr Raphael, mein Zögling, wie ich mir zu Ruhm und Ehre schätze, carus alumnus, wie der Lateiner sagt, gegenwärtig an einem großen und wichtigen Werke arbeitet; weil er sich in dasselbe vertieft, will er mit den alltäglichen Lebenssorgen nichts zu schaffen haben, denn ein Gelehrter vergißt über seinen Gedanken alles. Der berühmte Newton –«

»Newton, Newton! so heißt keiner der Bekannten meines Herrn!«

»Newton«, nahm der Professor das Wort, »war ein großer Philosoph und Mathematikus –«

»Ganz richtig! Ich kenne ihn also nicht!«

»– und hatte einst, sein Haupt gestützt auf den Ellenbogen, vierundzwanzig Stunden in Nachdenken verbracht, als er endlich aus demselben erwachte; er glaubte, noch am gestrigen Tage zu leben, und konnte es nicht begreifen, daß man ein Datum weiter zählte.«

»Das konnte ein so großer Gelehrter nicht begreifen?«

»Je nun! weil er ganz in Gedanken vertieft dagesessen hatte und aus denselben wie aus einem Schlafe erwachte. Aber ich will zu meinem Zögling, denn ich werde ihm nützlich sein können.«

»Einen Augenblick!« rief Jonathan, »und wären Sie der König von Frankreich, ich meine den neuen, so kämen Sie nicht hinein, ohne die Tür zu sprengen oder einen Weg sich über meine Leiche zu bahnen; aber ich will zu ihm und sagen: Professor Perriguet! dann sagt er ja oder nein. Niemals sage ich: befehlen Sie, wünschen Sie, wollen Sie; dergleichen Worte sind aus unserer Haussprache gestrichen, und da mir etwas Ähnliches einmal entfuhr, fragte er mich zornig: ›Soll ich vor Langeweile umkommen?‹ – Seitdem aber bin ich auf meiner Hut.«

Ohne Umstände ließ hierauf Jonathan den Professor stehen, dem all das Gehörte zu folgenden Gedanken Anlaß gab: »Ohne Zweifel hat der Stil meines Eleven eine Tacitanische Gedrungenheit. Je nun, er ist reich, und Tacitus war es auch. Wir armen Schulmänner, die wir von unseren Schriften leben und nach dem Bogen bezahlt werden, müssen uns schon der Ciceronianischen Schreibart befleißigen.«

Jonathan kehrte bald mit einem günstigen Bescheid zurück und geleitete den Alten zu einer Reihe kostbarer Gemächer, deren Türen alle offen standen. Im letzten gewahrte der Professor seinen Schüler an der Ecke eines Kamins im weichen Armstuhl sitzen. Er erhob das Auge von dem Buche, worin er las: ein klares Auge voller Güte, Liebe und Leid, dessen leuchtende Blicke wohl und weh taten.

»Sieh da, Vater Perriguet!« sprach er zu seinem alten Lehrer. »Nun, wie geht's?«

»Mir ziemlich gut, jedoch Ihnen?»

»Je nun! ich hoffe, wohl!«

»Sie haben ohne Zweifel ein großes Werk unter Händen?«

»Es ist vollendet!«

»Und mit der barbarischen Sprache jener neueren Schule haben Sie doch sicher nichts zu schaffen?«

»Ich folge den Eingebungen meines Innern!«

»Gut gesagt! Demungeachtet, liebes Kind, ist ein lauterer, fließender Stil, die Sprache des Fenelon, des Herrn von Buffon und Racines, immer etwas sehr Wesentliches und Notwendiges.«

»Aber was führt Sie zu mir?« unterbrach ihn Raphael mit gerunzelter Stirn.

Er warf einen Blick auf das Elendsfell. Seinem Sitze gegenüber war es auf einem roten Tuche angebracht, und eine schwarze Linie umgab seine wunderlichen Umrisse, um jede Verminderung sogleich merklich zu machen. So sollte der fürchterliche Talisman stets ihn mahnen, seine in Wünschen verschwendete Zeit nachzuholen, um geltend zu machen, was der Himmel ihm an Talent und Geist verliehen. Er war schon gewöhnt worden, in jedem Augenblick würdig sich beschäftigt zu wissen, und jener Alte führte ihm wieder die ganze Unbedeutendheit des Lebens vor Augen. Er bereute es schon, ihn vorgelassen zu haben, hätte ihn gern dahin gewünscht, wo der Pfeffer wächst; aber das drohende Elendsfell verwies ihn mit unerbittlicher Strenge zur Geduld, und er wagte es nicht einmal zu seufzen.

»Ja, mein Kind!« antwortete der Professor, »fast hätte ich vergessen, was mich zu dir führt, und welch ein Zweck meinem Besuche zugrunde liegt.« Hiermit begann er eine lange Erzählung, welchen Verfolgungen er seit der Julirevolution ausgesetzt war. Der gute Mann wollte eine kräftige Regierung und hatte den frommen Wunsch geäußert: die Gewürzkrämer möchten auf ihre Kontore, die Staatsmänner ans Ruder der Geschäfte, die Advokaten auf ihre Bänke und die Pairs in den Palast Luxembourg zurückkehren. Ein populärer Minister des Bürgerkönigs hatte ihn deshalb des Karlismus beschuldigt, ihn vom Katheder verbannt und ihn amt-, brot- und hilflos gemacht. Das alles schilderte er mit weitschweifiger Eleganz und Genauigkeit und mit jenen rednerischen Umschreibungen, woran seine lange Professur ihn gewöhnt. Er wollte nicht einmal in seine Stelle wieder eingesetzt werden, sondern nur das Rektorat in einer fernen Provinz, und nicht einmal seinetwegen, sondern seines Adoptivsohnes wegen, der, unversorgt, bisher bei ihm gelebt und jetzt mit ihm darbte. Sein ehemaliger Schüler konnte vielleicht ein gutes Wort bei dem Minister für ihn einlegen.

Mit vollkommener Resignation hatte Raphael bis hier ihm zugehört. »Wie aber kann ich Ihnen helfen?« unterbrach er den Flehenden, »ich stehe in keiner Beziehung zu dem neuen Minister.«

»Ach, wenn du nur wolltest!« sprach der Greis, wehmütig den Kopf schüttelnd.

Mit gutmütigem Eifer rief Raphael: »Kennen Sie mich noch nicht besser, Vater Perriguet? Denken Sie, ich lasse mich bitten, wenn mein Wille was vermag? In diesem Falle, seien Sie versichert, hätten Sie heute, spätestens morgen Ihre Bestallung.«

Mit einem plötzlichen Schrei unterbrach er sich. Das Elendsfell vor seinen Augen zeigte ihm einen Streif zwischen seiner Kante und der schwarzen Linie.

»Zum Henker mit dir, alter Geck!« rief er dem Greise zu, und der Zorn hatte sein Gesicht zu Marmor erstarrt, seine Augen wetterleuchteten. »Ja, freilich wirst du nun Rektor werden, doch hättest du eine Leibrente von 10 000 Talern gefordert, ich hätte sie dir lieber gegeben, und es hätte mich nichts gekostet – zum Teufel, es gibt hunderttausend Ämter in Frankreich, und ich habe nur ein Leben, und wiegt nicht ein Menschenleben alle Ämter der Welt auf? Jonathan!«

Jonathan kam.

»Schurke! halbtot sollte ich dich prügeln und fortjagen. Was führst du jenes graue Scheusal her, das mir mein Leben stiehlt? Noch ein solcher Streich, und du kannst mich dahin geleiten, wohin ich meinen Vater geleitet.«

Scheu und zitternd standen beide Greise vor dem Wütenden. Aber sein Zorn war gebrochen, er sank in seinen Sessel zurück, schlug die Hände vor die Augen und klagte heftig weinend: »O du schöne Lebenszeit! – Saatenschoß menschlicher Größe und Unsterblichkeit, o gottgegebenes Leben, dessen wert zu sein, das höchste Ziel unserer Tätigkeit heißt! Ich strebte nach der Grabschrift: er hat nicht umsonst gelebt, und es wird von mir heißen: er hat gar nicht gelebt. Nun denn, gehe es, wie es mag! Ich bin einer fürchterlichen Macht anheimgefallen, sie feindet das Höchste in mir an, und trotz ihrer Übermacht foppt sie mit kleinlichem Hohne. Nun, es sei! da niemand doch seinem Schicksal entgehen kann!«

Sein Blick fiel auf die Anwesenden, die immer noch erstaunt und furchtsam dastanden.

»Ich sehe,« fuhr er fort, »Ihr begreift nicht, was mich bewegt, und haltet mich für rasend. Je nun! das Übel ist einmal geschehen. Morgen oder heut, Herr Perriguet, werden Sie Rektor. Gehen Sie, Mann des Unglücks! Jonathan, füg' eine reiche Gabe hinzu, daß ihn zeitlebens kein Mangel mehr nötigt, meine Fürsprache zu erbitten.«

Es lag soviel Milde in Raphaels Stimme, und der plötzliche Übergang von grenzenloser Wut zur sanften Herzensgüte war so rührend, daß beiden Greisen Tränen in den Augen standen. Auf den Lippen des Professors schwebte schon eine klassische Dankrede, aber mit komischer Besorgnis hielt ihm Jonathan den Mund zu und schleppte ihn mit Gewalt durch die ganze Zimmerreihe fort, so sehr er sich sträubte und durch Gestikulation auszudrücken suchte, was sein Mund gehindert war auszusprechen.

