Honoré de Balzac
Lebensbilder - Band 1
Honoré de Balzac

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Achtes Blatt

Rastignac holte mich eines Morgens in seinem Tilbury ab, und wir kutschierten keck und lustig, wie je zwei Glücksritter, die von eingebildeten Kapitalien lebten, geradeswegs zum Café de Paris. Hier nötigte er mich, auszusteigen und für heut bei ihm vorlieb zu nehmen. Er bestellte ein glänzendes Frühstück.

»Aber sage mir, Rastignac, wo liegen deine Güter, deren Einkünfte deinen Aufwand bestreiten?«

»Im Monde, auf jener Seite, welche die Astronomen noch nicht observiert; in einigen noch unentdeckten Weltteilen, auch zerstreut in allen vier Himmelsgegenden und auf dem Nordpol, wo die Engländer schon seit Jahren sich bemühen, sie aufzufinden. So antworte, wenn du danach gefragt werden solltest. Für mich und meine Freunde aber habe ich statt liegender Güter: Kopf; Kapitalien, die ich nicht besitze, finde ich bei andern, und statt der Einkünfte habe ich Schulden; wen diese mehr kümmern als mich, der mag sie bezahlen, denn ich habe wenig Lust dazu und weniger noch, drüber reden zu hören. Willst du übrigens meinem Rat folgen, so frühstücke; es ist das Zweckmäßigste wider den Hunger, auch beurteilt man alles viel richtiger, wenn man satt ist. Was mich betrifft, so hasse ich besonders das nüchterne Urteil, welches dir leider sehr anklebt, mein Raphael!«

Er schien empfindlich, und ich schwieg. – Viele elegant gekleidete junge Leute, wie sie kamen und gingen, schienen ihm bekannt. Er grüßte rechts und links in einem fort, und jedesmal bewunderte ich seinen leichten Anstand und seine vornehme Haltung.

Als unser Mahl geendet war und wir Kaffee zu uns nahmen, stieß er mich leise an, deutete mit den Augen auf einen eintretenden Dandy, der eine wunderschöne Krawatte trug und sagte: »Dies ist dein Mann, jetzt wird der Goldbrunnen fließen.« Der Eintretende suchte sich einen Platz, Rastignac winkte ihm, näher zu kommen.

»Dies Subjekt«, flüsterte er mir zu, »gilt für den Verfasser mehrerer Werke, die er selber am wenigsten versteht. Er ist Chemist, Historiker, Novellist, Publizist: hat, ich weiß nicht wieviel halbe, drittel und viertel Anteile an einer Menge von Bühnenstücken. Er ist kein Mensch, sondern eine Pseudonymität, eine Etikette für das große Publikum, ist dumm genug zu einem Maulesel des Dom Miguel und klug genug, um bei einem Kongreß für den Verfasser seiner Werke zu gelten, denn er schweigt zur rechten Zeit und macht nur Ansprüche geltend gegen Nichtkenner. Es ist ein so halbrechtlicher Halbschurke, der, weil er Geld hat, von den Menschen ein achtbarer Mann genannt wird.«

Der Fremde mit der schönen Halsbinde kam näher und nahm an einem Tisch dicht neben dem unsrigen Platz.

»Nun, teuerster, edler Freund! Achtbarer Mann! Wie befindet sich Dero Berühmtheit?« fragte Rastignac.

»Pah, nicht gut, nicht schlecht, überhäuft mit Arbeiten. Ich habe gegenwärtig alle Materialien, und zwar ganz merkwürdige, zu geschichtlichen Memoiren. Aber wem soll ich sie zuschreiben? Damit martere ich mich Tag und Nacht, denn in Wahrheit, die Memoiren fangen an, aus der Mode zu kommen.«

»Sind Sie aus der neusten oder einer früheren Zeit? Betreffen Sie den Hof?«

»Den Halsbandprozeß.«

»Nun, das nenne ich ein wunderbares Zusammentreffen!« rief Rastignac, mich bei dem Ärmel zupfend. »Mein Herr! Erlauben Sie mir, Ihnen hier den Marquis von Valenti vorzustellen, dessen erstes Auftreten in dem Salon der Fürstin Feodora von einem an Wunder grenzenden Erfolge war. Seine Tante, Frau von Montouron, galt ehemals viel bei Hofe, und auch er beschäftigt sich seit zwei Jahren mit einer Geschichte dieses Prozesses!« – Leiser fügte er hinzu: »Er hat Genie, aber keine Erfahrung. Er schreibt Ihnen die Memoiren seiner Tante für 100 Taler den Band.«

»Der Handel gilt!« entgegnete der Fremde, die Halsbinde sich zupfend.

