Hermann Bahr
Himmelfahrt
Hermann Bahr

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Elftes Kapitel

Franz nahm zunächst das Heft vor, das mit den Worten begann: »Mich, sprach Gott zu mir, suche nur in dir, dich suche nur in mir!« Er fand bald, daß das offenbar ein Zitat war; andere folgten, begleitet von Einwendungen, Fragen, Betrachtungen, Erörterungen und zustimmenden oder widerlegenden Beispielen aus dem Leben von Helden oder Heiligen, zuweilen auch aus dem eigenen des Schreibers, der, wie es schien, weit herumgekommen war und die Großen der Welt aus der Nähe kannte. Dazwischen standen eilige Schilderungen, bald von Landschaften, bald merkwürdiger Menschen, deren Sitten, Gewohnheiten, Reden, Trachten, Wunderlichkeiten verzeichnet wurden, und neben einem geheimnisvollen Vers war oft ein Witz, mitten unter Namen von Bergen, Flüssen und Gasthöfen eine Anekdote, die Adresse eines Lords oder die Ankunft und Abfahrt von Zügen notiert. Das Heft war in Indien geschrieben, der Schreiber wollte nach Tibet; an den Rand waren zuweilen kindlich unbeholfene Karikaturen gezeichnet, von englischen Offizieren und Beamten, Bettlern, Mönchen und Tänzerinnen, doch schien ihm die ganze Reise bei weitem nicht so wichtig zu sein als das Buch, das er las und mit solchem Eifer auszog. Es ergab sich, daß es eine Schrift der heiligen Teresa war. Aber nicht bloß die Zitate daraus, sondern auch die Bemerkungen des Schreibers waren spanisch, nur zuweilen von einem deutschen Zwischenruf, gelegentlich auch einmal von einer französischen Einwendung unterbrochen, bis dann auf einmal ein Missionar auftauchte, den der Schreiber auf seinem Wege fand und dessen Gespräche nun den Verkehr mit der Heiligen allmählich verdrängten und bald ganz ersetzten. Diese Gespräche wurden englisch geführt, aber mitten darin hörte das Heft auf, und, die Fortsetzung suchend, mußte Franz vor allem erst einmal diese sämtlichen, an Format, Papier und Stärke ganz verschiedenen Hefte, Kalender und Notizbücher ordnen. Es wurde Nacht, bevor er so weit war, sie im Zusammenhang zu lesen, aber als er sie zum zweiten und gleich noch ein drittes Mal las, ging ihm die Bedeutung dieser vermeintlichen Planlosigkeit, der Sinn dieser scheinbaren Unordnung auf. Was auf den ersten Blick nur zufällig beisammen stand, aus Bequemlichkeit durcheinander geschrieben, bezog sich bald geheimnisvoll eins auf das andere, der indische Vers nahm gleichsam dem Missionar das Wort aus dem Mund, zur Landschaft, die beschrieben wurde, gab die heilige Katharina von Genua, zum Abenteuer, das erzählt wurde, gab die heilige Teresa den Text, und ein eigenes Erlebnis aus des Schreibers Jugend, scheinbar willkürlich eingestreut, bestätigte beide, den Gedanken der Landschaft und das Geheimnis der Heiligen: dieser Weltreisende schien immer nur seine eigene Seele zu bereisen, dieser gierige Leser las aus allen Büchern, dieser dringende Frager hörte allen Gesprächen immer nur die Antwort auf sein Schicksal ab. Ein ganzes Leben war hier völlig zu Geist geworden, indem jede seiner äußeren Tatsachen immer gleich zur inneren Begebenheit, aber ebenso aller Geist wieder immer gleich diesem Leben selbst unmittelbar einverleibt wurde. Die Hefte bezeugten einen Menschen, der unablässig sich selbst und seinen ganzen Inhalt rings in die Welt ausgoß, dann aber diese Welt, an die hin er sich zerstückt hatte, tief einatmend wieder in sich aufsog, bis nichts mehr von ihr übrig war als er, von dem eben noch, dem ganz Weggegebenen, ganz an sie Hingegebenen, schon nichts mehr übrig gewesen. Und der unsichtbare Punkt dieser geheimnisvollen Umschaltung, an dem bald er in die Welt zerfloß, bald die Welt zu ihm gerann, hieß in diesen Heften Gott.

