Josef Baierlein
Unschuldig verurteilt
Josef Baierlein

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VI.

Am 28. Oktober 1813 traf die Vorhut des von Wrede befehligten bayerisch-österreichischen Heeres bei Hanau ein. Ein Teil derselben besetzte die Stadt, ein anderer, darunter das Amberger Regiment, biwakierte auf freiem Felde am linken Ufer des bei Hanau in den Main einmündenden Kinzigflüßchens.

Streifpatrouillen hatten die Meldung gebracht, daß auch die Avantgarde der französischen Armee sich der Stadt nähere, weshalb ein baldiger Zusammenstoß mit dem Feind zu erwarten sei. Es war daher äußerste Wachsamkeit und Vorsicht geboten. Den Kompagnien, welche den Vorpostendienst versahen, war anbefohlen, namentlich während der Nacht gute Wache zu halten und nichts zu übersehen, damit der Feind nicht etwa den Versuch mache, die Stadt durch einen Handstreich zu überwältigen.

Auch Joseph Binder war zum Vorpostendienst kommandiert. Seine Kompagnie nahm eine ziemlich vorgeschobene Stellung westlich von Großauheim ein, und er selbst stand nahe bei diesem Dorf hinter einem Apfelbaum, dessen Stamm ihm Deckung bot. 34 Statt aber scharfe Ausschau zu halten, ob nirgends etwas Verdächtiges wahrzunehmen wäre, stierte er gleichsam geistesabwesend vor sich nieder und hörte, wie ihm das Herz vor Furcht mit lauten Schlägen pochte.

Der feige Mensch war vor Angst fast außer sich. Schon in wenigen Tagen, vielleicht noch früher, mußte er auf sich schießen lassen, – er, der den Tod so sehr fürchtete. Hatte er doch manches auf dem Gewissen, was ihm den Gedanken an Sterben und ewige Vergeltung furchtbar machte. Heute stand er noch Vorposten, morgen konnte er schon stumm und starr auf dem Schlachtfeld liegen. Wenn ihm der Wolfgang Schmiedkonz, der miserable Kamerad, in Amberg jene drei Gulden nicht abgeschlagen hätte, brauchte er jetzt nicht unter diesem Apfelbaum zu stehen und vor jedem Windstoß zu erschrecken. Nur der Schmiedkonz war schuld an seinem Elend. O, wie er ihn dafür haßte, den falschen Duckmäuser!

Freilich, ein Mittel gab es noch, um von aller Angst und Furcht erlöst zu werden. Er kannte ja die Passauer Kunst, und wenn er die in Anwendung brachte, war er geborgen. Dann war er gefeit gegen Kugel und Klinge, gegen Hieb und Stich; kein Schuß konnte ihn treffen, kein Säbel ihn verwunden. Eher mußte der auf ihn gezückte Degen in der Luft von selbst zerbrechen, als daß er seinen Leib berührte. Und die Passauer Kunst war auch zuverlässig; denn kein hergelaufenes Türkenweib hatte ihm das 35 Geheimnis verraten, sondern sein eigener Vater, der ihn gewiß nicht hänseln wollte, wie er mit dem Schweißfußkunststück gehänselt worden war. –

Das waren die Gedanken, denen der rote Sepp immer wieder nachgrübelte, während er unter dem Apfelbaum Vorpostendienst machte. Der beschränkte, verstandesarme Bursch, der in seinen Knabenjahren, statt fleißig die Christenlehre zu besuchen, lieber Possen getrieben und Schelmenstücklein ausgesonnen hatte, war steif und fest überzeugt von der Wirksamkeit der abergläubischen geheimen Kunst, in deren Besitz er sich wähnte.

Er hätte sie sicher auch schon ausgeübt, wenn nicht wiederum seine Furchtsamkeit ihn abgehalten hätte. Die Sache war nämlich nicht ganz leicht zu bewerkstelligen. Es gab dabei einen Haken. Als der alte Hirt von Großensees seinem Sohn die geheime Kunst beibrachte, hatte er gesagt:

»Merk auf, Bub', wie die Sache gemacht wird. Zuerst mußt du dir einen geweihten Altarkelch verschaffen. Mit diesem mußt du dann aus einem laufenden Bach am frühen Morgen noch vor dem ersten Hahnenschrei Wasser schöpfen und darein den Saft von neunerlei Kräutern auspressen. Wenn du das so präparierte Wasser unbeschrien, das heißt: ohne daß dich dabei ein Mensch anredet, bei nüchternem Magen austrinkst und dabei den Wund- und Waffensegen sprichst, bist du festgemacht und keine Kugel und keine Klinge kann dir jemals etwas anhaben.«

36 Dann hatte der alte Hirt seinem Sohn die Namen der neun zum Zaubertrank notwendigen Kräuter und einen widersinnig dummen Knüttelvers eingeprägt, der den sogenannten Waffensegen enthalten sollte, und der rote Sepp hatte all dieses hirnverbrannte abergläubische Zeug vertrauend in sich aufgenommen und war jetzt felsenfest der Meinung, er könnte sich festmachen.

