Josef Baierlein
Im Wüstensand
Josef Baierlein

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3.

Noch am Abend dieses Tages kam das gräfliche Ehepaar in Roggenfeld an und ließ sich im alten Jagdschlosse nieder. Wider Erwarten war das Gefolge nicht sehr zahlreich. Außer einem Arzt begleiteten die Herrschaften nur ein Kammerdiener für den Grafen, eine Kammerfrau für seine kranke Gemahlin, ein Koch und zwei Kutscher. Die Gräfin wollte nämlich so wenig wie möglich Menschen um sich sehen, und um diesem Verlangen, das seine Ursache in ihrer Schwermut hatte, nachzukommen, hatte der Graf die für den jetzigen Landaufenthalt bestimmte Dienerschaft auf das unumgänglich notwendige Personal beschränkt.

Der Arzt wohnte selbstverständlich mit im Schlosse, ebenso der Kammerdiener und die Kammerfrau für das gräfliche Paar, und da sich dort auch die Küche und die Stallungen befanden, mußten der Koch und die Kutscher 20 gleichfalls darin untergebracht werden. So kam es, daß das Kavalierhaus nicht belegt wurde, und daß die Försterswitwe nicht, wie der Kastellan geglaubt hatte, auch in ihrer Behausung für fremde Gäste zu sorgen brauchte.

Dagegen wurde Frau Magdalenes Tätigkeit in anderer Weise reichlich in Anspruch genommen. Der Koch hatte keinen Gehilfen bei sich, sondern darauf gerechnet, daß die Mägde der Kastellanin auch ihm an die Hand gehen würden. Als sich aber herausstellte, daß die alte Frau gar keine Magd hielt, und daß die Dorfdirnen viel zu ungeschickt waren, um in einer gräflichen Küche nützlich verwendet zu werden, da wäre guter Rat teuer gewesen, wenn die Försterswitwe sich nicht freudig bereit erklärt hätte, in die Lücke einzuspringen.

Auf diese Weise fand sie schon am ersten Tag nach der Ankunft des Grafen vollauf Beschäftigung im Schlosse, und vom ersten Tage an war auch der herrschaftliche Haushalt im Gange und wickelte sich unter der Aufsicht des Kastellans so ruhig und regelmäßig ab wie ein gutes Uhrwerk. Was für den Bedarf der Gäste der Keller des Schlosses nicht bot, was sich im Dorf und dem nahen Marktflecken nicht auftreiben ließ, das holte einer von den 21 Kutschern täglich in der vier Stunden von Roggenfeld entfernten Stadt mit dem Wagen ab, während der andere, der Befehle des Grafen gewärtig, zurückblieb. Zu Botengängen und Besorgungen in der Nähe wurde aber stets der junge Walter verwendet. Der Knabe war nicht wenig stolz darauf, daß man ihm schon manche Aufträge anvertrauen konnte. –

Seit der Ankunft des gräflichen Paares war nun bereits eine Woche verstrichen, und noch immer hatte niemand von den Leuten im Dorf die Gräfin zu Gesicht bekommen. Ihrem Gemahl waren sie allerdings schon einigemal begegnet, wenn er entweder zu Fuß die Gegend durchstreifte, oder zu Pferd einen Spazierritt durch den Wald unternahm. Er war ein schöner und stattlicher, noch nicht vierzigjähriger Herr, mit milden Zügen und traurigen Augen. Der Verlust seines einzigen Sohnes und das Schicksal seiner Frau mochten ihm wohl schwer auf dem Herzen liegen.