Es mußte ein Mann von hoher Geburt sein, reich und fürstlich aufgewachsen, durch seine Herkunft wie durch seine Begabung für eine große Tätigkeit bestimmt, aber wie von einem Unstern verfolgt, maßlos, ziellos, zuchtlos, streitsüchtig und herrschsüchtig, unduldsam und gewaltsam, besonders aber einer bösen Lust verfallen, allen Menschen, die ihm gut waren und es ihm gut meinten, weh zu tun, sie wegzustoßen, sie zu peinigen, dann aber auch, als ob er sie an sich rächen wollte, wie zur Buße, mit derselben Heftigkeit gegen sich selbst zu wüten, wodurch er denn unter den Seinen unmöglich, ein gemiedener Sonderling und schließlich landflüchtig geworden war, in die weite Welt hinaus, gleichsam auf einen Kreuzzug gegen sich selbst, den niederzumachen und auszurotten seitdem seine Leidenschaft wird. Er verläßt Weib und Kind, wirft Rang und Reichtum weg, nimmt einen fremden Namen an, doch das alles genügt ihm noch nicht, damit hat er sich erst abgelöst, aber ihn verlangt, sich aufzulösen, und mit derselben Wut wie einst seiner Eigensucht frönt er jetzt der Wollust der Entselbstung. Sie sucht er in Leid und Schmach. Er lebt unter Bettlern, weil sie verachtet sind und er selbst sie verachtet; ihr ekler Atem, ihre Häßlichkeit, ihr Schmutz, gar aber ihre Habsucht, ihr Neid, ihr Geiz, ihre stieren Wünsche, stinkenden Begierden, schmierigen Gelüste widern ihn an, darum teilt er sie. Weil Arbeit ihm verhaßt ist, nimmt er Arbeit. Weil seinem herrischen Sinn jeder Befehl widersteht, verdingt er sich als Knecht und wird ein träger, ein fahrlässiger, ein untreuer Knecht, damit er überall gleich wieder mit Schimpf und Schande davon muß. Er beträgt sich unverschämt, um fortgejagt zu werden, und närrisch, damit ihm die Kinder nachlaufen und ihn verhöhnen. Wenn er insgeheim Gutes tut, tut er es mit bösen Worten, um keinen Dank dafür zu haben, sondern Fluch. Wird er weggetrieben, von Verwünschungen begleitet, so freut er sich, und um sich für diese Freude wieder zu züchtigen, um sie zu büßen, bittet er seine Quäler noch um Verzeihung, aber so dumm, so dreist, daß sie ihm Steine nachwerfen. Es ist ein spitzfindiges System, pedantisch ausgedacht, lächerlich konsequent; er tut einfach immer alles, was ihm weh tut, er lebt durchaus wider seine Natur, er will leiden, um durch Leiden seinen Willen auszuhungern. Er nennt das seine moralische Entfettungskur. Und wenn er dann überall vertrieben, von allen verlassen, verhöhnt, verachtet, jedem verdächtig, ein Kinderschreck und Kinderspott, entmenscht, vertiert, sich selber zum Ekel, auf fremder Erde draußen im Walde friert, bei Regen und Sturm mitten in der Nacht, mit seinem wilden Wahnsinn allein, dann glaubt er oft wirklich schon zu verlöschen, nur ganz leise schlägt in der Ferne sein böses Herz noch, nur eine ganz dünne Wand trennt ihn vom Tode noch, er entwird sich und erstarrt in tiefen Ohnmachten, und wenn er erwachend zurückkehrt, bleibt in seinen versunkenen Augen ein irrer Glanz von diesen Stunden, deren Seligkeit, wie er sich auch bemühen mag, sprachlos ist, aber ihm doch verbürgt, daß er recht hat, recht, sich zu vernichten, weil er daraus erst aufersteht. Dann gönnt er sich meistens eine Zeitlang Ruhe, wandert wieder, sucht irgendein abgelegenes Haus auf, das den wunderlichen, aber jetzt ganz stillen, demütigen und heiteren Gast aufnimmt, wartet ab, bis er allmählich wiederkehrt und dann wieder stark genug sein wird, sich von neuem noch grausamer zu züchtigen, und schreibt indessen Heft um Heft mit Beweisen voll, daß er noch immer nichts erreicht hat, daß er sich doch nur wieder selbst betrügt, daß gerade, wenn er sein Selbst vernichtet zu haben glaubt, es immer nur wieder desto frecher triumphiert. Lüge dir doch nicht vor, die Selbstsucht los zu sein, du hast sie bloß sublimiert! Und er schwelgt in Betrachtungen dieser sublimierten Selbstsucht, einer viel gefährlicheren und tückischeren, weil man sich vor der gemeinen, die wenigstens kein Hehl macht, immerhin noch schützen kann. Menschen, die sich aufopfern, sind ihm alle verdächtig. Denn wem opfern sie sich? Einem Wesen, das ihnen teuer ist, einer Idee, die dadurch siegen soll, also doch immer wieder nur ihrem eigenen Gefühl, ihrem eigenen Willen, sich selber. Einen Teil von sich bringen sie einem anderen Teil von sich zum Opfer, der ihnen offenbar mehr gilt als jener. Sie geben sich preis, aber doch nur, um sich dadurch erst recht zu behaupten. Sie sind bereit, für das Vaterland, für den Glauben, für den Freund zu sterben, aber doch nur für ihr Vaterland, ihren Glauben, ihren Freund, also doch auch wieder nur, damit etwas von ihnen lebe, noch über ihren leiblichen Tod hinaus lebe, also doch auch wieder nur für sich selbst. Denn wer hätte sich je für eine Idee, die er bekämpft, für den falschen Glauben, für seinen Feind zum Opfer gebracht, was doch allein erst ein wahres Opfer wäre, das Opfer seiner selbst? Aber das würde man ein sinnloses Opfer nennen. Das bringt keiner. Das Opfer muß einen Sinn für ihn haben. Dann ist's aber doch keins mehr! Denn dann opfert er ja sich nicht mehr, er gibt nur das Unwichtige für das Wichtige her, er tauscht für Unwesentliches das Wesen ein, er macht also noch ein glänzendes Geschäft. Schließlich bleibt's doch dabei, daß jedem er selbst über alles geht. Jeder sucht sich, der Unterschied ist nur, worin er sich sucht, einer in sinnlicher, ein anderer in geistiger Lust. Was er sucht, auch im Opfer, auch der Blutzeuge, auch im Heldentod, ist doch immer nur wieder er selbst; seine Wahrheit, sein Recht, sein Gefühl, seine Tat, seine Selbstüberwindung, die selbst ja schließlich doch auch wieder nur noch ein letzter Triumph für sein Selbstgefühl ist. Alle Kultur des sittlichen Empfindens, mit der wir prahlen, geht eigentlich doch nur auf ein immer feineres Maskieren unserer im Grunde noch ungeschwächten Selbstsucht. Auch wer das Gute, das Rechte tut, selbst wer es ganz im geheimen und unbelohnt tut, ja wer es auf die Gefahr hin tut, dafür Unrecht zu leiden, genießt doch in diesen Empfindungen seiner verborgenen Wohltat, des Undanks, der Erniedrigung, der unverdienten Schmach, des erlittenen Unrechts zuletzt auch wieder nur sich selbst! Und auch damit, daß einer das Schwerste lernt: ertragen, unbekannt, unangesehen, vergessen und verloren, ja verschmäht zu leben, ist noch immer nichts erreicht, er lernte denn auch so wider sich handeln, wider alle seine Begriffe, wider sein eigenes Gefühl, daß er sich selbst seiner schämen muß, daß er sich selbst verächtlich wird, daß er nicht mehr bei sich sein kann. Dann erst wäre der teuflische Stolz zerbrochen, der den Menschen von Gott trennt. Denn nur in Menschen, die sich ihrer entledigt haben, kann Gott einziehen. Der Mensch muß sich räumen, damit Gott Platz hat.