Dem Befehle seines Herrn gemäß händigte Jonathan draußen dem Professor eine Rolle mit 100 Louisdor ein. »Mein armer Zögling!« rief Perriguet gerührt, »trotz seinem Wahnsinn hat er ein gutes Herz, und sein Wahnsinn dient gleichsam zur Folie desselben, als Kontrast krankhafter Wildheit mit einem gesunden Herzen auf dem rechten Fleck. Im Grunde ist es nicht Wahnsinn, was ihn quält, sondern nur eine fixe Idee, und es gibt viele Beispiele von Gelehrten, die in allen andern Stücken ganz vernünftig waren, nur wenn sie auf einen gewissen Punkt zu sprechen kamen, sich als Narren erwiesen. Schon zweihundert Jahre etwa vor Christi lebte in Rom –«

»Stille, stille, guter Vater!« unterbrach ihn Jonathan, »habt Ihr nicht gehört, wie mein Herr gesagt – Ihr stehlt mit Euern Reden den Leuten die Lebenszeit? Ich bin ein alter Mann und habe auch kein Leben überflüssig. Übrigens seid Ihr hier in einem Hause, wo alles still und schweigsam zugeht.«

Der Professor meinte, dies wären gelehrte Sachen, die keiner, der nicht von Jugend auf darin eingeweiht wäre, verstände, und ging.


Längst schon hatte die Stunde geschlagen, wo die Vorstellung im Théâtre italien ihren Anfang nimmt, als noch schnellen Laufs eine prächtige Equipage in der Rue Favart daherrasselte und vor dem Portal stille hielt. Zwei Lakaien in reicher Livree sprangen zur Erde, öffneten den mit dem Wappen einer alten und edlen Familie gezierten Schlag und ließen den Tritt herab. Ein Jüngling, blond und stolz, entstieg dem Innern, aber seine Brauen waren gerunzelt, und in seinen Zügen lag der Mißmut des Reichtums; aus dem festgeschlossenen Munde und den dunklen, träumerischen Blicken sprach eine tiefe Melancholie. Eine neugierige Menge mit neidischen Blicken gaffte ihn an. »Und womit verdient der es denn, so reich zu sein?« fragte ein armer Musikus, weil ihm der Taler zu einem Billett mangelte, den er gern für Rossinis neue Oper »Semiramis« gegeben hätte.

Langsam durchschritt der vielfach Beneidete die Korridore und versprach sich kein Vergnügen, nicht einmal eine Zerstreuung hoffte er zu finden, deren sein verzweifelnder Mißmut so sehr bedurfte. Der erste Akt war zu Ende, die Foyers füllten sich. Er ließ die Menge an sich vorüberstreifen und durchirrte die Galerien, unbekümmert um seine Loge, die er noch gar nicht betreten hatte. Endlich lehnte er sich an einen der Kamine im Foyer und ließ die junge und alte elegante Welt seinen Blicken vorüber sich durchkreuzen. Neue und alte Minister, Pairs ohne Pairschaften und Pairschaften mit zweifelhafter Erblichkeit, wie die Julirevolution sie hingeworfen und ausgestrichen, kurz, eine ganze Welt voll Spekulation und Journalismus bewegte sich friedlich durcheinander. Endlich fesselte eine ungewöhnliche Gestalt sein Auge. Sie hatte Haar und Backenbart und Henriquatre schwarz gefärbt und die Runzeln des Angesichts mit dicker, roter und weißer Schminke übertüncht. Zu diesem jugendlichen Kolorit kontrastierten die ältlichen Formen des Gesichts, die dünnen Schläfen, das spitze Kinn, die, trotz dem falschen Gebisse, eingeschrumpften Lippen seltsam und grauenhaft. An einigen Stellen des Gesichts war der Überzug schadhaft geworden, und die bleifarbige Haut kam zutage; überhaupt bildeten sich gar wunderliche Nuancen und Tinten beim Lichtwechsel, wo durch die weiße und rote Lasur der dunklere Grund hindurchschimmerte. Dieser unechte Jüngling trug eine Halsbinde, geschürzt nach der neuesten Mode, zierliche Stiefelchen, deren lange Sporen zu jedem Tritte klirrten. Sein eleganter Frack war gepolstert und zugeknöpft, daß eine Art von Taille entstand, und er verschlang seine Arme, grätschte seine Beine so trotzig, als wolle er irgend einen Bildner auffordern, einen Herkules nach ihm zu modellieren. – Immer anziehender wurde dem Jüngling diese lebendige Puppe; er verglich sie mit einem alten, rauchverdorbenen Rembrandt, von irgendeinem Pfuscher restauriert, gefirnißt und neu berahmt. Jener bemerkte jetzt den Jüngling und betrachtete ihn seinerseits ebenso genau. – Lebenslustiges Alter – schwermutvolle Jugend – plötzlich belebte sich dem Jünglinge das Gedächtnis, die erweckte Erinnerung trat klar aus dem Nebel: er kannte jenen erbärmlichen Greis. Es war der unheimliche Kunsthändler vom Quai de Voltaire, der, befreit vom drohenden Elendsfell, seinen Philosophenbart bis auf einen langen Henriquatre abrasiert, seinen morgenländischen Schlafrock mit einem modern eleganten Frack vertauscht und aus einem boshaften Stoiker sich zu dem lächerlichsten epikuräischen Narren umgewandelt hatte, den je die Welt oder die Grille eines Tollhäuslers erzeugen konnte. – Das Überraschende einer so plötzlichen Entdeckung mochte wohl in Raphaels offenem Angesicht sich spiegeln, und ein satanisches Lächeln jener Gestalt schien auszudrücken: »Jetzt bist du der Greis, die Jugend ich!«

»Dahin also führt die praktische Lebensweisheit?« fragte sich Raphael. »Ist die unreife, geckenhafte Jugend, die tölpisch nach dem Schlamm des Lebens greift, das höchste Glück? Ich stehe mit meinem poetischen Gemüt in einer Wüste, die Welt dünkt mich ein Tollhaus. Sie ist ein Tollhaus, und wie man Blödsinnige und Verrückte zur Arbeit anhält, damit sie ihre Wildheit und fixen Ideen vergessen, so mag vielleicht die Industrie, welche die ganze Menschheit jetzt beschäftigt, und ohne die sie verhungern müßte, eine weise, wohltätige Anordnung des Weltgeistes sein; eine Tollhauskur, damit die heutigen ausgetrockneten Gehirne alle nicht allzusehr ausschweifen.« Je länger er aber den Greis betrachtete, desto weniger belachenswert und desto widriger und gehässiger ward er in seinen Augen. – »Ist es möglich, daß ein kunstsinniges, kunstliebendes Alter solche Abgeschmacktheiten begeht und so wenig ahnt, daß es sie öffentlich zur Schau trägt? Doch nein, es ist jener boshafte Egoismus, der im Widersinnigen sich offenbart und gefällt, sich freut, Neid, Verdruß und Ärger zu erregen, und deshalb Reichtum und Lebenskraft zur Schau tragen will. Kann ich jemals so unglücklich werden wie dieser Greis, der sich freut?« – So dachte er und fühlte sich getröstet!

Da trat eine junge Operntänzerin, ebenso berühmt durch ihre Kunst wie durch ihre Häßlichkeit, zu dem Alten. Nach Art auffallend häßlicher Leute war sie bunt und in schreienden Farben gekleidet, eine echte Schnur großer orientalischer Perlen umschlang mehrmals ihren schamlos entblößten Hals. Mit frechen Blicken sprach sie zu dem Greise, um aller Welt die Quelle ihres Reichtums zu zeigen, und wie sie über die unermeßlichen Schätze ihres alten Liebhabers unumschränkt gebiete. Auch sie schien sich zu freuen, Neid, Verdruß und Widerwillen zu erregen.

»Ein herrliches Paar!« dachte Raphael, – »Häßlichkeit und Unsinn! Ihr Egoismus macht sie einer des andern wert, bestimmt sie für einander.« Und es fiel ihm jetzt ein, daß er ja nur die Erfüllung eines ausgesprochenen Fluches sehe. »So wird durch Wirklichkeit übertroffen, was Raserei und Verzweiflung eines Selbstmörders fluchen kann. Oh, ich war ein Stümper im Fluchen; zum Fluchen gehört Kenntnis der Welt, und keiner vermochte besser zu fluchen als der größte Menschenkenner Shakespeare. Beten lehrt uns das Herz und seine Gottnähe, aber was wir Welt und Leben nennen, kann in Beziehung zur Gottheit nur als der Fluch derselben gedacht werden.«

Der Greis lächelte jetzt mühsam unter der dicken Schminke seine Schöne an, und sie zwang ihr schielendes Auge zu verliebten Blicken. Mit einer raschen Bewegung bot er ihr den Arm, mit einer zierlichen empfing sie ihn. Sie spazierten drei- bis viermal im Salon auf und nieder und ernteten behaglich die spöttischen Blicke, das unterdrückte Lachen, die sarkastischen Bemerkungen ein, die ihr Anblick erzeugte.

