Hermann Bahr
Himmelfahrt
Hermann Bahr

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Zehntes Kapitel

Wie betäubt ging Franz durch die sonntäglich verödete Stadt heim. In den glühenden Gassen nirgends ein Mensch; alles hatte sich aufs Land geflüchtet. Aus den Toren schlug ein dumpfer Geruch in die Hitze, die Sonne stach, die Luft war klebrig vor Staub und Dunst. Seine Schritte hallten in der ausgestorbenen Gasse. Er schrak auf, als durch die Totenstille plötzlich ein Radfahrer um die Ecke bog, in rasender Eile, ohne Hut, den Kopf auf die Lenkstange vorgebeugt, halb liegend, fast überhängend, ihm entgegen und ihn, wenn er nicht noch rasch weggesprungen wäre, streifend, aber auch schon weg, schon wieder weiter, jetzt in einem fort sinnlos läutend, während er durch die tote Stadt raste. In ihrer Öde schien sie größer, die Häuser höher, die Gassen länger als sonst; und der blasse Himmel darüber wie ein Glassturz. Franz blieb aufatmend stehen, als er endlich im Freien war. Eben fuhr drüben ein Wagen der Elektrischen ein, ganz schwarz von gedrängten, flüsternden, aufgeregten Menschen. Warum kehrten sie schon heim? Es war noch früh und kein Wölkchen am erblaßten, wie leicht gepuderten Himmel, kein Anzeichen eines Unwetters, vor dem sie geflüchtet wären. Und was flüsterten sie so gierig? Aber schon war der Wagen wieder weg, in ungewohnter Eile. Oder bildete sich Franz das bloß ein? Alles war jetzt auf einmal so phantastisch heute. Er stand träge noch lange, und auch die ganze Landschaft rings stand starr, unter dem wolkenlosen, aber fahlen Himmel, an dem die Sonne, statt zu leuchten, qualmend hing. Die Blätter an den Bäumen der alten Allee sahen aus, wie wenn sie aus Blech wären. Der ganzen Landschaft war der Atem ausgegangen, als hätte sie plötzlich ein unerträglicher Anblick, eine furchtbare Drohung gelähmt. Unnatürlich heiß war es, und auf eine ganz ungewohnte Art heiß, von einer Hitze, die aus der Erde zu dampfen und in Manneshöhe qualmend hängen zu bleiben schien. Franz hatte das Gefühl, rings ganz in Gummi zu stecken, er konnte kaum mehr atmen, sein Herz tat ihm weh. Da sah er am Ende der langen schnurgeraden regungslosen Allee plötzlich einen schwarzen Punkt, der schwoll und auf ihn zu kam. Er ging ihm entgegen, es war ein geschlossener Zug, der sich langsam näherte, stumm, wie ein Leichenzug, aber vorn blitzte etwas, offenbar wurde jemand von einem Gendarm, der das Bajonett aufgepflanzt hatte, eingebracht. Langsam näherte sich der lautlose schwarze Zug, und jetzt sah Franz, daß es der alte Blasl war, der eingebracht wurde, mit gefesselten Händen, und es folgten ihm Bauern und Ausflügler, Männer, Weiber, Kinder, manche mit Feldblumen geschmückt, alle sehr ernst und still, doch offenbar stolz, mit dabei zu sein. Aber der Alte schritt unbekümmert und ruhig voran, ja wenn ihm nicht die Hände gefesselt gewesen wären, eher einem König gleich, der von seinen Getreuen feierlich eingeholt wurde. Er würdigte Franz keines Blicks aus seinen erloschenen Augen, ja Franz wußte nicht einmal, ob er ihn überhaupt bemerkte, so fest auf sein Ziel zu schritt der Alte rüstig. Aber der Gendarm, den Franz kannte, berichtete salutierend, der Blasl habe bei der Nachricht von der Ermordung des Thronfolgers so gefährliche Reden geführt, daß er zunächst durchgeprügelt worden sei, dann aber verhaftet, um in die Stadt geführt zu werden, weil er ohne Zweifel auch zu den Verschwörern gehöre. Schon entfernte sich der Zug wieder, und Franz stand da. Was war denn mit ihm? Er hatte das doch mit seinen eigenen Augen gesehen, mit seinen eigenen Ohren gehört! Nein, er träumte nicht, er war auch nicht betrunken. Es konnte doch aber bloß irgendein unsinniges Mißverständnis sein! Er dachte nur darüber nach, wie denn ein so ganz unmögliches, sinnloses Gerücht entstehen und auch nur einen Augenblick hatte Glauben finden können. Denn zu denken, daß es wahr sein könnte, war er unfähig. Daß der Mann, den das Reich seit Jahren erwartet, auf den hin allein es noch lebt, von dem es die Kraft nimmt, wieder an sich zu glauben, daß der gottgesandte Mann plötzlich weg sein könnte, noch vor seiner Sendung weg, unerfüllt weg, nein, eher war denkbar, die Erde hätte sich aufgetan und den Berg verschlungen.