Die kranke Dame aber war bisher stets unsichtbar geblieben. Sei es, daß der Arzt die immerhin noch etwas herbe, wenn auch warme Frühlingsluft für ihre schwache Brust nicht zuträglich hielt und deshalb einen Ausgang verboten, oder daß sie selbst, von ihrem Leiden beeinflußt, sich weigerte, ins Freie zu gehen, 22 – sie hatte ihre Gemächer noch nicht verlassen, sondern saß Stunde um Stunde, Tag für Tag im abgelegensten Zimmer, wo sie teilnahmlos für alles, was um sie vorging, in irgend eine Ecke starrte, und ohne ein Wort zu sprechen, der verzehrenden Erinnerung an den ihr entrissenen Sohn nachhing. Weder Vorstellungen noch Bitten waren imstande, die Kranke aus ihrem apathischen Hindämmern aufzurütteln. Nur wenn von Zeit zu Zeit ein quälender Husten den schwachen Körper erschütterte, flog eine Art freudiges Leuchten über das vergrämte Antlitz der Leidenden. Es schien, als dächte sie in solchen Augenblicken: »Gott sei Dank! Denn lange wird es nicht mehr dauern, dann bin ich wieder vereinigt mit meinem toten Knaben.«

Daß diese tiefe Schwermut der Gräfin den Arzt und ihren Gemahl noch mehr ängstigte als der starke Husten, läßt sich leicht begreifen. Denn letzterer war nur ein Zeichen von Brustkrankheit, während die Schwermut der Patientin, wenn es nicht gelang, ihre Teilnahmlosigkeit wirksam zu bekämpfen, sich über kurz oder lang zu vollständiger geistiger Umnachtung entwickeln konnte. Aber bisher waren alle gutgemeinten Bemühungen, die Gräfin für die Erscheinungen des täglichen 23 Lebens zugänglicher zu machen, an ihrem passiven Widerstand gescheitert. –

Unterdessen war der Frühling immer weiter vorgeschritten. Die Sonne leuchtete warm vom wolkenlosen blauen Himmelszelt herab, der grüne Wald widerhallte vom Gesang unzähliger Vögelein, und in der weichen Luft wogte ein ganzes Meer von Wohlgerüchen.

In dieser herrlichen Zeit der zu neuem Leben erwachten Natur hatte der Graf seine Gemahlin endlich doch zu überreden vermocht, ihn an einem Nachmittag auf einem Spaziergang durch die dem Schloß zunächst gelegenen Waldpartien zu begleiten.

Der kurze Ausflug bot aber wenig Vergnügen. Schwach und mühsam schleppte sich die in Trauergewänder gehüllte Kranke am Arme ihres Gatten fort, und alle Versuche desselben, sie auf die ringsum ausgebreitete Frühlingspracht aufmerksam zu machen, schlugen fehl. Man merkte ihren einsilbigen, oft ganz unpassenden Antworten an, daß sie die Reden des Grafen entweder überhört oder mißverstanden hatte. Der Arzt, welcher neben dem Paar herging, weniger um gleichfalls frische Luft zu schöpfen, als um die Kranke zu beobachten, schüttelte ein um das andere Mal 24 bedenklich den Kopf. Er hatte sich von diesem Spaziergang einen besseren Erfolg versprochen.

Da, – was war das?

Die Gräfin blieb plötzlich stehen, beugte den Oberkörper vorwärts und lauschte.

Auf dem Fußpfad vor ihnen sang jemand, den man noch nicht erblicken konnte, weil ein den Weg versperrendes Gebüsch seine Gestalt verbarg, mit frischer heller Stimme ein Jägerlied.

»Im Wald und auf der Heide
Da hab' ich meine Freude,
Ich bin ein Jägersmann,
Ich bin ein Jägersmann.
Halli hallo, halli hallo!
Ich bin ein Jägersmann«

tönte es durch den grünen Wald, und die auf den Zweigen sich wiegenden Vögel begleiteten mit Flöten, Zwitschern und Girren den fröhlichen Gesang.

Der Graf fühlte, wie der Arm der Leidenden, der im seinen lag, heftig zitterte, und wie mit einemmal ihr ganzer Körper zu beben begann.

25 »Horch, Erwin!« flüsterte sie ihm zu, »dieses Lied – diese Stimme! Das ist mein Karl – mein süßer Knabe –«

Der Sänger fing die zweite Strophe seines Liedes an.

