Hermann Bahr
Himmelfahrt
Hermann Bahr

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Achtes Kapitel

Er durfte ihr schreiben, sie antwortete freilich nur selten, und dann stets ganz unpersönlich, nur um zu raten oder zu warnen. Er begann darum für sie gewissermaßen ein geistliches Tagebuch zu führen, über seine Bemühungen um Gott, die Fortschritte, deren er sich etwa zu rühmen hatte, und die Zweifel, inneren Hemmungen und Schwächen, an denen er litt. Indem er sich angewöhnte, dies alles Tag für Tag getreulich aufzuzeichnen, war er selbst überrascht, bei dieser Selbsterforschung sich immer stärker von den Geheimnissen des Glaubens angezogen und ihr also mit jedem Tage wieder etwas näher zu fühlen. Auch das verschwieg er ihr nicht, es wunderte sie nicht, da sie viel für ihn bete. Er lächelte darüber, denn er konnte sich nicht gut denken, daß ein Mensch durch sein Gebet auf einen anderen einzuwirken vermöge, doch war es ihm ein lieber Gedanke, sie sich für ihn betend vorzustellen, er hätte sie gern dabei gesehen, er malte sie sich aus und, seinem Vorsatz getreu, ihr alles zu schreiben, schrieb er ihr auch das. Darauf kam keine Antwort, und auch auf seine nächsten Briefe nicht, so daß ihm mit der Zeit schon bang wurde, ob sie nicht krank wäre. Darüber beruhigte sie ihn, bat ihn aber zugleich, ihr jetzt eine Zeit nicht mehr zu schreiben, er müsse nun, um durchzudringen, einmal ganz auf sich selbst angewiesen und mit sich allein sein. Sie beschwor ihn, sein Tagebuch fortzusetzen, ja womöglich noch eifriger, strenger und gewissenhafter als bisher, es ihr aber erst zu schicken, wenn sie ihm das wieder erlauben würde, vielleicht sehr bald schon, jedenfalls sobald als irgend möglich, darauf könne er sich verlassen, schon weil sie selbst sich ja sehr darauf freue, denn er solle nur nicht denken, es werde ihr leicht, auf eine so große Freude zu verzichten, sondern doch wirklich nur um seinetwillen, nur weil es eben für ihn unerläßlich sei, nur um der heilsamen Wirkung willen, die sie sich davon für ihn versprach, wofern er sich nur nicht etwa dadurch, daß es jetzt nicht mehr gleich gelesen würde, abschrecken lasse, das dürfe er ja nicht, es ja nicht verschieben, ja nicht meinen, ein nachträglicher allgemeiner zusammenfassender Bericht genüge wohl auch, während es doch so notwendig für ihn sei, sich in jedem Augenblick über sich klar zu werden, und zwar genau, wie er den Augenblick im Augenblick selbst empfinde, was wir im nächsten ja meistens schon wieder vergessen haben. Sie forderte das mit Entschiedenheit, ja fast mit Heftigkeit von ihm. Ihm war leid. Er hatte, seit er täglich abends über sich berichtete, zu seiner eigenen Verwunderung erst bemerkt, wie viel in ihm vorging. Er sollte nun ja freilich nicht aufhören, über sich Buch zu führen, im Gegenteil. Und sie wird es auch lesen, später einmal. Aber das war doch nicht mehr dasselbe wie bisher, wo er, während er schrieb, wußte, sie hat es morgen und liest es gleich, wo er gleichsam unter ihren Augen schrieb. Jetzt bleibt's liegen, und wer weiß wie lange! Das lähmt ihn. Er setzt sich ja noch immer abends hin, er will sein Versprechen halten. Es gelingt ihm aber nicht. Der Tag, über den er berichten soll, schrumpft ein, er kann sich an gar nichts mehr erinnern. Es ist ihm nichts davon geblieben. Bloß ihr Anblick könnte ihm helfen! Sie hat es ihm sicherlich gut gemeint, wenn er auch freilich durchaus nicht erraten kann, was eigentlich damit bewirkt werden soll, doch er fragt ja gar nicht, so sehr hat er sich schon daran gewöhnt, ihr zu vertrauen, so gern läßt er sich von ihr lenken, es ist ein so schönes Gefühl, aber gerade dieses Gefühl hat er ja jetzt nicht mehr, sie ist jetzt zu weit weg von ihm, seit er nicht mehr die Stunden berechnen kann, wo sein Brief ihr gebracht wird und sie liest, was er ihr geschrieben hat, und er hat beim Schreiben das liebe Gesicht zu sehen geglaubt, das sie beim Lesen machen wird – das fehlt ihm jetzt! Ein Blick aus ihren Augen und er hätte das wieder! Wenn er sie nur sehen könnte! Er hat gelobt, sie nicht zu besuchen, er schämte sich, ihr aufzulauern, aber es hätte doch sein können, daß er ihr einmal zufällig begegnete! So zog es ihn immer wieder in die Stadt, er ging täglich ins Archiv, und indem er sich in die Geschichte seines Hauses vertiefte, wurden ihm auch die seinen Ahnen freundlich oder feindlich benachbarten Geschlechter lebendig, deren Nachkommen, an sich wirklich meistens nicht sehr interessant, ihn nun auf einmal nicht mehr langweilten, seit er in ihren glatten Mienen, in ihren unpersönlichen guten Manieren oft doch an irgendeinem verräterischen Zug noch den wilden Großvater oder irgendeine verruchte Tante wiederzuerkennen glaubt. So gerät er in Verkehr, macht Besuche, läßt sich einladen, wird gesellig und gewahrt nun staunend erst, wieviel Aufregung, Ehrgeiz, Neid, Haß und Leidenschaft doch in der Biederkeit und Behaglichkeit einer solchen lieben kleinen Stadt verborgen sind. Macht nicht selbst jeder dieser braven Spießbürger, der als Geselle beginnt, schweigen, gehorchen und sich verstellen lernen muß, durch unerwartete Erbschaft oder glückliche Heirat aufsteigt, Genossen, Schützlinge, Freunde findet, sein Geschäft, sein Ansehen, sein Einkommen wachsen, gleich aber schon auch wieder vom Neide bedroht sieht, an Vertrauen und Einfluß, aber auch an Eifersucht und Mißgunst zunimmt, sich den Stadttyrannen anschließt, mit dem Bürgermeister Bruderschaft trinkt, in den Gemeinderat, in den Landtag gewählt wird, ja vielleicht gar einmal mit einer Deputation zum Kaiser darf, freilich vor dem Zorn des radikalen Blättchens zittert, das es scharf auf ihn hat, dafür aber seinen Sohn studieren läßt, die Tochter einem Offiziere verheiratet und sich schon als Ahnherrn von Generälen, Hofräten, ja vielleicht Ministern träumt, macht er nicht schließlich auf seine Art alle die Stürme durch, von denen wir in alten venezianischen oder florentinischen Chroniken lesen? Sind diese platten Leute mit ihrem gleitenden Leben nicht ebenso reich an inneren Abenteuern, ja hat es nicht vielleicht eine noch stärkere Spannung und Ladung, wenn auch der Lärm von lauten Katastrophen fehlt und in den dunklen Gassen kein Dolch gedungener Mörder mehr lauert? Sie haben doch ihre Welfen und Ghibellinen auch, und wenn auch Romeo der Sohn eines Buchbinders, Julia die Tochter des reichen Lohnkutschers ist, es sind die alten Montagus und Capulets. Er kann so gut den zwinkernden Spott in ihren bauernschlauen Augen verstehen, wenn er vorübergeht, er mit seinem alten Namen und sonst nichts, ein Überlebsel abgestorbener Zeit, einer von den früheren Herren! Den jetzigen schmeichelt's, einen von den gestrigen zu grüßen, mit ihm zu reden, sich mit ihm zu zeigen, es schmeichelt ihnen vielleicht sozusagen retrospektiv, sie denken sich vielleicht, wie stolz ihr Urgroßvater sein muß, wenn er so vom Himmel herab auf den Enkel blickt, der sich aus einem Grafen gar nichts mehr macht, weil jetzt der Bürger hier herrscht. Und die Grafen und Gräfinnen fühlen's, ärgern sich gelb und versuchen aber nicht einmal mehr, nach Macht zu greifen. Franz weiß eigentlich in der ganzen Geschichte kein zweites Beispiel, daß eine Herrschaft so widerstandslos einfach geräumt worden wäre. Ihrem Ehrgeiz genügt's, wenn man ihnen nur noch das Kostüm läßt, mehr ist von ihnen ja nicht mehr übrig, als daß sie noch unter sich Adel spielen dürfen. Er wundert sich, daß man ihnen das Kostüm noch läßt. Sind diese Bürger so gutmütig, oder ist es ihnen nur gar nicht der Mühe wert? Aber die Grafen und die Gräfinnen scheinen sich das nicht zu fragen. Franz sitzt am liebsten noch beim Onkel Erhard, über den sie sich alle gern ein bißchen lustig machen, weil er die Marotte hat, ein liberaler Graf zu sein, vielleicht aber nur aus einem ganz naiven Trieb nach Macht. Er war arm, unwissend, faul und hatte glänzend das Problem gelöst, Geld zu verdienen, nichts dafür zu leisten und noch allgemein verehrt zu sein. Er verdankte dies alles einem einzigen Einfall: er war in jungen Jahren dem Turnverein beigetreten. Das vergaß ihm die Stadt nie, der rote Graf hieß er fortan, denn es gehörte doch eine Selbstlosigkeit der edelsten Art und ein hoher Mut dazu, so mit allen angeborenen und anerzogenen Vorurteilen zu brechen! Und er übte seitdem eine ganz persönliche, sozusagen rein moralische, rein geistige Macht aus, eine Macht, die sich gar nicht erst äußerer Gewalt bedienen muß, die Macht, die bloß der geborene Herr hat. Daß sie von allen gerade nur diesem nicht sehr begabten, nicht sehr gescheiten, in seinen Bedürfnissen und Gewohnheiten recht unbedeutenden, über alles schimpfenden und ewig raunzenden Onkel Erhard zufiel, konnte sich Franz nicht recht erklären. Anton sagte: »Er ist halt so dekorativ, die Leute brauchen einen zur Bewunderung und wer kann einem Grafen in der Ledernen und mit nackten Knien widerstehen? Alle Ladenmädeln sind heute noch in ihn verliebt!« Daß ein so leicht dankbares Volk dennoch den Adel überwunden hatte, bestärkte Franz gerade nicht in seinem Respekt vor diesem Adel, den er aber doch wieder, seit er ihn nun näher kennen gelernt hatte, besser fand als in irgendeinem anderen Lande. Sie waren voll innerer Anmut, Sicherheit und Takt, konnten sich gehen lassen ohne Furcht, je die Gewalt über sich zu verlieren, und hatten wirklich Stil, die Gabe sich darzustellen, die Kunst, durch ihre bloße Gegenwart schon zu wirken. Sie zu Pferde, im Wagen oder in einer Loge, auf der Jagd, bei jedem Sport, oder auch nur über den Platz gemächlich schlendern, nach der eleganten Elf-Uhr-Messe am Sonntag plauschend vor dem Dom beisammenstehen zu sehen, war ein Vergnügen, das freilich dann nachließ, wenn man sie reden hörte. Immerhin konnte Franz von ihnen lernen, den Tag mit nichts anzufüllen. Er wurde höchst angenehm die Zeit los und hätte nie sagen können, wie. Und er bemerkte meistens erst abends, daß ein solcher Tag doch eigentlich kaum dafürstand, am nächsten Morgen wieder aufzustehen und sich wieder anzuziehen.

