Hermann Bahr
Theater
Hermann Bahr

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Zweites Kapitel

Mit einer Premiere fängt meine Geschichte an, mit einer Premiere hört sie auf. Dazwischen ist ein halbes Jahr, aber mir will es ein ganzes Leben scheinen; so viel habe ich da erlebt. Die Leute loben immer die Erfahrung: da lerne man erst die Welt und die Menschen kennen. Ich kann das nicht behaupten. Ich kenne sie jetzt weniger als je. Ich weiß jetzt gar nichts mehr. Nun, Sie werden es ja sehen!

Erinnern Sie sich noch an die Premiere des »Kindes«? Im Oktober werden es gerade drei Jahre. Mit einem Schlag, über Nacht, war ich auf einmal berühmt; ich hätte es mir nicht träumen lassen. Nie hatte ich an das Theater gedacht. Ich weiß überhaupt nicht recht, wie ich eigentlich in die Literatur gekommen bin. Ich habe in meinem Leben keinen Vers gemacht, nicht einmal im Gymnasium. Ich wurde Philologe; alte Texte lesen, Konjekturen vergleichen, das war mein Vergnügen. Scherer hat mich zur neueren Literatur geführt. Journalist wurde ich, um Geld zu verdienen; es ist doch immer noch gescheiter, als Lektionen geben. Ich hatte nicht die Mittel, als geduldiger Dozent jahrelang zu warten. Als man mir also anbot, eine Wochenschrift zu gründen, griff ich zu. Nun hat das Amt des Journalisten große Verlockungen. Man darf sich einbilden, zur ganzen Menschheit zu reden, auf seine Zeit zu wirken und ihre Gedanken mitzubestimmen, mehr als man es heute von der Kanzel oder vom Katheder kann. Man ist auch fleißiger, weil man schneller wirkt. Bis so ein Buch unter die Leute kommt! Aber die Zeitung wirkt sofort. Heute habe ich einen Gedanken, morgen läuft er schon durch die Stadt. Und ich sehe zu, wie er wirkt, ich bin dabei, ich höre den Beifall der Freunde, die Wut der Gegner. Der Journalist gleicht dem Schauspieler: mit seiner Person steht er da. Wie der Schauspieler kann er nicht warten. Wie der Schauspieler verzweifelt er, ist einmal acht Tage nicht von ihm die Rede. Er hat keine Ruhe – nur immer wieder was Neues, immer was Anderes! So ist es mir auch gegangen. Zuerst habe ich nur über die Theater geschrieben, dann fing ich jene bösen Glossen »aus der Woche« an, die man so gern gelesen hat; bald genügte mir das auch nicht mehr. Ich wollte zeigen, daß Wien doch noch ganz andere Figuren hat, als das ewige Wäschermädel und den unabänderlichen Fiaker unserer Feuilletonisten. Ich nahm mir vor, die Typen jener schlechten Gesellschaft zu schildern, die in den Zeitungen »ganz Wien« heißt. Ich hatte sie ja bei der Hand, da doch der Wiener Journalist, wenn er schon einmal das Café verlassen will, in keine andere Welt kommt. Auch sind diese Leute gar nicht empfindlich, sondern haben es gern, verspottet zu werden, und abonnieren. So sind die »Wiener Satiren« entstanden, kurze Skizzen von hundertfünfzig bis zweihundert Zeilen. Das war auch die erste Form des »Kindes«. Ich schilderte da das junge Mädchen aus der Welt der Börse, dieses freche, durch den ungenierten Ton der Gäste verdorbene, vorlaute, witzige und doch so traurige Geschöpf. Die Skizze gefiel und gerade weil ich, ohne an eine Person zu denken, nur alle Züge der Gattung genommen hatte, glaubte jeder das Original zu erkennen. Ich freute mich, die Geschichte war ein Treffer, mehr sollte sie ja gar nicht. Selber wäre ich nie auf die Idee gekommen, sie zu dramatisieren. Da kam eines Tages der Direktor des Stadttheaters zu mir. Sie können sich denken, daß ich mich wunderte. Der gute Stangel hatte wirklich keine Ursache, mir gewogen zu sein. Ich machte ihm das Leben sehr sauer. Jede Woche schrieb ich gegen ihn. Er hatte keinen ärgeren Feind. Heute sehe ich wohl ein, daß ich oft zu weit gegangen bin, in der Sache vielleicht nicht, doch gewiß in der Form. Aber mein Gott, man muß die Menschen amüsieren! Wir schimpften damals um die Wette. Er hatte die ganze Presse gegen sich. Es ärgerte uns, daß er Direktor geworden war, ohne uns zu fragen; es ärgerte uns, daß wir ihn nicht kannten; es ärgerte uns, daß er sich nicht um uns kümmerte; es ärgerte uns, daß er sich einbildete, ohne uns zu regieren; der ganze Mensch mit seiner festen, unbekümmerten und fidelen Art ärgerte uns. Auch schien er sich aus unserem Lob und Tadel nichts zu machen. Immer sah man ihn mit derselben lustigen und unternehmenden Miene, den Hut schief, die Hände in den Taschen, durch die Stadt spazieren; nichts konnte seine gute Laune stören – das durften wir uns doch nicht gefallen lassen. Ich führte die Opposition an. In jeder Nummer der Wochenschrift wurde er als ein Laie ohne Ernst, durch sein frivoles und liederliches Wesen verderblich, ein »fescher Kerl«, der zu den Schrammeln, aber nicht in ein erstes Theater gehörte, aufs bitterste verspottet. Daß nun dieser Mann, an dem ich, wie man so sagt, kein gutes Haar gelassen hatte, in meine Redaktion kam, mußte mich wohl wundern. Ich war neugierig, was er denn von mir wollen könnte. Er sagte mir zuerst allerhand Schmeicheleien, er lese mein Blatt immer mit dem größten Vergnügen. »Wenn Sie auch über mich schimpfen, das macht nichts. Wir brauchen ja jemanden, der ein bissl aufmischt. Und die Leut' giften sich schrecklich!« Nun, Sie kennen ja seine Art. Er sieht einen dabei mit den gescheiten, flinken und triumphierenden Augen so verschmitzt und lustig an, man traut sich gar nicht mehr, die gewissen großen Worte zu sagen und nimmt unwillkürlich seinen vertraulichen und aufrichtigen Ton an. »Ich bitt' Sie, ich nehm' Ihnen das nicht übel, ich werd' doch nicht so dumm sein! Schimpfen's nur weiter! Dazu sind Sie ja da!« Dann kam er auf die »Wiener Satiren« und konnte besonders das »Kind« nicht genug loben, das eine wahre Perle der Literatur sei. »Aber,« sagte er plötzlich, »haben Sie denn nicht bemerkt, daß das ein famoses Stück wär'? Schauen's, wissen's, das könnt' ich brauchen, so einen heutigen Bauernfeld. Warum wollen Sie das nicht probieren? Die Figur ist ganz sicher; es fehlt nur noch eine Handlung dazu. Gehen's halt in die Bibliothek und lassen Sie sich ein paar alte französische Stücke geben. Wirklich, sind's g'scheit und machen Sie mir ein fesches Stück daraus.« Das war der Zweck seines Besuches; er redete mir zu, das »Kind« zu dramatisieren.