»Aber ich erbitte mir 25 Louisdor Kommissionsgebühren, und der Herr Marquis empfängt das Honorar des ersten Bandes auf Abschlag.«

»Ich gebe nur 50 Taler, damit ich mein (!) Manuskript um so früher erhalte.« Diese Verhandlung wiederholte mir Rastignac von Wort zu Wort, und ohne meine Zustimmung abzuwarten, rief er: »Wir sind einig! Wann sollen wir zu Ihnen kommen und abschließen?«

»Ei! meine Herren, ich erwarte Sie morgen abend um sieben Uhr hier zu Tische.«

Wir erhoben uns, Rastignac warf dem Garçon die carte à payer hin, und wir gingen.

Als wir wieder im Tilbury saßen, fing er aus vollem Halse zu lachen an. »Siehst du's nun, wo meine Güter liegen, und woher ich meine Einkünfte beziehe? Da hast du nun 2–400 Taler, nebst 25 Louisdor Kommissionsgebühren, denn an armen Freunden will ich mich nicht mästen.«

»Aber wie werde ich die Memoiren zustande bringen?«

»Ei, schreib von deiner Tante, was du weißt und nicht weißt, setz' aus alten Anekdoten, Historien, Sagen, Erzählungen und Begebenheiten etwas Artiges zusammen, was für deine Tante paßt.«

»Bevor ich aber den Namen meiner Tante beschimpfe –«

»Närrchen! was Tante? Du hast Memoiren zu schreiben, sind sie fertig, so machst du Schwierigkeiten, sie unter dem Namen deiner Tante herauszugeben. Wetter, ich denke, die Frau von Montouron, mit ihrem Wappen, ihrer Tugend, ihrer Schminke, ihrem Ansehen und ihrem Fußzeug ist mehr als ein paar 100 Taler wert. Entweder der Buchhändler bezahlt dir deine Tante auf Heller und Pfennig – wo nicht, so muß irgendein alter St. Ludwigsritter oder irgendeine alte verwitterte Gräfin ausgefunden werden, um deine Memoiren zu unterzeichnen!«

»Aber wohin fahren wir?« fragte ich, als unser Tilbury fast die Barrièren von Paris erreicht.

»Nach dem Bois de Bologne,« antwortete Rastignac. »Du sollst einmal meine kleine, runde Schwäbin kennen lernen, eine reizende junge Witwe, eine Gräfin, deren Händchen und Füßchen das niedlichste ist, was man irgend sehen kann. Sie ist sehr blond, folglich hat sie einen zarten Teint und veilchenblaue Augen. Sie disponiert über ein Vermögen von 25 000 Franken jährlicher Einkünfte, und um kurz zu sein: sie ist meiner wert, ich werde sie heiraten oder vielmehr: sie mich. Du glaubst nicht, Freund, wie zärtlich und innig wir uns lieben. Meine Dorothea liest den Kant, Schiller und Jean Paul und versteht sich trefflich auf Hydraulik.«

»Auf Hydraulik?« fragte ich lachend.