Er verbrachte die langen Winterabende gern in der Arnsburg, oft ganz allein mit Gabsch, da der passionierte Skiläufer Anton bei schönem Wetter oft tagelang ausblieb und wenn er, die Wangen von der Schneeluft gegerbt, wiederkam, um in der Brauerei und ob auch das Eis richtig eingebracht worden, nachzusehen, gleich nach dem Essen schlafen ging und die beiden allein ließ. Franz fand an ihr eine Art Ersatz für das Tagebuch. Sie hörte so gut zu, mit allen Zeichen großer Aufmerksamkeit und ohne zu fragen. Es war eigentlich immer ein Monolog von ihm, belebt durch das Gefühl, einen Hörer zu haben. Er hatte sich nicht berechtigt geglaubt, ihr seine Begegnung mit Klara anzuvertrauen, sondern sprach nur im allgemeinen von seiner merkwürdigen inneren Wandlung und daß eine Frau daran beteiligt war. Die Schwägerin regte sich nicht, zuweilen hätte Franz fast meinen können, als ob es Klara wäre, zu der er sprach, in dem behaglichen großen Zimmer, unter so vielen Erinnerungen an seine Kindheit, während im alten Ofen die Scheite krachten und draußen alles verschneit lag, zuweilen schlug fern ein Hund an. Sie hörte gut zu und er hörte sich selber gern, er erfuhr da manches Neue über sich. Und selbst das leise Geräusch ihrer Handarbeit tat ihm dabei wohl; er war vielleicht zum Ehemann geboren. Bis Mitternacht blieb er oft und ging dann hinter dem alten Blasl, der die Laterne trug, voll Dankbarkeit und Zuversicht heim. Alles stimmte so gut: des Winters tiefe Stille, wie ein großes weißes Tuch über Stadt und Land, über Berg und Tal gebreitet, der Ernst der Fastenzeit, die ruhigen Stunden im Archiv, die langen Abende mit der schweigenden Schwägerin, der nächtliche Gang durch den erstarrten Wald und sein eigenes unentschieden verlangendes Gefühl einer freudigen Beklommenheit, alles war, um ihn und in ihm, voll Erwartung.

