Hermann Bahr
Theater
Hermann Bahr

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Elftes Kapitel

Nun geht mein Abenteuer seinem Ende zu. Da weiß ich gar nichts mehr, ich kenne mich nicht aus – das ist es ja. Wie ein Reporter will ich referieren. Mehr kann ich nicht. Sie mögen es sich dann selber suchen!

Ich rannte den ganzen Tag hin und her, vom Direktor zum Maler, bei den Schauspielern herum und in den Redaktionen. Ich hetzte mich schrecklich ab und – redete mir ein, daß es notwendig sei. Eigentlich war es ja doch nur, um nicht allein zu sein. Nur nicht allein mit mir sein, nur nicht nachdenken können! Ich hatte die fixe Idee: die Premiere wird alles ordnen, dann wird alles wieder wie nach jener ersten Premiere sein. Nur jetzt nicht nachdenken, nur jetzt nicht allein sein! Dann wird alles noch gut! O, dann werde ich nicht mehr so dumm sein; dann nehme ich sie heraus, dann ziehen wir fort, von allen Menschen weg, in das Bauernhaus. Was ging mich der Merz an? Hatte ich damals nach den anderen, nach den früheren gefragt? Nur fort, von den Menschen weg und hinaus, hinaus! Ich konnte ja doch nicht ohne sie leben. Jetzt fühlte ich es. Es war eine Schande – meinetwegen! Ich war doch kein Held von Bourget! Nur glücklich sein – ich wollte noch einmal glücklich sein! So glücklich, wie damals, jenen Monat nach der ersten Premiere, so unwissend glücklich. Sonst wollte ich alles vergessen. Nur wieder wie damals, so selig wie damals! Nein, ich bin kein Held, mögen andere Romane schreiben! Glücklich, ich wollte nur glücklich sein! Täglich sagte ich mir: die Premiere bringt es, die Premiere hat es ja damals auch gebracht! Nur aushalten, nur nicht nachdenken, nur aushalten bis zur Premiere! Das war meine fixe Idee.

Ich hatte damals eine geheime Angst, die nicht von mir wich; auf allen Wegen ging ihr Schatten mit. Ich hatte Angst, verrückt zu werden. Es hämmerte in mir, ich fieberte; einfache, dumme Worte konnten mich so rühren, daß ich Mühe hatte, nicht laut zu weinen, und ich wurde von der Traurigkeit der fahlen Bäume auf dem Ring so ergriffen, als wären sie feiernde Bettler. Große Buschen von Schneeglöckchen kaufte ich gern und sah ihre halbverhungerten, gesunkenen Blüten mit einem unbeschreiblichen Erbarmen an. Dann konnte ich auf einmal wieder sehr zornig werden, schrie die Schauspieler an und wurde mit dem Direktor grob. Ich hatte das ruhige Dasein, das normale Leben verloren. Immer war ich gereizt, bald zu einer weinenden Güte, die die ganze Welt umarmen wollte, bald zu einer so fanatischen und wilden Entrüstung, daß ich vor mir selber erschrak. So taumelte, so wankte ich in Wallungen hin und her, ich war unstet und immer hatte ich das Gefühl: das kann ja nicht so fortgehen, das hält man doch nicht aus, die Nerven müssen reißen. Betrunken, das ist das Wort, diese drei Wochen war ich betrunken. Ich erinnere mich: ich redete mit Leuten und wußte gar nicht, wer sie waren. Ich redete, ich schrie, ich war lustig, ich wurde bitter und hatte doch keine Ahnung, was ich sprach, was ich tat. Es war ja kein Wunder: ich bin immer ein stilles, bedächtiges, ja, sagen wir es nur offen: das philiströse Leben arbeitender Menschen gewohnt gewesen. Nun ließ ich mich in ein wildes Vagabundieren ein. Ich wollte nicht allein sein, ich wollte nicht nachdenken, ich hatte Angst vor mir. Nur nicht zu Hause sein! Lärm, Tumult und viele Menschen. Ich schlief zu wenig, ich fürchtete mich zu träumen. Um drei, vier Uhr kam ich heim, um sieben ließ ich mich wecken. Ich fing an, Kognak zu trinken. In der Früh war mir elend, so wüst, so traurig, so zum Weinen. Ich dachte immer: nein, ich kann nicht aufstehen, ich kann das nicht mehr mitmachen, ich habe keine Kraft mehr. Nun, da trank ich. Ich trank aus der Flasche, bis ich so weit war, daß ich mich doch wieder regen und wenigstens anziehen konnte, mir waren die Hände, die Füße so schwer! Aus dem Bett rannte ich in das Bad und duschte mich. Ach duschen! Den müden Kopf unter das entsetzlich kalte Wasser halten; ich wäre am liebsten den ganzen Tag in der Wanne geblieben. So kalt – da vergaß ich alles! Dann trank ich meinen Tee, fünf Schalen, sechs Schalen, ich bekam nicht genug. Sie hatte mir ein amerikanisches Salz geschenkt, mit Salmiak, das hatte ich immer bei mir. Es kitzelte, mir kamen immer die Tränen, aber dann wurde ich doch wieder auf ein paar Minuten ruhig und klar. Ich trug es immer in einer kleinen geschlossenen Phiole und gewöhnte es mir so an, daß ich es zuletzt gar nicht mehr lassen konnte. Und ich trank sehr viel. Damals habe ich begreifen gelernt, daß man sich nach der Flasche sehnt, daß man elend und leer und blöde ist, bis man getrunken hat, und daß man einen gelinden Rausch braucht, um nur erst lebendig zu werden und frei zu atmen. Ich wachte nun sozusagen beim dritten oder vierten Glase Kognak erst auf, dann fühlte ich mich wieder, dann ging es erst wieder und so war ich denn, wenn ich um zehn Uhr auf die Probe kam, immer schon in einem leichten Taumel.