»Ja, und auch ich habe bereits große Fortschritte in dieser Wissenschaft gemacht. Sie fragt mich stets nach meiner Meinung, und da muß ich denn freilich die Miene annehmen, als hätte ich die ganze deutsche Empfindsamkeit inne. Dies wird mir leichter als du denkst. Ich merke mir gewöhnlich eine oder die andere ihrer Lieblingssituationen, die ich bei vorkommenden Gelegenheiten stattlich anzuwenden verstehe. Vergangenen Sommer lagen wir eines Nachmittags im Fenster, als gerade ein Gewitter aufzog. Dorothea schwatzte allerlei über die schweren, finstern Wolken. Ich aber unterbrach ihren rührenden Sermon, indem ich auf ihre zierliche kleine Hand die meine legte und sagte: ›Glopschtogge!‹Klopstock, eine Situation aus »Werthers Leiden«. Da schloß sie mich zärtlich in ihre Arme, nannte mich ihren innigstgeliebten Mann und gab mir mehrere sehr wohlschmeckende Küsse. Halt! dachte ich, werd' ich für die Anstrengung, einen solchen barbarischen Dichternamen auszusprechen, schon so reichlich entschädigt, so darf es hiermit sein Bewenden noch nicht haben. ›In diesem Augenblick, o Geliebte‹ so fuhr ich fort, ›laß mich eine lang gehegte Bitte wagen, hast du das Herz, sie mir zu verweigern?‹

›Gewiß nicht! wenn dieser Moment dich veranlaßt, sie auszusprechen.‹

›Versprich mir, mit keinem Manne zu walzen, außer mit mir!‹ entgegnete ich dreist. ›Herr Goethe hat recht zu sagen, der Walzer sei ein gefährlicher Tanz‹ – Sie sprach kein Wort, drückte stumm meine Hand und erhob das feuchte Auge zum Himmel, und nie ist ein Versprechen ernster gehalten worden, als dies stumme. Ja, ja! sie ist ein vollkommenes Geschöpf, und nur weil auf dieser Erde nichts absolut Vollkommenes existieren soll und alles überirdische demnach gleichsam seinen irdischen Beigeschmack behält, muß meine himmlische Dorothea ihre blütensüßen, mondscheinduftigen Empfindungen in einem Dialekt verkünden, wo ›mon ange‹ wie ›mon anche‹, ›vouloir‹ wie ›foulo-ar‹ klingt.«

»Wie aber hast du ihre Bekanntschaft gemacht?«

»Schon im vorigen Jahre! Damals lebte noch ihr Mann, der selige Herr Graf, der vor einigen Monaten die Gefälligkeit hatte, an der Brustwassersucht (er soll unmäßig getrunken haben) zu sterben und seine 25 000 Franken jährlicher Einkünfte ihr zu hinterlassen. Er hatte sie als ein armes Fräulein ihrer Schönheit halber geheiratet, lebte aber sehr unglücklich mit ihr. Ich gewann ihr Herz, weil ich mit großer Teilnahme und Geduld ihre Klagen über das rohe Gemüt und gefühllose Wesen ihres Gatten anhörte. Sie nannte mich oft einen der Besseren meines Geschlechts und erwies mir hinsichts ihrer Klagen ein unumschränktes Vertrauen. Mit einem Worte, unsere Herzen hatten sich schon damals gefunden, und sie verlebt nur noch ein züchtiges Trauerjahr – denn schwarz läßt allen Blondinen ungemein gut – um sich dann nebst ihren 25 000 Franken ewig mir zu verbinden. Auch von dir, Freund, und deinem Erfolge bei dem Vortrag deutscher Dichterwerke hat sie gehört und mich gebeten, dich einmal zu ihr zu führen. Sag' Raphael! setze ich nicht großes Vertrauen in dich? Ist es so ganz gefahrlos, einen Mann deiner Art persönlich in seine Attachements einzuführen? Aber wie gesagt, ich habe Vertrauen zu dir, das Vertrauen, daß du mir nicht schaden kannst bei ihr. Sie wünschte deine Bekanntschaft, und jeder ihrer Wünsche ist mir ein Befehl. Vor allen Dingen aber liegt mir daran, diesen ihren Wunsch zu erfüllen, der an sich mir bei weitem gefährlicher schien als seine Erfüllung. Ihr werdet einander sehen, einander mißfallen, du bist romantisch, sie klassisch gestimmt; nicht einmal ein Anknüpfungspunkt zum Gespräch findet sich zwischen Euch, Ihr könnt Euch nur miteinander langweilen.«