Es fiel ihm ein, doch den Domherrn wieder einmal aufzusuchen. Er hätte jetzt vielleicht nur noch ein Wort gebraucht, er mußte nur leise geschüttelt werden und es ging in Erfüllung. Aber Klara gab ihm noch immer kein Zeichen und den Domherrn aufzusuchen fand er nicht den Mut, immer nahm er es sich vor, immer ließ er es wieder und erschrak fast, als er auf den nächsten Sonntag zum Essen beim Domherrn gebeten wurde. Das galt für eine hohe Auszeichnung. Er sah selten Gäste bei sich. Nur wenn er Besuch von auswärts hatte. »Unnütz,« behauptete der Onkel Erhard, mit dem Franz hinfuhr, »läßt der sich auf nichts ein, wir sind nur die Staffage, ich bin neugierig, wen er sich da wieder gefischt hat, aber du kannst sicher sein, er kommt auf seine Kosten!« Doch so sehr der Onkel schalt, um den schönen Tag betrogen zu sein, den er wahrhaftig lieber auf einem Berg zugebracht hätte, er konnte doch seine Befriedigung, seinen Stolz nicht verbergen. Ein alter Diener geleitete sie stumm in ein Vorgemach, wo ein robuster, schnaufender alter Herr, der aussah, als ob ihn gleich der Schlag treffen würde, gestikulierend mit einer Nonne sprach. Es war des Domherrn Nichte Viki, mit der Franz in die Tanzschule gegangen war. Er hätte sie nicht erkannt, alles schien aus ihrem Gesicht entwichen, nur die Augen waren noch übrig, diese verschreckten, irren, gierig horchenden Augen. Seit sieben Jahren hatte sie das Kloster kein einziges Mal verlassen, und sie hoffte, daß es dieses Mal zum letzten Mal wäre; sie war nur hier der Erbschaft nach der Großmutter wegen, bloß auf einen Tag. Franz erinnerte sich an das zerfahrene, lärmende, ruhelose Ding, das sie gewesen, jetzt bewegte sie sich kaum, stand gebeugt und behielt immer das gleiche starre Lächeln in ihrem großen ausgeräumten Gesicht. Der alte Herr war Exzellenz Klauer, einst Minister, der seit seinem Sturz immer wieder einen vergeblichen Versuch machte, sich in irgendeiner Provinzstadt zu verkriechen, fern von dem undankbaren Wien, was er aber niemals aushielt; beim ersten Vorwand fuhr er doch wieder hin, immer noch der geheimen Hoffnung, wieder einmal bemerkt und als Retter in der Not geholt zu werden, und nur wenn er gerade wieder übergangen und wieder um eine Enttäuschung reicher war, verschwand er wieder in sein Exil zurück, aber nur bis zur ersehnten Nachricht von den ersten Schwierigkeiten des neuen Ministeriums. Franz war ihm kaum vorgestellt, als ein neuer Gast erschien, ein hochgewachsener schlanker Mann, den Franz nach den lustigen, schlau flimmernden kleinen Augen, der dreisten Nase, die mehr ein Schnabel war, den vollen, ins Blaue glänzenden Wangen, dem lauernden Zug um den scharfen, spöttischen, gleichsam sprungbereiten Mund und der Siegesgewohnheit der ganzen, unwillkürlich nach Rampenlicht verlangenden Erscheinung für einen Schauspieler, wahrscheinlich einen Komiker von der scharfen, besonders für Nestroy verwendbaren Art gehalten hätte, niemals für den berühmten Kanzelredner, den gefeierten Pater Gorian, von dem zurzeit die ganze Stadt schwärmte. Er begrüßte den Onkel Erhard herzlich und zog ihn gleich in die Nische des Fensters, während sich Exzellenz Klauer jetzt auf Franz stürzte, um mit seiner Kenntnis der Flayns und seiner Belesenheit im Gotha zu glänzen. Mit dem Glockenschlag kam der Domherr, ein würdiges, sich freundlich nach allen Seiten verneigendes, lebhaftes Männchen geleitend, das ein zierliches weißes Bärtchen an den rosigen Wangen, Kinn und Lippen rasiert, kokett feierlich gekleidet, ein rotes Bändchen im Knopfloch, ernst, aber milde, steif und doch tänzelnd, Patriarch und Ballettonkel, die Mitte zwischen einem Oberkellner bei Sacher und einem Diplomaten der alten Schule hielt und mit der leisen Komik seiner anspruchsvoll banalen Erscheinung doch durch das eigene sichtliche Vergnügen an ihr und eine natürliche Herzlichkeit und Harmlosigkeit wieder versöhnte. Der Domherr hatte den Bankdirektor kaum vorgestellt, als sich die Flügeltüren ins Eßzimmer öffneten, einen zweifenstrigen, weißgetünchten, ungeschmückten Raum, in dessen Nüchternheit die Pracht der sorgsam gedeckten, von geschliffenen Gläsern, Karaffen und Vasen leuchtenden Tafel doppelt überraschte. Der Domherr nahm seine Nichte zur Rechten, den neugierigen kleinen Bankdirektor an seine Linke, die anderen lud er mit einer lässigen Handbewegung ein, sich selbst zu setzen. Jetzt erst kam noch der junge Franziskaner an, atemlos und etwas verlegen, sich verspätet zu haben. Aber auch die anderen schienen befangen und Franz hatte den Eindruck, daß der Domherr diese feierliche Stille, ja man hätte fast sagen mögen: Andacht seiner Gäste mit Behagen genoß, nur besorgt, dem Bankdirektor reichlich und vom Besten vorzulegen. Onkel Erhard brach das Schweigen zuerst mit einer kulinarischen Bemerkung. Er war ein Kenner, er aß und trank gern gut und viel. Der Domherr nahm die Gelegenheit wahr, aus seinen römischen Erinnerungen mit allerhand feinschmeckenden Gerichten aufzuwarten, die er sachkundig so genau beschrieb, daß dem liberalen Grafen dabei ganz heiß vor Gier wurde, er stöhnte schnaufend nur immer: »Ja das macht euch niemand nach, auf dem Gebiet gibt es keinen Kampf gegen die Kirche!« Und man wußte nicht recht, ob er vor Bewunderung, vor Neid oder vor Ärger schnaubte. Klauer, den es verdroß, daß nicht er neben dem Domherrn saß, worauf er ja kein Gewicht lege, sondern nur der Ordnung wegen, weil in anständigen Ländern eine Exzellenz wenigstens äußerlich immerhin noch mehr als ein Bankdirektor gilt, gar als einer, der noch dazu so geschmacklos ist, die Ehrenlegion zu tragen, erklärte Franz, man sehe daran nur wieder, daß es sich bei uns viel besser rentiert, ein Jud zu sein als das goldene Vließ zu haben. Er sprach so leise, daß es der Domherr unmöglich gehört haben konnte, der aber nun, immer noch nur zum Bankdirektor hin, mit seiner sanften Stimme laut das Einvernehmen zu loben begann, das die hohe Finanz jetzt allmählich doch mit der Kirche herzustellen trachte, gewiß beiden zum Vorteil, wofern man es nur gegenseitig an einer gewissen Duldung und Schonung nicht fehlen lasse, die ja klugen und erfahrenen Männern, ohne daß sie deshalb ihre Grundsätze verleugnen müßten, nicht schwer werden konnte. Er unterstrich das noch mit einigen dicken Schmeicheleien für den Bankdirektor, zum sichtlichen Vergnügen des förmlich aufblühenden Männchens, das nun in seiner Freude und in dem Bedürfnis, sich dankbar zu zeigen, auf einmal, obwohl dazu kein rechter Anlaß war, die neuesten Anekdoten aufzutischen und ein Füllhorn von Börsenwitzen auszuschütten begann, anfangs noch mit einer gewissen Vorsicht, nur versuchsweise, um erst einmal die Wirkung zu sehen, bald aber, durch ein gütiges Lächeln des Domherrn und das schallende Behagen Onkel Erhards ermutigt, immer zuversichtlicher und dreister. Da konnte Exzellenz Klauer, den das an die schönsten Zeiten seiner parlamentarischen Vergangenheit erinnerte, sich auch nicht länger halten, und bald überboten die beiden einander an Kalauern, Wortspielen und witzelnden Scharaden um die Wette, nur durch die Gegenwart der schweigenden Nonne noch bezähmt. Franz, dem diese Art von Geist ganz fremd und das Vergnügen daran immer unverständlich geblieben war, wunderte sich nur, daß ein Ton, der doch eigentlich nur dem kleinen Bankdirektor angestammt war, auch dem alten Minister und dem Onkel Erhard, also Männern aus einer anderen Weltgegend, so geläufig sein und eine so herzliche Freude bereiten konnte. Franz beobachtete alle. Der Bankdirektor schwamm in Seligkeit, er war unerschöpflich, man sah ihm das Entzücken, die Schadenfreude, den Triumph der Eitelkeit an, wenn er, während eben Klauer eine seiner Geschichten erzählte, bei sich im voraus den schon bereitgehaltenen Witz genoß, mit dem er jetzt gleich sie noch übertrumpfen würde. Des Domherrn strenges Antlitz blieb immer in demselben undurchdringlichen Lächeln versteckt, ihm machte vielleicht nur Spaß, einen Menschen vom Schlage des Bankdirektors einmal recht in Flor zu sehen, und wenn zuweilen sein Blick dem des Jesuiten begegnete, stimmte dieser dann auch wohl einmal mit in den Wettgesang der freien Geister ein, wie um zu zeigen, daß er das auch könne, sein Witz aber klang hart und kalt, gelangweilt und zugleich gereizt, ja Franz glaubte fast einen ungeduldigen Hohn herauszuhören. Die Exzellenz und Onkel Erhard aber merkten nichts davon, sie schwelgten bezaubert, sie hatten sich offenbar schon lange nicht mehr so gut unterhalten. Und Franz konnte sich nur durchaus nicht erklären, was denn in aller Welt den Domherrn bestimmen mochte, seine Zeit, seinen Koch, seinen Wein, seinen Witz und alle Lust und Laune seiner Liebenswürdigkeit an ein solches Nichts von einem Menschen zu verschwenden!