Als er fort war, dachte ich nach. Ich war nicht so eitel, zu glauben, daß ihm die Novelle wirklich gefiel. Nein, ich saß ihm nicht auf. Ich wußte, es reizte ihn, zuweilen den Diplomaten zu spielen, dem es gelang, sich seine besten Freunde aus dem feindlichen Lager zu holen. Aber es schmeichelte mir doch, daß es ihm überhaupt so wichtig war, mich zu gewinnen, und er hatte es wirklich hübsch gemacht. Ein anderer wäre gekommen, um sich zu beklagen und mir vorzujammern und seine guten Absichten zu beteuern. Er war gescheiter. Ich konnte meine Angriffe fortsetzen, aber ich mußte doch seinen Besuch erwidern, schon um ihm meine Antwort zu bringen, die ich mir vorbehalten hatte. So war ein Verkehr eingeleitet, ohne daß er sich etwas vergeben hätte, und geht man mit einem Direktor um, so schreibt man doch gleich ganz anders. Sollte ich seinem Antrage folgen? Das Theater war nicht in meinen Wünschen. Ich meinte auch, daß es nicht gut ist, wenn ein Kritiker Stücke schreibt. Fiel ich durch, so schadete es meinem Ansehen sehr. Vielleicht hatte er auch das vor. Nein, so töricht wollte ich nicht sein.