»Und soll ich's dir etwa Dank wissen, daß du zu solchen Bekanntschaften mir verhilfst?«

»Freund, es muß sein, meinethalben! Mir zuliebe mach' dich heut nur unausstehlich – nun, nicht mehr und nicht weniger, als du von Natur es bist.«

Wir kamen an vor einem unscheinbaren ländlichen Gebäude mit einem Strohdache. In der schwarzgekleideten Blondine, die uns empfing, erkannte ich, nach Rastignacs Beschreibung, die schwäbische Gräfin. Sie nötigte uns über den mit hartem Lehm gepflasterten Flur in ein ländliches Zimmer, dessen Dielen mit feinem weißen Sand bestreut und dessen Möbel nur von gewöhnlichem Holze waren; an der Decke sah man die Querbalken. Außer einer gewissen holländischen Reinlichkeit fand sich nichts, was dem Zimmer irgend hätte zum Schmucke dienen können. Rastignac stellte sie mir als seine Braut vor, und sie fing an, mit Vorwürfen ihn zu überhäufen, daß er, ihrer Sehnsucht spottend, so lange auf sich warten ließe. Er entschuldigte sich mit seinen gewöhnlichen Gascognaden, erzählte von hohen Personen und Gesandten und seinen Unterredungen mit ihnen und schloß jedesmal mit dem Seufzer: wie die Sehnsucht nach der Geliebten ihm alle Lust an Geschäften raube.

Mir aber standen lebhafter als je Feodorens herrliche Zimmer und Säle vor Augen. Die Pracht ist nicht so ganz Äußerlichkeit des Lebens, gewissen Charakteren ist sie notwendig eigen. Feodora war geschaffen, die Luft, in der sie weilte, rings mit Reichtum zu vergolden. Prachtliebe ist edel und keusch. Die mystische Heiligkeit ihres Schlafgemachs, war sie etwa bedeutungslos? Nichts Menschliches durfte sich ihr nahen, hatte sich ihr je genaht! Hier war's umgekehrt. – Die gute, trauernde Blondine, die sich ohne Rückhalt schon einem Rastignac hingab, konnte nur in alltäglicher und der allergeringsten Umgebung Figur machen. Dennoch aber darf Gewöhnlichkeit, die nicht ahnt, was zu Ansprüchen reizt, Ansprüche nicht verdammen wollen. Dem Nichts ziemt Anspruchslosigkeit, aber es darf in dieser Anspruchslosigkeit nicht Ansprüche begründen; dies ist ein Vorrecht der Größe. Ein Friedrich, ein Bonaparte durften Äußerlichkeit verachten und hintansetzen. Es will mir deshalb auch nicht gefallen, einen König und dessen Minister in bürgerlicher Tracht zu sehen. Bürgerliche Eleganz ist nur ein Inkognito, worin Größe sich versteckt, Alltäglichkeit aber mit geheimnisvoller Wichtigkeit prunken kann. Ich bin überzeugt, daß der erste Bürgerkönig, der ein wahrhafter König ist, die alte Kronenpracht des Königtums wieder herstellen wird; vielleicht nur, um persönlich, wie ein Bonaparte oder Friedrich, den ringsum verbreiteten Glanz zu verachten.

Aus diesen Träumereien erweckte mich die Gräfin mit der Frage: was ich zu Goethes »Hermann und Dorothea« und der »Luise« von Voß meinte. – Ich mußte zu meiner Beschämung bekennen, daß ich das erstere Gedicht zwar in früher Jugend gelesen, mich aber wenig davon angesprochen gefühlt, das andere aber zum erstenmal nennen hörte.

»Meine Lieblingsgedichte!« rief sie mit glänzenden Augen, und das Gespräch schien hiermit abgebrochen. Wollte sie sich mit einem Menschen, der diese Gedichte nicht kannte, weiter nicht einlassen? Oder wußte sie nur über diese Gedichte zu reden? oder war sie ganz Auge und Ohr für Rastignac?