Diese Proben! Was ich da gelitten habe! Leiden ist wohl eigentlich nicht das Wort. Leiden klingt tragisch und edel, aber ich wurde immer nur gestochen und gezwickt. Ich hatte das Gefühl, vor einem unsichtbaren Feind zu stehen: ich konnte ihn nicht treffen, er entwich und schlug doch aus dem Dunkel, wie von einer Wolke herab, nach mir. War ich da, so bekam ich ja nur heitere Mienen zu sehen und die besten Worte zu hören. Aber ich wußte, ich fühlte es genau, daß etwas gegen mich war. Ich mußte mit einem unsichtbaren Gegner ringen. Bei jedem Schritte spürte ich eine schwere, hemmende Gewalt gegen mich. Es war gleichsam, als würde ich bis über die Knie im Wasser gehen: ich watete so und schob mich vor. Dabei glaubte ich, böse Worte durch die Luft fliegen zu hören, die ich doch nicht fangen konnte, und es war mir, als würde ich von harten und höhnischen Augen angeblickt. Wie man in einem finsteren Zimmer schreit, ob jemand da ist, so fing ich oft, um mir Mut zu machen, zu streiten und zu lärmen an. Ich war ein sehr unbequemer, empfindlicher und nervöser Autor. Nichts paßte mir, sie taten mir immer noch nicht genug, es war niemals das, was ich eigentlich wollte. So, ganz so, wie ich das Stück bei mir gesehen hatte, in jenen Stunden der ersten Seligkeit, bevor ich es noch schrieb, so wollte ich es auf der Bühne haben. Ich war unerbittlich, ich gab nicht nach. Ich wundere mich eigentlich, was sich die Leute alles von mir gefallen ließen. Aber ich war eben damals der berühmte Autor! Zwanzig, dreißig Mal ließ ich manche Szene probieren, nie war ich zufrieden, es war auch immer noch nicht das, was ich bei mir gesehen hatte. Und ich konnte ihnen ja nicht sagen, wie ich es eigentlich wollte. Das wußte ich nicht; ich wußte nur, daß ich es anders wollte. Ich konnte es nicht zeigen. Ich sagte nur immer nein und ließ sie es wieder probieren und sagte wieder nein, bis sie es doch endlich so machen würden, daß ich ja sagen könnte. Das ist nun freilich, heute weiß ich es ja selbst, nicht gerade die Art, Schauspieler zu erziehen. Ich darf mich aber über sie nicht beklagen, sie waren unermüdlich und hatten den besten Willen. Was ich verlangte, geschah genau und immer trat am Ende Merz an den Tisch hin, wo ich mit dem Direktor saß, zog den Hut, verneigte sich devot und sagte: »Wünscht der geehrte Herr von Dichter vielleicht noch etwas?« Und doch wurde ich das Gefühl nicht los, daß sie mir feindlich waren; oder eigentlich: daß etwas Feindliches, eine böse, tückische Macht gegen mich in ihnen, unter ihnen war. Ich hatte das Gefühl: du darfst dich nicht umdrehen; du mußt sie immer im Auge behalten, fest im Auge; siehst du einmal weg, dann springen sie von hinten auf dich los!