Das sagte ich mir und wollte nicht weiter daran denken. Aber es gelang mir nicht. Oft, wenn ich spazieren ging, nahm die Novelle von selbst bei mir dramatische Formen an und auf einmal stand Szene für Szene ein ganzes Stück da. Ich schrieb es auf, es lag ja schließlich nichts daran, es sollte doch nur zu meinem Vergnügen sein, als eine Übung, die dem Kritiker nicht schaden konnte. Sie kennen das Stück ja. Sie wissen ja, daß es fast gar keine Handlung hat, sondern nur jenes lieblich verdorbene, witzig sentimentale Mädchen von seinem ersten Balle bis zur Verlobung mit sehr vielen Nuancen schildert; ein paar satirische Szenen sind lose angebunden. Mich freute die Arbeit, die Freunde, welchen ich sie vorlas, lobten sie, und wie der Mensch schon ist, es ließ mir keine Ruhe, bis ich sie doch dem Direktor gab. Ich sagte ihm freilich, daß diese feinen, spitzen und ironischen Dialoge nach meiner Meinung auf der Bühne nicht wirken könnten; wolle er es wagen, so sollte es auf seine Gefahr geschehen. Mir würde das, setzte ich in seinem frozzelnden Ton dazu, nur wieder beweisen, daß er vom Theater eben doch gar nichts verstehe. So suchte ich mich zu salvieren und wollte von der ganzen Sache nichts wissen. Ja, ich trieb das so weit, als das Stück nun wirklich angenommen wurde, mich um Besetzung und Inszenierung gar nicht zu kümmern. Das wurde mir nicht leicht; ich hatte manchen stillen Arger zu verwinden. Oft wollte ich schon an einen bösen Willen des Direktors glauben. Vielleicht hätte es ihn gefreut, mich zu blamieren. Das Stück wurde mit lauter kleinen Schauspielern besetzt, kein Name stand auf dem Zettel; die Bastante war ja damals auch noch nichts. Aber ich ließ mir alles gefallen. Es fehlte nicht viel und ich hätte sogar noch die Premiere versäumt. Ich hatte das eigentlich vor. Aber ich hielt es doch daheim nicht aus. Im letzten Moment rannte ich hin. Zehn Minuten vor sieben stellte mich der Direktor meinen Schauspielern vor.

Sie waren ja damals dabei. Sie wissen, wie es kam. Niemand hatte es erwartet. Ich bildete mir gar nicht ein, ein Dichter zu sein. Im besten Falle hoffte ich, das Lob der Kenner für meine Mache zu verdienen. Und nun ging nach dem zweiten Akte jener Sturm und Jubel los, wie man ihn seit Jahren in keinem Wiener Theater vernommen hat. Immer wieder, immer wieder mußte ich, die bebende Bastante an der Hand, erscheinen, fünfmal, zehnmal, zwanzigmal, und sie hörten noch immer nicht auf. Man muß so etwas selber erlebt haben, schildern läßt es sich nicht. Ich erinnere mich an jene Vorstellung gar nicht mehr. Ich weiß nur, daß es sehr heiß war, und ich stand in der Kulisse und da war ein Mann von der Feuerwehr. Ich sehe noch seinen Helm glänzen und er hatte einen sehr dicken, hängenden Schnurrbart. Ich stand neben ihm, dann ging ich hin und her, der Gang war sehr enge, ich stieß an, und immer sah ich seinen Helm glänzen, über dem dicken, hängenden Schnurrbart. Plötzlich hörte ich schreien, mir wurde bange, es brauste draußen, und nun zog man mich vor, und da war ein schwarzer Schlund, und alles drehte sich, und neben mir sah ich das lieblichste Geschöpf sich verneigen, und ich fühlte, wie ihre Hand zitterte. Und dann redeten viele, viele Menschen zu mir und viele, viele Hände griffen nach mir, und ich weiß nicht mehr, was ich gesprochen habe, und draußen wird immer noch mein Name gerufen, und ich muß immer wieder vor, und fühle wieder ihre zitternde Hand, und sonst weiß ich gar nichts mehr und höre nur noch den Direktor sagen: Gut ist gangen, nix ist g'schehen! Und dann sind wir draußen in der kalten, harten Oktoberluft, Fiaker schreien, es ist sehr hell, mir sausen noch die Ohren, und ich lasse mich vom Direktor führen. Ich kann mich noch immer nicht besinnen, ich denke mir, es wird wohl nur ein Traum sein.