Aber da setzt dann in den Heften immer ein ganz anderer Ton ein, es wird auf einmal licht. Haben sie sich erst gar nicht genug tun können, die Verderbtheit der menschlichen Natur anzuklagen, gegen die selbst der beste Wille nichts vermag, so schwelgen sie jetzt in der Herrlichkeit des entwordenen, von Gott bezogenen Menschen, und kein Wort ist ihnen zu groß, keine Farbe zu stark, keine Stimme zu laut, um diesen Einzug Gottes zu preisen. Wenn der Mensch erst selbst aus sich weg und nichts mehr von ihm übrig ist als sein Raum, leer von allem eigenen Willen und Wesen, daß er ganz offen steht, dann schlägt die Stunde der Wiedergeburt ins Wahre, denn wenn Gott über ihn kommt, erwacht der Mensch vom Wahn der Wirklichkeit, die Selbsttäuschung fällt, das Irrlicht unserer Sinnlichkeit verlischt und, des bösen Spuks entzaubert, sieht er in aller Kreatur nur noch das Antlitz des einen Gottes. Seitenlang wiederholten die Hefte das mit fast den nämlichen Worten immer wieder, als wenn es doch noch immer nicht gesagt wäre und niemals genug gesagt werden könnte und jedesmal wieder zum erstenmal gesagt würde. Und man sah der immer größeren, immer breiteren, immer heftiger eilenden Schrift die Seligkeit an, daß ihr das diktiert wurde, zugleich aber auch die namenlose Angst, das Diktat zu versäumen. Es hatte fast etwas Monomanisches, wie da seitenlang oft immer wieder dasselbe stand, in allen Sprachen und mit Ausrufen des höchsten Entzückens, dick unterstrichen, unersättlich. Oft auf einer Seite nichts als immer wieder: »Gott zieht ein!« Und auf der nächsten wieder nur: »Werde Gottes Raum!« Und auf der nächsten: »Bis du nur erst bloß noch Raum bist!« Und wieder: »Räume dich Gott ein!« Dann aber: »Und wenn du jetzt aber nichts mehr als Raum bist, glaubst du denn, daß er da gleich gelaufen kommen muß? Schmücke, beleuchte, flagge! Er will festlich eingeholt sein!« Und in einem wahren Rausch taumelnder Verzückung war dann beschrieben, wie der ersehnte Gast endlich über die leuchtende Schwelle tritt und der Raum zur Flamme wird. Manches aber war dann auch später wieder ausgestrichen, und oft stand am Rande: »Literatur!« Und einmal: »Schönredner verachtest du, wann aber endlich wirst du lernen, auch Schönschreibler verachten?« Und ein anderes Mal: »Stendhal hatte die Gewohnheit, eine Stunde jeden Tag im Code zu lesen, um sich so der verfluchten Schönschreiblerei zu entwöhnen!« Und nun, wie der Sprache plötzlich überdrüssig, folgten Seiten in der Mundart, die aber, unfähig, solche Gedanken auszudrücken, gleich immer wieder mit einer anderen vertauscht wurde, und so ging es baskisch, furlanisch und im Patois durcheinander, bis er am Ende verzweifelnd hinschrieb: »Natürlich alles ganz falsch, nämlich zwar wahr gefühlt und recht gedacht, aber zu wahr und recht, als daß es überhaupt ausgesprochen werden könnte; getreu können nur Lügen ausgesprochen werden!« Dieses immer wiederkehrende, gehässige Mißtrauen gegen die Sprache vertrug sich aber merkwürdig gut mit einer eigentümlichen, fast kindischen Vorliebe für gewisse Worte, von denen der Schreiber zuweilen wie bezaubert schien, freilich immer nur eine Zeitlang: sie tauchten plötzlich auf, überwältigten ihn, als ob ihnen eine magische Kraft eigen wäre, und waren dann aber ebenso schnell plötzlich wieder verschwunden. So stand auf einmal der eine Satz da: »Der Mensch ist bloß ein Apparat.« Auf der nächsten Seite hieß es: »Der Mensch als Meldeapparat oder Funkenstation Gottes.« Am Rande war später hinzugefügt worden: »Aber leider nicht bloß Gottes.« Und jetzt konnte man von Seite zu Seite dieses Gleichnis in ihm gären sehen. »Der Mensch bringt selber nichts Eigenes hervor, er nimmt nur auf und gibt wieder ab, er meldet nur, er ist nur ein Apparat, aber ein Apparat zwischen zwei Welten, eine Station an ihrer Grenze, dort wo sich diese beiden Welten berühren, so daß er Meldungen von beiden empfängt, er hat aber für beide doch nur einen Draht, auf dem sich ihre Stimmen also vermischen und durcheinander sprechen. Um verstehen zu können, was von der einen gemeldet wird, muß er erst die Verbindung mit der anderen auszuschalten wissen, wodurch aber sein Wesen zunichte wird, das ja darin eben besteht, mit beiden verbunden zu sein. Klare Menschen sind stets halbierte Menschen, sie bezahlen ihre Klarheit damit, daß sie sich entweder vom Himmel abschneiden oder von der Erde. Ein ganzer Mensch aber muß immer irre werden, weil er zwar von beiden Welten Nachrichten hat, aber von beiden zugleich, so daß er keine verstehen kann, es sausen ihm nur die Ohren.«

Nun scheint es, daß sich der Schreiber nicht entscheiden kann, ob er ein reiner Apparat der himmlischen werden will oder der Mensch die Meldungen beider aufzunehmen hat, dem elenden Vorwitz aber entsagen muß, sie nun selbst auch zu verstehen, statt sie bloß aufzunehmen und gleich wieder abzugeben, statt nur der Draht, der Leiter, der Apparat zu sein. Mitten in diese Betrachtungen fällt der Zweifel, ob es überhaupt zwei Welten gibt, ob sich nicht vielleicht in allem nur eine meldet, die geistige nämlich, die allein die wirkliche wäre, unser sinnliches Leben aber nur ihre von uns schlecht aufgefangenen Zeichen, die wir zu dechiffrieren hätten. Was das Auge sieht, das Ohr hört, der Verstand denkt, das Herz fühlt und der Wille will, das alles wäre dann nur eins: Strahl derselben uns unmittelbar niemals vernehmlichen, aber auch in uns selbst wesenden, freilich auch da noch uns verborgen bleibenden, doch uns bestimmenden Kraft. Und so wären diese Meldungen, zu denen uns, um sie entziffern zu können, ja der Schlüssel fehlt, alle schließlich ganz gleichgültig für uns, weil wir doch aus Impulsen handeln, die gar nicht erst eine dieser Meldungen brauchen, sondern direkt geschehen. All unser Sehen, Hören, Denken, Fühlen und Wollen wäre falsch, und es hätte keinen Sinn, wenn wir es uns zu deuten trachten. Trachten müßten wir vielmehr nur, nicht auch noch unser Tun dadurch zu fälschen, das unsere einzige Wahrheit sei, also niemals bewußt zu handeln, niemals mit dem Verstande, niemals aus einer klaren Empfindung oder durch den Willen, sondern immer nur in der tiefen Dämmerung. Die wahre Haltung des Handelnden, und nur handelnd erkenne sich der Mensch, die wahre Haltung sei, sich von Handlungen überwältigen zu lassen, für die er selbst den Grund nicht weiß, die er selbst gar nicht versteht, die er sich selbst gar nicht zugetraut hätte noch erklären noch rechtfertigen kann. In solcher Dämmerung sind alle großen Taten der Menschheit geschehen, unbewußt, ungewollt und unerkannt, von tief eingeschläferten Menschen, die wider Willen dem Diktat der unbekannten Macht gehorchen. Solange dir nichts diktiert wird, ist alles falsch, was du tust. Was du selber tust, ist immer falsch, wie recht du es auch meinen magst. Versage dich deinem eigenen Rat, widerstrebe deiner eigenen Empfindung, erwehre dich deines eigenen Willens, verstumme, entsinke dir und erstarre, bis es dir geschieht. Nur wenn der Befehl von oben in dich fährt, handelst du wahr. Deine Tat kannst du selbst nicht tun, sie muß dir angetan werden. Nur was mit solcher Gewalt über dich kommt, daß es dich wider deinen Willen zwingt, nur das ist deine Tat. Für sie spare dich auf. Du bist nichts als ihr Gefäß. Dann folgten Sätze, die später wieder ausgestrichen worden waren: »Ob du gut oder böse bist, fragt deine Tat nicht, deine Tat entgeht deinem Willen. Du meinst es gut und bist doch nie sicher, daß es auch gut wirkt, du meinst es bös und bist nicht sicher, daß es bös wirkt, also meine lieber gleich nichts, und laß mit dir geschehen, was dich überwältigt! Handle nur überwältigt!« Dies war wieder ausgestrichen und die Bemerkung beigefügt: »Könnte mißverstanden werden. Besonders das: Meine lieber gleich nichts! Es muß richtiger heißen: Meine stets Gott! Und ebenso dann wieder: Handle von Gott überwältigt! Aber wie soll einer wissen, ob es Gott ist, was ihn überwältigt? Es ruft so viel in uns und wir können die Stimmen nicht unterscheiden. Es ruft Gott, es ruft das Tier, es ruft Herkommen, Sitte, Gewohnheit, Beispiel und Menschenfurcht in uns, und alle so laut! Nur wer erst den anderen taub geworden ist, hört Gott. Auch mußt du warten lernen. Schlimm ist, wenn es der Mensch nicht erwarten kann, bis er gerufen wird. Auch die Selbstlosen kranken noch an dieser letzten Art von Selbstsucht oft: sie warten das Signal nicht ab. Wer stets glaubt, es gehe schon der Ruf an ihn, stört den Plan ebenso wie wer den Ruf überhaupt nicht hört. Ganz still werden, vom eigenen Verstand, eigenen Gefühl, eigenen Willen frei, selber stumm, taub der Welt, Ohr für Gott, und dann in Demut harren auf den Befehl, die so demütig ersehnte Tat aber, wenn sie dir dann endlich befohlen wird, wenn sie dich überwältigt, mit deiner ganzen aufgesparten und angestauten Leidenschaft, Kraft und inneren Fülle tun, daß du ganz zu deiner Tat wirst und nichts von dir übrigbleibt!«

 

Eine Zeitlang war dann in die Hefte nichts mehr eingetragen worden. Als er sich entschloß, das Tagebuch wieder aufzunehmen, hatte sich inzwischen seine Handschrift verändert. Es war jetzt eine deutliche, gleichmäßige, sehr sorgsame Rundschrift, mit Liebe die Buchstaben förmlich malend. Ort und Tag wurden nicht mehr angemerkt, auch Begegnungen, Landschaften und Menschen nicht. Was sich mit ihm begab und wo und wie, schien dem Schreiber gleichgültig geworden; es lohnte sich ihm nicht mehr, dabei zu verweilen. Auch die leidenschaftliche Dialektik war verstummt. Das Tagebuch verwandelte sich in eine Art Tabelle von kurzen Mahnungen, Anweisungen zum Leben oder Stoßgebeten.

