Hermann Bahr
Theater
Hermann Bahr

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Sechstes Kapitel

Nun wird das Erzählen schwer. Wie soll ich Ihnen das beschreiben? Wir waren eben glücklich. Wir saßen da, sahen uns an und hörten uns zu. Manchmal gingen wir abends ein wenig spazieren, aber wir kehrten bald um, es war doch in unserem lieben Zimmer am schönsten. Wenn sie spielte, war ich immer im Theater; sie wußte, wo ich saß, und sprach alles zu mir; auch machten wir kleine Zeichen aus, zum Beispiel, daß sie die Veilchen, die ich ihr in die Garderobe schickte, auf der Bühne streicheln und küssen und daß das mir gelten sollte, und was solche unschuldige Torheiten mehr sind.

Gearbeitet habe ich in jener Zeit nichts. Aber es war mir nicht bewußt, es drückte mich nicht. Ich bildete mir sogar ein, sehr fleißig zu sein, weil ich viel an das neue Stück dachte. Es sollte unser Glück verherrlichen und damit gedachte ich zugleich ein Problem zu lösen. Ich bin ja immer ein theoretischer Mensch gewesen; ich konnte nie genießen, ohne es zu definieren. Es war also natürlich, daß ich mich jetzt zu fragen anfing: warum ist das so schön, wie du es noch nie erlebt hast? So bin ich nach und nach zu manchen Gedanken gekommen, die mir sehr wichtig wurden. Ich sagte mir: das ist nur darum so schön, weil mir im täglichen Leben etwas geschieht, was uns sonst nur in Gedichten zu geschehen pflegt. Nun meinte ich, das Schlechte an der Gegenwart, das Große an den guten Zeiten zu verstehen. Die Poesie ist heute vom Leben getrennt, von der Kunst gibt es keine Brücke ins Leben. Die Menschen, die begehrend und handelnd leben, kümmern sich um das Schöne nicht, und die Menschen, die malend oder singend dem Schönen dienen, wenden sich vom Leben ab. Sollten wir nicht trachten, das Leben mit der Kunst zu versöhnen? Konnten wir uns nicht entschließen, nichts Ästhetisches zu erlauben, das nicht auch praktisch wäre, keinen schönen Wahn oder Traum, der nicht auf festen Füßen durch das Leben schreiten könnte; und nichts Praktisches zu erlauben, das nicht auch ästhetisch wäre, keine nützliche Tat, die nicht das Haupt zur Schönheit erheben würde? Ich weiß nicht, ob Sie verstehen, was ich meinte: die Kunst hätte ich gern lebendiger, das Leben hätte ich gern künstlerisch gesehen, so daß sie zuletzt dasselbe geworden wären. Diese Gedanken sind ja nicht von mir. Sie haben in England die sogenannte präraffaelitische Mode ergeben; nur scheint mir diese etwas extravagant und zu sehr Maskerade zu sein. Aber sie kommt doch von der guten Absicht her, daß das Schöne nicht bloß in Gedichten oder auf Gemälden existieren soll, sondern daß die Menschen es erleben wollen; sie möchten, daß es sich zu ihnen setze und sich von ihnen angreifen lasse. Was wir da in unserer Salesianergasse hatten, das war doch viel schöner als das schönste Gedicht, weil wir es eben nicht bloß lasen, sondern erlebten. So etwas wollte ich in meinem neuen Stücke machen. Es schwebte mir vor, daß