Der Direktor führte mich in die bayrische Kneipe hinter dem Theater. Dort pflegen die Schauspieler nach der Vorstellung zu sein. Er telephonierte an meine Frau nach Haus, wie es gegangen war. Ich war zum Umsinken müde. Nur irgendwo ruhig sitzen dürfen, das war mein einziger Gedanke. So trat ich in die Welt ein, der ich nun fast ein halbes Jahr angehören sollte.

Man feierte mich sehr. Man sprach von einer neuen Ära des deutschen Theaters, ich wurde mit Sudermann verglichen, man stellte das »Kind« neben Minna von Barnhelm und die Journalisten. Ich war verlegen, was ich sagen sollte, und schämte mich fast. Ich wußte ja damals noch nicht, daß man die Worte dieser merkwürdigen Menschen nicht so genau nehmen darf. Die größten Reden haben bei ihnen wenig zu bedeuten. Sie schwärmen gleich und jauchzen; wo wir uns höchstens ein bißchen ärgern, können sie sich schon vor Entrüstung nicht mehr fassen; Ungeduld wird gleich zur Raserei, Laune zur Leidenschaft. Es scheint ihnen aber eigentlich gar nichts zu machen; sie regen sich dabei weiter nicht auf, als mit den Händen und mit der Lunge, im größten Lärm bleiben sie immer die ruhigsten Leute. Es wurde mir nicht leicht, mich gleich an ihre laute und pompöse Art zu gewöhnen. Ich saß zwischen Otto und Tenzer, der Direktor hatte den Merz neben sich. Otto schwieg; er mußte sich schonen, denn er hatte morgen den Posa zu spielen, und so saß er mit seiner feierlichen, tragischen Miene unbeweglich da und lauerte nur, ob es nicht zog, bald ein Fenster noch fester verschließend, bald nach der Türe gehend, immer mit den kurzen, harten, herrischen Schritten, die er hat. Tenzer redete mir zu, ihm das Stück zum Vertrieb zu geben. Der Liebling unserer jungen Mädchen, der holde Romeo, der Knabe Karl ist ja nämlich auch Agent, kauft Stücke und versteht den Handel. Er legte mir gleich seine Tabellen vor; mir wurde von den vielen Zahlen ganz schwindelig. Es war mir seltsam, dieselbe Stimme, die vor einer Stunde so betörend geflüstert hatte, nun addieren und dividieren zu hören. War denn das derselbe Mensch? Und nun sah ich vor mir immer den wüsten, häßlichen, gelben Schädel des Merz mit der unruhigen, immer zuckenden, von Grimassen flackernden Miene. Es wurde mir fast unheimlich, und ich war so müde: ich hatte einen solchen Hunger und trank zu viel; alle rauchten, der Durst, das Geschrei, der bleiche, starre Otto, der wie in Erz neben mir saß, und der Tenzer rechnete mir noch immer in die Ohren, und Merz fuchtelte mit seinen hageren Armen, verzog den breiten, fetten Mund, blähte sich auf, schielte und grinste, und alle tranken mir zu, wir stießen an, und es war ein Lärm, daß ich zu versinken glaubte. Seekrank, das wäre das Wort für meinen Zustand; wie seekrank war ich. An dieses schreckliche Gefühl erinnere ich mich noch. Was sonst gesprochen wurde, was ich gesagt haben mag, habe ich vergessen. Ich höre nur immer noch den monoton rechnenden Tenzer, dazwischen kreischt Merz wie ein gereizter Papagei und neben mir sehe ich die melancholische Statue des Otto; das Zimmer dampft, so dick und trübe ist die Luft, daß sie die Lichter verschleiert. Und nun geht auf einmal die Türe auf, in unserem Zimmer ist es grau, der leere Gang draußen glänzt ganz weiß, wie ein Bach scheint da das Licht zu fließen, und nun steht in dieser schimmernden Spalte auf einmal die Bastante da, in einen weiten weißen Mantel gehüllt, eine helle, glitzernde Schlange von Pelz um den Hals, leicht sich neigend, die eine Hand an der Klinke, mit der anderen die weiten weißen Falten raffend; wie eine weiße Flamme sah sie aus. Ich hatte in dem Trubel vergessen, mich von ihr zu empfehlen. Sie wollte nicht nach Hause, ohne mir noch einmal zu gratulieren und zu danken. Ihr Wagen wartete draußen, sie setzte sich nicht einmal; rasch gab sie nun einem nach dem anderen ihre lieben kleinen, nervösen Hände hin und schon war sie wieder fort.