Nun war ja noch etwas. Ich hatte mich mit Mascha noch immer nicht ausgesprochen. Ich konnte es nicht, ich fürchtete mich; ich hatte nur den einen Gedanken: erst die Premiere, erst die Premiere! Ich wollte jenes vergessen. Ich zwang mich gewaltsam. Darum hatte ich ja zu trinken angefangen, um nur die Stimmen zu betäuben. Aber jetzt sah ich sie täglich mit ihm, neben ihm, in seinen Armen – sie war ja in dem Stück seine Geliebte. Das ist fürchterlich gewesen. Wenn sie so bei ihm stand, ihn ansah und ihm ihre teueren unruhigen Hände hingab, hätte ich sie am liebsten beim Halse gepackt und gewürgt. Er hatte dann ein so insolentes und freches Gesicht – seine wüsten Lippen, das zynische, schon genießende Schauen seiner lasziven Augen, alles war so obszön an ihm, daß ich rasend wurde. Eine Laus auf einer Lilie – so widerlich war mir das. Und ich bildete mir ein, daß sie mich dabei verhöhnten, daß sie bei sich über mich lachten, daß sie es ungeheuer komisch fanden, mich unter meiner Regie zu betrügen. Sie hatten da eine Szene von einer so wilden und beklemmenden Poesie – Sie verzeihen schon, daß ich mich selbst lobe, ich bin ja der Einzige. Die Situation ist die: Der junge Henker, der Sohn, soll morgen die erste Probe liefern, bisher hat er nur dem Vater geholfen, morgen ist eine Hinrichtung, da soll er nun zum erstenmal zeigen, was er selber kann. Er hat sich den ganzen Tag geübt, an einer Puppe, es ist Abend, der Vater kommt und gibt ihm noch ein paar technische Winke, dann bleibt er allein. Ihm graut, ihm ekelt, die ganze Schmach seiner verruchten Existenz wird in ihm laut. Da schleicht sie zu ihm, heiter, verliebt, zärtlich. Wie er sie nun herzt, angesichts der Puppe und der Instrumente, die ihn immer an sein schändliches Metier erinnern, wie er sich auf sie wirft, um sich zu betäuben und zu vergessen, und wie sie nun, während immer der Tod neben ihnen steht, sich am Leben berauschen – ich kann mir nicht helfen: ich finde das heute noch groß gedacht und gefühlt. Aber was habe ich da auf den Proben gelitten! Die zwei spielten das – ich habe so was nie gesehen! mit so ruchlosen und infamen Tönen und Gebärden der Begierde – wie zwei Hunde, die sich auf der Straße anfallen. Ah, ich kann Ihnen nicht sagen, was ich da gelitten habe! Peitschen hätte ich sie mögen, aber ich hatte solche Angst, auch noch lächerlich zu werden, und so saß ich da, ich saß da und biß mir die Lippen durch und lächelte nur, und dann kam Merz noch an unseren Tisch und fragte mit seinem devotesten Ton: »Ist der geehrte Herr von Dichter einverstanden?« Ich fühlte, wie die anderen Mühe hatten, an sich zu halten und ernst zu bleiben. Sie sahen weg, sie zwinkerten und tuschelten, aber wenn mir dann endlich zu heiß wurde und ich auf den Tisch schlug und schrie, dann waren alle so höflich, so bereit, so fügsam, daß ich nichts sagen konnte und mich noch entschuldigen mußte. Dieses Weichen, Entrinnen der geheimen feindlichen Macht, die doch gleich wieder da war, das war das Entsetzliche! Ich hätte endlich einmal einen packen, aus dem Schatten ziehen und mit ihm ringen mögen – entweder stärker sein oder eben erliegen, aber es wäre dann doch entschieden! Nur das konnte ich schon gar nicht mehr ertragen, daß ich so dastehen und ruhig bleiben sollte, während ich von bösen und tückischen Wünschen mit ihrem schlechten Atem angehaucht wurde.

Hatten wir zwei Stunden probiert, so war meistens eine kleine Pause. Mir war dann, als würde ich aus einer sehr unbequemen und steifen Stellung genommen, etwa wie einem Modell, das in einer unnatürlichen Verrenkung gestanden hat. Alles tat mir wehe, ich konnte mich kaum regen. Dabei war mir so wüst im Kopf, ich hätte mich hinlegen und schlafen mögen. Dann gingen wir meistens, Merz und ich, manchmal auch der Direktor, in ein Beisel hinter dem Theater, auf ein Bier. Es gab da ein ausgezeichnetes Pilsener. Wir saßen da, redeten nichts und sahen aufatmend vor uns hin, dehnten uns und verschnauften wie Leute, die von einer schweren Feldarbeit kommen würden.