Dieser begann endlich: »Im Vortrag zeigt sich, wer den Dichter versteht. Auch meine Braut trägt Gedichte vor und nicht nur deklamatorisch, sie singt auch! – Es wird dich nicht gereuen, ihr eines meiner und ihrer Lieblingslieder auf dem Pianoforte zu begleiten.«

Ich war bereit dazu, die Gräfin machte Umstände. »Teuerste Dorothea,« rief Rastignac, »ich beschwöre dich! Der Herr Marquis ist von all meinen Bekannten der würdigste, dich zu hören! Auch ihm ist das Konzertgegurgel und -getriller verhaßt, auch er liebt die Einfachheit, die Naivität der Kunst, mit der dein Gesang so eigentümlich bezaubert.«

»In der Tat,« bemerkte Dorothea, »nichts ist mir mehr zuwider als unsre jetzigen Opern und Konzerte. Auch die Mozartschen und Gluckschen Meisterwerke höre ich deshalb nicht mehr, weil die erhabensten Momente durch die unbescheidenen Kadenzen und Koloraturen unsrer Sänger verdorben werden. Aber der Herr Marquis sind vielleicht andrer Meinung. Indes, ich darf mich nicht sträuben, es ließe sonst wie Ansprüche.«

Sie setzte sich ans Klavier und sang, zu meiner Begleitung, auf Deutsch: »Namen nennen dich nicht!« und »Herz, mein Herz«. Besonders im letzten Liede ward das viel zu langsam genommene Tempo immer noch langsamer. Rastignac saß mit einer malerischen Physiognomie verloren im Horchen da. Sie schwieg, und Tränen perlten in ihren Augen.

»Daß ich Goethe wäre!« sagte Rastignac. »Ich bin selbst auf die Empfindungen, die ein ferner Dichter in dir weckt, eifersüchtig. Süße Dorothea, warum bin ich kein Dichter? Aber ich will ein Dichter werden, ich muß ein Dichter werden, und sollte es mir auch nur wie jenem Kantor gehen, dessen Gedichte immer kürzer wurden, und die er sich doch um so teurer bezahlen ließ. Als man ihn nach der Ursach fragte, versicherte er: je kürzer die Gedichte wären, um so größerer Wert stecke darin, und nächstens würde er ein Gedicht von einem einzigen Worte machen, das unbezahlbar sein solle. Solch ein Gedicht, von einem einzigen Worte, habe ich gemacht, nur hatte ich immer noch keinen Mut, es niederzuschreiben.« – Die letzten Worte hatte er ausschließlich an mich gerichtet, so daß ich fragen mußte, wie sein Gedicht denn laute. – »Ich will es meiner Braut leise sagen,« fuhr er fort und flüsterte ihr ziemlich vernehmbar ins Ohr; »Dorothea!« Sie wandte sich lächelnd und gab ihm einen leisen Nackenstreich.

Wir gingen zu Tische, das Mahl bestand aus einer Milchsuppe, Fischen, Gemüsen und Eiern und entsprach vollkommen der Umgebung.

»Aber du ißt ja nichts?« fragte die Gräfin den Rastignac.

»Wunderts dich? Bin ich nicht ein Bräutigam, schickt es sich für einen Liebenden, starken Hunger zu haben?«

»Aber auch Sie, Herr Marquis, genießen so wenig! Freilich, unser frugales Mahl ist nicht nach Ihrem Sinne. Der böse Rastignac ist Ursach, der mich mit einem so seltenen Gaste dermaßen überraschte, daß mir keine Zeit blieb zur geziemenden Vorbereitung.«

Eben wollte ich die Schuld auf das üppige Frühstück schieben, wozu mich Rastignac eingeladen. Aber der Unverschämte rief: »Schweig nur, mein Freund, wir wissen, daß auch du liebst und wen du liebst und für wen du, Trank und Speise verschmähend, seufzest. Vergib, ich war indiskret, aber ich bin nun einmal mit meiner holden Braut ein Herz und Seele. Nun denn, Feodora!« fuhr er fort und hob sein volles Glas.