Wir blieben lange sitzen. Ich mag mich seltsam betragen haben. Den anderen Tag wurde ich gehänselt, ich sei schrecklich betrunken gewesen. Ja, ich bin betrunken gewesen und bin es ein halbes Jahr geblieben. Das ist mein Abenteuer.

Wir wohnten damals in Cottage. Fast eine Stunde hatte ich zu gehen. Es war der erste kalte Tag in jenem Winter. Abends hatte es leise zu schneien begonnen, nun war es stille geworden, die klare, dünne Luft schien zu leuchten. Ich aber ging, in mein Glück wie in einen schweren Mantel gehüllt, dahin. Es kam mir alles gar so merkwürdig vor und ich wunderte mich doch nicht, wie man im Traume Abenteuer begeht und doch ganz in der Ordnung findet. Ich war nur neugierig. Ich wußte, daß es noch viel schöner kommen würde. Es hätte mir jetzt ein Riese begegnen und mit einem großen Schlüssel den Himmel aufsperren können, ich hätte mich auch nicht gewundert.

Da fiel mir ein, daß ich doch jetzt nach Hause ging. Meine Frau war gewiß noch auf. Es kam mir schrecklich dumm vor, daß ich ihr jetzt den Abend schildern sollte! Die Stimmung im Hause, die Wirkung der einzelnen Szenen, lauter Sachen, die ich doch jetzt gar nicht mehr wußte. Sie würde mich mit ihrer ruhigen, klaren Stimme fragen, die mir oft geholfen hatte, als es uns schlecht ging. Wir haben ja manches durchgemacht. Daran mußte ich jetzt denken.

Ich habe Lotte nie geliebt. Ich bin ja eigentlich nie jung gewesen. Wir waren zwölf Geschwister, an meine Mutter kann ich mich nicht erinnern, ich war zwei Jahre, als sie starb. Mein Vater hatte viel Pech; er ist alles mögliche gewesen, aber es glückte ihm halt nie. Er hatte immer die größten Pläne, aber es war alles umsonst. Sie wissen, was man in Galizien einen Faktor nennt. Nun, das ist kein sehr angenehmes Geschäft. So ist er böse auf das Leben geworden und hart. Ich grolle ihm nicht, er konnte ja nichts dafür; aber so eine Jugend möchte ich niemandem wünschen. Bei uns war es verboten, sich zu freuen. Wir sollten lernen, daß das Leben kein Vergnügen ist. So wurden wir erzogen. Ich war noch in der Volksschule, da mußte ich schon bei einem Advokaten schreiben. Dann habe ich mich durch das Gymnasium gehungert und gebettelt. Ich wohnte in Lemberg bei einem alten Trödler und Wucherer; dem mußte ich die Bücher führen, dafür hatte ich ein Bett. Es ist ja ein Wunder, was man als Kind alles aushalten kann. Die elenden Wege eines armen Studenten bin ich gegangen. Es heißt ja, daß das sehr gesund sein soll. Aber Sie können sich denken, daß man da das Talent verlernt, sentimental zu sein. Den Luxus von Gefühlen durfte ich mir nicht erlauben. Die edlen Schwärmereien der Jugend, die man in den Romanen liest, sind mir unbekannt geblieben. Ich bin froh gewesen, wenn ich zu essen hatte. Sah ich ein hübsches Mädchen, so war mir das so, wie wenn ich jemanden im Wagen, fahren sah: Das war eben eine eigene Rasse von Menschen, ich gehörte zu den anderen, die zu Fuß gehen.