Dann war alles vergessen, keiner dachte mehr an seinen Ärger, wir stießen an und ließen das blonde Getränk, indem wir die Gläser hoben, in der Sonne glitzern und glänzen. Dann tranken wir und lauschten, es rann hinab und dabei hatte ich ein so köstliches Gefühl, wie wenn einem im Fieber eine angenehme, beschwichtigende Hand auf die Stirne gelegt wird. Dann wurde mir so wohl, so rein war dann mein Gehirn, jeder Verdruß verstummte, ich mußte lachen, wie müde ich vor einer halben Stunde gewesen war; ich hatte den Merz jetzt sehr gern, es war ja alles gleich, mir war alles recht. Wir tranken noch ein zweites und ein drittes Krügel, keiner sprach, in einer wunderbar hellen und seligen Harmonie saßen wir da, bis dann der Diener kam und uns rief. Dann mußte ich in mein Duell zurück.

Duell – ja damit drücke ich am besten aus, wie ich es empfand. Es kommt mir jetzt beinahe komisch vor, aber ich glaube, den meisten Autoren geht es so. Ich dachte fast nicht mehr an mein Stück; um dieses schien es sich gar nicht mehr zu handeln, sondern es war ein Kampf zwischen mir und einem heranschleichenden, maskierten Gegner; mit diesem würde ich mich messen müssen, wer stärker sei. Wie man an ein Duell denkt, dachte ich an den Tag der Premiere: nur schonen, noch ein bißchen trainieren, nicht aufregen, damit du den Tag fest bist und ordentlich zuhauen kannst! Diese Idee, ich würde selbst zuhauen müssen und durch meine persönliche Kraft entscheiden, wollte nicht von mir weichen. Über das Stück hatte ich ja selbst kein Urteil mehr; ich wußte jedes Wort auswendig, jede Stellung, aber ich konnte nicht ahnen, wie es im ganzen wirten würde.

Die Premiere war an einem Samstag, Freitag hatten wir die Generalprobe. Es waren nur die Schauspieler da und ein paar Journalisten, etwa sechzig Leute im ganzen. Diesen hat es sehr gefallen, sie prophezeiten einen großen Erfolg, besonders versprachen sie sich von jener Liebesszene vor der Hinrichtung eine mächtige Wirkung. Ich saß in einem schrecklichen Zustand da. Mir kam das alles nun so leer, so nichtig vor – nein, das war gar nicht mein Stück! Das war nicht, was ich vor mir gesehen hatte! Ich wurde wütend, ich ging auf die Bühne und sagte den Schauspielern, es sei alles schlecht und dumm, wie sie es machten, sie hätten mich alle nicht verstanden; ich wurde immer heftiger, ein Wort gab das andere, die Schauspieler warfen zornig die Perücken hin, der Direktor kam und wollte vermitteln, besänftigen, ausgleichen. Aber ich war nicht zu bändigen, ich tobte und schrie; meine ganze Wut dieser langen Zeit, seit jener fürchterlichen Nacht unter ihrem Fenster, wurde nun laut. Ich wollte ihr zeigen, was an diesem Herrn Merz war – ein Wurstel war er, ein Clown, der in das Orpheum gehörte, ein Affe für die Galerie, aber unfähig, einen Dichter zu verstehen. Vor dem ganzen Personal sollte sie hören, wie dumm er war. Vor dem ganzen Personal wollte ich ihn demütigen, daß sie sich schämen mußte; wie einen Schulknaben, der seine Lektion nicht gelernt hat, wollte ich ihn demütigen. Sie sollte endlich wissen, wer er war und was ich war. Ich hatte eine wilde Freude, mit schmähenden, hochmütigen Worten auf ihn zu schlagen. Plötzlich kam mir der Gedanke, es so weit zu treiben, daß er mir die Rolle hinwerfen würde; ich würde es annehmen, ich würde die Premiere absagen und ich las schon triumphierend die Notiz, die ich an alle Zeitungen schicken wollte, daß die Premiere verschoben werden mußte, »weil sich leider Herr Merz der ihm zugedachten Rolle nicht gewachsen gezeigt hatte.« Was dann aus meinem Stücke wurde, war mir momentan ganz gleich. Nur Merz demütigen, vor dem Personal, vor der ganzen Stadt – demütigen, blamieren, vernichten! Das sollte meine Rache sein: denn plötzlich wollte ich mich jetzt rächen.