»Da geht der ewige Jude!« rief ein kecker Kontorist. »Und die ihm zur Seite ist Lea, womit sein Stammvater, der erste spitzbübische Israelit, so garstig betrogen wurde!« fügte sein Gefährte hinzu.

»Auf welch einem Kirchhof hat sie den Leichnam ausgescharrt?« fragte eine Dame mit allen Zeichen des Ekels. »Und welchem Schneider hat er die häßliche Kleiderpuppe gestohlen?« entgegnete ihr Führer darauf.

»Nicht wahr, Herr Marquis,« fragte ein Dichter aus der romantischen Schule Raphael, »das ist Pandora mit der Büchse, worin alle möglichen Übel enthalten?«

»Oder das geflickte Lumpenkönigspaar, das Goethe im Hamlet sehen will!« antwortete Raphael.

»Plaît-il, Monsieur le Marquis?«

Raphael wiederholte das Gesagte, und der Romantiker verstand ihn nicht.

»Ei, sieh da, Herr Marquis!« redete plötzlich der widerwärtige Greis ihn an. »Erinnern Sie sich noch unseres letzten Zusammentreffens? Großmütiger Mann! Sie haben mich dem Leben wiedergegeben, und, wie Sie sehen, hole ich nach, was mein böses Schicksal so lange, bis auf den leisesten Wunsch, mich zu meiden zwang. Ach! ich bin so glücklich wie ein siebzehnjähriger Knabe. Alle Torheiten, Lappalien, Spielereien des Lebens sind mir wieder neu geworden. Es hat sein Gutes, hier die Natur umzukehren. Die Jugend verlebt im Schnee und der Strenge des Alters, das stählt die Lebenskräfte und macht sie dauernd; das Alter dagegen verjüngt, pflegt und konserviert sich in den Rosenträumen und Frühlingsfreuden der Jugend. Ich kann Ihnen kaum sagen, wie glücklich ich bin, und mein letzter Lebenshauch soll noch ein Liebesseufzer sein, der den Inbegriff der Daseinswonne erschöpft!«

Er ging.

»Armer Mann! du willst mich höhnen und tröstest mich!« sagte Raphael.

Das Orchester präludierte zum zweiten Akt und rief die Zuschauer auf ihre Plätze zurück; das Foyer leerte sich, und auch der Marquis suchte seine Loge auf. – Das Haus war sehr gefüllt. Feodora war ebenfalls in einer Loge des ersten Ranges erschienen. Sie nahm den Schal ab, um ihren blendenden Hals zu entblößen, und machte alle die tausend Umständlichkeiten einer Kokette, welche, bevor sie sich niederläßt, bemerkt sein will. Ein junger Pair war ihr Führer. Sie hatte ihm ihre Lorgnette aufzuheben gegeben und ließ sie sich jetzt von ihm reichen, ganz wie an jenem Abend von Raphael, als er sie begleitet hatte. Und mit einem einzigen Blicke hatte sie wieder das ganze Haus durchmustert, konnte über das unkleidsame Barett einer Polin, über den unmodischen Anzug einer Italienerin und den auffallenden Hut einer Bankierstochter sich lustig machen und tat es lächelnd, um ihre perlenweißen Zähne zu zeigen. Rastlos regte sich ihr schönes, blumengeschmücktes Haupt, und ihre ganze Gestalt und jede Bewegung drückte die Seligkeit aus, die schönste, eleganteste und am geschmackvollsten gekleidete Dame im ganzen Hause zu sein.

Raphael betrachtete ihren jungen Führer: »Ob auch sein redliches Herz an ihrer Kälte verzweifeln wird? ob sie auch sein edles Vertrauen mit Schlangenklugheit zum Werkzeug ihrer Pläne mißbrauchen wird? – oder ist er vielleicht nur einer der Alltagsanbeter, dem es genügt, an ihrer Seite Aufsehen zu machen und über tausend Nebenbuhler zu triumphieren, bis ein neuer über ihn den Sieg davonträgt?« – Gelassen betrat er den Vordergrund seiner Loge und ließ sich auf die erste Bank nieder. Feodora erblickte ihn und erblaßte. Sein ruhiges Auge wirkte schlimmer als zwei Blitze auf sie. Es war das Gefühl der Scham und des Zornes, demjenigen sich gegenüber zu sehen, der so beißend sie pasquilliert, so schonungslos sie entlarvt hatte, und von allen ihren tausend Anbetern war es keinem eingefallen, ihn zur Rechenschaft zu ziehen. Sie hatte alle so zahm gemacht, daß jeder sein Blut sparte. Der Einzige, der sie so geliebt, um im ersten Augenblick unbedenklich als ihr Ritter aufzutreten, der – hatte ihr die Kränkung bereitet, die solche Liebe nur bereiten konnte. – Ihre Augen suchten jetzt einen Gegenstand, das fatale Vis-à-vis zu meiden, und mußten stets wieder dahin zurück. Dennoch blieb ihr ein Trost. »Ich bin auch heut wieder die Schönste der Welthauptstadt!« durfte sie sich sagen. – Aber auch dieser Trost sollte ihr entführt werden.

Aus dem Orchester rauschten die Schlußakkorde der Ouvertüre zum zweiten Akt. Der Vorhang hob sich wieder. Da öffnete sich leise die Tür zu Raphaels Loge. Staunen, Murmeln, Geflüster verbreitete sich im Parterre. Das ganze Meer von Menschenköpfen wandte sich zur Loge und schoß Blicke der Neugier und des Staunens hinein. Die Damen in den Rängen bewaffneten sich mit ihren Lorgnetten, die alten Herren wischten mit Handschuhen die angelaufenen Brillengläser rein. »Welch ein Engel!« flüsterte der dicke Bankier, der jenes schwelgerische Nachtmahl gegeben, in einer Nebenloge und drehte der Szene den Rücken zu, um ganz Auge für die neue Erscheinung zu sein. Aquilina, in einer Parterreloge, winkte Raphael zu, sich umzusehen, und Rastignac, gebannt an seine schwäbische Gräfin, zerdrehte verzweiflungsvoll seine Handschuhe: weil er höchstens einen verstohlenen Blick auf die reizende Fremde wagen durfte. Nur der Besitzer des Elendsfelles saß mißmutig da und verstimmt. »So viel Lärm und Aufsehen um ein Weib!« dachte er und war fest entschlossen, als nächster Nachbar, sie keines Blickes zu würdigen.

Die Schöne hinter seinem Rücken schickte sich an, neben ihm Platz zu nehmen. Er drängte sich ganz in den Winkel nach der Bühne zu, bog sich weit über die Brüstung und starrte nach der Szene. Aber die ungesehene Schöne machte sich hinter ihm noch viel zu schaffen. Er fühlte ihren Atem durch seine Locken streifen, geheimnisvoll rauschten ihre Gewänder und schienen die seinigen zu berühren. Er empfand schon die belebende Wärme ihres Körpers, ward immer verdrießlicher, zorniger – da flüsterte es mit Silberstimme: »Sind Sie es denn wirklich, Herr Raphael?«

Er mußte sich umsehen und erschrak. Pauline, zur Jungfrau gereift und ausgebildet, schwebte wie ein Engel über ihm und lächelte mit reizend milden Wangengrübchen auf ihn hernieder.

»Pauline!« rief er und sprang auf, und seine nächsten Worte waren: »Wie hold, wie wunderschön sind Sie in so kurzer Zeit herangewachsen!«

»Auch Sie scheinen mir verändert!« antwortete sie, »und doch trübt Ihr Anblick ein wenig die unverhoffte Wiedersehensfreude. Sind Sie glücklich, Herr Raphael?«

»Bei Gott, jetzt bin ich's! – doch in der vorigen Minute war ich's nicht!« fügte er schwermütig hinzu.

»Hinweg den düstern Blick!« sprach sie in holder, rücksichtsloser Hingebung. »Sagen Sie noch einmal, jetzt bin ich's, damit ich daheim der Mutter erzähle: Herr Raphael lebt, ist reich, ist glücklich, ich habe ihn gesehen, gesprochen, der gute Gott hat unsere Gebete für sein Wohl erhört.«

»Pauline!« begann Raphael gerührt, »ich bin glücklich, weil ich Sie wiedersehe.«

»So auch ich,« entgegnete sie herzlich und heiter. »Doch meines Bleibens ist hier nicht,« fuhr sie lebhaft fort, »mein schlichter Anzug unter all den hochgeputzten Damen fällt gar zu sehr auf.«

Sie errötete bei diesen Worten über die Unwahrheit, wie über die Wahrheit, die sie enthielten. Auch Raphael verwünschte die neugierigen und spähenden Blicke, welche unbeweglich auf beiden ruhten.

»Haben Sie einen Wagen?« fragte er.