man die Wirklichkeit der uns umgebenden Natur veredeln, vom Gewöhnlichen reinigen und so zu einer nicht unbeträchtlichen Schönheit bringen könnte, die doch immer noch lebendig wäre und sich niemals ins Romantische und Phantastische verlieren würde. Ich wollte dabei dem Leben getreu aber nicht ohne eine gewisse Freiheit folgen und, sozusagen, seinen Intentionen, die sich im Dasein oft verwischen, mit meiner Vernunft nachhelfen. Ich dachte, daß die Kunst nicht das Leben in der Art der Naturalisten kopieren darf, sondern es vielmehr als eine erste Skizze, als einen bloßen Entwurf ansehen mag, der wohl die wesentlichen Linien schon hat, aber doch noch die letzte Hand braucht, um fertig zu werden. Eine weibliche Figur sollte in der Mitte sein. Wenn es mir gelang, Mascha so zu zeigen, wie ich sie sah, war mir ja jene Versöhnung von Kunst und Leben gelungen. Sie schien auf der Bühne lebendiger und wahrer, sie war im Leben poetischer und künstlicher, als ich es jemals gesehen. Wenn es mir gelang, ihr Wesen darzustellen, so war mein Problem gelöst. Ich erfand mir dazu eine, ich muß es gestehen, ziemlich dürftige Handlung, das ist nie meine Stärke gewesen; sie sollte ja auch nur der Faden von allerhand anmutigen und recht wienerischen Szenen sein. Das Ganze rückte ich, um freier mit dem einzelnen zu schalten, ins Historische und dachte mir, daß es in einer vagen Zeit, so zwischen den Türken und dem Kaiser Josef, spielen möchte. Die Heldin sollte eine junge Harfenistin sein, die singend durch die Schenken zog, manchen Junker und Bürger betörte, aber doch ihrem Liebsten treu blieb, der ein Sohn des Scharfrichters und selber zu diesem gewaltsamen und verrufenen Gewerbe bestimmt war. Töne aus der Vorstadt von heute wollte ich mit Raimundischen Nachklängen verbinden und an dem Baß romantischer und wilder Begebenheiten, die in der Ferne grollen würden, sollte es nicht fehlen. Ich hatte vor, es »die liebe Augustine« zu nennen, einen populären Namen so mit Laune verändernd, wie ja überhaupt alles in dem Stücke wahr war, aber doch in eine gewisse Heiterkeit gehoben wäre. Dazu würde ich schon noch manches in den Chroniken finden. Die Hauptsache war jetzt, daß ich den Ton traf. Und so saß ich denn bei ihr, sah sie an und hörte ihr zu, war selig und konnte mir auch noch einbilden, daß ich sehr fleißig war.

So brachten wir die ersten vierzehn Tage zu. Wir waren fast den ganzen Tag in unserer kleinen Wohnung und hatten uns sehr lieb. Ihr Vater, der alte Bastante, der lange wie verschollen gewesen, kam damals wieder nach Wien. Er hatte in den Zeitungen den Triumph seiner Tochter gelesen und war in der ersten Freude gleich hergefahren. Sie freute sich sehr: denn sie war stolz, einen so schönen Vater zu haben. Das war das einzige Ereignis in dieser Zeit, aber dann geschah etwas, das – nun, ich will ein mildes Wort wählen: das mich befremdet hat; und es weckte mich aus meiner süßen Betäubung auf. Ich bin wohl recht ungeschickt gewesen.