 

Sie nahmen den Kaffee im Arbeitszimmer. Die Nichte hatte sich entfernt, der Ehrengast aber, Onkel Erhard und die Exzellenz, in bequemen Stühlen andächtig der Verdauung ergeben, hatten noch immer nicht auserzählt, die Geschichten wurden bedenklicher, der Spott verwegener, die Anspielungen deutlicher, und unsere ganze Welt, Hof, Adel und Generalstab, zog in Anekdoten auf, nichts blieb verschont, es schien, daß alles überhaupt nur aus Anekdoten bestand. Franz trat angewidert weg, zur Bibliothek hin. Sie war nicht groß, aber gewählt. Von Theologie nur gerade das Nötigste, die Bollandisten, viel Franziskanisches, Meister Eckhart, die geistlichen Übungen, Katharina von Genua, die Mystik von Görres und Möhlers Symbolik. Philosophie schon mehr: der ganze Kant, samt den Schriften der Kantgesellschaft, Deussens Upanischaden und seine Geschichte der Philosophie, Vaihingers Philosophie des Als Ob, und sehr viel Erkenntniskritisches. Dann die griechischen und römischen Klassiker, Shakespeare, Calderon, Cervantes, Dante, Macchiavell und Balzac im Original, aber von Deutschen nur Novalis und Goethe, dieser in verschiedenen Ausgaben, seine naturwissenschaftlichen Schriften in der Weimarer. Einen Band davon nahm Franz und fand viele Randbemerkungen von der Hand des Domherrn, der in diesem Augenblick den jungen Mönch und den Jesuiten verließ und zu ihm trat. Er sagte: »Ja die naturwissenschaftlichen Schriften Goethes kennt niemand. Leider! Da sieht der alte Heide, der er doch durchaus gewesen sein soll, auf einmal ganz anders aus und dann versteht man doch auch den Schluß des Faust erst. Ich habe mir ja nie vorstellen können, Goethe tue da bloß auf einmal katholisch, nur zur malerischen Wirkung. Dazu ist doch mein Respekt vor dem Dichter zu groß, vor jedem Dichter, um zu glauben, daß einer, gerade wenn er sein letztes Wort sagt, ein Kostüm anlegen sollte. Aber in den naturwissenschaftlichen Schriften steht ja auf jeder Seite, wie katholisch Goethe war, unwissentlich vielleicht und jedenfalls ohne den rechten Mut dazu. Es liest sich, als hätte da jemand, mit den katholischen Wahrheiten unbekannt, sie sozusagen unversehens auf eigene Faust aus sich selber entdeckt, wobei es freilich ohne manche Gewaltsamkeiten und Wunderlichkeiten nicht abgeht, aber doch im großen Ganzen nichts Entscheidendes, Notwendiges und Wesentliches fehlt, selbst der Schuß von Aberglauben, Magie oder wie man das nennen will, was den richtigen geborenen Protestanten an unserer heiligen Lehre stets so verdächtig bleibt, selbst das nicht! Ich habe ja oft meinen eigenen Augen kaum getraut! Ist man aber bei Goethe dem kryptogamen Katholiken nur erst einmal auf der Spur, so sieht man ihn bald überall. Sein Vertrauen zum Heiligen Geiste, den er freilich lieber ›Genius‹ nennt, sein tiefes Gefühl für die Sakramente, deren ihm nur noch zu wenige sind, sein Sinn für das ›Ahndevolle‹, seine Begabung zur Ehrfurcht, gar aber, daß er, ganz unprotestantisch, sich niemals mit dem Glauben begnügt, sondern überall auf die Anerkennung Gottes durch die lebendige Tat, durch das fromme Werk dringt, gar dieses so seltene, höchste, schwierigste Begreifen, daß der Mensch nicht von Gott geholt werden kann, wenn er nicht selbst sich Gott holt, das Begreifen dieser furchtbaren menschlichen Freiheit, selber wählen zu müssen und die dargebotene Gnade nehmen, aber auch ausschlagen zu können, durch welche Freiheit allein die Gnade Gottes dem Menschen, der sich für sie entscheidet, der sie sich nimmt, erst zum eigenen Verdienste wird, das alles ist auch in seinen Übertreibungen, auch in seinen Verzerrungen noch so stockkatholisch, daß ich, wie du siehst, oft genug an den Rand die Stellen aus dem Tridentinum schreiben konnte, wo zuweilen fast mit denselben Worten dasselbe steht. Und wenn Zacharias Werner erzählt hat, er sei durch einen Satz in den Wahlverwandtschaften katholisch gemacht worden, so glaub ich ihm das aufs Wort. Womit ich natürlich nicht leugnen will, daß es daneben auch einen heidnischen, einen protestantischen, ja sogar einen beinahe jüdischen Goethe gibt, und ihn durchaus nicht als das Muster eines Katholiken reklamieren will, was er übrigens immer noch eher war als der plattvergnügte Wald- und Wiesenmonist, den die neudeutschen Oberlehrer unter seinem Namen paradieren lassen.«

Aus der Ecke der Anekdoten schlug Gelächter herüber. Die Exzellenz wieherte scharrend, der Onkel Erhard grölte schnaubend, das Bankdirektorchen piepste – Franz fuhr zusammen. Der Domherr sah ihn lächelnd an und sagte, wieder, als ob er seine Gedanken erraten hätte: »Du müßtest dich eher wundern, daß er mit mir verkehrt! In der heutigen Realität steht er doch hoch über mir. Warum ich mit ihm verkehre, weiß ich. Er hat irgendeinen geheimen Fonds, aus dem er gute Beziehungen, die ihm wünschenswert scheinen, bar bezahlt. Wie, geht mich ja nichts an. Mir genügt, daß er immer eine offene Hand für unsere Zwecke hat. Anfangs war ich mißtrauisch. Do ut des, nicht wahr? Aber nein, ganz uneigennützig. Es ist ein reinliches Geschäft. Er verlangt nichts dafür, als daß er mich einmal im Jahre besuchen, bei mir essen, mir die neuesten Anekdoten vorsetzen und dann damit renommieren darf: Mein Freund, Exzellenz Domherr Zingerl, hat mir erst neulich gesagt, und so weiter, verstehst du? Doch eigentlich rührend bescheiden! Im Ernst: der Fall ist kurios genug, und ein rechtes Austrialum. Denn du darfst ja nicht meinen, daß er gerade nur für mich eine so kostspielige Vorliebe hat, nein, er hat sie für jeden, der sonst Menschen von seiner Herkunft und Erziehung nicht zugänglich ist. Das reizt ihn: die soziale Kletterpartie sozusagen. Er hat den Ehrgeiz, mit Leuten zu dinieren, die niemals in ihrem Leben auf die Idee gekommen wären, daß man mit ihm dinieren kann. Diese Leidenschaft beherrscht ihn. Eine der wenigen Zeitungen, die noch unabhängig von ihm sind, hat ihn, offenbar dadurch beleidigt, neulich sonor den Käufer Österreichs genannt. Das stimmt ja, nur macht's nichts! Ein Brigant der Börse von einem geradezu ruchlosen Glück, selbst dabei ganz bedürfnislos, Junggeselle, Kaffeehausmensch, ohne Passionen, ohne Laster, ohne Sinn für die Freuden des Daseins, auch nicht einmal geizig, auch das Geld reizt ihn nicht, nichts reizt ihn, er braucht für sich keine fünftausend Kronen im Jahr, er wüßte nicht wozu – was fängt er nun mit seinen Millionen an? Er rangiert verschuldete Minister, Adelige, Generale, Hofdamen, Abgeordnete, Beamte, verkrachte Zeitungen, bedürftige Klöster, fromme Stiftungen, Asyle, Heilstätten, er rangiert, er saniert, und es wird wirklich bald keinen bekannten Menschen in Österreich mehr geben, der nicht an ihn verschuldet ist. Die meisten haben ein schlechtes Gewissen dabei, ich gar nicht. Sie fürchten nämlich, er wird eines Tages die Gegenleistung einkassieren wollen. Ich kenne ihn besser; ich weiß, was er will: bei mir essen, um erzählen zu können, daß er bei Seiner Exzellenz dem Domherrn Zingerl gegessen hat. Hast du bemerkt, daß er unseren ganzen Hochadel bei den Vornamen nennt? Der Fürst Ferdinand, der Graf Leopold, die Gräfin Marietta, daß mir bei meinem elenden Namengedächtnis ganz wirblig wird! Aber das ist wirklich auch alles, was er für sein Geld verlangt. Ein ganz reinliches Geschäft. Er ißt bei mir, ich lasse mir das bezahlen; wie hoch, ist schließlich meine und seine Sache. Er ist mir nichts schuldig, ich ihm nichts. Ich muß doch nachher meine Wohnung ausräuchern lassen. Wie viel er sich aber meine Freundschaft kosten läßt, geht mich ja nichts an, ich finde, daß sich seine mir rentiert. Und welche Art von Ehrgeiz er hat, geht mich auch nichts an. Wenn ich der Sohn eines Schnapshändlers in einem mährischen Dorf wäre, hätt ich sie vielleicht auch. Es haben sie mehr Leute, als man denkt, nur meistens nicht so selbstlos, die meisten wollen auch noch ein Nebengeschäft machen dabei, auch fehlt ihnen meist die Courage dieser Anima candissima!«