 

Franz hatte niemals Sinn für Politik gehabt. Er hörte gar nicht zu, wenn politisiert wurde. Es schien ihm der albernste Zeitvertreib, gar in einem Lande, das ja doch nur durch den Willen des Herrschers allein bestimmt wird; die Politiker machten höchstens die Zwischenaktsmusik, aber alle Geschichte war hier immer nur ein persönlicher Ausdruck des Herrschers. Und so hatten sich alle verständigen Leute seit Jahren angewöhnt, einstweilen ruhig zu warten. Das Volk ging seiner Arbeit nach, der Acker wurde bestellt, das Korn stand, der Wein wuchs, Schlote rauchten, Schiffe fuhren, jeder war am Werk, und im übrigen mußte man halt einstweilen warten. Man konnte das um so geduldiger, weil er ja schon da war, der Mann der starken Zukunft. Und wenn einem doch einmal bang wurde, der sagte still vor sich hin: Franz Ferdinand. Und gleich war ihm nicht mehr bang. Die zwei Worte gaben ihm wieder Mut. In den zwei Worten stand die neue Zeit da. Ob sie nun einen Tag früher oder später kam, war ja gleich. Man weiß, sie kommt. Ja sie ist schon da, man fühlt sie schon überall im Lande; sie ist nur gerade jetzt noch auf der Jagd oder fährt auf dem Meer, aber man weiß, sie ist da. Mehr weiß man freilich nicht. Denn niemand kennt ihn ja. Er lebt geheim. Viele fürchten ihn. Wer aber an das Leben glaubt, glaubt an ihn. Es ist ein Gefühl im ganzen Land, wie man es in der letzten Woche vor dem neuen Jahr hat: niemand weiß, was es bringen wird, der Griesgram prophezeit, daß es auch nicht besser sein wird, aber was es auch bringen, was auch daraus werden mag, auf das neue Jahr freuen sich doch alle.

Franz hat ihn niemals gesehen. Man kennt ihn ja bloß aus der Hintertreppenperspektive, man weiß nichts über ihn als den Klatsch entlassener Lakaien und unredlicher Beamten, aber auch diesem noch und gar der rachsüchtigen Erbitterung aller Schmarotzer im ganzen Lande fühlt man seine durchschlagende Kraft an. Alle Bequemlichkeit, Lässigkeit, Gleichgültigkeit sieht sich durch ihn in ihrem satten Behagen gestört. Er ist ein aufscheuchender Mann, den die Lauen hassen, denn er läßt sie nicht mehr lau sein. Aber aller Mut und alle Hoffnung und alles Zutrauen blicken auf ihn. »Bis nur erst der Franz Ferdinand kommt,« sagen sie sich immer im stillen vor, und schon sein bloßer Name tröstet sie, so von Jugend und Zukunft hallt dieser Name! Die nichts wollen und nichts wagen, überall mitlaufen, sich niemals entscheiden können, die Verantwortung scheuen, dem Leben nicht trauen, die Mißmutigen, Unmutigen, Kleinmütigen, die Kriecher, Kopfhänger und geborenen Pensionisten erschreckt sein bloßer Name, den Starken, Beherzten, Hochgemuten ist er ein Unterpfand ihres Glaubens an die Tat.

Franz fiel auf, daß er dies alles noch nie so stark empfunden hatte wie jetzt. Auf einmal stand jetzt dieser Mann leibhaftig vor ihm da, dieser entrückt lebende, von Geheimnissen umwitterte Mann des Schicksals, von dem alle nur im Vertrauen sprachen, unwillkürlich die Stimme senkend, und mit dem doch, wenn man bloß seinen Namen anrief, Österreich da war. In ihm war es, man rief ihn an, und es erschien.