Der Direktor teilte ihr die Viola zu. Das Stück war im Repertoire, sie mußte die Rolle also mit drei Proben spielen. Ich hatte Angst und wollte ihr helfen. Sie lachte mich aus und bat mich nur, sie ein paar Tage in Ruhe zu lassen. Ich begriff das, aber ich konnte nicht begreifen, warum sie auf einmal nun ganz anders war, nicht etwa bloß nervös und unruhig, was mich ja nicht gewundert hätte, sondern wie verwandelt; sie schien auf einmal eine andere Person zu sein. Man begreift, daß jemand Launen hat, daß er sozusagen einen anderen Akzent bekommt; er mag heftig werden und in der Aufregung manche Anmut verlieren, die er sonst hat, aber jemand kann doch nicht plötzlich ein anderer werden. Das befremdete mich an ihr. War denn das noch dasselbe Geschöpf? So zierlich hatte ich sie immer gesehen, meine Libelle nannte ich sie, so leicht und beflügelt schien sie – und nun war sie auf einmal so plump, so schwer, so dumpf! Sie ging nicht mehr wie sonst, mit jenen tapferen Schritten einer Diana, sondern schlich häßlich und träge, wie ein Kind, das noch nicht gehen gelernt hat, wie ein Betrunkener, der keine Gewalt über seine Füße mehr hat. Beim Essen war es widerlich, wie sie die Gabel in das Fleisch stieß, schrill über den Teller, und große Stücke mit dem Messer mehr zerriß als schnitt. Ihre lieben unruhigen Hände waren jetzt schlaff und feucht. Sie schien so faul. Wenn sie eine Zigarette wollte, rief sie: »Rauchen!«; oder sie schrie plötzlich: »Heiß!« Einen ordentlichen Satz sprach sie gar nicht mehr, ihre Stimme war heiser. Den ganzen Tag lief sie im Hemd herum, sie hatte nicht die Energie, sich anzuziehen. Die letzten drei Tage wurde sie unausstehlich, nichts war ihr recht und sie machte einen großen Skandal mit der alten Marie, daß die gute dumme Person zu heulen anfing und zur Hausfrau lief. Am Tage der Premiere weckte sie mich plötzlich um fünf in der Früh, ich sollte mit ihr in die Kirche gehen. Es wunderte mich, denn ich hatte nie bemerkt, daß sie fromm sei, sie betete sonst nie. Verschlafen standen wir auf, sie wusch sich kaum, wickelte die Haare um und warf über das Hemd einen alten Theatermantel, der wie ein Domino aussah. Es waren nur wenige Leute in der Kirche, fast lauter alte Weiber, der Priester machte es sehr rasch. Als die Messe aus war und die Leute fortgingen, wollte sie noch bleiben. Sie kniete vorn am Gitter nieder, hielt einen Rosenkranz und, indem sie betete, wurde sie immer lauter. Ich ging nervös und ungeduldig herum, ich hatte nicht gefrühstückt und von der dumpfen Luft und dem Geruch der Kerzen wurde mir schlecht. Und immer lauter hörte ich sie monoton die nämlichen Worte lallen, ein Vaterunser nach dem anderen. Und das alles nur, dachte ich mir, damit abends die Leute applaudieren! Es kam mir beinahe wie eine Lästerung vor und ich spielte doch eine recht lächerliche Rolle dabei. Da hatte ich plötzlich, während ich unbehaglich und nervös auf und ab ging, ich möchte beinah sagen: eine Vision. Ich war eben zur Türe gegangen und wendete mich dort um, gewiß zwanzig Schritte von ihr: da sah ich sie plötzlich so nahe vor mir, daß ich erschrak, als ob ich gleich auf sie treten würde; aber es schien nicht ihre liebe und vertraute Miene zu sein, sondern ich glaubte ihre Mutter grinsen zu sehen, so sehr glich sie jetzt in dem fahlen und dampfenden Lichte, dem verlebten und gierigen Gesicht der Alten. Es war so unheimlich, daß ich beinahe aufgeschrien hätte. Ich mußte mir erst langsam klar machen, daß ich im Finstern stand, das ganze Schiff war finster und nur auf sie fiel ein gelber Strahl herab; daher kam sie mir so nahe vor und daher schien ihr gutes Gesicht so bleich und fremd.