»Mein Fiaker ist erst um halb elf Uhr bestellt.«

»Darf ich Ihnen den meinen anbieten?«

»Ich nehme es mit Dank an.«

Sie erhob sich. Raphael reichte ihr den Schal und öffnete die Logentür.

»Sie bemühen sich um mich?« fragte sie hold und anspruchslos.

»Wollen Sie dies Recht mir streitig machen?«

Als er schweigend sie durch die Galerie führte und ihre Hand leicht in seinem Arm ruhte, war ihm so wohl, so wehe, er mußte sie öfter anblicken, gleich als wolle er fragen: »Gewiß bist du auch der Engel, der du scheinst.« Sie lächelte leise und schlug errötend die Augen nieder.

Ein Kommissionär schaffte den Wagen herbei. Pauline wunderte sich keineswegs über dessen Pracht. Die Diener schlugen den Tritt nieder und standen gewärtig ihres ersten Schrittes, um sie in den Wagen zu heben; aber Raphael wies sie zurück, um selbst den Dienst ihr zu verrichten. – Sie bestieg die erste Stufe, wandte sich dann zu ihm zurück und fragte bittend: »Auf Ihren Besuch dürfen wir wohl nicht mehr rechnen?«

»Ich komme morgen, morgen um elf!«

»Darf ich glauben, was ein so vornehmer, reicher Mann mir verspricht?«

»Pauline!«

»Nein! Sie wissen, welche innige Teilnahme Sie uns eingeflößt, und unsere Liebe und unser Dank wird Ihnen nicht lästig sein.«

Sie schlüpfte in den Wagen. »Gute Nacht, liebes Kind!« rief Raphael hinein. Sie reichte ihm die Hand hinaus, heftig preßte er sie an seine Brust und bedeckte sie mit heißen Küssen. Sie wand sich wie erschrocken los und versteckte sich ängstlich im Hintergrunde des Wagens. Raphael schloß den Schlag. »Rue des Cordiers, Hotel St. Quentin!« rief er dem Kutscher zu. Der Wagen rollte fort, und Raphael dünkte es, als würde eine Seligkeit ihm entführt.

»Pauline!« rief er bei sich, »Pauline, Zauberin, Wundergeschöpf, warum erkenne ich jetzt erst meinen guten Engel in dir?«

Tränen entstürzten seinen Augen, noch lange stand er im Freien und weinte, bis er bedachte, wie notwendig es dem guten Rufe Paulinens sei, sich wieder in seiner Loge zu zeigen.

Alle Köpfe aber waren schon wieder der Szene zugewendet. Die gute Gesellschaft, von der Bewunderung des Ungewöhnlichen zurückgekommen, saß wieder da in aristokratischer Alltäglichkeit und hörte auf die Rossinische Musik, um sie, wie es der Ton und die Mode begehrten, zu bewundern. Nur Raphael – wäre ihm nicht das Wünschen bei Leib und Leben untersagt gewesen – hätte auf einem jungen, mutigen Rosse durch Sturm, Nacht und Unwetter jagen mögen, statt in seiner Loge zu sitzen: und als die Handlung auf der Bühne sich belebte, die Musik zu jenem beliebten Rossinischen Lärm schwoll, der Mund mehrerer hundert Sänger ein vollkommenes O bildete, hundert Musiker aus Leibeskräften dazu arbeiteten und nur der pausbäckige Trompeter und der begeisterte Paukenschläger noch über den chaotischen Lärm hinausstreben konnten, war er in süße und wehmütige Träume versunken und dachte bei dem Lärm, des Staunens einer Welthauptstadt würdig, an eine holde weibliche Seele: wie sie mit tiefblauen Himmelsaugen ihn angeschaut, und wie sich diese Seele weniger in Umrissen und Körper und Farbe als in zarter, holder Fülle gestaltete und nur ein warmer Rosenhauch die lilienweiße, keusche Haut durchschimmerte. Die ihn als Kind schon eine Unschuldsgöttin gedünkt, die edlere, bessere Schwester Amors, welche die Antike nicht kannte, die schien ihm jetzt als Jungfrau ein süßes, menschliches Geheimnis zu verwirklichen. Ihr Wesen hatte etwas Seraphartiges gewonnen, was augenlose Bildnerkunst nie erreichen konnte, was nur dem Zauberspiel von Licht und Farbe zugänglich bleibt. Und wie diese Erscheinung ihn angelächelt, nur mit einem leisen, wehmütigen Zug um die Oberlippe und mit den reizenden Wangengrübchen: darum hätte er Tränen – der Liebe und des Lebensgefühls weinen mögen.

Plötzlich fiel sein Blick auf Feodora, – und befreit von allen Zaubern, die ihn an sie fesselten, fühlte er sich. Ein stattliches Weib nur dünkte sie ihn, aber er liebte, er haßte sie nicht. Auch seine Rache, um die er so manchen stillen Vorwurf sich gemacht, konnte er sich vergeben. Es war das Werk einer rasenden Verblendung. Aber in seiner Raserei hatte er Wahrheit verkündet, in seiner Verzweiflung Recht gesprochen: »Abgewaschenes, aufgeputztes, parfümiertes Weiberfleisch, zur Schau getragen, um Gründlinge zu ködern.« Obendrein saß sie jetzt mit einem Ausdruck niedrer Wut der gekränkten Eitelkeit in den zuvor regelmäßigen Zügen, in einem so unedlen Mißmut da, als fühle sie selbst, im eigenen Innern, alles, was ihr Beobachter aus ihrem Anblick schloß.

»Wie kam ich darauf, Liebe diesem Wesen abdringen zu wollen,« fragte sich Raphael. »die sie weder je gefühlt hat, noch irgend ahnen wird? Liebte ich etwa nur diese Körperreize? – Gewiß nicht! Es war daher eben so unrecht wie unverständig, sie zu mißhandeln, weil sie mir nicht entgegenkam, wie ich es wollte. Sie selber empfindet nicht für sich, wie ich törichterweise für sie empfinden wollte. Sie könnte ja sonst so unglücklich nicht dasitzen, weil es eine Schönere gibt als sie, wenigstens eines solchen Grundes halber wäre sie nimmermehr in meiner Achtung gesunken wie sie jetzt in ihrer eigenen.«

Er hütete sich wohl unter diesen Betrachtungen, nach der Ärmsten, der sie galten, hinzublicken, er bemitleidete sie und wollte ihren Grimm nicht vermehren. Erst nach einer guten Weile, da er sich erhob, um das Theater zu verlassen, schweifte ein flüchtiger Blick über die Loge hin, und sie war leer.

»Jonathan,« fragte Raphael bei seiner Heimkehr, »hast du heut eine ganze Loge für mich genommen?«

Dieser antwortete nach der ihm anbefohlenen lakonischen Weise: »Alle Plätze fort – nur englische Familie – abgereist – Loge zurückgesandt.«

»Aber ich war in meiner Loge nicht allein!«

»Stockfisch ich! Ein Billett weggeben – an eine Dame, noch nie im Theater gewesen, wollte nicht Freude verderben und zurückfordern.«

»Und ich habe diese Freude ihr verdorben!« klagte Raphael und schüttelte wehmütig das Haupt, »aber jeder Blick der Menge auf uns peitschte mein Herz wie mit brennenden Nesseln. Auch ziemte es ihr ja nicht, allein bei mir in der Loge zu sitzen.«

Er blickte nach dem Elendsfell, beträchtlich hatte sich der Zwischenraum bis zur schwarzen Linie vermehrt.

»Sie liebt mich!« rief er triumphierend, »doch«, fügte er bedenklich hinzu: »ich muß mich hüten, meinen stillen Seufzern Worte zu verleihen. Nein,« fuhr er fort und stampfte mit dem Fuße, »und ist's mein Ende! ich liebe sie und kann nicht anders!«

Mit sorgenvollen Blicken betrachtete ihn Jonathan.

»Guter Mensch,« wandte sich Raphael zu ihm, »es ist bald aus mit mir; aber meine letzten Lebenstage vollbringe ich süß, ich bin ausgesöhnt mit dem Leben wie mit dem Tode. Einen Engel nenne ich mein, ein Wesen, den Inbegriff alles Lieben und Guten dieser Welt. Soll ich warten, bis der Zahn der Zeit ihre Reize benagt, bis ein zerstörendes Alter die liebe Glut ihres Herzens erkaltet? Es ist süß, jung und geliebt zu sterben!«

Dem greisen Diener standen die hellen Tränen im Auge.

»Mein treuer Diener!« fuhr Raphael fort, »du hast eine schöne Überraschung mir bereitet. Du verstehst mich nicht, das begreife ich wohl, aber du liebst mich, das weiß ich. Hier nimm diesen Ring.«

Jonathan zögerte, den kostbaren Solitär, den sein Herr ihm bot, anzunehmen.

»Nimm, Schurke, augenblicklich!« rief Raphael. »Soll ich etwa an dir auch mein Leben verzehren und sterben, weil ich dir, weil ich aller Welt gut bin?«

Erschrocken leistete Jonathan Gehorsam.