»Weg Wahn, weg Wille, weg Wirklichkeit! – Durch Entselbstung, Entmenschung, Entwerdung zur Wahrheit! – Nur wer sich verlieren lernt, lernt sich finden. – In Freuden bang, in Schmerzen froh. – Erstirb zum Leben! Lebe tödlich! – Hilf mir, Herr, daß dein Wille mit mir geschehe! Hilf mir, daß er durch mich geschehe! Hilf mir, daß ich deinen Willen vernehmen, deinen Willen verstehen, deinen Willen begehren lerne! – Nimm mich an, nimm mich auf, nimm mich ein! – Gott um nichts bitten, weil ich ja nicht weiß, was ich mir von ihm erbitten soll. Denn ich weiß doch nicht, was für mich gut ist. Er aber weiß es, er ist mir gut und gibt mir's ungebeten. Was er mir gibt, ist für mich gut, ob ich es will oder nicht. Es ist desto besser, je weniger ich es will. Gott um nichts bitten, als was ich nicht will. Lerne wollen, was du nicht willst. Gott um nichts bitten, als um Gehör für seinen Befehl. Echo Gottes werden! – Ich bin nichts, es muß erst in mich fahren. Es fährt aber erst in mich, wenn ich ganz leer und offen stehe. Öffne dich, damit es herein kann! – Entnimm mich mir, o Herr! Mach dir Platz! – Das Ich ist der böse Feind. Es schließt mich ein, es schließt mich ab. Da kann ich nicht heraus, und Gott kann nicht herein. Durch Selbstverlust zu Gott! Je stärker mein Ich, desto schwächer mein Gott. Wenn es zerfließt, ersteht er daraus. Darum ist auch nichts so hassenswert als Gewalt, einem Menschen angetan, denn Gewalt treibt den Menschen in sich zusammen, engt ihn ein und sperrt ihn ab, Freiheit aber und Liebe reißt seine Dämme weg, er überflutet und verströmt in Gott. – Appetitus maximus mortis, weil wir in ihm erst aus uns erwachen. – Der Tätige, wie redlich er sich auch ums Rechte bemühe, wird doch immer zuletzt gewahr, daß er stets irgendeinem unrecht tut. Er bringt sich im besten Falle höchstens dahin, nicht mehr als das ihm unerläßliche Unrecht zu tun. Jede Tat ist eine Untat. Tu nichts, laß dir alles geschehen! Dadurch allein, daß du lebst, bist du schon schuldig geworden. – ›In diesem Leben ist alles Wahrheit und alles Lüge‹ heißt ein Stück Calderons. Wahrheit nämlich, weil alles ja von drüben kommt, aber Lüge, weil es in den Schein getaucht, nämlich in unsere Form gezwängt, ins Ich verzerrt wird. – Es gibt Menschen, die das Dasein einer wahren Welt, von der unsere irdische nur ein verworrener Traum ist, entweder selbst einmal erlebt haben und aus eigener Erfahrung kennen (Eucharistie!) oder doch auf das Zeugnis anderer, die es erlebt haben, hin daran glauben, und es gibt Menschen, die es weder selbst erlebt haben noch den anderen glauben, sondern die Wahrheit ableugnen. Daß diese dann doch wieder Wahres und Falsches unterscheiden wollen und überhaupt noch von diesen Worten Gebrauch machen, läßt sich nur aus einem Denkfehler erklären, denn woran, wenn es keine gibt, sollten wir die Wahrheit messen können? Wer aber das Dasein der wahren Welt einmal selbst erlebt hat, wird fortan entweder das irdische Leben, in das er aus ihr wieder zurücksinkt, als einen Wahn, den er ja jetzt durchschaut, als einen Trug, von dem er sich jetzt nicht mehr betrügen läßt, verabscheuen und sich daraus loszuwinden trachten oder aber, wenn er es jetzt gleich für Wahn und Trug erkennt, sich dennoch, weil uns nun einmal dieser Wahn und Trug zur Prüfung oder zur Strafe verordnet ist, gehorsam darein schicken, es als Traum ertragen oder gar als Spiel genießen, was er um so leichter kann, weil er ja weiß, daß einst auf das Spiel der Ernst, auf den Traum ein Erwachen, auf den Wahn die Wahrheit folgt, oder aber endlich wird, wer einmal das wahre Dasein erlebt hat, unser irdisches fortan überhaupt gar nicht mehr anerkennen, sondern es durch seine Tat überwinden, durch seine Tat ersetzen wollen, der er zutraut, den Himmel herunterzuholen und den Wahn durch ihre Wahrheit zu schlagen. Ich habe mich in allen diesen drei Möglichkeiten versucht, der Reihe nach. Aber die erste macht es sich doch zu leicht, sie drückt sich von der Schuld und von der Sühne, los werden wir das Leben ja dennoch nicht, und auch wer bloß in kleinen Zügen sündigt, bleibt in der Sünde, da scheint mir fast der Rat noch besser, sich tapfer durch die Sünde durchzufressen bis hinüber, wie jener durch den Reis ins Schlaraffenland. Und die zweite wieder belügt sich, denn keiner spielt sein Leben bloß, das ist nur eine Fiktion an heiteren Tagen und für Rentner, die der Krankheit oder dem Hunger nicht standhält. Die dritte gar vergißt, daß selbst die reinste Tat das Muttermal unserer menschlichen Erbärmlichkeit trägt; vollbracht erkennt sie sich selber nicht wieder und der Himmel auf Erden wäre keiner mehr, er kommt in unserem Klima nicht fort. Ich habe alle drei versucht, jede war eitel, und nichts blieb mir, als daß ich leiden muß. Ich habe zu leiden, dazu bin ich auf der Welt. Ich muß leiden, also will ich leiden. Das Leben ist mir auferlegt, des Lebens kann ich mich nicht erwehren, leben ist leiden. Leben zu lernen war immer mein Wunsch. Also leiden zu lernen. Seit ich zu leiden weiß, gern zu leiden, weiß ich erst zu leben. Und ich lebe desto mehr, je mehr ich leide. Schwer wird mir das nur dadurch, daß es mir immer leichter wird, weil mir nämlich jedes Leid immer mit der Zeit so lieb wird, daß es mich dann freut. Ich gewöhne mich so daran, daß ich es bald nicht mehr entbehren mag. Da muß ich mich dann immer wieder von ihm trennen, um ein neues Leid zu suchen, das mir noch weh tut. Das ist ein trauriger Abschied. O meine verabschiedeten Leiden, oft denk ich an euch zurück voll Dankbarkeit! Und vielleicht muß ich noch einst, wenn mir alle Leiden zu lieb geworden sein werden, wieder in die Welt, der ich entfloh, wieder in Glanz und Glück heim, zu meiner lieben Frau und den Kindern. Davor bangt mir. Wieder in Macht sein müssen, steht mir, wenn alles andere Leid erschöpft ist, vielleicht noch einmal bevor. Aber ich werde schon die Kraft haben, auch dazu noch, und bis ans Ende. Wenn ich einmal ganz in Kraft sein werde, kann ich aus mir alles in Leid verwandeln. Dann darf ich auch wagen, Lust nicht mehr zu fliehen. Erst muß mir alles gleichgültig und Lust von Leid unkenntlich geworden sein, so daß ich selbst allein es dann bin, der Lust und Leid ernennt, dann wird mein ganzes Leben, was es auch sei, nur noch ein einziges Opfer sein. Bis ich nur erst ganz in Kraft bin! Und ich hole mir ja jetzt täglich Kraft von Gott. Wenn ich ihn esse, bin ich stark, und was er auch immer von mir will, kann ich dann, nicht mehr ich, sondern in ihm und er in mir. Ich bin dann fort, ei hat mich geholt, dort bin ich wieder da und werde jetzt erst, was ich bin, werde jetzt wahr, bin erst. Ich sehe dann meinen armen Leib verwundert an, was will denn der noch von mir? Und auch meine Seele wird mir fremd, sie ist nicht mehr mein, sie ist schon sein, und bei ihm werden wir uns erst kennen lernen, ich und meine Seele. Seit ich nur noch durch ihn geschehe, bin ich schon drüben. Ich wese drüben und wirke nur noch herüber. – Bote bin ich. Nicht bloß ein Apparat. Nicht