»Die Forsten recht zu pflegen,
Das Wildbret treu zu hegen,
Hab' meine Freud daran,
Hab' – –«

Er wurde jäh unterbrochen. Mit einem lauten Aufschrei hatte die Gräfin sich vom Arm ihres Gemahls losgemacht und war, ehe der Graf oder der Arzt sie daran hindern konnten, hinter das den Fußpfad überrankende Gebüsch mehr gestürzt als gelaufen. Dort befand sie sich einem Knaben gegenüber, welcher die ihm unbekannte, schwarz gekleidete Frau mit erstaunten Blicken betrachtete. Das Erstaunen steigerte sich aber zu unverhohlener Scheu, als ihn die Dame plötzlich in die Arme schloß und seine Augen, die Wangen und den Mund mit ungestümen Küssen bedeckte.

»Mein Karl!« rief sie dabei, »mein lieber Sohn! – ich habe dich wieder! Gott hat also mein unausgesetztes Flehen erhört. Er hat ein Wunder gewirkt und dich mir aufs neue geschenkt.«

26 »Sie täuschen sich, gute Frau,« sagte der Knabe, indem er sich aus ihrer Umschlingung wand. »Ich bin nicht Ihr Sohn und heiße auch nicht Karl, sondern Walter Wetterwald. Meine Mutter ist die Försterswitwe von Roggenfeld und ich gehe jetzt heim zu ihr. Der Herr Kastellan hat mich nämlich mit einem Auftrag nach Herbertshofen geschickt; den habe ich ausgerichtet und komme nun von dort zurück.«

»Wie?« sagte sie traurig, »du bist nicht mein Karl? Mich hat also nur eine Ähnlichkeit irre geführt? Dann wehe mir armen Mutter!«

Und sie schlug die Hände vor ihr Angesicht, um die Tränen zu verbergen, die den Augen unaufhaltsam entströmten.

»Fasse dich, Amalie,« tröstete sie der Graf, der mittlerweile mit dem Arzt eilig herangetreten war. »Ich kenne den Knaben. Er ist wirklich der Sohn der Witwe Wetterwald.«

»Ach Erwin!« wandte sie sich an ihren Gatten, »ist es mir zu verargen, wenn ich mich von dieser seltsamen Ähnlichkeit täuschen ließ? Schon die Stimme und das Lied, das unser Sohn so oft gesungen, erinnerten mich an ihn. Und nun betrachte diese blauen Augen, die 27 blonden Locken, das Gesicht und die ganze Haltung des Knaben! Müßte unser Karl, wenn ihn Gott nicht aus dem Leben abgerufen hätte, sich nicht gerade so entwickelt haben? Müßte er in diesem fremden Jungen nicht sein Ebenbild erblicken? Komm!« sagte sie hierauf zu Walter, »führe mich heim in eure Wohnung! Ich will wissen, wo du lebst; ich will deine Mutter kennen lernen.«

Damit ergriff sie die Hand des Knaben und schritt mit ihm den Weg nach Roggenfeld zurück. Er wagte keine Widerrede; denn er wußte nun, wer die Frau war, und fühlte sich wunderbar zu ihr hingezogen.

»Was sagen Sie zu diesem Vorfall?« fragte der Graf den Arzt, der mit ihm langsam hinter den beiden herging.

»Ich danke der Vorsehung für diese Begegnung und knüpfe daran die glücklichsten Hoffnungen,« antwortete er. »Sie hat die Kranke aus ihrer Teilnahmlosigkeit aufgeschreckt und zum erstenmal ihr Interesse wieder geweckt an Dingen, die außerhalb ihres schwermütigen Ideenkreises liegen. Daß sie seit langer Zeit wieder einmal Tränen vergoß, können wir auch als ein günstiges Zeichen betrachten. Wenn diese Gemütsregung nicht so rasch verflackert, wie sie unerwartet schnell 28 aufgetreten ist, dann dürfen wir mit Sicherheit eine Besserung des geistigen Zustandes der Kranken erwarten, und damit kann auch die leibliche Genesung Hand in Hand gehen.«

»Gott gebe es!« sagte der Graf mit einem Aufblick zum Himmel, in dem ein ganzes, gläubig vertrauendes Gebet eingeschlossen war. – 29

 


 


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