»Bin ich nicht bei meinem Elendsfell der glücklichste Mensch auf Erden?« fuhr Raphael fort, »wär' es doch nur morgen um zehn Uhr, dann Jonathan – so lange will ich schlafen – dann ist es Zeit aufzustehen, mich anzukleiden und zu ihr zu fahren.«

Im selben Augenblicke dünkte es Raphael, als riefe Jonathan. »Herr Marquis! Es ist zehn Uhr, Sie müssen aufstehen, sich ankleiden und ausfahren.«

»Wie komme ich entkleidet ins Bette?« fragte er, »habe ich denn wirklich geschlafen?«

»Elf Stunden!« antwortete Jonathan; »gestern abend um elf Uhr schlafend mir in die Arme gesunken, entkleidet – zu Bette gebracht – nichts gefühlt – seit sieben Uhr an der Tür gelauscht – immer fest geschlafen!«

Raphael blickte scheu nach seinem fürchterlichen Talisman und ward sehr ernst.

In der Rue des Cordiers erregte die prächtige Equipage nicht wenig Aufsehen. Als sie gar vor dem verfallenen Hotel St. Quentin hielt, eilte die ganze Nachbarschaft an Fenster und Türen, die Kinder auf der Straße verließen ihre Spiele und gafften starr den vornehmen jungen Herrn an, der ungeduldig ausstieg und an die morsche Tür pochte.

Erst als Raphael ins Zimmer getreten war, wo Pauline und ihre Mutter ihn hocherfreut empfingen, fühlte er sich wieder erheitert.

»Aber, Herr Raphael!« holte die Alte weit aus.

»Stille, Mutter!« fiel Pauline bittend ihr ins Wort, »du weißt, was du mir versprochen.«

»Es muß mir vom Herzen« – brach jene in Tränen aus – »es war nicht recht von Ihnen, Herr Raphael, auf solche Art uns zu verlassen! Sie verspotteten meine aufrichtige Teilnahme, doch das vergebe ich Ihnen, denn Sie schienen mir damals sehr unglücklich. Allein Sie sind es nicht mehr, sind ein vornehmer, reicher Herr geworden und kümmerten sich um uns so wenig, daß nur Ihr zufälliges Zusammentreffen gestern mit Paulinen Sie endlich bewog, über Ihr Schicksal uns zu beruhigen. Obschon wir verarmt und in den Augen der Menschen, die nur auf Geld und Titel sehen, erniedrigt sind, hätten wir doch diese zarte Rücksicht von Ihnen erwartet. Übrigens stehen Ihre Möbel oben noch, wie Sie sie verlassen. Nur Pauline hat flugs nach Ihrer Gitarre gegriffen, und trotz meinem ernstlichen Verbot sie als ihr Eigentum behauptet. Sie widersprach mir stets, wenn ich sagte: Sie hätten sich entleibt; sie meinte, daß Sie einer so gottlosen Tat – vergeben Sie, Herr Raphael! – unfähig wären. Seitdem habe ich das Zimmer nicht wieder vermietet. Glauben Sie nur, ich hätte gern mein bißchen Armut mit Ihnen geteilt, nur um Sie um mich zu sehen! Wahrhaftig, ich liebe Sie einmal wie einen Sohn, und Sie! – vergeben Sie, es muß heraus! – Sie haben mir gerade die Schmerzen bereitet, die ein ungeratenes Kind seinen Eltern verursacht.« – Die Alte war von diesen Worten so ergriffen, daß Raphael selbst dann ihr nicht hätte zürnen können, wenn er es auch gewollt.

»Wäre doch jene Zeit!« rief er, »wo ich in meinem Stübchen droben lebte, wo Pauline früh mich weckte und mir das Frühstück brachte; ja! das möchte, wollte ich«, – rief er wild – »und diesen einzigen Wunsch versagt mir mein boshaftes Geschick!«

»Vergeben Sie meiner Mutter«, – bat Pauline gutmütig – »es ist einmal so ihre Art, jeder Empfindung durch Schelten Luft zu machen, und der Freude, Sie wiederzusehen, müssen Sie ihre harten Worte vergeben.«

»Nein, nein, ich fühle, wie sehr ich diese Vorwürfe verdiene«, – sagte er – »und kann meinen Fehler kaum dadurch wieder gut machen, daß ich mich ausschließlich der Sorge für Ihre und Paulinens Zukunft widme. – Ja, Pauline«, – wandte er sich zu ihr – »deshalb sehen Sie mich hier. Schönes Mädchen, je mehr ich Sie betrachte, desto geneigter bin ich, an Wunder zu glauben. Sie sind so ungewöhnlich schnell zur Jungfrau herangereift, erblüht in so milder Vollkommenheit, in aller Holdseligkeit lichter Herzensgüte – ein Wunder heißt, wo Gottes unmittelbare Schöpferhand eingriff in die natürliche Ordnung; die rohe, willenlose Natur hat Sie nicht geformt.«

»Herr Raphael!« gebot Pauline verweisend und sanft errötend.

»O Pauline, ich schmeichle nicht. Mein Leben ist so fürchterlich ernst, daß mir kein Atemzug zu einer albernen, erniedrigenden Galanterie übrig bleibt. Ihre Mutter war es, die bei unserm unverhofften Wiedersehen, nach langer Trennung, den Anfang machte, zu sagen: was wir für einander fühlen und voneinander denken; ich folge ihrem Beispiel. – Pauline! Sie wissen, welch allseitiges Staunen Ihr flüchtiges Erscheinen gestern im Theater erweckte, – doch was rede ich von dem rohen Erstaunen der Menge? Pauline, ein Unglücklicher sah Sie, und Ihr Bild war ihm ein Trost für sein gequältes Dasein. Höchstens ein Jahr hat er noch zu leben, doch gebietet er über Millionen. Er hat nicht Freunde noch Verwandte, weiß keinen, der ihm gleich empfindet, und keinen, der ihn liebt. Dieser Unglückliche möchte Sie zur Erbin seiner fürstlichen Reichtümer machen, wenn Sie sich entschließen, mit Ihrer Nähe sein einziges Lebensjahr ihm zu versüßen. Sei es als Gattin, Schwester, Tochter, Freundin, nur Ihr Wille gilt. Der Unglückliche, von dem ich rede, hat keinen Willen, sondern nur Ergebung in sein Geschick und in den Tod.«

Madame Gaudin schlug die Hände zusammen. »Ist es möglich, Herr Raphael, reden Sie wahr? Doch in solchen Angelegenheiten scherzt man nicht.«

Pauline schien von diesen Reden tief gekränkt. Sie sah Raphael mit schmerzlichem Befremden an, wie ein holdes, gutes Kind, das sich empfindlich beleidigt sieht und weder begreifen kann, woher es die Kränkung verdient, noch wie man zu solch einem Vorsatz kommt.

»Ach, teures, liebes Kind!« rief die Mutter, »warum so betrübt dastehen? Höre nur Herrn Raphael an, er hat recht, du bist bezaubernd schön, und sicher hat er gut für dich gesorgt. Daß ich an dir noch solche Freude erleben werde! – Und nun können wir ja auch nach dem teuren Vater forschen und ihn aus den Eisgruben Sibiriens oder Indiens glühenden Zonen erlösen, und du, mein Mädchen, bist wieder eine Reichsbaronesse und, Dank sei es Herrn Raphaels Güte und deinen Anlagen, du machst keiner Gesellschaft Schande. Holdes Kind, als ich dich geboren und zum ersten Male an meine Brust legte, da sagten deine lieblichen Züge mir, du seiest zu einem herrlichen Lose ausersehen.« Sie hielt weinend inne.

Pauline gewann die Sprache, und mit einem Tone schmerzlichen Vorwurfes, und indem ihre Lippen leise zuckten, als kämpfe sie gewaltsam wider das Weinen, begann sie: »Herr Raphael, jetzt hält's an mir, zu sagen, was ich denke und fühle! Ich sehe wohl, daß ich Ihnen auf unerklärliche Art zuwider bin, und daß Sie sich meiner entledigen, wo Sie mich finden. Als Sie hierher zogen, wandten Sie Ihr erstes Geld an, mich in eine Pension zu schaffen. Als Sie mich gestern im Theater trafen, sandten Sie mich in einer prächtigen Equipage heim. Kaum wissen Sie mich wieder in Paris, so eilen Sie, mich mit einem alten, lebenssatten Greise zu verbinden, dessen Gefährtin sich sicher zu dem Lose einer glänzenden Gefangenschaft verdammt sieht. Je nun! Sie haben Ihren Willen erreicht, denn ich weiß, was ich meiner Mutter und meinem Vater schuldig bin. Nur das noch mögen Sie sich sagen: auch um Sie würde es besser stehen, wenn Sie mich nicht stets auf so vornehme Weise verstießen!« Zwei große Tränen, die sie bisher zu verhalten sich bemüht, glitten an ihren zarten Wangen nieder.