Die Schauspieler waren sehr aufgeregt. Einen solchen Ton konnte man sich von keinem Autor gefallen lassen – und das am letzten Tage, vierundzwanzig Stunden vor der Premiere, wo man Ruhe und Stimmung braucht! Das durfte der Direktor nicht dulden! Mascha fing laut zu heulen an, Otto hielt eine Rede über das Recht der Schauspieler: »Soll unsere Ehre jeder Laune hysterischer Autoren preisgegeben sein? Sind wir ein Spielball ihrer Leidenschaften? Sind wir Sklaven?« Der Direktor lief hin und her, ließ Mascha in ihre Garderobe bringen, schrie Otto an, ruhig zu sein, zupfte mich und flüsterte mir zu: »San's doch nicht so blöd, Sie ruinieren sich ja das Stück, was haben's denn?« Aber mir war alles gleich; ich schrie und tobte. Merz rührte sich nicht. Er hatte seine Perücke abgenommen und saß auf einem Tisch, mit den langen Beinen schlenkernd. Die Kollegen standen im Kreise und hetzten ihn auf, sich das nicht gefallen zu lassen. Er schlenkerte mit den Beinen und sagte kein Wort. Als ich schon ganz heiser war und endlich nicht mehr konnte, kam er zu mir, hielt die Perücke wie eine Mütze in der Hand, machte ein Buckerl und sagte: »Bitt' schön, Herr Lehrer, san mer jetzt fertig oder kommt noch was nach? Ich könnt' ja vielleicht bis morgen fünfzigmal abschreiben: wir werden durchfallen, weil ich so ein Trottel bin. Dann haben Sie's wenigstens schwarz auf weiß!« Die anderen lachten, ich sah ihn verächtlich an; der Direktor kam, nahm mich am Arm und zog mich weg. Doch bestand ich darauf, daß morgen noch eine Probe sein sollte. Er warnte mich, aber es half nichts, ich gab nicht nach. »Schaun's, was wollen's denn eigentlich noch? Ihren Krawall haben's jetzt g'macht – schön, das ist immer eine gute Vorbedeutung. Aber jetzt lassen's die Leut' ausschnaufen. Passen's auf, sonst wer'n mer morgen wirklich was erleben!« Aber ich gab nicht nach. Entweder morgen noch eine Probe oder ich zog mein Stück zurück wegen Unfähigkeit des Herrn Merz – diesen Gedanken ließ ich nicht los, das sollte in den Zeitungen stehen, ich sah es immer schon vor mir. Wie würde ich dann triumphieren! »Sie sind verrückt,« sagte der Direktor. »Da kann man nix machen. Also tun mer halt morgen noch a mal probieren, in Gottes Namen!«

Ich ging mit einer unbeschreiblichen Freude weg. Ich hatte gesiegt. Ich war stärker gewesen als Merz. Stärker als er, stärker, mehr Mann! Wie mußte sich Mascha schämen! Das arme Kind hatte so geweint. Nun lag sie wohl daheim und verwünschte ihn. Jetzt hatte sie doch gesehen, wer ich war. Was war er denn? Mein Bedienter! Ja, wie ein Lakai hatte er sich behandeln lassen. Ich war so stolz. Jetzt wurde ja alles noch gut. An mein Stück dachte ich gar nicht mehr. Was ging mich das dumme Stück an? Aber in dem Duell um Mascha hatte ich gesiegt. Triumphierend ging ich fort.

Den ganzen Abend sagte ich mir immer wieder: Du hast ihn gedemütigt. Jetzt nur noch morgen fest sein bei der Nachprobe und du bist der Herr! Ich konnte es kaum erwarten. An die Premiere dachte ich gar nicht mehr, nur noch an diese Probe; der Merz sollte mich kennen lernen!