Man sollte nun glauben, ein Mensch mit auch nur halbwegs gesunden Geisteskräften müßte schon im ersten Augenblick erkennen, daß solche unsinnige, ja geradezu dumme Dinge unmöglich etwas anderes sein können als Unvernunft, Lug und Trug. Denn welche Kraft soll, um nur ein Beispiel anzuführen, einem angeblichen Waffensegen innewohnen, der wortwörtlich lautet:

»Haller, Haller Segen,
Der Hund frißt den Degen,
Der Degen frißt den Hund,
Und der Heuschreck bleibt gesund?«

Gleichwohl muß als kulturhistorisches Moment betont werden, daß die vermeintliche Kunst des Festmachens, wie Gustav Freytag in seinen »Bildern aus der deutschen Vergangenheit« nachweist, unter den Soldaten ein früher weitverbreiteter Wahn war. Noch in den letzten Kriegen sogar fand man bei sehr vielen gefallenen italienischen und französischen Soldaten mit sinnlosen Worten und Zeichen beschriebene Papierstreifen, die sie als Schutzmittel gegen Kugel und 37 Klinge auf dem bloßen Leibe getragen, die ihnen aber natürlich nichts geholfen hatten. –

Also, auch der rote Sepp glaubte an die Passauer Kunst und er hätte seine geheime Wissenschaft schon längst angewandt, wenn er nicht durch seine Feigheit daran gehindert worden wäre. Denn um einen geweihten Altarkelch zu bekommen, mußte er in eine Kirche einbrechen, und auf Kirchenraub stand, wie er genau aus den Kriegsartikeln wußte, der Tod mittelst Pulver und Blei!

Das war der Haken, welchen die Geschichte hatte, und über diesen konnte seine Furchtsamkeit niemals hinwegkommen, so oft er sich auch vornahm, ein Ende zu machen und trotz der darauf gesetzten Todesstrafe einen Kircheneinbruch zu wagen. Und deshalb grübelte Sepp so viel vor sich hin, daß seine Kameraden dachten, er wäre am Überschnappen. Die furchtbare Sünde, die er durch den Raub eines Altarkelchs auf sich lud, hätte ihn ja nicht abgeschreckt, aber – die Kugel! Wollte er doch gerade gegen alle Kugeln gefeit werden!

Heute aber brannte dem Sepp das Feuer, wie man zu sagen pflegt, bereits auf den Fingernägeln. Wenn er nicht in dieser Nacht noch sich verschaffte, was er zu seiner Kunst benötigte, dann war es zu spät. Bald wurde er vom Posten abgelöst, die letzte gute Gelegenheit, den Streich auszuführen, war in diesem Falle verpaßt, denn schon morgen konnten die französischen Kugeln um ihn fliegen.

38 Der volle Mond stand groß und leuchtend am wolkenlosen Nachthimmel. In seinem hellen Schein konnte Sepp die schlanke Pyramide des Kirchturms im nahen Dorf deutlich erkennen. Es lag eine stumme, fast übermächtige Lockung in diesem Anblick. Sepp raffte seinen ganzen, zweifelnden Mut zusammen, bis er sich entschlossen fühlte, das Wagnis zu bestehen.

Aber wenn man ihn dabei erwischte, oder wenn es entdeckt wurde, daß er seinen Posten verlassen hatte, – jetzt, hart vor dem Feinde?! Wiederum wurde er schwankend. – –

Da – war es Einbildung oder Wirklichkeit? – fiel in der Ferne ein Schuß. Der dumpfe, vom Nachtwind halb verwehte Knall brachte die Entscheidung.

Sepp lehnte sein Gewehr an den Stamm des Apfelbaumes. Dann huschte er, hinter Zäunen und Hecken Deckung suchend, eilig aber leise, wie ein Raubtier schleicht, dem Dorf zu und schlug die Richtung ein, aus welcher der Kirchturm zwischen den Häusern emporragte. – –

Weinend verhüllte sein guter Engel das Angesicht. – 39

 


 


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