»Pauline!« rief Raphael. »Können Sie so mich mißverstehen? Ich selber bin ja der Unglückliche, der Sie bittet, die letzten Lebenstage ihm zu verherrlichen, der sich in Wünschen nach Ihnen verzehrt und mit jedem Seufzer, jedem Pulsschlage wörtlich seine Lebenskraft nach Ihnen aushaucht!«

»Sie?« fragte Pauline in ihren Tränen lächelnd. »Sie wollen sich ewig mit mir verbinden?«

»Ewig?« rief Raphael verzweiflungsvoll, »ewig? – Müssen auch Sie, holder Engel, an mein todbringendes Geheimnis mich mahnen?«

»Sie reicher, vornehmer Mensch!« fuhr Pauline in reizender Freude fort, »Sie haben sich eine Sprache angewöhnt, so glatt und fein und glänzend wie Ihre Kleider. Ein armes Mädchen, wie ich, versteht Sie nicht mehr. Warum reden Sie nicht offen, ehrlich, einfach, gleich mir. Ich sage, obschon es mir vielleicht nicht ziemt: von Herzen gern bin ich Ihre Schwester, Freundin, Geliebte, Braut, Gattin, Ihre Dienerin, Ihre Sklavin, nur um stets um Sie zu sein.«

Das sanfte Geschöpf schien heftig bewegt nach diesen Worten, ein Tränenstrom entstürzte ihren Augen, sie rang schluchzend nach Atem.

»Wie, was sagen Sie, Pauline?« rief Raphael und umschlang die Weinende und zog sie an seine Brust. Beklommen und schaudernd aber betrachtete er das süße Gift, das in seinen Armen ruhte. »Ja! ja!« rief er mit Todesgrauen, »meine Wünsche sind erfüllt.«

Kurze Zeit nach diesem Auftritt las man in den Zeitungen Raphael, Marquis de Valenti, und Pauline, Baronesse von Gaudin, als neuvermähltes Paar angezeigt. Die holde Erscheinung in der Loge, am Abend der Aufführung der »Semiramis«, schwebte allen noch frisch im Gedächtnis, man beriet und bespöttelte den Zusammenhang, machte sich über die extemporierte Heirat lustig, bis ein neues Ereignis wieder alle Aufmerksamkeit, allen Witz und alle Zungen in Anspruch nahm. Die damaligen politischen Stürme übrigens waren wichtig genug und beschäftigten zu sehr alle Gemüter, als daß man nicht bald eines einzigen Liebespaares vergessen hätte, das obendrein sich weder sehen noch von sich hören ließ.

Raphael saß eines Morgens allein und trauernd in seinem Arbeitszimmer. Eine Übersetzung des ersten Fragments von Goethes »Faust« lag vollendet vor ihm, und er blickte nach dem heillosen Talisman ihm gegenüber, der, welk und zusammengeschrumpft, kaum noch zu erkennen war. »Meine letzte Arbeit!« sagte er laut vor sich hin; – »wiegt die Summe meiner Tätigkeit nun den Wert des Lebens eines Mannes auf, verlohnt sich's deshalb der Mühe, den Beschwerden des Daseins sich zu unterziehen? Und ich habe mehr gedacht, mehr gefühlt als so mancher Mann in Frankreich. Was wollen denn die Menschen auf der Welt, und wozu hat Gott Herz und Geist geschaffen?« – »Und bin ich glücklich?« fuhr er nach einer langen, trüben Pause fort. – »Einst dachte ich, der Besitz der reizenden Pauline könnte meine Rechnung mit den Lebensfreuden schließen, auf den Tod mich vorbereiten, meine verwegenen Wünsche sättigen und stillen. – Aber vergebens seufzte ich mein Dasein sehnsuchtsvoll in ihren Armen hin, sah stündlich, augenblicklich den Barometer meines Lebens sinken. Es versiegt nunmehr, und ich war nicht glücklich! – Nimmer schlossen zwei so ungleiche Geschöpfe das ewige Bündnis. Wir möchten uns beide lieben, doch wir können's nicht, wir verstehen uns nicht! – Als ich zum erstenmal in jenem glücklichen Dachstübchen das deutsche Märchen ihr vorlas, sank sie aufgelöst in Weh und Tränen an mein Herz, nannte mich unglücklich, meines Dichtertums halber: denn eine Seelenfolter, eine Hölle der Pein und Schmerzen sind diese Wonnen ihr. Beginne ich nur von dem zu reden, was mich ganz und gar erfüllt, so erbleicht sie, ihre Augen füllen sich, sie atmet ängstlich und beklommen. So stehe ich immer noch einsam wie sonst. Ach! Vater! immer sehne ich mich zu dir! du hast nicht wohlgetan, meine Jugend ganz von allem Leben zu trennen; vielleicht hätte ich doch einen Freund gefunden. Aber als Kind schon stimmte mich die Einsamkeit zur Schwermut, nirgends finde ich den heiteren, zum Leben unentbehrlichen Leichtsinn der Daseinsfreuden. Niemand liebt, niemand kennt mich, und wenn ihr stillreizendes Wesen zum schwärmerischen Liebeswahnsinn mich erregt, ist diese Allgewalt der Glut ihr ein Grauen. Sie erschrickt, sie kämpft gegen mich oder fleht weinend um Schonung. Ich muß Sanftmut heucheln, damit sie vor meinen Liebkosungen sich nicht ängstige. – Verfluchter, trügerischer Talisman!« rief er wild und zornig gegen das Elendsfell. – »Was verschrumpftest du so gräßlich, als ich gestern dir gebot: Pauline soll mich lieben? Ist Liebe nicht Tausch der Seele um Seele, der Glut um Gluten? – Reicht deine Macht nicht hin, ihr Seele und Glut einzuflößen, so ist unser Pakt gebrochen; meine Wünsche sind höher als deine Macht! Aber ich trotze dem Leben und dir! Noch einmal gebiete ich: Pauline soll mich lieben, mich verstehen, mit mir fühlen.« Der Talisman blieb diesmal unverändert. Raphael hatte die schwarze Linie, so oft sie sich verringert, wieder erneuert, aber nirgends wollte heut der rote Teppich durchschimmern.« – »Wäre dieser Wunsch schon erfüllt?« fragte er befremdet. Er öffnete die Seitentür, und alle Türen des ganzen Flügels sprangen auf, bis zum letzten Zimmer, Paulinens Schlafgemach. Er betrat es. Sie ruhte noch im sanften Morgenschlummer, ihr Haupt war auf den linken ausgestreckten Arm gestützt, die Hand hing schlaff über den Rand der Bettstelle. Mit der Rechten schien sie bemüht, selbst im Schlafe keusch, die rotseidne Decke über Schulter und Brust zu ziehen, welche atmend die Hüllen fortstieß. Da lag sie, weißer als der Schnee der Kissen, die geschlossenen Augen mit den langen Wimpern gaben dem holdseligen Antlitz, vom Schlafe versüßt, etwas unwiderstehlich Rührendes. Raphael betrachtete wehmütig die zarten Glieder, das Ätherische des Ganzen. »Unglückselige Semele,« sagte er, »unglücksel'gerer Jupiter ich! Ein höllischer Fluch waltet über mir, mit olympischen Flammen die Zarte zu vernichten.« – Plötzlich raffte er sich auf, eilte in sein Zimmer zurück, und außer sich rief er, zum Talisman gewendet: »Pauline soll mich überschauen, Pauline soll tiefer empfinden als ich!« – Aber wieder nicht regte sich das Elendsfell. – Da stieß er ein höhnisches Lachen aus. »Welch ein Zauber kann ein Inneres höher stimmen als das meine?« rief er triumphirend; »habe Dank, du böses Hexenwerk, für diesen Trost! Aber unser Pakt ist gebrochen; mehr Geist, mehr Gefühl, als ich besitze, kann im beschränkten Menschentum nicht hausen. Ich habe gewünscht, was du nicht erfüllen kannst. Hinweg mit dir! und tritt nicht eher wieder vor meine Augen, als bis Pauline tiefer fühlt, höher denkt als ich!« – So sprechend, riß er den Talisman von der Wand; noch war's ihm, als ob ein leises Verschrumpfen die Haut seiner innern Hand streifte, doch er achtete nicht darauf, eilte hinab in den Garten und warf den Talisman in einen tiefen Brunnen.

»Jetzt bin ich frei!« rief er, als er zurückkehrte: »wohl mir, daß jene Wand dort rein! Die Furcht vor dem Tode brachte dem Grabe mich näher als der böse Zauber.« – Da aber stiegen quälende Zweifel in ihm auf. »Bin ich auch wirklich frei, waltet kein Mißverständnis?« fragte er. – »Furchtbares Ding! hast du noch Macht über mich, so beantworte mir die Frage, gib irgendein Zeichen, hörbar, sichtbar, fühlbar! Werde ich jetzt noch lange leben?« – Alles blieb still und regungslos, kein Lüftchen streifte durch die Vorhänge! »Wieviel Jahre noch?« – fragte er weiter. Immer noch regte sich kein Laut. – »Wieviel Monden?« – Die Grabesstille dauerte fort. – »Wieviel Wochen?« fragte Raphael immer mutiger, – Welt und Leben schienen erstorben ringsum. – »Wieviel Tage?« – Eben wollte Raphael aufjauchzen, da rasselten die Räder einer kostbaren Zimmeruhr. »Gott im Himmel, nur acht Tage noch?« rief Raphael trostlos. Er hatte sich geirrt, nur drei Schläge tat die Uhr, noch eine Viertelstunde fehlte zur achten Stunde. – Leblos sank er zu Boden. –

Am dritten Tage, an einem heiteren Morgen des Februar, da anhaltend gutes Wetter Frühlingshoffnungen verhieß, saßen Raphael und Pauline in einem kleinen Gartensaal, von Blumen ringsumgeben; die Luft war so überaus mild, daß die Glastüren, die in ebener Linie auf den weitläufigen Garten gingen, weit offen standen. Raphael war seit wenig Tagen sehr reizbar und verstimmt, und Pauline, weil sie ihn damit zu erheitern glaubte, hörte ihm zu, indem er seine neueste Uebersetzung vorlas.