Nein, das war unmöglich! Eher ließ sich denken, daß ein Erdbeben ein ganzes Volk verschlungen, der Blitz ein Reich erschlagen hätte. Franz hatte das Gefühl, mit offenen Augen wüst zu träumen und dabei ja zu wissen, daß es bloß ein Traum war, ein ruchloser, unsinniger, lächerlicher Traum, und aber doch nicht aufwachen, sich des albernen Spuks nicht erwehren zu können, wie gelähmt. Er lief fast, um nur endlich einen Menschen zu finden, den er fragen könnte, der wird ihn auslachen und für verrückt halten. Er fand aber keinen, bis er, schwitzend und atemlos, in der Arnsburg ankam. Und er wagte nicht, einen der Diener zu fragen, er hätte sich zu lächerlich gemacht. Er fragte bloß um Anton. Der war im großen Saal. Seltsam! Im großen Saal war sein tätig heiterer, so ganz unfeierlicher Bruder doch sonst nie? Der Saal, in seiner etwas steifen Pracht, mit der schweren Holzdecke, den gestrengen Ahnenbildern und dem massiven Staatssofa, das sein Vater auf einer Auktion erhandelt hatte, weil beglaubigt war, daß es einst Eigentum des Siegers von Aspern gewesen, wurde nur noch bei Festen benutzt, Anton fand ihn ungemütlich; es sei auch, pflegte er zu sagen, stillos, sich ohne Degen darin zu bewegen, oder vielleicht gar noch in der Ledernen, die er gern trug. Jetzt aber saß er in dem großen Saal, er saß auf dem Staatssofa, steif aufrecht, wie wenn er zu Besuch wäre. Sein rotes heiteres Kindergesicht sah stets etwas gelangweilt aus, wenn es sich eine ernste Miene gab. So saß er und schien zuzuhören. Es war Franz unheimlich, ihn so sitzen zu sehen, wie bei sich zu Gast, und ganz allein in dem weiten Saal und stumm zuhörend, den Geistern um ihn, und ohne nach dem Bruder aufzublicken, ohne Gruß, ohne ein Zeichen.

»Weißt du's schon?« fragte Anton.

»Ist's denn wahr?« fragte Franz.

Anton nickte. Und er konnte nur noch sagen: »Bitte laß mich jetzt!« Sein Gesicht veränderte sich nicht, es war teilnahmslos, aber die Stimme klang verweint. Franz ging. Draußen stieß er auf Gabsch, die, ratlos, voll Angst und zornig, fragte: »Wie lang wird er noch so sitzen? Was will er denn eigentlich?«

»Laß ihn!« sagte Franz heftig und ließ sie stehen. Er ging eilig weiter, suchend ohne zu wissen, was oder wen. Es war niemand zu sehen, er hörte nur Kommen und Gehen, aber einer wich dem anderen aus.

Im Hof fand er den Verwalter, der ihm nun erst alles erzählte. Am frühen Nachmittag war auf einmal das Gerücht ausgebrochen, der Erzherzog sei ermordet worden, alle wußten auf einmal davon, keiner konnte sagen wie, jeder hatte es auch schon gehört, und im ersten Schreck lief alles zum Kaplan, der nach der Stadt telephonierte und die Mitteilung, als sich aus allen Orten rings immer mehr Menschen aufgeregt versammelten, niederschrieb und am Kirchentor anschlagen ließ. Da stand es jetzt zu lesen, und die Leute standen herum, grabesstill. Die es schon gelesen hatten, blieben stehen, und immer neue kamen, lasen es auch und blieben auch. Niemand sprach ein Wort, sie warteten nur, was sie tun sollten. Während sie so beisammen standen und noch immer wieder neue kamen, trat aus der Kirche, wo er, wie jeden Sonntagnachmittag, im Gebet gelegen, der Blasl, verwundert, so viele Menschen zu sehen, und auch er las die Schrift, las sie dann langsam noch einmal, nickte befriedigt und sagte: »Gut! So hat er enden müssen. Ganz richtig.« Einige wollten sogar gehört haben, er hätte ganz laut ausdrücklich Bravo gerufen. Der Wortlaut ließ sich nicht mehr feststellen, weil sogleich ein Bursche zornig auf ihn losgestürzt, und während die meisten noch gar nicht wußten, was denn eigentlich geschehen, und einer den anderen erst fragte, einer dem anderen es erzählte, fielen schon alle über ihn her und bleuten ihn durch, auch dem Kaplan gelang es nicht, ihn zu schützen, bis der Gendarm geholt wurde, der den Verdächtigen gleich in die Stadt abzuliefern entschied, und alle zogen mit, als Zeugen. Auch habe der Gendarm nicht die Stube des Alten bloß, sondern das ganze Schlößl absuchen lassen, doch nichts Verdächtiges gefunden als im Rucksack Blasls ein paar Bücher und Schreibhefte, was auffällig, aber ja schließlich noch kein Beweis sei. Der Verwalter wollte nämlich an seine Schuld durchaus noch nicht glauben. Ein Narr, ja, das wußte man, und ein Wildling, im Zorn jeder Untat fähig, oder aus Verrücktheit, auch aus Dummheit, aber kein schlechter Kerl; ein Totschläger vielleicht, unter Umständen, aber niemals ein Mörder und zum Verschwörer jedenfalls ganz unbrauchbar, dazu gehört doch etwas Verstand. Nein, er habe seine Worte wahrscheinlich ganz anders gemeint oder vielleicht auch gar nichts gemeint, gar nicht gewußt, was er eigentlich sagte, das sehe ihm ja gleich, sie hätten sich alle längst daran gewöhnt, ihn manchmal so sinnlos schwafeln zu hören und, zur Rede gestellt und darüber befragt, war er dann immer selber ganz erstaunt, konnte nicht antworten und lachte nur blöd. Wenn aber bei uns jetzt jeder, der blöd ist, verhaftet werden soll, wird die Gendarmerie stark vermehrt werden müssen.