bloß aufnehmend. Nicht bloß zum Registrieren. Die Pflanze, das Tier, die Natur, die registrieren bloß Gottes Herrlichkeit. Von mir verlangt er mehr. Mich hat er zur Freiheit erschaffen, daß ich wählen und mich entscheiden soll, für oder gegen ihn. Ich habe mich entschieden und ihm ja gesagt, und ja will ich jetzt unablässig sagen, mit jedem Atemzug. Bote bin ich, Sänger seiner Herrlichkeit, freier Täter seines Willens. Laß meine Stimme schallen, laut aus dem Chor der Ewigkeit hervor. Hand Gottes, will ich in die Menschheit greifen, Fuß Gottes, auf der Erde schreiten, ich nichts, alles durch ihn! – So wahr, als ich armer Sünder sein kann, sind diese Worte, doch sind es Worte. Was der Mensch ausspricht, ist falsch, in seinem Mund wird alles falsch. Alle Worte sind falsch. Aber sie sind verschieden falsch; je nach dem das Herz, aus dem sie kommen, rein oder arg ist. Auch mein Mund ist falsch, aber aus ihm spricht ein reines Herz, es kann nichts dafür. So gilt von allem was hier geschrieben steht, nichts, sondern nur was dahinter ist, gilt, das aber weiß nur, wer es geschrieben hat. Er hat es nicht geschrieben, damit es hier steht, sondern weil ihm erst beim Schreiben alles einfällt, was er weiß. Wenn er es aufschreibt, fällt ihm dabei das Richtige ein, aber was er aufschreibt, ist nicht das Richtige, sondern er weiß es nicht mehr. Was er weiß, kann er nicht aufschreiben; es fliegt weg. Das Richtige wirft einen Schatten und der Schatten gehört auch dazu, mit ihm zusammen ist es erst ganz das Richtige, mit ihrem Widerspruch zusammen wird eine Wahrheit erst wahr, mit ihrem Schreiber zusammen gilt eine Schrift erst, aber was bloß geschrieben steht, ohne ihn, für sich allein, das gilt nichts. Worte sind ja nämlich schattenlos, die wahre Sprache, die gleich auch den Widerspruch mitnehmen würde, der zur ganzen Wahrheit gehört, ist noch nicht erfunden. Leser, zu dem sich dieses Heft verirrt, lies es nicht, wenn du nicht selbst schon die gute Meinung hast, aber wenn du die gute Meinung hast, brauchst du's nicht erst zu lesen. Es meint, was unsere heilige Kirche lehrt. Nichts als das meint es und auch wenn es anders spricht, meint es doch nur das. Das andere sind Sprachfehler, die du dir in die gute Meinung übersetzen mußt, oder lies es lieber nicht! – Was ich schrieb, ist nicht etwa von mir am Leben ausgedacht, sondern ich darf eher sagen, daß es mir vom Leben zugedacht worden ist, von meinem Leben: also wer ein anderes Leben hat, hat nichts davon, denn diesem anderen denkt sein anderes Leben wieder anderes zu, dahinter aber ist erst die Wahrheit, doch wir reden vorne, jeder von seinem Platz aus, du stehst nicht auf meinem, ich nicht auf deinem, wir winken uns nur manchmal zu, das ist alles, was wir können: einander Zeichen geben, aber ich verstehe deine nicht und du verstehst meine nicht, es liegt auch nichts daran, Gott versteht alle. Zu wem immer wir reden, wir reden doch immer nur mit Gott, und keiner hört uns als Gott. – Daß Leid und Lust, die uns in diesem Leben begegnen, eigentlich des Aufhebens, das wir damit machen, nicht wert sind, bin ich schon in jungen Jahren gewahr worden. Ich versprach mir von den Freuden der Welt mehr, als sie hielten, aber auch ihre Schmerzen enttäuschten mich, in der Nähe zeigte sich stets, daß auch sie geprahlt hatten. Als ich kaum drei Wochen nach meines Vaters Tod wieder arbeiten und mein tägliches Geschäft verrichten konnte wie sonst, nur mit einem dünnen Flor um mein Wesen, aber tief in mir unversehrt, erschrak ich, wenn ich mich erinnerte, wie mir sonst, beim bloßen Gedanken, ihn zu verlieren, ganz undenkbar gewesen, ohne ihn weiterzuleben. Im Guten und im Schlimmen bleibt die Wirklichkeit hinter unseren Hoffnungen und Befürchtungen zurück; Lust und Leid gibt es eigentlich nur von weitem. Diese Erfahrung bestimmte mich zunächst, das Leben nicht mehr ernst zu nehmen, es stand ja nicht dafür. Doch war in mir ein Bedürfnis, etwas ernst zu nehmen. Es war eine Anlage zum Ernst da, die vom Leben unbefriedigt blieb. Sie gab mir die Gewißheit einer Bestimmung, die mich über das Leben hinaus wies. Ich zog zunächst aus meinem Leben weg, ich zog aus, um einen Ernst zu suchen. Ich fand keinen. Ich fand keine Lust und fand kein Leid, die mir standgehalten hätten. Sie vergingen immer gleich wieder und nichts blieb mir von ihnen. Irgend etwas in mir aber gab nicht nach, sondern bestand darauf, daß mir etwas bleiben müßte. Entweder war ich falsch angelegt oder die Welt. Das wollte ich herauskriegen. Und es war in Königsberg, der Stadt des alten Kant, an einem trüben Wintertag, ich langweilte mich, lag auf dem Sofa, schlief halb und fuhr plötzlich auf, weil ich sprechen hörte, doch war niemand im Zimmer. Aber eine Stimme sagte deutlich: Entweder bist du verrückt, oder es gibt einen Gott, du hast keine Wahl, ohne Gott kann der Mensch nicht recht behalten. Es war aber niemand im Zimmer. Ich saß mit offenen Augen und hörte die Stimme ganz deutlich. Sie sagte mir nichts, was ich nicht bei einigem Nachdenken über mich hätte selbst finden müssen. Was ich wollte, was ich zum Leben brauchte, was ich suchte, gab es entweder nicht, dann war ich verrückt und es blieb mir nichts übrig, als mich aufzuhängen, oder es gab Gott. Für mich gab es also Gott. Und ich mußte jetzt nur noch zu ihm finden, ich mußte die Verbindung mit ihm finden. Denn davon hätt ich auch nichts, wenn er vorhanden ist, aber mir unerreichbar. Erst seit ich ihn erreicht habe, hat mein Leben Sinn. Ein Gott, den ich nicht haben kann, interessiert mich gar nicht. Ob er zu mir kommt und bringt, was mir das Leben schuldig bleibt, ob er mir hilft und was ich tun muß, um gewiß zu sein, daß ei mir hilft, ob ich mich seiner Hilfe versichern kann und wie, darum geht's mir. Ein Gott in der Ferne, der nur einst das Werk in Betrieb gesetzt, sich aber längst vom Geschäft zurückgezogen hat, der nicht mitten unter uns ist, der mich mir selber überläßt, so daß ich doch ohne ihn auskommen muß, als wäre keiner, was soll mir der? Erst seit ich weiß, erprobt und experimentell entschieden habe, daß er seiner Kirche die Macht gegeben hat, ihn mir heranzuholen und in mich herein, daß ich ihn haben kann, sooft ich ihn brauche, daß meine Kirche mir ihn zu bereiten vermag, bin ich sein. Das klingt mir selber fast blasphemisch, ich weiß aber, daß es die Wahrheit ist. Wenn es aber nicht die Wahrheit wäre, soll es ungesagt sein. Denn ich könnte ja meine Kirche mißverstanden haben. Ich widerrufe dann im voraus. Denn ich meine stets nur, was meine Kirche lehrt. Und auch das was ich weiß, will ich nur so wissen, wie sie es lehrt. Was ich anders weiß, als sie lehrt, ist Dunst und Dünkel, der vor ihr zergehen muß. Und was ich immer meinen mag, ich meine damit, was sie meint. – Das Individuum ist ein Strahl des Ganzen, in einen Teil, ein Strahl der Ewigkeit, in die Zeit eingefaßt. Indem es sich nun erhalten will, strebt es zugleich wieder ins Ganze, wieder zur Ewigkeit zurück, aber auch, der Teil und in der Zeit zu bleiben. Dadurch