Als dann der Nachmittag kam, wurde mir selber angst. Ich war wie im Fieber. Sie fuhr schon um fünf in die Garderobe. Ich hielt es daheim nicht aus und wollte spazieren gehen. Aber es zog mich gewaltsam zum Theater hin. Ich ging um das Haus, es dunkelte, durch den Nebel flimmerten die gelben Laternen. Ich schritt auf und ab, lange, lange, aber die Zeit schien zu stehen, der große Zeiger der hellen Uhr auf dem Turme wollte sich nicht bewegen. Ich schämte mich vor dem Portier, der mich kannte, und wollte im Café lesend warten. Aber es duldete mich nicht, ich konnte nicht sitzen, ich rannte weg. Dabei ging es mir seltsam, ich habe das auch später oft an mir beobachtet, vor jeder neuen Rolle, die sie spielte. Ich verlor dann auf einmal sozusagen jedes Gefühl des Raumes und der Zeit. War ich vom Theater hundert Schritte weg, so ängstigte ich mich, zu spät zu kommen; die Stunde, die ich noch hatte, würde für den weiten Weg nicht mehr reichen. Ich konnte den Raum nicht mehr messen, die Zeit nicht mehr schätzen, in meinem Gefühl zogen sich die Minuten ein, die Schritte dehnten sich aus, atemlos rannte ich hin, um zu sehen, daß es noch gar nicht Zeit war, und wieder meinen unsteten Lauf zu beginnen. Saß ich dann endlich auf meinem Sitz, immer noch eine halbe Stunde zu früh, so war es mir schwer, mich zu beherrschen und nicht noch in der letzten Minute davonzulaufen. Ich atmete erst auf, wenn sie endlich, endlich auf der Bühne war. Gewaltsam mußte ich dann an mich halten, um nicht laut mitzusprechen; es trieb mich, ihr zu soufflieren. An den Stellen, wo sie beim Memorieren immer hängen blieb, solchen oft ganz harmlosen Passagen, die der Schauspieler nun eben einmal nicht bewältigen kann, hätte ich vor Angst aufschreien mögen. Ich konnte mich auch nach der Vorstellung noch nicht beruhigen und begriff sie nicht, die nun, wie der Vorhang einmal gefallen war, von dem Stücke, von der Rolle nichts mehr hören wollte. Ich habe das nie verstanden. Wenn ich mich erinnere, wie sie den Tag vor einer Premiere war, bebend und verzagt, in ihrer Einbildung zum Sterben krank, wie sie noch in der Garderobe weinte, durchaus absagen wollte, jeden beschwor, ihr die Daumen zu halten, vor Zittern kaum auftreten konnte und in der Kulisse immer plötzlich ganz heiser war, dann aber, wenn sie nur erst auf der Bühne stand, mit einem Schlage wieder ihre ganze Ruhe hatte, keine Nuance verlor, noch aus der Fassung zu bringen war, ja in den Szenen der größten Leidenschaft gelassen nachzählen konnte, wie viele Sitze heute leer geblieben waren, und am Ende gar, nachdem sie sich abgeschminkt hatte, nichts mehr davon zu wissen, nichts mehr zu empfinden und förmlich ein anderes Wesen schien, in dem von der Bühne nichts geblieben war – das ist mir immer ein Rätsel gewesen und ist es mir noch. Wenn wir von einer Premiere nach Hause kamen, schien sie die Schauspielerin im Theater gelassen zu haben. Nun war sie wieder das liebe, innige, närrische Geschöpf, das mir doch jede neue Rolle wieder entriß. Nämlich das ist auch merkwürdig: Diese Anfälle und Krämpfe von Angst und Verzweiflung, die sie mir entfremdeten, gab es nur vor Premieren; hatte sie eine Rolle einmal gespielt, so ging sie mit einer Gelassenheit, ja mit einem Phlegma hin, die mir unerklärlich und oft ärgerlich waren. Sie kam erst um halb sieben, plauderte in der Garderobe, ja in der Kulisse noch mit der Schneiderin, freute sich, auf der Bühne den Partner zu stören, indem sie den Sessel verschob, den