Ich wollte eben anklingen, als Dorothea unwillig fragte: »Wie? das kalte, seelenlose Geschöpf?« Ein einziger verächtlicher Blick strafte sie. Ich fühlte, wie Zorn glühend aus meinen Wangen strömte.

»Vergib, Freund,« nahm Rastignac das Wort, »die Aufwallung eines guten Herzens; du bist freilich jetzt nicht gestimmt, dergleichen gern zu hören, und dennoch ist's die Stimme eines Engels, die so dich warnen muß. Oh« – fuhr er in gerührtem Tone fort – »wirst du denn nimmer begreifen, daß Liebe nicht in prächtigen Palästen heimisch ist, wo Ehrgeiz, Habsucht und Intrige weilen, daß sie sich nach einem stillen, abgeschiedenen Plätzchen sehnt, sich gänzlich selbst zu leben? Sieh uns beide!« Er ergriff Dorotheens Hand. »Eines ist dem andern alles, ja oft überrascht es uns, wie wir so ganz füreinander geschaffen sind. Oft fällt mir selber ein, was Dorothea soeben ausspricht, oft fühle ich, was ganz ihrer Brust entnommen scheint! Welche Augenblicke haben wir schon miteinander verlebt! Weißt du noch, Geliebte, vorgestern, wie wir in sternheller Nacht da saßen und du die Bemerkung machtest, daß es die Nachtwächter im Winter doch gut hätten: Worte, die du mir geradezu aus dem Munde nahmst? Wie wir da überein kamen, daß wir zwei gleiche, ganz füreinander geschaffene Hälften seien? Als mir da plötzlich beifiel (denn wer mag stets an solche Alltäglichkeiten denken), daß unser Vermögen nicht ganz gleich sei, worauf du erwidertest: du freutest dich, eine Probe von Uneigennützigkeit der Liebe ablegen zu können, worauf ich erwiderte: warum muß ich dir diese Probe schuldig bleiben, was doch sonst meine Sache nicht ist. Du entgegnetest: Neidischer! Ich: o deine Liebe ist in ihrer Überschwenglichkeit grausam. Dorothea weinte. – Und wem sage ich das? fuhr Rastignac noch weinerlich fort. Dem, der von solchem Glück nichts wissen will, der das Herz nicht anerkennt und nur phantastisch rasen kann und schwärmen. Ach Raphael! – nicht jeder ist der Liebe fähig, sie wohnt nur in fühlenden Herzen; du Unglückseliger liebst eine Bildsäule!« – Bei diesen Worten fing er wirklich und heftig an zu weinen, laut schluchzend erhob sich Dorothea und verließ das Gemach. Ich wußte nicht, ob ich mich über diese Unverschämtheit ärgern oder lachen sollte. Er trocknete seine Tränen und fuhr im weinerlichen Tone fort: »Habe ich dir nicht gesagt, meine Braut versteht sich trefflich auf Hydraulik, und ich habe auch bedeutende Fortschritte darin gemacht?«

Nach einiger Zeit erschien die Gräfin mit rotgeweinten Augen wieder. Schweigend vollendeten wir das Mahl, während ich die traurigste Figur von uns dreien spielte. – Wie froh war ich, als Rastignac mit einem langanhaltenden Händedruck von seiner Braut endlich Abschied nahm und wir wieder das Tilbury bestiegen.

»Und mit diesem albernen, geschmacklosen Geschöpf willst du dich auf ewig verbinden?« – fragte ich, als wir im Freien waren.