Ich war abends mit ein paar Bekannten beim Ronacher; wir soupierten nachher mit drei Engländerinnen, die dort sangen, schönen und gemeinen Geschöpfen. Ich war von einer wilden und nervösen Lustigkeit, die mir sonst fremd ist, redete und schrie und sprang herum und sprach immer nur von meinem Stücke; es sei noch gar nicht gewiß, ob es morgen sein könnte; der Merz, sonst ein ganz guter kleiner Episodist, kann das halt gar nicht – na vielleicht, wenn ich mir Mühe mit ihm gebe, geht's vielleicht doch! Und ich schilderte, wie ich mich geplagt hatte, wie so ein Schauspieler gar keine Ahnung hat, was man eigentlich will, und wie es wirklich für den Dichter kein Vergnügen ist, so einen Komödianten zu dressieren. Es war mir eine Lust, so mit kühler und mitleidiger Verachtung von ihm zu reden, ich konnte mir gar nicht genug tun, ich hätte es am liebsten fremden Leuten auf der Straße erzählt, die ganze Stadt sollte es wissen – und dabei dachte ich doch immer nur an Mascha, wie sie ihn hassen mußte, da er jetzt vor allen Menschen so lächerlich und blamiert dastand, das verträgt doch keine Frau!

Wir blieben bis um sechs in der Früh mit den Weibern, ich fuhr dann ins Dampfbad, kleidete mich schnell um, frühstückte und war um zehn auf der Probe. Mascha sprach kaum mit mir; sie behauptete, heiser zu sein und sich schonen zu müssen, und markierte bloß. Ich ließ sie in Ruhe und kümmerte mich auch um die anderen nicht. Das war mir ja alles ganz gleich, ich hatte es doch nur mit Merz zu tun. Er mußte mir jede Szene wiederholen, ich besserte ihm jeden Satz aus, ich änderte alle Stellungen ab; dabei hatte ich immer einen hochmütig belehrenden, unangenehm protegierenden Ton, ich hätte ihn gern gereizt. Aber er blieb so gehorsam, so demütig, so devot, ich konnte nichts machen. Seine Geduld war unerschöpflich, um zwei mußte ich doch endlich aufhören. Ich hatte nun noch in der Kanzlei eine Menge zu schreiben, Karten an meine Freunde zu schicken, alles mit dem Claqueur zu besprechen, es wurde halb vier, bis ich zum Essen kam. Nun spürte ich doch, daß ich sehr müde war, von den Proben, von der letzten Nacht, von der ganzen Aufregung. Die Augen fielen mir zu, ich mußte noch ein wenig schlafen. Ich fuhr in die Salesianergasse, stellte den Wecker auf halb sechs und legte mich hin.

Als ich erwachte, hatte ich einen merkwürdigen Zustand. Mein erster Gedanke war: du wirst es heute nicht leisten können, du bist nicht stark genug. Ich wußte in diesem Moment, daß es nicht gehen würde. Nein, ich hatte nicht die Kraft, das Publikum zu zwingen; ich fühlte es. So mag einem Tierbändiger sein, der spürt, daß heute sein Auge nicht sicher ist und seine Hand versagen wird, und er soll doch in den Käfig! Ich kleidete mich traurig an, jeder Schritt wurde mir schwer, alle Kräfte ließen in mir aus. Ich sagte mir ja selbst, daß das ganz dumm war: der Erfolg hing doch von dem Stücke und nicht von mir ab, ich war doch kein Magnetiseur, der eine gute Stimmung braucht, um mit seiner ganzen Kraft zu wirken. Aber es half mir nichts, gegen ein Gefühl kommt man mit dem Verstand nicht auf. Ich hatte nun einmal ein Gefühl wie ein Athlet, der zu wenig geschlafen hat und nicht in Form ist: es wird heute nicht gehen, du wirst heute deinen Mann nicht werfen.

Dabei war ich übrigens ganz ruhig. Ich wollte mich mit Anstand in das Unabänderliche schicken. Ich kam um drei Viertel auf sieben in das Theater und ging hin und her. Otto, der die erste Szene hatte, saß schon auf der Bühne. Er konnte es nie erwarten und hatte immer Angst, zu spät zu kommen. Er saß da, hielt sich die Augen zu und sprach unablässig die drei ersten Sätze seiner Rolle, immer wieder, immer wieder, die Arbeiter lärmten, der Inspizient schrie, man lief hin und her, er saß unbeweglich, wie eine Statue der Schwermut, und ließ nicht ab, immer dieselben drei ersten Sätze zu sagen. Aus ihrer Garderobe hörte ich Mascha schreien, sie hatte Krämpfe, der Arzt wurde geholt; sie beschwor ihn, sie fort zu lassen – sie könnte heute nicht spielen, eher sterben, eher sterben! Und sie wimmerte, warf sich hin, küßte ihrer Puppe weinend die Hände ab; dann begann sie laut zu beten, rief die heilige Maria an und tat ein Gelübde für Maria Zell, wenn es heute gut ausgehen würde. Ich mußte bei mir lachen, wie sie der Heiligen immer mehr bot, je später es wurde: zuerst ein einfaches russisches Bild, dann wollte sie zwei Türkisen einsetzen lassen, am Ende versprach sie ihr sogar die berühmten schwarzen Perlen, die sie noch von Benesch her hatte; so lizitierte sie. In dem schmalen Gang ging Merz auf und ab. Er agierte heftig, puffte sich und redete laut mit sich selbst: »Du bist ein Viech! Du bist ja ein solches Viech! Du weißt doch, daß diese Trotteln nichts verstehen – also, wie kann man sich da so fürchten? Merke dir, mein Sohn: im Parterre sind lauter Trotteln, ich kann dir mein Ehrenwort geben; in den Logen sind die größten Trotteln, und auf der Galerie sind auch Trotteln. Also sei nicht so ein Viech! Du hast doch deinen Kontrakt, deinen unkündbaren Kontrakt – sie sollen dich gern haben!« Immer lauter schrie er, immer heftiger gestikulierte er, dabei puffte er sich, sprang, beutelte sich vor Lachen, und immer hörte man die zwei Worte wieder: Trotteln, Viech!