 

Der Bankdirektor war aufgestanden und empfahl sich vom Domherrn. Er müsse leider schon fort, noch auf eine kleine Schlittenfahrt mit dem Grafen Erhard und der Exzellenz Klauer. Er versäumte nicht, das Menü noch einmal Gang für Gang mit Sachkenntnis zu preisen und lud den Grafen Franz dringend ein, es ihn ja wissen zu lassen, wenn er, hoffentlich bald einmal, nach Wien käme. Er setzte hinzu: »Schottenring genügt. Oder auch bloß der Name. Man kennt mich.«

Der Domherr gab ihnen das Geleit. Franz blieb, er hätte sonst am Ende noch mitfahren müssen. Der junge Mönch sah ihnen verwundert nach und sagte: »Das ist ein lieber alter Herr, und so lustig. Er kann so herzlich lachen. Ich hab nur leider nicht verstanden, worüber sie denn eigentlich so lachten; da muß noch ein Geheimnis dabei sein.«

»Das Geheimnis ist,« sagte der Jesuit, »der eine spielt auf der Flöte, der andere an der Börse, so verständigen sich die Menschen schwer. Es ist aber schließlich kein Anlaß, darüber traurig zu sein. Man muß ja nicht alles verstehen, lieber nicht!«

Als mit den beiden Priestern jetzt auch Franz sich verabschieden wollte, hielt ihn der Domherr zurück. »Wenn du noch einen Augenblick Zeit hast, wär's mir recht. Wir sehen uns ja leider so selten.« Jene gingen, der Domherr setzte sich auf das Sofa, Franz ihm gegenüber. »Ich möchte dir doch bei der Gelegenheit einmal sagen,« fuhr der Domherr fort, »wie sehr es mich freut, daß du dich zurechtgefunden hast.«

»Hab ich das?« fragte Franz überrascht.

»Hast du's nicht?« entgegnete der Domherr lächelnd.

»Ich weiß nicht,« antwortete Franz achselzuckend.

Sie schwiegen eine Weile, dann begann der Domherr wieder: »Du beschäftigst dich mit einer Arbeit, die dir zusagt, auch dein Interesse verdient, und wenn sie dir gelingt, Wert für die Deinen hat. Es kann deinen Neffen und Nichten nicht schaden, wenn sie hören, wer und was ihre Väter waren, dir aber füllt's den Tag aus, und bevor du's merkst, wird der Winter vergangen sein, du hast dich eingewöhnt und gehst im Geschirr einer festen Ordnung, die anderen haben Vertrauen zu dir, du zu ihnen gewonnen, du bist aufgenommen und eingefügt, weißt, wohin du gehörst, und mußt nicht mehr jeden Morgen erst wieder fragen, was du mit dir sollst. Also was willst du noch mehr? Ist der Mensch nur erst einmal so weit, daß sein Leben sich von selber lebt und eigentlich ihn gar nicht mehr dazu braucht, so hat er das Ärgste bestanden. Daß aller Anfang schwer ist, gilt auch hier, nämlich: das Scharnier für sich zu finden. Gerade der Fähige, der Begabte braucht oft am längsten dazu. Du hast jetzt deins, sei froh!«

»Das hieße doch aber,« sagte Franz langsam, »nur dem Augenblick leben, vom Augenblick zum Augenblick und bloß im Augenblick.«

»Und das scheint dir nicht genug?« fragte der Priester.

»Das trifft schließlich jeder Spießbürger auch,« sagte Franz.

»Legst du solchen Weit darauf, keiner zu sein?« fragte der Priester.

»Ich bin aber nun einmal keiner,« erwiderte Franz. »Fast hätt ich gesagt: leider!«

»Goethe hat nur darum so viel wagen können,« sagte der Domherr, »weil er wußte, wie stark der Spießbürger in ihm war. Das gab ihm die große Sicherheit.«

»Die mir leider fehlt.«

»Vielleicht, weil du sie gar nicht willst, weil dir schmeichelt, daß du sie nicht hast.«

»Vielleicht,« sagte Franz eigensinnig. »Ich kann mich aber nicht anders machen, als ich nun einmal bin.«

»Ja das ist der große Irrtum. Ihr wißt nicht mehr, was der Mensch alles aus sich machen kann, deine ganze Generation hat das verlernt. Bei Gott ist nichts unmöglich, und Gott ist doch in jedem.«

»Ich suche meinen noch vergebens!« sagte Franz traurig.

»Weil du deinen suchst,« erwiderte der Priester. »Deinen besonderen Extragott, nur ganz für dich allein. Wenn du etwas bescheidener wärst –«

»Ich bin schon so bescheiden, daß ich mich manchmal fast vor mir selber schäme,« rief Franz ungeduldig.

»Du wirst dich noch viel mehr schämen müssen,« sagte der Domherr mit milder Strenge. »Denn sonst hört er dich nicht, glaub mir! Du beneidest doch die frommen Bettler und Weiber um die Seligkeit ihrer Einfalt so, diese Seligkeit möchtest du, doch mit Nachlaß der Taxen: ohne die Einfalt. Aber so lange dir deine Vielfalt noch so wert ist, bleibst du zur wahren Seligkeit verdorben. Da heißt es entweder oder!«

Franz blickte rasch auf, verschwieg aber seinen Gedanken, doch der Priester erriet ihn und sagte lächelnd: »Nein, du irrst. Ich bin einfältig wie nur irgendeiner deiner bewunderten Bettler, es täuscht nur, weil ich den Jargon der Vielfältigen beibehalten oder richtiger: wiedergefunden habe, mein Mund erinnert sich seiner noch. Aber erst muß man ihn einmal verloren, das Herz muß ihn vergessen haben. Ohne die dreißig Tage in der geistigen Wüste geht's nun einmal nicht. Ich red dir übrigens ja keineswegs zu. Es kommt uns, wie ich dir schon neulich gesagt zu haben glaube, nicht auf die Zahl der Gläubigen an, wir wirken nicht durch die Masse. Es kommt darauf an, daß die Kirche fest steht, daß Gott sein Haus hat in der Welt. Wer hingehört, findet dann schon hin. Zuträger und Zutreiber braucht's keine. Wir sprechen also ja bloß ganz akademisch, nicht wahr?«

»Leider,« sagte Franz unwillkürlich.