Am nächsten Tag wurde Franz in aller Früh zum Onkel Erhard ins Amt gerufen, sobald als möglich, es sei dringend. Er fand ihn in der übelsten Laune. »Das hat mir gerade noch gefehlt! Eine schöne Bescherung! Ihr seid's aber auch von einem Leichtsinn! Weißt du, wen ihr da beherbergt habt? Einen spanischen Anarchisten! Eine schöne Geschichte!« Er schlug wütend mit der Faust auf ein Bündel schmutziger Hefte. »Nach allem, was der Dolmetsch sagt! Ich weiß es ja nicht, woher denn? Nächstens wird man vielleicht von einem Beamten auch noch verlangen, daß er Chinesisch kann! Und immer, wenn sie sich nicht auskennen, kommens damit zu mir, ich soll's sein, der sich blamiert, weil sie behaupten, daß es mir ja nicht schad't! Meinetwegen, aber gerade jetzt, wo ich doch morgen auf die Alm will! Das schöne Wetter hält höchstens noch acht Tag!« Und er schrie: »Der Bericht muß auf alle Fälle heut noch fertig sein! Ich versteh nur auch den Anton nicht! So was nimmt man sich doch nicht ins Haus!«

Franz schlug eines von den Heften auf und sagte: »Das ist doch aber Italienisch.«

»Nein!« schrie der Onkel.

»Und,« fuhr Franz lesend fort, »es scheint eine philosophische Abhandlung zu sein, in der Form eines Gesprächs zwischen der Seele, dem Leib und dem Willen. Die drei disputieren da miteinander.«

»Aber nein,« schrie der Onkel. »Ein spanischer Anarchist. Wo hab ich denn den Akt von der Polizei?« Er suchte, konnte den Akt nicht gleich finden und geriet immer mehr in Wut. »Mach jetzt nur nicht du mir noch eine neue Konfusion! Ein spanischer Anarchist! So werden wir die Geschichte auch noch am schnellsten los. Sollen sie sich in Wien den Kopf zerbrechen, ich danke bestens! Denn der Dolmetsch erzählt's natürlich jetzt schon in der ganzen Stadt herum, die Leute kriegen Angst, solche Sachen mögen's gar nicht. Dann hab ich womöglich noch den Bürgermeister auf dem Hals, mit der berühmten autonomen Gemeinde bei uns ist nicht zu spaßen, ich kenn das! Also nur um Gottes willen so rasch als möglich weg damit! Ich hab gar keinen Ehrgeiz, mich da mit Lorbeeren zu bedecken, ich bin kein Jud, die Alm ist mir lieber. Da ist ja der Akt!« Er hatte ihn endlich gefunden und zeigte triumphierend auf die Stelle: »Daß wir es dem ganzen Inhalte nach vermutlich mit einem gefährlichen spanischen Anarchisten zu tun haben. Schwarz auf weiß! Bitte hier! Ich hab's ja gewußt. Ganz verkalkt bin ich ja doch noch nicht!« Er warf den Akt wieder auf den Tisch.

Inzwischen hatte Franz ein anderes der Hefte genommen und sagte: »Dieses ist allerdings Spanisch. Er muß aber ein ganz merkwürdiger Anarchist sein. Höre.« Und er las vor: »Mich, sprach Gott zu mir, suche nirgends als in dir, dich suche nirgends als in mir!«

»Waas?« schrie der Onkel. »Ist der Kerl besoffen oder verrückt? Aber wenn der Beschuldigte ein Narr und der Dolmetsch ein Esel ist, möcht ich wissen, was da herauskommen soll! Ich will doch aber die Geschichte heute noch in Ordnung bringen, ich bitt dich! Solang der gute Wind bleibt, hält das Wetter g'rad noch, aber wenn's jetzt zu regnen anfängt, hört's ja dann drei Wochen nicht zu regnen auf, ich kenn das. Wenn ich jetzt nicht auf die Alm komm, komm ich heuer überhaupt nicht mehr hinauf, also tu mir den Gefallen.«

»Ja was soll ich eigentlich dabei?« fragte Franz.