er zu seiner Nuance brauchte, war zu tausend solchen Possen bereit und setzte sich nach ihrer Szene gelassen in die Garderobe, um Briefe zu schreiben oder ein neues Kleid zu probieren. Kein Handwerker kann sein Geschäft mechanischer tun und doch merkte man es ihrer Rolle nicht an, sie war immer gleich. Da ich jedesmal im Theater saß, wenn sie spielte, und in vierzehn Tagen oft dieselbe Rolle fünf-, sechsmal von ihr sah, konnte ich sie genau beobachten; ich nahm allerhand Experimente vor. Ich habe z.B. gezählt, wie viele Schritte sie in einer Szene brauchte, um von der Tür zum Souffleur zu kommen, und wenn sie nach drei Tagen dieselbe Rolle gab, zählte ich in derselben Szene wieder: es kam immer dieselbe Ziffer heraus, nicht einen Schritt weniger oder mehr; so unabänderlich, so definitiv waren alle Bewegungen und Gebärden. Diese, ich möchte fast sagen automatische Art, etwas auszuüben, das doch den Schein der größten Leidenschaft, der unmittelbaren Erregung dabei behält, habe ich nie verstehen können. Ich konnte mir ein Gehirn nicht vorstellen, das das vermag, und ich weiß nicht, ob es mehr Bewunderung oder Grauen war, was ich dabei empfand. Unmenschlich, das ist das Wort, unmenschlich kam es mir vor, wie ich mich denn überhaupt oft einer geheimen Furcht kaum erwehren konnte, als ob sie eine Hexe sei, die viele Gestalten und Personen annimmt, gute und böse, aber ihr Wesen darf sie niemanden sehen lassen. Doch das sind Torheiten.

Ich bin immer im Theater gewesen, wenn sie spielte, immer auf demselben Ecksitz in der zweiten Reihe links. Man erlebt da wunderliche Sachen. Die stillen Beziehungen zwischen einem Zuschauer und einem Schauspieler, die das Publikum nicht merken darf, leise Winke und liebe Zeichen, haben einen eigenen Reiz. Es ist wie ein Schauspiel im Schauspiel, wenn man die Schauspieler persönlich kennt, und man lacht die anderen Leute bei sich aus, die so naiv sind. Wenn man weiß, daß das zärtliche Mädchen, das sich jetzt an den Helden schmiegt, ihn im Leben nicht ausstehen kann und Mercutio beim Intendanten gegen den Romeo hetzt, das ist ein seltsames Vergnügen von besonderer Lüsternheit, das freilich nicht zu den reinen Absichten der Bühne gehört, ja sie stören mag. Was man so die Gönner eines Theaters nennt, jene in den Garderoben verkehrenden, die Damen duzenden, mit allen Intrigen vertrauten Mäzene, sind ja darum eigentlich immer das schlechteste Publikum, das man sich denken kann. Denn ihr Sinn wird stets auf das Persönliche von der Sache abgezogen, sie können den Menschen, der im Schauspieler steckt, von seiner Rolle nicht trennen. Aber gerade das hat seinen Reiz. Doch kam es auch vor, daß ich mich zuweilen auf meinem Sitze verwünschte. Manchen hätte ich gern geprügelt. Ich bin nicht etwa eifersüchtig gewesen, aber es ist eben ein seltsames Gefühl, eine Frau zu haben, die sich von jedem Gecken um vier Gulden anschauen und ihre Reize kritisieren lassen muß. Man hört da oft Dinge! »Ich bitt' dich, schau dir einmal die Waden von der an!« – »Sapperment, sapperment! Aber die andere ist auch nicht ohne!« – »Was, die Blonde? Aber geh! Die gehört schon dir!« – Die Leute glauben eben doch immer noch, im Theater sozusagen in einem verrufenen Hause zu sein, wo es lächerlich wäre, sich anständig zu betragen. Und manchmal habe ich mir gedacht, ob sie nicht eigentlich recht haben. Ich ärgerte mich nicht über die ungezogenen Leute, ich ärgerte mich über das Theater. Das ist ja wohl ungerecht gewesen.