Eben hatte Raphael seine Vorlesung geendet. »Nun,« fragte er, »diese Poesie scheint mehr als irgendeine frühere dir zu gefallen?«

»In den Versen liegt etwas Trauliches und Heiteres, ich habe dergleichen noch nie gehört.«

Raphael lächelte zufrieden.

»Die Nachahmung also ist gelungen; was sagst du aber zu dem Gedicht?«

»Lieber Mann, bin ich denn nicht zu unwissend, um darüber zu urteilen?«

Verdrießlich über diese Ausflucht, entgegnete er: »Wie es dich angesprochen, wirst du sagen können, aber du hast nicht achtgegeben; was ich früher wohl dir vorlas, verstimmte dich, du läßt mich daher ruhig lesen und hörst nicht!«

»Raphael!« verwies Pauline sanft. »Ich habe wohl achtgegeben, und was ich verstanden, scheint mir tief natürlich und wahr; alles mußte so kommen, wie es kam; die Menschen selbst haben an ihrem Elend Schuld, der Teufel ist fast überflüssig!«

Raphael blickte sie an. »Wahrhaftig, sehr sinnreich geurteilt, fahr nur fort!«

Pauline, erfreut, ihn erheitern zu können, schwatzte sorglos weiter. »Was soll daraus werden, wenn zwei Geschöpfe, wie Faust und Gretchen, sich zu lieben glauben? Die ganze Menschheit liegt zwischen ihnen und trennt sie. Er ist so verwegenen, kühnen Geistes, als sie einfältig und albern, nur eine Art von Irreligiösität haben sie miteinander gemein: er die Irreligiösität des Geistes, sie jene der Dummheit; daher das wunderliche Gespräch über Christentum, was den horchenden Teufel recht belustigen mag.«

»Und du findest Gretchen nicht reizend, nicht der Teilnahme wert?«

»Reizend? sie mit der garstigen, rauhen Hand, die nichts kann als fegen, stricken, kochen, waschen, Kinder warten? – Wie kommt er darauf, die Hand ihr küssen zu wollen?«

»Und ihre Liebe zu dem ungestümen Manne und ihr Unglück rührt dich nicht?« fragte Raphael entrüstet. »Pauline, die nicht sündigen können, die kaltes Blut im Herzen tragen, sollten nicht die Sittenrichterinnen spielen.«

Sie stutzte, betrachtete ihn ängstlich, und da sie seinen Unwillen gewahrte, sagte sie sanft und bescheiden: »Ich bin deine Gattin, Raphael, nicht Beurteilerin ausländischer Dichter, und als deine Gattin habe ich mich über Gretchens Leichtsinn, über den Betrug gegen ihre Mutter, um ihren Geliebten einzulassen, der sie zur Mörderin macht, noch nicht so weit beruhigen können, sie zu bemitleiden. Ich dachte, dir einen Gefallen zu tun, indem ich rede; weil es dich kränkt, laß mich jetzt schweigen!«

»Du hast dein eigenes Urteil gesprochen!« fuhr Raphael schmerzlich fort, »wir sind Faust und Gretchen, die ganze Menschheit liegt zwischen uns. Du hast mich nie geliebt, du kannst nicht lieben und duldest nicht einmal, daß ich dich liebe, so gern ich's möchte.«

»Ist das dein Ernst? sprichst du vom Herzen?«

Er schwieg, in tiefen Schmerz, wie es schien, versunken.

»Mindestens solltest du geflissentlich mich nicht kränken,« fuhr sie klagend fort; »wärst du nicht ungerecht gegen mich, so würdest du eingestehen, daß ich alles, was ich deinen Augen absehe, dir zu Liebe tue. Doch ich will dir keine Vorwürfe machen; du quälst mich, weil du selber leidest. Ich sagte dir an jenem ersten Abend schon, wo du mir das deutsche Märchen vorlasest, daß du in solchen Gedanken nicht glücklich sein kannst; du bist es nicht, und deshalb bin ich's auch nicht. Gedenkst du jenes Abends noch? Ich weinte die ganze Nacht. Das Märchen hatte mein kindisches Herz zu einem Weh der Verzweiflung aufgereizt. Alle Menschen, das ganze Dasein, selbst die Tiere schienen mir des tiefsten Mitleids wert, bloß weil sie lebten und allen Schmerzen und Betrübnissen der Welt ausgesetzt waren. Vor allem aber weinte ich um dich, denn in deiner Brust glaubte ich das Weh des ganzen Alls vereint. Aber du achtetest meiner nicht, gewahrtest nicht, wie ich mit verdoppeltem Eifer mich um dich bemühte, nur um einigermaßen, und soviel ich vermochte, mit deinem unglückseligen Dasein dich auszusöhnen. Gleichgültig warst du bei meinen Tränen, als ich Abschied nahm, um nach der Pension zu gehen. Ach, ich erinnere mich noch immer deines Lächelns: du spottetest der Teilnahme eines Kindes. Du aber gleichst dem Faust sehr, und findet Faust je eine weibliche Seele, die ihn liebt, so, Raphael, mag sie für ihn fühlen, wie ich, die damals Abschied von dir nahm. Ich war kein Kind mehr! Du wundertest dich, daß ich so schnell herangewachsen: ach, Kummer macht vor der Zeit alt; schon damals liebte ich dich, und in der Pension sah jeder es mir an, welch ein tiefer Schmerz mein junges Herz belastete. Hier hast du die Lösung dessen, was du ein Wunder nanntest.«

Allmählich war Raphaels Unmut in Verwunderung übergegangen. Sie hatte sich vom Sitze erhoben, in leichter, anmutiger Stellung stand sie vor ihm, blickte wehmütig und mit feuchten Augen ihn an, und er hatte die Hände gefaltet und betrachtete sie staunend und andächtig.

»Laß mich dir alles sagen«, fuhr Pauline bittend fort. »Ich durfte als Reformierte an dem Religionsunterricht nicht teilnehmen, aber ein würdiger Greis, ein Schweizer, schon unter Ludwig XV. Prediger der reformierten Gemeinde, belehrte mich und noch zwei andere Kinder. Er erzählte uns die Geschichte des Heilands und der Apostel. Oh, das sind andere Geschichten, als du samt deinen deutschen Dichtern je zuwege bringen wirst. Ich war getröstet, ich konnte andächtig weinen und beten. Meinem alten achtzigjährigen Lehrer fiel es auf, ein Kind so tief ergriffen zu sehen. Er fragte mich in der Beichte. Du warst damals unerklärlich verschwunden, meine Mutter sprach – o mich schaudert's! – von deinem Selbstmord! – Ich hatte keine Ruhe mehr, ich durchsuchte deine Papiere, ich fand dein Leben verzeichnet, deine Liebe zu einer gewissen russischen Fürstin. Hatte ich mich getäuscht, Raphael? Warst du jener Unglückliche nicht, den ich bei deinem Märchen in dir erkannte? – Jetzt, Raphael, vergib – die Angst um dich und deine Seele bewog mich, dein Geheimnis zu entweihen. Mein Lehrer erhielt deine Papiere und – verdammte dich. Er sprach viele harte Worte, die mich beben machten. Mit tausend Tränen flehte ich um Gnade für dich, als hinge es an seinem Ausspruche, daß Gott die Seligkeit dir wieder schenke. So wunderwirkend ist der Mund, der zuerst das Heil uns lehrt. Er fragte mich mit scharfem Ernst: ob ich dich, ob ich jene Fürstin nicht hasse. Ich gestand ihm, daß ich um so mehr dich liebe, je unglücklicher du seiest; die Fürstin kannte ich nicht, und sie kannte dich nicht, weil sie so unglücklich dich machte. – Sei getrost, mein Kind, sagte mein Lehrer, du bist eine bessere Christin als ich, denn Gott ist den Kindern und Weibern am nächsten; du liebst ihn und die Menschen auf rechte Art. Da beschloß ich, alle Menschen zu lieben; dich aber liebte ich vor allen mehr als die Mutter selbst.«

Bei diesen Worten brachen Tränen aus ihren Augen. Sie hatte mit der Linken Raphaels Nacken umschlungen, die Rechte auf sein Herz gelegt, als wollte sie dessen Schläge erforschen. Jetzt verbarg sie ihr weinendes Haupt an seiner Schulter. Tiefgerührt umschlang sie Raphael.