entsteht das Absurde das jedem Individuum anhängt. Der Jüngling wird es mit Verwunderung, ja mit Schrecken gewahr, vergeblich setzt der Mann sich dagegen zur Wehr, der Greis kann von Glück sagen, wenn er sich in's Unabänderliche demütigen lernt und es als sein Gesetz erkennt. Die Gottheit hat sich verteilt, du kannst dir nicht helfen. Jedes Individuum ist ein Punkt, der einen Blitz der ewigen Kraft auffängt. Nicht also was du selber bist, macht deinen Wert aus, sondern was von dir aufgefangen wird, der göttliche Blitz, der ewige Strahl. Aber freilich kommt es dann auf den Punkt an, den aufgefangenen Strahl auch rein zu bewahren. Wieviel wir auffangen, scheint nicht von uns abzuhängen, etwa derart, daß manche von uns mit einer besonders stark anziehenden Kraft begabt wären. Der Beobachter der Menschheit hat den Eindruck, daß sich das Göttliche keineswegs ›nach Verdienst‹ auswählt, auf wen es sich setzen will, sondern eher ein fast ironisches Vergnügen daran hat, sich ganz unerwartet gerade dort zu zeigen, wo man am wenigsten darauf gefaßt ist; es begnadet mitunter die kläglichsten Menschen am liebsten, wie um zu beweisen, was es kann, auch mit untauglichen Mitteln. Wenn es freilich einmal einen Tüchtigen trifft, dann geraten die ganz großen Wunder, auf die noch nach Jahrhunderten der Enkel erschauernd blickt. Darüber, warum das Göttliche zum Besuch manche Menschen anderen vorzuziehen scheint, stehen uns keine Vermutungen zu. Doch wild es wohl kaum einen Menschen geben, den es niemals angeweht hätte. An manchen Punkten scheint es sich besonders wohl zu fühlen, und wo es einmal länger verweilt hat, dahin kehrt es offenbar gern wieder, doch ist auch das nicht ganz gewiß und die Begnadeten leben immer in der Furcht, ob denn die Gnade noch einmal wiederkommen wird. Es gibt aber freilich auch welche, die sich selber das Verdienst zuschreiben, als ob der Punkt, den das Göttliche berührt, der Raum, den es einnimmt, der Stoff, in dem es erscheint, der Schöpfer der Erscheinung wäre. Die Farbe malt nicht, doch wird freilich mit manchen Farben besser gemalt als mit anderen, aber wenn sich mit dir besser malen läßt, ist das denn dein Verdienst, wäre nicht auch das wieder bloß Gnade? Und doch ist alle Gnade, die dir wird, auch wieder dein Verdienst. Denn die Gnade sucht jeden, der sich nur finden läßt. Gott ist immer unterwegs nach allen Menschen; du mußt nur daheim sein, wenn er kommt. Und herein sagen, wenn er klopft. Er kommt immer, er klopft in einem fort. – Wenn ich bei Gott bin, bin ich von mir weg. Und eben dann bin ich erst. Wenn ich zurückkehre, von ihm in mich, ist es mir immer, als wenn ich's nicht mehr wäre. Ich lebe dann von mir getrennt. Der hier lebt, bin ich ja nicht, und der ich bin, zu dem kann ich nicht. Als mein Verkehr mit Gott begann, hat mich das sehr gequält. Jetzt ist das anders geworden. Ich bringe nämlich jetzt von drüben jedesmal ein Stück von dem, der ich dort bin, mit herüber in den, der ich hier bin. Und was ich mitbringe, wächst und wird immer stärker an mir, und je mehr ich herüber bringe, desto stiller wird der hiesige Mensch. Aber auch der andere spricht nicht, er weiß auch nichts, er will auch nichts, er kann nur und wirkt. Ich lebe herüben jetzt in zwei Teilen: der eine führt einen Auftrag aus, den er von drüben mitbekommen hat, und der andere, mit jenem unbekannt, aber ihm untertan, ihm gehorchend, ohne von ihm zu wissen, sieht Taten geschehen, die nicht ihm gehören, wenn er gleich es ist, der sie verübt. Mehr darf ich nicht sagen, weil das, was es ist, sich nicht sagen läßt; denn dort drüben sind keine Worte. Aber ich vermute jetzt, daß alles, was hier geschieht, unmittelbar von drüben geschieht, ohne unseren hiesigen Willen, uns unbewußt, von uns unbemerkt, weil uns unser eigenes Geräusch ganz erfüllt. Erst in dem Augenblick, wo unser Selbstgeräusch verstummt, im Tode, werden wir gewahr sein, was unser Leben gewesen ist, und, es erkennend, stürzen sich dann Feinde lachend in die Arme. Die ganz großen Menschen, auch im Altertum schon, Cäsar zum Beispiel, haben, vermute ich, immer gewußt, daß sie mit ihren eigenen Taten nichts zu tun haben, sondern von ihren Taten überwältigt werden, selber dabei neugierig, was noch alles mit ihnen geschehen wird, und darauf verzichtend zu begreifen, welchen Plan welcher verborgenen Macht sie verwundert vollziehen. Aber dies alles, was ich hier schreibe, will ich ja gar nicht schreiben, sondern ich schreibe jetzt schon die längste Zeit an meiner Meinung hin, um sie herum, ja wider sie, schreibe, was ich weder will noch weiß, schreibe bloß, um nur etwas anderes ja nicht zu schreiben, gerade das nicht zu schreiben, was ich doch so gern schreiben möchte, jedoch nicht schreiben soll, nicht schreiben darf, nämlich daß in demselben Maße, wie, sooft ich von drüben zurückkehre, mein himmlisches Teil wächst und immer reiner, immer stärker wird, in demselben Maße mein irdisches Drittel oder Viertel, der kläglich einschrumpfende hiesige Mensch immer noch tückischer, immer neidischer, immer arglistiger wird, der infame Zwerg, und allen Rest von Kraft ansetzt, um mich mit ruchlosen Versuchungen zu peinigen, deren ich kaum mehr Herr zu werden vermag. Und so treibt es mich zu sagen, daß ich, je mehr ich mit Gott geladen bin, desto mehr in einem anderen Gebiete von mir dem Bösen verfalle. Nun steht also da doch geschrieben, was zu schreiben ich mich so gewehrt, es war zu stark, es zwang mich, es zu schreiben, obwohl ich weiß, daß es nicht wahr ist, sondern bloß so tut. Es ist aber vielleicht eine von den tiefen Unwahrheiten, die geheimnisvoll irgendwie zur Wahrheit gehören und ohne die sie noch nicht völlig wahr wäre. Wer es liest, hüte sich, es zu glauben. Man darf es wissen, darf es aber nicht glauben. Nur wenn man es nicht glaubt, weiß man es auf die rechte Art. Will ich denn aber, daß überhaupt, was ich schreibe, jemals jemand liest? Ich will das nicht! Der Gedanke wäre mir unerträglich. Ich schreibe das weder für mich noch für einen Leser. Ich schreibe, weil es mir verordnet ist. Ich kann nicht anders, ich muß. Und wenn, wie ich fürchte, vielleicht auch verordnet ist, daß es einst gelesen werden muß, dann, o Leser, bitt ich dich, vergiß nicht, daß das Wort Schall ist, die Wahrheit aber stumm, also wie sollen die beiden sich je treffen können? Und ich beschwöre dich, mir zu glauben, daß ich nichts meinen will, als was meine heilige Kirche lehrt. Wann immer also dir scheint, daß mein Wort von ihrer Lehre sich entfernt, so wisse, dieses Wort gilt nicht, es meint dann gar nicht, was es zu sagen scheint, es meint immer nur genau das, was sie lehrt. Alles was hier geschrieben steht, hat nur Sinn für den, der selber schon drüben war. Für den sind es Zeichen, die ihn daran erinnern. Sie sagen ihm: erinner dich. Was sonst könnte denn auch jemals ein Mensch dem anderen Menschen sagen? Lieber aber wäre mir, ich hätte das alles nie geschrieben oder daß es, da mir verboten ist, es zu vernichten, wenigstens ungelesen bleibt!«