Ich war nun nach und nach mit den Schauspielern in Verkehr gekommen. Zwar hüteten wir unsere Liebe noch immer, sie wollte sie um keinen Preis eingestehen. Wenn erst geredet wird, dann ist es schon aus, sagte sie oft. Aber Sie wissen ja, daß sich bei uns jede Schauspielerin ihren Hausjournalisten hält, der ihr bei den Intrigen helfen, die Notizen in der Presse besorgen und für alle Kommissionen bei der Hand sein muß; meist sind es junge Leute, die nicht viel besser als Dienstmänner behandelt werden, aber sich dafür mit der Gefeierten öffentlich zeigen und hoffen dürfen, daß man so schon mit der Zeit auf den »interessanten jungen Mann« aufmerksam werden wird. Nun, diesen ehrenden Posten nahm ich bei ihr vor den Leuten ein. Ob sie es uns geglaubt haben, weiß ich nicht. Aber so konnte ich doch vor den Kollegen mit ihr verkehren und die Schauspieler fingen an, mich jetzt zu ihrer Welt zu rechnen. Das war mir sehr interessant. Nun lernte ich sie erst kennen. Als Kritiker hat man ja keine Ahnung, wie sie sind. Vor dem Kritiker gleichen sich alle, da sind sie immer die stillen, ihren Rollen nachdenkenden und für jede Belehrung so dankbaren Künstler, einer redet wie der andere nur immer von der Kunst. Man muß sie beobachten, wenn sie unter sich sind. Freilich, wenn man sie dann kennt, dann weiß man erst gar nichts. Ich meine, dann kennt man drei, sieben, zehn, fünfzig, hundert Schauspieler, aber den Schauspieler kennt man noch immer nicht, vom Wesen der ganzen Klasse weiß man dann erst recht nichts. Jeder ist anders, nichts ist ihnen gemein, es gibt keine Definition, die auf alle passen würde. Zwei Beamte, zwei Offiziere mögen noch so verschieden sein, sie haben doch gewisse Züge gemein, die eben jeder Offizier und jeder Beamte und nur der Offizier und nur der Beamte hat. Bei den Schauspielern habe ich das nicht gefunden. Wenn ich den feierlichen, immer tragisch gebietenden und heroisch durch das Leben schreitenden Otto mit dem behenden und konzilianten Tenzer, der immer rechnete, immer Geschäfte hatte, oder gar mit dem zynischen Merz verglich, es schien doch, als müßte jeder aus einer anderen Welt sein. Merz interessierte mich am meisten. Otto war gar zu monoton, mit seiner ewigen Erhabenheit und Würde. Auch sah man ihn selten; er hatte immer Angst, sich zu verkühlen, trank kein Bier und aß fast nichts, um nicht dick zu werden, fastete und quälte sich wie ein Eremit. Mit Tenzer konnte man nur von Geschäften reden. Der berühmte Romeo ist ja eigentlich mehr ein Agent und während auf der Bühne noch der süße Schall seiner betörenden Stimme verklingt, sitzt er schon in der Garderobe, um seinem Sekretär, indem er sich umzieht, Briefe, Kontrakte und Rechnungen zu diktieren. Er hat nie Zeit, beim Essen liest er Stücke, im Wagen hat er die Zeitungen mit und während er sich schminkt, macht er Bilanzen. Er handelt mit Patenten, kauft Häuser an, spekuliert an der Börse und der süßeste Leander könnte der größte Bankier sein. Ich hatte ihn ganz gern, aber man konnte ja mit ihm nicht verkehren, er hatte nie Zeit. Mit Merz wurde ich nach und nach fast intim. Er ist mir zuerst nicht sympathisch gewesen. Es wird mir schwer, mich an so häßliche Leute zu gewöhnen. Dabei zuckt er immer, zappelt, kneift die lüsternen winzigen Augen ein, verzieht die enorme Nase, die einer Trompete gleicht, und muß immer