Ich trat an den Vorhang, um durch das Loch in den Saal zu sehen. Die Leute sahen sehr komisch aus: wie sie nickten und sich begrüßten, hin und her liefen und schwätzten, wichtig taten und nervös waren – wie ein Ameisenhaufe sah das aus! Der Direktor trat zu mir, sah auch einen Moment hinaus und sagte: »Werden wir halt sehen, ob's anbeißen werden, die Stockfisch!« Da gab man schon das Zeichen.

Nun, sie bissen nicht an. Nach dem ersten Akte wurde ich zweimal gerufen, aber das war die Claque, wir fühlten, daß er nicht gewirkt hatte. Die Leute waren unruhig, wetzten hin und her, räusperten sich, man kam zu keiner Stimmung, man war ungeduldig. Nun hofften wir auf den zweiten Akt, auf die Liebesszene vor der Hinrichtung. Nun, sie bissen wieder nicht an. Ja, es wurde jetzt schlimm. Man lachte die romantischen Stellen aus, man höhnte laut und das Publikum spielte mit. Jetzt fingen Merz und Mascha sich zu ärgern an und wollten zeigen, daß sie auch so gescheit waren wie die Spötter im Parterre. Sie machten die Witze selbst, die das Publikum machen konnte, und belustigten sich damit, das Stück zu parodieren. So wurde es denn ausgehöhnt und ausgezischt.

Ich stand da, niemand sprach mit mir, niemand; es war so leer um mich. Ich wußte ja, daß das Stück durchgefallen war, aber ich hätte doch gern mit jemandem gesprochen, ich schämte mich, so ganz allein fortzugehen. Der Direktor rief mir zu: »Machen's Ihnen nix draus, das is schon so beim Theater, schreiben's halt a neuches Stück!« Und er war weg, ich stand immer noch da. Alle, alle gingen fort, so hastig und schnell, man hörte es ihren Schritten an, wie sie sich tummelten; es war eine Flucht. Da wollte ich mit Mascha sprechen. Ich schickte in ihre Garderobe. Es dauerte lange, der Diener kam nicht wieder. Ich schrieb ein paar Worte auf einen Zettel und bat einen Menschen von der Feuerwehr, ihn zu ihr zu tragen. Mechanisch ging ich ihm nach über die paar Stufen zu ihrer Garderobe und blieb oben stehen. Ich lauschte; ich war begierig, ihre liebe Stimme zu hören. Ich hörte, wie etwas auf den Boden geworfen wurde, klirrend zersprang es und dann hörte ich, wie sie schrie: »Sagen's ihm, er soll sich eine andere Wurzen suchen! Ich pfeif' auf solche Dichter! Man muß sich ja schämen!« Die Garderobieren lachten. Der Mensch von der Feuerwehr kam verlegen zurück und gab mir meinen Zettel wieder. Ich stand da und schaute. Der von der Feuerwehr ging weg.