 

»Vor allem,« sagte Franz am anderen Tage zum Onkel Erhard, »scheint es mir ausgeschlossen, daß der Blazl diese Hefte geschrieben hat, und wer sie geschrieben hat, ist jedenfalls kein Anarchist.«

»Das wissen wir schon,« antwortete der Onkel Erhard. »Der Domherr ist nämlich seit heute früh zurück, war eben hier und hat alles aufgeklärt. Der hätt einem auch einen Wink geben können, für alle Fälle! Gott sei Dank, daß er noch rechtzeitig davon erfahren hat! Um ein Haar hätten wir uns unsterblich blamiert! Denn weißt du, wer das ist, euer Blasl, dein Kutscher, unser Anarchist? Du hast doch die Hefte gelesen, also rate!« Und er lachte grölend. In diesem Augenblick trat der Domherr ein und sagte: »Er willigt ein, da ja jetzt doch schon zu viele davon wissen und es doch nicht mehr geheim bleibt.«

Jetzt erst Franz bemerkend, fragte er lächelnd: »Und was sagst du dazu?«

»Er weiß ja noch gar nichts,« schrie der Onkel.

»Ich habe übrigens den Auftrag,« fuhr der Domherr fort, »dich dann zu ihm zu bringen. Da du seine Hefte kennst, wünscht dir der Prinz selbst –«

»Der Prinz?« fragte Franz.

»Ja da schaust!« rief der Onkel, stolz, als ob er das arrangiert hätte.

»Don Tadeo,« sagte der Domherr, »der Infant, seit Jahren verschollen. Es hat damals Aufsehen gemacht, du wirst dich kaum mehr erinnern, du warst noch zu jung. Ich aber weiß es noch ganz gut, damals war derlei noch etwas Neues, seitdem ist es ja fast Mode geworden, und wir haben die Sorte von landflüchtigen Prinzen bei uns auch –«

»Prinz Adolar, zum Beispiel!« sagte der Onkel.

»Nur,« fuhr der Domherr fort, »mit dem Unterschied, daß unsere meistens tiefer in die Welt hinab fliehen, zum Ballett und Kabarett, der aber ist aus der Welt entflohen, und empor!«

»Total verrückt!« rief der Onkel.

»Ich weiß noch,« sagte der Domherr, »wie stark das damals auf mich gewirkt hat, als man erfuhr, der rote Prinz, durch seine volksfreundliche Gesinnung und die Rücksichtslosigkeit, mit der er seine Verachtung für die Günstlinge des Hofes zur Schau trug, ebenso berühmt, wie durch seine Abenteuer, sein Glück bei Frauen und die Wildheit seiner Launen berüchtigt, habe plötzlich nach einem stürmischen Auftritt mit dem allmächtigen Minister den Hof, die Seinen, das Land verlassen, sich eingeschifft und in einem Schreiben, das den einen abgeschmackt, den anderen sublim schien, der Königin angekündigt, auf irgendeiner fernen Insel unter noch unverdorbenen Wilden ein neues Leben zu beginnen. Erst wollte man wetten, er werde nach drei Monaten reumütig heimgekehrt sein, um, ausgesöhnt mit den Unbilden einer fürstlichen Existenz, wieder das Kommando der Real maestranza zu übernehmen. Dann hieß es, das Schiff sei gescheitert. Das Gerücht blieb unbestätigt. Einige wollten ihn in einem sonnenverbrannten Farmer irgendeiner Insel erkannt haben. Bald war er ganz vergessen. Mir erzählte viel von ihm einer meiner Freunde, der mit ihm in Feldkirch studiert und auch einmal die Ferien bei ihm in Possenhofen verbracht hat, wo seine Mutter stets im Sommer war.«

»Und jetzt,« sagte der Onkel Erhard vergnügt, »hätten wir ihn beinahe hängen lassen, übrigens gar kein übler Abschluß für die Karriere eines Heiligen! Und da wär ich dann noch gewissermaßen sein Pontius Pilatus gewesen. Was einem alles passieren kann, ich danke!«

»Er will,« sagte der Domherr zu Franz, »vor allem seine Hefte wieder. Er hat Angst, sie könnten in unrechte Hände kommen. Auch wünscht er, dich zu sehen, um dich, falls du sie gelesen hast, noch ausdrücklich zu warnen.«

»No und geht er dann wieder ins Schlößl,« fragte der Onkel, »und spielt wieder weiter Theater?«

»Er hat mir ein Schreiben an den König übergeben,« sagte der Domherr, »das ich bestellen soll. Er will heim. Denn jetzt kommt eine Zeit, wo jeder an den Platz muß, für den er geboren ist.«

»Was heißt das?« schrie der Onkel wütend. »Woher wißt's ihr denn, was jetzt für eine Zeit kommt? Himmel Herrgott, ihr macht's einen wirklich noch ganz verdreht.«

»Das ist nun unsere Absicht eigentlich nicht,« sagte der Domherr höflich.