»Ja ich weiß,« antwortete der Domherr, »du möchtest überredet sein, das gerade suchst du, das wünscht ihr euch alle! Gepackt, hingerissen, fortgespült werden, berauscht, überwältigt und sich selber entführt, nur ein einziges Mal im Leben, um welchen Preis immer! Ich kann dich aber nur noch einmal warnen: es ist ein Irrtum, wenn du dich deshalb für fromm hältst. Du hast bloß Appetit auf Frömmigkeit, du hast, wie man bei uns sagt, einen Gusto darauf, du möchtest wissen, wie das schmeckt!«

»Und wenn es mir aber doch ernst wäre?« fragte Franz leise. »Der Schein trügt zuweilen. Wer weiß?«

»Wenn es dir ernst wäre,« sagte der Domherr, »würdest du nicht erst Rundfragen über den Glauben anstellen. Interviews sind nicht der Weg.«

»Sondern?« fragte Franz.

»Sondern du würdest beichten und zur heiligen Kommunion gehen,« sagte der Priester ruhig, ganz leichthin.

Franz schwieg. Nach einer Welle fuhr der Domherr fort: »Und da wir schon davon sprechen, muß ich doch auch sagen, daß Fromme nicht erst den Umweg über Liebesabenteuer zu machen pflegen. Mißversteh mich nicht! Seid ihr verliebt, ich habe nichts dagegen. Willst du sie heiraten? Meinen Glückwunsch, wenn sie dich nimmt. Ich sehe nur nicht ein, warum das gerade mit dem Aufgebot einer feierlichen Bekehrung unter Assistenz aller himmlischen Heerscharen geschehen muß. Nimm mir's nicht übel, ich will dir ja bloß erklären, was mir deinen frommen Eifer ein bißchen verdächtig macht, es ist sonst wirklich nicht meine Gewohnheit, indiskret zu sein. Und mir ist um die tapfere kleine Frau gar nicht bange, sie wird sich deiner schon selbst erwehren. Aber um deinetwillen wäre mir lieb, wenn du mehr auf Ordnung hieltest und dir klar würdest, was du eigentlich willst.«

»Ich habe mit ihr ein einziges Mal gesprochen,« sagte Franz, »und keinen Versuch gemacht, sie wiederzusehen.«

»Das ist wohl eher ihr Verdienst als deines,« erwiderte der Domherr. »Es geht mich übrigens auch gar nichts an. Auch schließt das eine ja das andere nicht aus. Gewiß kann jemand Gott suchen und unterwegs eine Frau finden. Aber vor Verwechslungen möcht ich dich warnen. Die sind mir unsympathisch. Da wir doch einmal auf das Thema kamen, was gar nicht meine Absicht war.«

Nach einer Weile sagte Franz: »Sie tun mir unrecht! Ich kann Ihr Mißtrauen verstehen, ich hätte es an Ihrer Stelle vielleicht auch. Ich habe mich selbst schon gefragt, ob ich nicht unehrlich bin, unaufrichtig gegen mein eigenes Gefühl. Ich fand aber, daß ich eher noch meiner Empfindung für diese Dame nicht ganz sicher bin, es könnte eher sein, daß der Wunsch, fromm zu werden, mein Gefühl für sie fälscht oder doch färbt, als umgekehrt. Das müssen Sie mir eben glauben! Und warum sollt ich Ihnen denn etwas vormachen?«

»Die Nachbarschaft der beiden Gefühle,« sagte der Domherr trocken, »ist mir jedenfalls nicht angenehm.«

»Mir auch nicht!« rief Franz. »Aber ist es meine Schuld?«

»Ihr seids schon merkwürdige Leute!« sagte der Domherr langsam. »Deine ganze Generation hat, scheint's, alle Herrschaft über sich selbst verlernt! Ihr steht gewissermaßen außer euch und seht verwundert von außen euch selber zu. Daß der Mensch nicht bloß ein empfindendes, sondern auch ein wollendes Wesen, daß er seinen Gefühlen ja nicht preisgegeben ist, daß er ihnen doch auch einmal nein sagen kann, was allein ihn erst vom Tier unterscheidet, scheint euch unbekannt. Ja ihr glaubt es euch noch schuldig und setzt wohl noch einen besonderen Stolz darein, euch treiben zu lassen, als wenn es eine Verlogenheit wäre, wenn ein Mensch von seinem Willen Gebrauch macht. In euch hat der Wunsch den Willen abgesetzt, der Mensch ist zu seinem eigenen Knecht geworden und die ganze berühmte Humanität endet damit, daß von menschlicher Würde, von menschlicher Freiheit, von menschlicher Entschließung nichts, vom Menschen nur das Tier übrig bleibt, aber freilich ein verdorbenes, schuldbewußtes, betrübtes, ein gefallenes, ein verlorenes Tier. Spürst du nicht, daß du dir ganz abhanden gekommen bist? Der Mensch hat doch den aufrechten Gang! Aber du, kannst du denn sagen, daß du deinen Weg gehst? Es treibt dich in eine Kirche, du fühlst dort irgend etwas und wünschest dir von diesem Gefühl noch mehr, es begegnet dir eine Frau, läßt dich etwas fühlen, macht dich wieder wünschen, und so fällt dir ein, ob nicht die beiden Gefühle, die beiden Wünsche, zusammenaddiert, noch schöner wären, noch stärker würden, du scheinst doch keinem von ihnen recht zu trauen, dir selbst aber schon gar nicht, von dir selbst ist ja, scheint's, überhaupt nicht mehr die Rede, du tust doch in deinem eigenen Leben gar nicht mehr mit, es ist nicht mehr dein, es gehört dir nicht, es wird an dir vollstreckt, du selbst siehst bloß neugierig zu, heißt das noch leben, seid ihr noch Menschen? Jedes Tier, ja die Pflanze selbst, hat mehr Willen als ihr, aus denen ein leeres Getriebe von Gefühl und Wunsch geworden ist! Daß er Gefühl und Wunsch kommandieren kann, macht doch den Menschen erst zum Menschen.«

»Kann er das?« fragte Franz.

Der Domherr sah ihn an und sagte dann, traurig lächelnd: »Ihr habt das Abc der Menschheit verlernt.«

»Kann er das?« wiederholte Franz. »Gibt es einen Menschen, der das kann? So beschämend es sein mag, ich muß gestehen, daß ich unfähig bin, mir das auch nur als möglich vorzustellen. Ich kann mir denken, daß jemand die Macht über sich hat, seinen Gefühlen zu widerstehen. Er läßt sie nicht zur Tat werden. Aber es ist doch ungenau, dann von ihm zu sagen, er kommandiere seine Gefühle. Seine Handlungen mag er kommandieren können, aber die Gefühle bleiben doch dieselben, auch wenn er ihnen nicht gehorcht. Oder kann einer, der liebt, auf sein Kommando plötzlich aufhören zu lieben? Kann irgendein Mensch irgendeines seiner Gefühle löschen?«