an den wulstigen Lippen kauen, als ob er sich selber aufessen wollte. Nervös darf man nicht sein, wenn man mit ihm verkehren soll. Er ist wie ein Affe, so sieht er aus, so benimmt er sich. Er muß immer jemanden kopieren, sonst ist ihm nicht gut. Seine eigene Stimme hört man nie, nie habe ich ihn auf einer natürlichen Bewegung ertappt. Jetzt macht er einen Kollegen nach, jetzt einen Journalisten, so geht es fort. Ich genierte mich, mit ihm auf der Gasse zu gehen, alle Leute schauten ihm nach. Er hat nämlich keinen natürlichen Gang, sondern bald hinkt er und schleift den Fuß, bald bückt er sich vor und krümmt sich ein, bald tänzelt er wieder und hüpft. Aber er ist wohl der amüsanteste Mensch, den ich jemals gekannt habe. Das heißt, ich habe manchmal gezweifelt, ob er denn überhaupt ein Mensch ist. Er kann alle Menschen sein, die es gibt, aber er muß immer ein anderer Mensch sein, selbst scheint er gar nicht zu existieren. Ich bin doch später oft ganze Tage mit ihm gewesen und ich erinnere mich nicht, daß ich je gedacht hätte: aha, endlich, das ist nun seine Stimme, das ist sein Gang, das ist sein Gesicht! Er war verdammt, immer ein fremder Mensch zu sein; immer ging er als ein anderer herum. Ich sage mit Fleiß: verdammt. Ich hatte nämlich das Gefühl, daß das etwas Schreckliches sein muß. Wenn man nicht imstande ist, guten Morgen zu sagen, ohne sich erst zu überlegen, wen man dabei kopieren wird – mir wird bei dem bloßen Gedanken schon schwindlig. Doch schien es ihn nicht zu genieren. Es war eben sein Wesen, er konnte offenbar gar nicht anders. Ich hätte ihn gern einmal belauscht, wenn er allein ist. Ich glaube, er spielt dann auch, er spielt auch vor sich selbst, er muß immer spielen. So habe ich mir auch die seltsame Manie erklärt, die er hatte. Sie wissen, was man bei uns einen »Aufsitzer« nennt. Nun, das war seine Leidenschaft. Er scheute keine Mühe, keinen Verdruß, wenn er nur die Leute foppen konnte. Für ihn war immer der erste April. Seine Streiche würden ein lustiges Buch geben. Niemand war vor ihm sicher. Anonyme Briefe, Annoncen in den Zeitungen, Dienstmänner – nichts war ihm zu beschwerlich, wenn es nur gelang, einen Kollegen in böse und lächerliche Händel zu verlocken. Gleich sah er den Menschen ihre schwache Seite ab, irgendeine Eitelkeit und Schrulle, und es war manchmal genial, wie er kombinierte. Wurde man böse, so pflegte er mit einer scheinheiligen Miene devot zu versichern, er könne nichts dafür, es sei seine Mission, die Leute in die Situationen zu bringen, die ihnen nach ihrem Wesen gebühren; er helfe nur dem oft vergeßlichen und schon ein bißchen schlamperten Schicksal nach; seine Possen seien immer »im Charakter der handelnden Personen«. Man mochte noch so sehr auf der Hut sein, es half nichts, er war immer noch schlauer. Er hatte eben auch schon die unglaubliche Routine. Das liegt mir ja jetzt alles so fern, so unendlich fern und ich vermeide es lieber, mich seiner zu erinnern. Aber ich muß jetzt noch manchmal über die Abenteuer lachen, die er oft inszeniert hat.

Nun, alle diese Sachen scheinen ja eigentlich gar nicht in meine Geschichte zu gehören, aber ich möchte, daß Sie genau wissen, wie ich damals gelebt habe, in welchen Stimmungen, mit welchen Menschen; sonst können Sie es nicht begreifen.


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