»Und jedenfalls,« schrie der Onkel, »kann ich doch aber jetzt ruhig auf die Alm? Nicht?«

»Das können Sie guten Gewissens,« sagte der Domherr.

»No dann ist mir ja alles recht,« sagte der Onkel. »Ich lasse mich seiner Hoheit schönstens empfehlen, meinen Segen habts ihr! Und ich hoffe, ihn ja noch zu sehen, wenn ich von der Alm komm!«

 

Während sie hinübergingen, sagte Franz zum Domherrn: »Es macht mich doch fast verlegen, einem Mann zu begegnen, neben dem her ich jetzt bald ein Jahr gelebt, und so ganz ahnungslos!«

»Ist dir das so sonderbar?« fragte der Domherr. »Geht's dir denn mit anderen Menschen besser? Wir leben doch alle nebeneinander her, ganz ahnungslos von einander. Was weißt du denn, wie oft schon dein Knecht ein verkleideter König war, oder vielleicht auch umgekehrt? Wenn einst die Verkleidungen fallen und wir uns einst alle nackt gegenüber stehen werden, da wird manch einer verlegen sein. Wenn wir das stets bedächten, wären wir behutsamer miteinander. Oder glaubst du denn, mit mir ahnungsvoll zu leben?« Und lächelnd sah der Domherr ihn an.

»Und Sie mit mir?« fragte Franz scheu.

»Vielleicht doch eher,« antwortete der Domherr. »Gewiß weiß ich es aber auch nicht. Und wir können ja noch von Glück sagen, daß keiner keinen kennt. Die Zumutung wäre zu stark für uns. Den Menschen kennen und doch ertragen kann wirklich nur der allbarmherzige Gott.«

 

Der verwunschene, jetzt entzauberte Prinz, noch in seinen alten Kleidern und auch sonst ganz der alte, dennoch aber ein anderer, seit Franz wußte, daß es eine Verkleidung war, sagte lächelnd: »Vergeben Sie mir den Betrug, der ja für mein Gefühl eigentlich keiner war. Der Infant Don Tadeo bin ich längst nicht mehr. Wenn mich Umstände nötigen, ihn jetzt wieder eine Zeit vorzustellen, so fällt mir diese Rolle viel schwerer. Für mich war ich der alte Blasl wirklich, und wenn ich überhaupt log, so hätte ich mich belogen, nicht Sie. Daß ich Ihnen Ungelegenheiten bereiten würde, konnte ich nicht wissen. Es tut mir leid genug. Natürlich war's das albernste Mißverständnis. Ich habe den Thronfolger, ohne freilich ihm je begegnet zu sein, genau gekannt, er ist mir sehr wert gewesen, wir waren in Verbindung, wenn auch nicht auf die hiesige Art. Er hatte längst die Grenzen der irdischen Wirksamkeit überschritten und stand mit einem Fuß schon in dem anderen Raum des rein geistigen Tuns. Er mußte nun ganz hinüber, das wußte ich: um in Erfüllung zu gehen, hat er nicht mehr bleiben können. Von dort aus erst wird seine Tat geschehen. Ich wunderte mich nur, daß das Schicksal so lange mit ihm zögerte. Und als ich an jenem Sonntag aus der Kirche tretend, wo ich eben im Gebet wieder von neuem versichert worden war, die beklommene Menge fand, wußte ich gleich, daß er endlich befreit war. Was durch ihn zu geschehen hat, kann er von drüben erst verrichten. Hier hat er es nur versprechen können, sein Leben war nur eine Voranzeige. Jetzt erst kann es sich begeben. Ich habe mir ihn nie als einen konstitutionellen Monarchen denken können, mit Parlamentarismus und dem ganzen Humbug. Dafür war sein Format zu groß. Aber so hat er nun mit einem Schlag die Tat an sich gerissen. Dieser Tote wird jetzt erst leben, und von Grund auf. Das empfand ich bei der Nachricht, das meinten meine Worte. Sie werden aber begreifen, daß ich wenig Aussicht hatte, mich darüber mit jenen Bauern zu verständigen. Ich ergab mich lieber stumm und wundere mich nur, daß sie mir nicht den Garaus machten. Ich war darauf gefaßt und es wär jetzt vorüber. Mir steht also noch ein Rest zu tun bevor. Sei's!« Er hatte dies alles immer in dem gleichen Ton gesagt, der gewissermaßen nicht interpungierte, und nur selten Franz einmal aus seinen abgestorbenen Augen stier anblickend. Dann bat er ihn noch, von seinen Heften nichts zu sagen und auch selbst sie zu vergessen. »Es steht darin die Wahrheit, aber nur für mich: dazu muß man meine Zeichensprache verstehen. Was darin steht, ist richtig, aber die Worte sind ungültig.« Franz konnte nicht unterlassen, ihm den Eindruck zu schildern, den er von den Heften hatte. Der Alte sagte: »Sie sind zu gütig, aber wenn ich mir eine Bemerkung erlauben darf, so würde ich Ihnen, soweit mir ein Urteil über Sie zusteht, doch lieber den kleinen Katechismus empfehlen, es ist sicherer.« Er wendete sich zum Domherrn und fragte lächelnd: »Ich bin also wieder frei und darf fort?«

»Wohin Sie wollen, Hoheit,« antwortete der Domherr.

»Ich werde heim müssen,« sagte der Alte traurig.

»In diesem Kriege muß jeder zu den Seinen stehen,« sagte der Domherr.

»In welchem Kriege?« fragte Franz erschreckt. Aber die beiden antworteten ihm nicht.

Als er abends daheim seinem Bruder alles erzählte, schien dieser nur halb zuzuhören, und sagte, sobald er zu Worte kam: »Ich hab aber auch eine Neuigkeit! Wir werden heuer doch wieder ein kleines Weihnachtsgeschenk haben. Ja denk dir!« Und sein rotes freudiges Kindergesicht strahlte. »Auf eine Orgelpfeife mehr kommt's schon nicht mehr an und es ist sicher die beste Lösung. So brauchst du auch keine Angst mehr zu haben! Übrigens ist es nicht schön von dir, daß du Geheimnisse vor mir hast! Während ich von Tag zu Tag eure Verlobung erwarte, höre ich heute, daß sie die Wohnung gekündigt und schon die Stadt verlassen hat. Was war denn?«

»Es war eben nichts,« sagte Franz trüb.

»Wir werden dir schon eine andere finden,« sagte Anton lustig.


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