»Wenn die Menschheit das nicht mehr kann, wird ein Narrenhaus aus ihr,« sagte der Domherr. »Es scheint, wir sind auf dem Wege. Besinnt euch doch, um Gottes willen! Nicht zwei Menschen könnten auch nur eine Stunde nebeneinander leben, ohne fortwährend ihre Gefühle zu löschen. Alle Gesittung besteht doch darin allein, alle Gesellschaft beruht doch darauf allein, die verruchte Rasse, wie Friedrich der Große, der sie gekannt hat, die Menschheit zu nennen pflegte, wäre längst ausgestorben, hätte sie nicht ihre Gefühle löschen gelernt, so bis auf den Grund, daß es jetzt, Gott sei Dank, schon Exemplare genug gibt, die sich der wesentlichsten Gefühle des Menschen gar nicht mehr erinnern. Und eigentlich ist es fast rührend, wenn der Mensch, nachdem er den Mordinstinkt, das angeborene Bedürfnis, wehzutun, die Lust am Leide des Nächsten, das ganze Höllenfeuer seiner Urleidenschaften gelöscht hat, nun, statt im schwelgenden Bewußtsein seiner Willenskraft ihr alles zuzutrauen, auf einmal daran verzweifelt, ob sie denn auch nur das winzigste verliebte Gefühlchen wegzublasen vermag! Hast du dich denn niemals beobachtet? Du verbringst doch das ganze Leben damit, fortwährend Gefühle zu löschen, wenn du's auch gar nicht bemerkst. Denn alle die teuflischen Urgefühle der gefallenen Menschheit sind ja noch immer ungeschwächt lebendig, in jedem, sie sind da, sie kehren immer wieder, aber sie werden ausgehängt, abgestellt, weggedreht, sie sind auch dann im inneren Raum des Menschen noch immer da, doch versperrt. Sie sind noch, aber so, daß es ist, als ob sie nicht mehr wären. Wir haben die Gefühle, die uns unser Wille nicht erlaubt, alle noch, aber wir fühlen sie nicht mehr. Und wenn wir ein Gefühl, das unser Wille von uns verlangt, nicht haben, so wissen wir es doch zu fühlen. Wir wirklichen Menschen nämlich. Ihr freilich, denen durch eine unselige Erziehung alle inneren Verhältnisse zerstört worden sind, der Wille gelähmt und der Mensch auf den ohnmächtigen Verstand reduziert worden ist, seid so verkehrt, daß in euch der Herr den Knechten gehorchen muß. Die ganze neuere Geschichte, dem Anscheine nach ein Triumphzug des Geistes, ist in Wahrheit ein Pöbelaufstand schlecht bewachter Gefühle, die nur so groß tun können, weil ihr Wächter schläft, der Wille. Nichts ist mir charakteristischer als deine Frage: Kann man denn das überhaupt? Du bemerkst also gar nicht, daß damit ja der Mensch erst anfängt. Nur wer kann, was er will, ist doch erst ein Mensch. Kein sittliches Urteil über unsere Mitmenschen wäre sonst möglich, und wie könnten wir denn je von Recht und Unrecht, von Schuld und Strafe, von irgendeiner Verantwortlichkeit reden, wenn wirklich jedes Gefühl, jeder Trieb, jeder Wunsch mächtiger wäre als unser hochthronender Wille? Seit er vom Throne verjagt worden ist, treibt nun ein Gefühl das andere weg, nichts hat mehr Dauer, der Urstand kehrt wieder und scheint euch noch ganz natürlich, scheint euch unabänderlich, so sehr ist alles vergessen, was den gesitteten Menschen sonst vom Wilden unterschied! Kein Wunder, daß ihr euch langweilt, eine solche Sklavenexistenz muß entsetzlich sein, sie ist doch wider die Natur des Menschen, der nun einmal zum Herrn über sich geboren ist! Seinen inneren Pöbel zu bändigen, in Zucht und Ordnung zu halten und ein reinliches Regiment im Hause zu führen, ist doch das einzige bißchen Vergnügen, was man hier noch hat, der Rest steht wirklich nicht dafür. Es wundert mich, daß ein so kluger Mensch wie du das noch nicht bemerkt haben und nicht wenigstens aus Neugierde einmal versuchen sollte, seinen Haushalt zu regeln, schon der Abwechslung wegen. Du bringst dein Leben damit zu, bloß immer auf dein Gefühl zu horchen und bist unglücklich, daß du da meistens nichts hörst. Das muß doch auf die Länge recht langweilig sein. Lerne wollen, dann erst lebst du selbst, ihr Lebenskünstler kennt die Kunst des Lebens nicht!«

»Wollen lernen,« sagte Franz, »ja! Wer aber sagt mir denn, was ich wollen soll? Das müßt ich doch erst wissen, um das eben frag ich ja! Wissen, was zu wollen ist, das wäre doch das Erste!«

»Nein,« sagte der Domherr mit ruhiger Entschiedenheit, »das kommt dann schon. Ich behaupte nicht, daß es von selbst kommt. Es will auch gelernt sein. Aber es kommt erst später dran. Und es ist dann gar nicht so schwer, wie du zu denken scheinst. Wärst du nur einmal so weit, wollen zu können, meinetwegen Böses, was mitunter sogar eine gar nicht üble Vorübung sein kann, zu der ich dir freilich keineswegs raten möchte, so hättest du schon viel gewonnen. Wie aber sollst du deinen Willen auf das Rechte richten, so lang du keinen hast?«

»Und wenn ich keinen habe,« fragte Franz, »wie kann ich ihn haben? Um das Rechte zu wollen, muß ich erst überhaupt wollen können. Ich kann es nicht, also muß ich es lernen. Das setzt doch aber dann schon wieder voraus, daß ich es lernen will, setzt also gerade das voraus, was mir doch eben ja fehlt! Da drehen wir uns immer nur im Kreise.«

»Du sprichst damit aus, worauf es ankommt,« sagte der Domherr. »Genau das ist es, das ist dein Problem! Wenn du dich nämlich nur lange genug in diesem Kreise drehst, bist du gerettet. Ist dir erst gewiß geworden, daß dir nichts nottut als das eine zunächst: wollen zu lernen, so kannst du's.«

»Wie denn?« fragte Franz gierig.

»Es gehört zu den Geheimnissen,« sagte der Domherr, »daß dem Menschen, was ihm nottut, nicht versagt bleibt, sobald er nur innegeworden ist, daß es ihm nottut. Er bittet nämlich dann darum. Und wer um das, was ihm nottut, bittet, wird erhört. Dem Verstande bleibt das unerklärlich, aber es ist durch Erfahrung bewiesen. Bitte um das, was dir nottut, und du hast es, du hast, was dir nottut, wenn es auch oft nicht gerade das ist, was dir not scheint, denn das mußt du schon dem Geber überlassen, er weiß es besser!«

»Wer weiß es? Wer gibt mir's? Wen soll ich bitten?« fragte Franz flehentlich.

»Frage nicht, sondern bitte!« sagte der Domherr. »Versuch's! Du hast ja schon manches versucht. Mißlingt's, so wär's nicht zum erstenmal. Gelingt's, so weißt du, daß deine Bitte erhört werden kann, das wird dir Vertrauen geben, du wirst wieder bitten, dann drehst du dich nicht mehr, du trittst in das Innere des Kreises, und dann können wir ja, wenn du Lust hast, gelegentlich einmal weiter darüber reden.«

Gehorsam erhob sich Franz, betrübt, schon fortgeschickt zu werden. »Bleib nur noch,« sagte der Domherr lächelnd. »So war's nicht gemeint. Ich wollte damit nur sagen, daß es jetzt an dir ist, das Deine zu tun, denn erst, wenn es getan sein wird, kannst du selbst beurteilen, ob mein Rat gut war, und ich wieder kann dann erst wissen, was du noch brauchst. Wir sind hier nicht auf dem Gebiete des Betrachtens, des Besprechens, sondern du mußt dich entschließen, mußt dich einüben, dabei wird sich erst zeigen, welche Begabung du hast und wie dir etwa nachgeholfen werden kann. Dazu bin ich natürlich immer gern bereit. Ich lehne nur ab, der Ausrufer zu sein, der dich in die Bude locken soll. Und ich warne dich nochmals, Frömmigkeit als Opiat zu gebrauchen. Erstens ist sie keins, und zweitens hast du nicht nötig, eingeschläfert zu werden, sondern aufgeweckt. Die Menschen unserer Zeit glauben alle, sich nach Ruhe zu sehnen. Das ist aber ein Mißverständnis. Sie sind müde, doch nicht von irgendeiner Tätigkeit, sondern von ihrer Leere. Es ist die Müdigkeit von Verschlafenen. Versuch einmal zu wachen!«

»Geht denn das alles nicht am Ende darauf hinaus, daß ich mich vergewaltigen soll?« fragte Franz.

»Ja darauf geht's hinaus, das sollst du!« sagte der Domherr trocken.