Erst in Wien an der Universität ging es mir besser. Da hatte ich Glück. Ich wurde Sekretär des alten Professor Gendele. Seine Güte werde ich nie vergessen. Er hat mich aus dem Elend gezogen, sein Leben ist mein Muster geworden. Er saß den ganzen Tag in seiner lieben stillen Stube und las die Texte der Minnesänger nach. Anfangs kam es mir oft beinahe komisch vor. Sie hatten von ungestümer Begierde, von innigster Lust und von Reue gesungen und nun zählte dieser milde Greis ihre Worte ab! Aber was hatten sie gelitten und wie war er froh! War er nicht klüger? Ich lernte von ihm, daß es am besten ist, sich zu bescheiden und immer nur dem Verstande zu vertrauen. Wäre ich doch bei seinen Lehren geblieben! Er vermachte mir ein kleines Legat, das mir erlaubte, nach seinem Tode zu Scherer zu gehen. Dort haben wir uns ja kennen gelernt. Sie wissen, Scherer hatte mich sehr gern und es hätte mir in der akademischen Karriere wohl nicht gefehlt. Ich könnte jetzt längst Ordentlicher in Kiel oder in Würzburg sein. Aber es ist mir anders bestimmt gewesen.

Nun bin ich abgekommen. Ich wollte Ihnen nur sagen, wie traurig meine Jugend war. Ich war froh, wenn ich zu essen hatte. Da ist viel verkümmert worden in mir und ich bin eigentlich nie recht jung gewesen. Mit Mädchen und Frauen betrug ich mich ungeschickt, ich war schüchtern und ihr Wesen kam mir doch albern vor. Da lernte ich bei Scherer meine Frau kennen. Sie schien mir ganz anders, ich hatte keine Furcht, sondern Zutrauen und konnte mit ihr wie mit einem Kameraden sprechen. Sie schien mir gar kein Weib zu sein; alle die dummen Sachen, die die Frauen sonst haben, hatte sie nicht. Sie verstand mich. Ihr Vater war preußischer Offizier gewesen und hatte als Hauptmann plötzlich quittiert, um eine Schrift gegen den Militarismus zu verfassen, der vor den sittlichen Begriffen der Gegenwart nicht mehr zu rechtfertigen sei. Auch stiftete er eine kleine Gemeinde seltsamer Schwärmer, die die Menschen zu einem neuen, alle Vorurteile abbrechenden, nur der Vernunft gehorsamen Leben bekehren wollten. Man dachte, er sei verrückt geworden. Seine Kameraden vom Regiment, fast alle Freunde wendeten sich von ihm ab; seine Frau, die Tochter eines Landrats, die die Achtung ihrer Welt nicht entbehren konnte, nahm es sich so zu Herzen, daß sie starb. Nun hängte er sich mit seiner ganzen Liebe, aber freilich auch mit allen seinen Schrullen an die kleine Lotte, die noch kaum zwölf Jahre alt war. Sie wollte er zu einem neuen, freien, von Vorurteilen reinen, seine Instinkte beherrschenden, nach der Vernunft lebenden Menschen erziehen. Er war unerbittlich gegen jedes Gefühl, jeden »Dussel«, wie er alles hieß, was sich nicht vor dem Verstande beweisen ließ; grausam konnte er da sein. Es gehörte ihre schlichte, unschwärmerische, an Instinkten arme und dabei so gütige, so selbstlose Natur dazu, um es zu ertragen. Ich hätte wohl auf der ganzen Welt kein Wesen finden können, das so zu mir paßte. Aber geliebt habe ich sie nie. Und das wußte ich jetzt auf einmal, als ich durch die stille Nacht nach Hause ging.

Ich hatte einen seltsamen Zustand. Ich dachte über alle Dinge ganz ruhig nach und sah sie an, ohne Reue, ohne Zweifel, ohne inneren Streit. Ich hatte so sehr das Gefühl, von einer Macht beherrscht zu werden, daß ich gar nicht daran dachte, mich zu wehren oder etwas zu wollen. Ich war nur neugierig, wohin sie mich denn treiben würde. Leise ging ich daheim die Treppe hinauf, zog die Schuhe aus, um den Knaben nicht zu wecken, und trat in das Zimmer. Sie war noch auf und las. Lächelnd gab sie mir die Hand und sah mich gut an; aber es sei spät, ich würde müde sein; morgen sollte ich ihr denn alles erzählen.


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