Ich stand lange da. Ich dachte mir: sie wird sich beruhigen, dann wird es ihr leid tun, es muß ihr ja doch leid tun; dann wird sie nach mir schicken und sie soll sehen, daß ich besser bin, ich werde noch da sein. So wartete ich. Es wurde leer, die Schauspieler gingen weg. Wer mich sah, wendete sich ab und ging schnell; man wollte mit mir nicht reden. Ich beachtete es nicht. Mir war doch das alles gleich. Wenn nur sie – aber das war doch nicht möglich, daß sie, auch sie nichts mehr von mir wissen wollte! Ich wartete lange. Da ging ihre Türe auf. Ich erschrak, weil mich das Licht aus der Garderobe blendete, und trat weg, mehr ins Dunkel, indem ich dabei, ohne eigentlich zu wissen, was ich tat, den Hut zog und mich bückte. So stand ich wie ein Bettler da, der um eine Gabe bittet. Sie sah mich, verzog den Mund, daß ihre bösen Zähne schimmerten, und sagte: »Geh' baden, mein Lieber, mit deiner Dichterei!« Die Garderobieren lachten noch, sie war schon fort.

Nun mußte ich halt auch gehen. Ganz allein ging ich hinaus. Jetzt erinnerte ich mich an damals, an meine erste Premiere. Ja – es kommt eben nichts, wie man es sich denkt; alles kommt anders. Eine Lotterie, hatte der Direktor gesagt, ist das Theater. Das ganze Leben ist nur eine Lotterie. Da kann man nichts machen.

Nun stand ich auf der Straße. An diesem Tage fing der Frühling sich zu regen an. Man fühlte ihn wehen, in den Ästen beben, unter der Erde klopfen. Es war so warm. Ich hätte gern den Mantel ausgezogen, er wurde mir zu schwer. Ich ging langsam, es regnete lau. Nun will es schon Frühling werden, sagte ich mir; ja, es will Frühling werden und Blumen werden blühen. Aber ich war doch traurig. Draußen werden Blumen blühen; was habe ich davon? Kann ich mich denn noch freuen? Nein, das war aus! »Geh' baden mit deiner Dichterei!« Als Mensch war ich ihr nichts gewesen. Was war ich denn, wenn ich nicht einmal als Mensch etwas war? Es regnete leise und warm. Ich hielt die Hand auf und spannte die Finger aus. Das tat wohl; ich fühlte, wie es Frühling wurde.

Ich bemerkte, daß ich vor der Votivkirche war. Ich ging den alten Weg ins Cottage. Ja, das war recht. Ich konnte doch nicht mehr in die Salesianergasse gehen, das wäre zu komisch gewesen. »Geh' baden mit deiner Dichterei!« Ich hatte das immer noch im Ohr, ich hörte es noch immer; aber merkwürdig, es war nicht ihre Stimme, es war die Stimme der Mutter. Ja, so hart und so gemein redete die Alte. Ihre kalte und höhnische Stimme klang in mir nach. Am liebsten hätte ich geweint. Aber das kann man doch auf der Straße nicht. Ich wäre ja ausgelacht worden. Und ich war schon lächerlich genug.

Ich ging weiter, meinen alten Weg. In mir fühlte ich den Frühling klopfen und ich erinnerte mich, aber jetzt glaubte ich an ihn nicht mehr. Nein, das war verloren. Ich konnte nicht mehr glauben. Wohin sollte ich gehen? Ich ging meinen alten Weg. Ich wollte gar nichts mehr, ich wußte nichts mehr, ich dachte nichts. Ich hätte mich nur gern hinsetzen und ausruhen mögen. Da ging ich halt nach Hause. Als ich draußen war, da zauderte ich. Ich stand vor dem kleinen Hause, oben war noch Licht, ich stand an der Türe in dem Garten und wagte es nicht, ich hatte lange nicht den Mut. Darf ich denn da noch eintreten? Hab' ich denn noch ein Recht? Und doch! Ich hatte doch auf der Welt sonst keinen Platz mehr, um mich hinzusetzen und auszuruhen! Wohin sollte ich denn gehen? Ich war doch hier, nur hier zu Hause. Hier war mein Kind und hier war meine Frau. Verzeihen Sie, daß ich Ihnen alle diese Sentimentalitäten erzähle; aber mir sind sie wichtig, und sonst versteht man auch mein ganzes Abenteuer nicht.

Nun, zaudernd und beschämt bin ich endlich doch eingetreten. Lotte war noch auf. Sie korrigierte das Schulheft unseres Knaben, den lateinischen Aufsatz. Ich trat ein. Sie wunderte sich gar nicht, sie wußte es wohl schon. In ihrer sanften, leisen, so gütigen Weise sagte sie bloß: »Da bist du ja!« Und sie hielt mir die Hand hin. Ich nahm ihre Hand und dann nahm ich die Hefte des Knaben und las, damit sie nicht merken sollte, wie ich weinte.


 << zurück weiter >>