»Und ist das aber dann nicht eine Verlogenheit oder doch Unaufrichtigkeit,« fragte Franz, »wenn ich nur einen Teil von mir gelten lasse, den anderen aber nicht? Und für welchen soll ich mich entscheiden? Und warum gerade für ihn? Um mich entscheiden zu können, müßte mir ja schon ein Ziel gegeben sein, gerade das aber will ich ja nicht, sondern ich selbst will mir mein Ziel geben, aber ich selbst, das ist doch alles zusammen in mir, nicht bloß irgendein Teil!«

»Du scheinst dein Selbst für einen Wurstkessel zu halten,« sagte der Domherr. »Ich rechne nicht alles, was in mir herumschwimmt, zu mir. Meine Gefühle, meine Wünsche, meine Gedanken müssen gar nicht immer mir gehören. Wenn ich von meiner Krankheit spreche, heißt das, daß ich sie haben will, daß ich sie nicht verleugnen darf? Ich verleugne sie ganz und gar, loswerden will ich sie! Oder wirst du da auch sagen, es widerstrebe dir, dich zu vergewaltigen? Willst du vielleicht auch auf die Krankheit nicht verzichten, die doch auch ein Teil von dir ist? Wirst du sie los, so bist du in einem gewissen Sinn auch ärmer, der Arzt, der dich heilt, hat dich auch um ein Stück von dir verkürzt! Gerade nach deiner Meinung, denn für dich scheint ja dein Selbst nur der Sack deiner sämtlichen inneren Regungen zu sein. Nimmt man dir eine weg, so wird dir gleich angst, der Sack könnte leer werden, und selber ist ein leerer Sack ja nichts, selber ist dein Selbst nichts, scheint's! Mir aber ist mein Selbst gerade das, was übrigbleibt, wenn alles daraus weg ist. Gerade dann bin ich erst bei mir. Gerade dann hab ich erst mich. Und mir ist gar nicht bang, leer zu sein, denn ich fülle mich aus mir, und das, was ich aus mir in mich fülle, das ist dann erst wirklich mein. Aber du hättest da das Gefühl, dich zu vergewaltigen! Das willst du nicht und scheinst gar nicht zu bemerken, daß du nur die Wahl hast, dich zu vergewaltigen oder dich vergewaltigen zu lassen. Ich gehorche meinem Gewissen, du jeder Laune, die dich anfällt. Jeder leise Wind macht dich erzittern, mich kann nur ich bewegen. Dein Selbst ist ein Spiel seiner Triebe, meines ruht fest verankert in Gott!« Er wechselte den Ton und sagte leichthin: »Es wird dir hoffentlich nicht entgangen sein, daß ich nicht von mir spreche. Das sind keine Konfessionen, sondern wenn ich sage: ich, so ist damit nur die Antithese von dir gemeint. Du, wie fast alle, bei denen die herrliche moderne Erziehung geglückt ist, hast überhaupt noch nicht bemerkt, daß der Mensch ein Selbst hat. Ihr glaubt alle, die turbulente Volksversammlung von Instinkten, Begierden und Gelüsten in euch sei der Mensch. Nein, der Schaum ist nicht das Meer! Ihr würdet staunen, wie wenig euer Selbst, wenn es nur einmal erst zu Worte käme, mit euch zu tun hat, wie wenig ihr es angeht, wie wenig es um euch fragt! Man kann nämlich geradezu sagen: Mein Selbst fängt dort an, wo mein Bewußtsein aufhört. Ihr seid aber das genaue Widerbild des richtigen Menschen: rechter Hand, linker Hand alles vertauscht, wie's in dem schönen Liede heißt. Der richtige Mensch weiß nichts als zu leben, ihr wißt alles bis aufs Leben. Der richtige Mensch ist Tiefe, ihr seid Fläche, er Stille, ihr Tumult, er Tat, ihr Zufall. Alles, was euch an euch interessiert und auch an den anderen, ist Unwesen, ist im besten Falle Wirkung, niemals das Wirkende. Und selbst wenn einer von euch einmal sich zu besinnen versucht, so geschieht's falsch, nämlich von der Wirkung her, vom Ende, statt aus dem Anfang. Ihr müßtet euch erst vergessen, das wäre die wahre Bestimmung, denn das, was du wirklich bist, ist dort, wo nichts mehr von dir ist. Das klingt ein bißchen nach dem Hexeneinmaleins, aber solange du's nicht verstehst, ist dir nicht zu helfen.«

»Wer kann Unverständiges verstehen?« fragte Franz.

»Darauf allein aber kommt's eben an,« sagte der Domherr. »Der Verstand kann's freilich nicht. Vom Verstand ist es nicht zu haben. Hast du's aber erst, dann geht's auch dem Verstand ein, es wird dir dann weder unverständig noch unverständlich sein, das ist das Merkwürdige. Es widerspricht nämlich dem Verstande gar nicht, auch widerlegt es ihn nicht, es hebt ihn nicht auf, der Verstand ist bloß zu kurz dazu, er reicht nicht bis hinab, aber wird es zu ihm hinaufgebracht, so muß er es bestätigen.« Der Domherr sah ihn lächelnd an und fuhr fort: »Du siehst, daß ich alles tue, um deine Neugierde rege und dir Lust zu den Geheimnissen zu machen, die dich erwarten. Ich habe dir nicht zugeredet, sie zu suchen, aber da du nun einmal auf der Suche bist, will ich doch ungefähr den Ort abstecken, wo sie zu finden sind, freilich nicht für jeden. Bequemer ist's, auf Abenteuer auszugehen. Dann aber bitte geradezu und ohne die Augen fromm zu verdrehen.«

Etwas gereizt erwiderte Franz: »Soll ich noch einmal beteuern, daß das ein ganz ungerechter Verdacht ist? Ich weiß mich davon frei.«

»Daran zweifle ich nicht,« sagte der Domherr. »Du weißt dich davon frei, doch bleibt immerhin die Frage, ob du davon frei bist. Der Mensch ist dem Irrtum unterworfen.«

»Was ich nicht weiß, dafür bin ich nicht verantwortlich,« antwortete Franz.

»Nein,« sagte der Domherr, »aber mir handelt es sich hier noch um ein anderes Wesen, und mehr als um dich. Ich wünsche dir von ganzem Herzen alles Gute, du mußt aber schon entschuldigen, wenn ich gestehe, daß mir dein Gemütszustand nicht so wichtig ist wie die Ruhe dieser Frau, schon weil er, soweit ich darüber urteilen kann, sich eher ändern läßt, während sie zu den geheimnisvollen Menschen gehört, die an einem bloßen Stich verbluten können.«

Franz erschrak, aber bevor er antworten konnte, fuhr der Domherr fort: »Ich sage dir das mehr deinetwegen als ihretwegen. Ein so kostbares, so zerbrechliches Gefäß in deinen etwas groben Fingern ängstigt mich. Und nochmals: nicht so sehr ihretwegen. Sie kann nicht zerstört werden, auch nicht, wenn sie zerbricht. Aber ich möchte dich davor bewahren.« Und es klang fast zornig, als er, bevor sich Franz noch verteidigen konnte, fortfuhr: »Beteure mir nicht immer deine reinen Absichten! Ich kenne sie, für dein Gefühl sind sie wirklich rein. Es gibt aber eben Grade der Reinheit, und es könnte sein, daß das reinste Gefühl, dessen du fähig bist, das ihre schon beschmutzt. Begegnungen von Menschen aus verschiedenen Quartieren der Menschheit sind niemals ganz unbedenklich. Der aus dem schlechten hat meistens nicht viel davon, den aus dem guten aber kann der bloße Hauch oft verderben.«

Aber schon beherrschte der Domherr sich wieder, und seine tiefe Stimme klang wieder von ruhiger Güte, als er Franz, für seinen Besuch dankend, noch einmal mit leisem Spott des putzigen Bankdirektors gedenkend, freundlich entließ.


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