»Respekt vor meiner Braut!« gebot er. »Ich dachte mir wohl, daß es so kommen würde, schon bei deinem Eintritt lag der auffallendste Mißmut in deinen Zügen, und sie hat mir zum Abschied zugeflüstert: ich sollte ihr den steinernen, vornehmtuenden Gast aus den Augen schaffen. – Übrigens hoffe ich, sehr glücklich mit ihr zu leben, und ich liebe sie in der Tat, mit der Liebe, deren ich fähig bin. Du bist viel zu sehr Enthusiast, um in der Hinsicht mich zu verstehen. Es geht mir wie so manchem, der sich frühzeitig allen Genüssen ergibt, ich kann nur verliebt sein, indem ich mir einbilde, ich sei es. Auch ihre Empfindungen sind keine wahrhaften, doch hat sie vor mir voraus, daß sie daran glaubt. Sie ist schön, etwas korpulent, und das gefällt mir; eine Deutsche, also zärtlich, sanft und naiv. Sie ist sehr weinerlich, und das rührt mich jedesmal, sie merkt nie, daß ich mich über sie lustig mache, und ich empfinde eben am tiefsten, wo ich mich über meine Empfindung lustig mache. Ernsthaft zu seufzen, ist mir nicht gegeben.«

»Und dich erfreut eine Rolle, die dich einem Betrüger und Bösewicht nahe bringt?«

»Sachte, Freund! Weise mir eine Bosheit, eine Schlechtigkeit im Leben nach! Ein so gutherziges Wesen wie ich hat das Privilegium, sich über Welt und Menschen lustig zu machen. Ich mag nicht leugnen, daß meine Grundsätze jesuitisch werden können, sobald man sie mißverstehen oder entstellen will, ich aber bin wenigstens kein Schelm aus Vorteil, Geistesstumpfheit oder verstocktem Herzen, sondern meines Temperaments und Blutes halber. Wäre meine Schelmerei strafbar, woher stehen denn die ganze Welt und alle Menschen im geheimen Einklang mit ihr? Diese Schelmerei ist der Scharfblick, der mich stets richtig leitet, vermöge dessen ich den Charakter, die Sitten, Pläne, Schwächen und Lächerlichkeiten eines jeden augenblicklich errate. Selbst die Freude an der leblosen Natur begründet sich auf diese Schelmerei. Man kann als Kind nur der Natur sich freuen. Sie ist keck, unüberlegt, zuversichtlich, wunderlich, mit einem Worte: ich begreife nicht, wie es möglich, sie erhaben und rührend zu finden. Das gehört aber in jene Zeit, wo man an Götter glaubte, nichts von der Chemie wußte und keine Maschinen hatte. Man nennt mich witzig, lustig, aufgeweckt, aber ich zweifle, ob ich's bin. Denn die Welt und die Menschen nur sind rings um mich her so übertrieben komisch, und jeder könnte dies, so gut wie ich, wahrnehmen, hätte er nur nicht so wichtige und ernste Geschäfte mit sich und andern. Wollte ich mein Talent zur Intrige benutzen, oh, was hätte aus mir schon werden können! Aber ich mache von nichts Profession, will mich keinem Zwecke, Plane oder Geschäfte widmen, sondern leben und müßig gehen, und manche achtbare Männer, unbeschadet ihrer Gewissenhaftigkeit, erlauben sich, um zu ihrem Amt oder Glück zu gelangen, mehr als meiner bequemen und sorglosen Lustigkeit je in den Sinn kommen wird. – In meinen Reden schildere ich mich oft schlechter als ich wirklich bin, denn wie sollte ich auch anders mit mir umgehen? Wenn ich aber gesagt habe, daß ich meine Dorothea ihres Geldes halber nehme, so habe ich mich selbst damit beleidigt, nicht meine Moralität, sondern meinen Geist, denn vermöge meiner Geschicklichkeit könnten sich wohl reichere Partien noch für mich finden. Muß man denn immer das Ideale lieben wie du? Streng genommen ist dies egoistisch, denn man liebt sich in seinen Idealen nur selbst, sucht sein Selbst in der ganzen Welt und klagt: es nicht zu finden! Such' dir dein Ideal, und dann besieh es dir genau! Ich nehme nun einmal mit dem Vorhandenen vorlieb, sei es auch abgeschmackt oder absurd, mit einem Wort: ich hänge an Welt, Wirklichkeit und Leben.« – »Und bis wohin denkst du, mit diesen Ansichten zu kommen?« – »Durchs Leben unstreitig, und weil sie vielleicht nicht geradezu selig machen und in den Himmel fördern, bin ich nebenbei auch guter Katholik.«


 << zurück weiter >>