»Weiter, weiter, du Engel!« flehte er.

Pauline faßte sich; Begeisterung hatte ihre Wangen gerötet, ein sanftes Feuer leuchtete aus den Augen, und Tränen hingen an den langen Wimpern. Sie fuhr fort: »Antworte mir, was hältst du vom Christentum?«

Raphael gehorchte ehrfurchtsvoll. »Es ist im höchsten Sinne des Wortes«, sagte er, »die Poesie der Poesien, die Religion der Religionen, denn Religion und Poesie sind Glaube. Die Antike vergöttert nur den Körper, die Romantik nur die Schöpfung, das Christentum aber macht das Innere, des Herz der Menschen zum Gott. Es ist die Lehre der Gottähnlichkeit.«

»Und laß mich hinzufügen«, fragte Pauline. »liebst du ihn selbst nicht? – Du liebst ja den Shakespeare, den du nie gekannt, weil er so weise ist und edel; liebst du Christus nicht, der edler, weiser, besser war?«

»Weiter, Engel!« rief Raphael, »du sprichst wunderbar.«

»Ist er dir mehr Freund und Vater nicht als irgendein Mensch? Oh, mein Lehrer hatte recht zu sagen: Ihr Dichter seid Dämonen, die stets des Daseins Klage wider Gott erheben, die in Schmerzen wühlen, spitzfindig und dialektisch Unglück schaffen und sich in erdachtem Weh begeistern. – Jedes Wort des Heilandes widerlegt sie, und wenn sie nächtig klagend durch Paris wandeln, wo ein Haus zwanzig Familienschicksale in sich begreift, wo in manchen verdunkelten Fenstern das Leid und die Sorge ausschläft, wo zeigt sich ihnen eine Mauer, hinter welcher das Elend lebt, dessen Klage sie führen? Aber freilich, es sind alles Philister, sie wissen nichts von Kunst! So sprach mein Lehrer! Hatte er recht? – Ich will deine Kunst nicht tadeln, nur reiß dich los von der Gefühlsunreinheit, in der du zu schwelgen liebst. Sei nicht, was du schilderst. An deinem Kleide, an deinem Körper ist jedes Stäubchen, jedes Fleckchen dir widrig, lästig, unbequem: bist du selbst nicht mehr als dein Kleid? Warum denn dein Inneres nicht zu der Reinheit, Güte, Kostbarkeit erheben, welche Gott lehrt?«

Mit jeder Silbe wuchs Raphaels Erstaunen. »Wunderwirksam ist der Mund«, sagte er leise, »der das erste Heil uns lehrt.«

»So sprach mein Lehrer«, wiederholte Pauline, »und bald nahte seine letzte Stunde. Ich hatte mir die Sorge für den Todkranken nicht nehmen lassen. Als der Todeskämpf eintrat, – oh, er litt fürchterlich! – betete und pries er Gott, bis ihm die Stimme versagte. Ich war entsetzt und erschüttert am Fuße seines Bettes in die Knie gesunken und sagte ein Vaterunser in Herzensangst: er nickte mir zu, und als er dies auch nicht mehr vermochte, winkte er mit der Hand. Ich betete, so laut ich konnte, bis er verschieden, bis er verklärt, selig und weiß dalag, und ich wünschte mir, dir, der Mutter, allen Menschen solch eine Todesstunde. In allen Schmerzen, die er litt, besiegelte er sterbend vor meinen Augen die Wahrheit seiner Lehren. – Aber, Raphael, wozu hast du mich vermocht? Du sagst, ich liebe dich nicht: o freilich liebe ich dich, und die Kränkung, die ich erlitt, vermochte mich zu solcher Redseligkeit, das Mitleid mit mir selbst, weil du so ungerecht gegen mich sein konntest, denn meine Zunge ist zu arm, um verkünden zu wollen, was er mich lehrte.« – Nach diesen Worten wollte sie verschämt entfliehen.

»Bleib, bleib, Pauline!« rief Raphael, »flieh, verlasse mich nicht: ich bin unglücklich, wo ich dich vermisse, du bist besser, klüger, tieffühlender als ich.« Mit einem Schrei unterbrach er seine Rede: »Gott sei mir gnädig! Was hab ich gesagt!«

»Raphael, was ist dir? du bist bleich, zitterst, blickst irre!«

»Gib acht! Gib acht!« stöhnte Raphael konvulsivisch. »Mir ahnt Entsetzliches! Es ist der dritte Tag!«

In diesem Augenblick ließ sich das Scharren schwerer Tritte im Sande vernehmen: der Gärtner trat in den Saal.

»Mein Todesurteil!« lispelte Raphael.

»Was hat Er, was will Er?« fuhr Pauline mit ungewohnter Heftigkeit ihn an.

»Eine ganz besondere Seltenheit, mit Erlaubnis des gnädigen Herrn und der gnädigen Frau!« antwortete Etienne, der Gärtner. »Ich zog eben einen Eimer Wasser aus dem Brunnen, da schwamm dies seltsame Seegewächs oben auf. Hier ist es. Es ist nicht naß, noch feucht; das verträgt Wasser und ist doch nicht fett; das blitzt wie Silber und ist faul wie Moder: das ist leicht und schwimmt oben auf, und ich mag rütteln und reiben, es ist nicht zu vernichten.«

»Gib!« rief Raphael und hielt das Elendsfell, zur Größe eines Blumenblättchens verschrumpft, in der flachen Hand.

»Mir ist dergleichen noch nicht vorgekommen«, sagte Etienne: »aber der Herr Marquis sind unstreitig gelehrter als ich.«

»Geh Er, Etienne!« gebot Pauline. »Er sieht, mein Mann ist nicht wohl!«

Der Gärtner entfernte sich mit schweren Tritten. Totenstille herrschte im Gartensaal.

»Um Gott, Raphael!« flehte Pauline ängstlich, »du gleichst einer Leiche, deine Augen treten aus ihren Kreisen, dein Haar starrt! Ich rufe Hilfe! Raphael, dies übernatürliche Wallen der Brust verkündet Tod!«

»So ist's, Engel; bete für mich! Ich bin eine Leiche – dies Blättchen mißt mein Leben. Es war einst so groß, daß ich's in der Rocktasche mit Mühe nur verbarg; jetzt – verzehrt, vermodert, gib acht, wie es aus meiner flachen Hand schwindet, ist's aus mit mir.«

»Jonathan,« rief Pauline, »zu Hilfe, zu Hilfe!«

»Still!« gebot Raphael, »wenn du mich liebst. Nur du sollst um mich sein, wenn ich sterbe.«

»Aber du rasest, bester Raphael!«

In diesem Augenblick machte ein Blutsturz seiner fürchterlichen Beklemmung Luft. Er ließ sich langsam in den Sessel fallen und stöhnte: »Rase ich?«

Von neuem wollte Pauline Hilfe rufen, aber mit der Angst der Hölle flehte Raphael: »Bete, Pauline, mein Leib ist hin! Rette meine Seele!«

Sie kniete nieder, bald fühlte er ein wenig sich erleichtert.

Er winkte sie zu sich, lehnte seinen Kopf in ihre Arme. Mit wenigen Worten erklärte er ihr sein tödliches Geheimnis, und auf welche Weise er zum Besitz desselben gekommen. »Ich bin das Opfer phantastisch-sinnlicher Begierden,« so schloß er: »alle Schätze des Herzens und des Geistes, der Welt mit allen ihren Freuden wollte ich über mein Leben häufen und trachtete rasend und verzweiflungsvoll, ein neuer Faust, nach dem Gipfel der Menschheit. Gott sei mir gnädig!«

Röchelnd ließ er das Haupt zurücksinken. Aber Paulinens Tränen versiegten, ihre Augen leuchteten, ihre ganze Gestalt schwebte, wie erfüllt von einem schönen Gedanken.

»Du bist zu retten, Raphael!« rief sie laut. »Wolle nur, daß jemand des tödlichen Besitztums dich entledige – wolle es nur!«

»Es wäre Mord!« ächzte er. »Ein lebenssatter, ein verurteilter Verbrecher, ein mit dem Tode qualvoll Ringender! – Wolle nur!«

Da wälzte sich bleischwere Nacht kalt, gräßlich über seine Brust und Sinne. Er bäumte, dehnte sich, und immer wollte sein Herz nicht brechen. Endlich erpreßte ihm der Todeskampf die Silben: »Ich will!« Und augenblicklich fühlte er Linderung.

»Ich will!« wiederholte mit Silberklang eine Engelstimme. Er erholte sich – aber Pauline lag, mit dem Tode ringend, am Boden. »Gib mir zurück!« schrie er rasend.

Sie schüttelte das sterbende Haupt. »Du bist ein Mann, ich kann nicht stark sein und ohne dich leben. Gedenke meiner Worte, nütze du fürs Leben, was ich für den Tod: – Jesus Christus!« In diesem Schmerzensseufzer hauchte sie die holde Seele hin. Ihr sanftes Herz war gebrochen, die liebliche Hülle ruhte still und kalt in Raphaels Armen.


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