»Mein Gott,« erklärte der Onkel, »Mezzofanti haben wir halt keinen unter uns, es ist doch auch bei dem Gehalt nicht zu verlangen, dem Dolmetsch aber trau ich nicht, der kann von allen Sprachen nur grad so viel als ein Kellner braucht, und der Fall ist doch kitzlig, und ich hab mich in meinem Leben ja für meine Bedürfnisse schon grad genug blamiert, es liegt mir ja schließlich nichts dran, aber es muß ja doch nicht sein! Also mein erster Gedanke war natürlich der Domherr, da könnt ich ja ganz beruhigt sein, aber der ist verreist. No und da ist mir eingefallen, du bist doch so ein Weltreisender, dir muß es doch leicht sein herauszukriegen, was der Kerl eigentlich alles da zusammengeschmiert hat, nicht? Wenn ich berichten könnte, was in den Heften eigentlich steht, wenn sie beweisen, daß es wirklich ein Anarchist ist, dann bin ich gerettet, dann sind wir ihn los, das andere sollen sie sich dann in Wien selber machen, ich hab gar keine Ambition! Also schau dir's an und mach mir einen kleinen Auszug daraus, bis abends oder im schlimmsten Fall bis morgen früh, ich geh halt dann erst übermorgen auf die Alm, vielleicht hält das Wetter doch die Woche noch. Es ist heuer schon das drittemal, daß mir was dazwischen kommt, immer grad, wenn ich auf die Alm will, weiß der Teufel! Also wirst du so lieb sein? Nur natürlich ganz unter uns, es braucht's niemand zu wissen, dir kann ich doch vertrauen, und schließlich bin ich ein moderner Mensch und pfeif auf den bürokratischen Schimmel. Also tu mir den Gefallen!«

Franz, der in den Heften geblättert hatte, sagte: »Es scheint eigentlich eine Art Tagebuch zu sein, doch von einer exklusiv geistigen Sorte, nämlich bloß über Begebenheiten der Seele. Wie mag das nur aber in die Hände des Blasl gekommen sein?«

»Es ist doch von ihm,« sagte der Onkel.

»Was fällt dir ein?« rief Franz lachend.

»Von seiner eigenen Hand geschrieben,« sagte der Onkel.

»Unmöglich!«

»Gar kein Zweifel!«

»Dann,« sagte Franz, »jedenfalls abgeschrieben!«

»Nein, von ihm verfaßt.«

»Vom Blasl?« rief Franz lachend.

»Er leugnet es gar nicht,« sagte der Onkel.

»Dann lügt er,« versicherte Franz. »Nicht eine Zeile. Ich kenn ihn doch.«

»Jetzt, was eure Menschenkenntnis betrifft,« sagte der Onkel trocken, »deine und Antons, nimm mir's nicht übel, aber damit scheint's nicht weit her zu sein. Mir war der Kerl gleich verdächtig!«

»Verdächtig oder nicht, schuldig oder nicht,« sagte Franz, »darum handelt sich's gar nicht, aber diese Hefte, das sieht man auf den ersten Blick, kann nur ein ganz im Geistigen lebender Mensch geschrieben haben.«

»Ich danke für so ein geistiges Leben!« rief der Onkel. »Sei so gut!«

»Mißversteh mich nicht,« sagte Franz ungeduldig.

»Aber er hat doch gestanden,« brüllte der Onkel.

»Was?« fragte Franz.

»Daß es seine Schrift ist, daß er es verfaßt hat und daß er ein Spanier ist.«

»Der Blasl? Mit seinem Dialekt, den nur ein bayrischer Knecht oder Wilddieb versteht?«

»Ein spanischer Anarchist,« sagte der Onkel befriedigt.

»Ein Anarchist mit religiösem Wahnsinn?« fragte Franz.

»Das weiß ich nicht,« rief der Onkel ärgerlich. »Ich bin keiner, was weiß denn ich davon? Aber er leugnet 's ja gar nicht! Der Untersuchungsrichter hat ihm vorgehalten, daß er, nach dem Inhalt dieser Hefte zu schließen, offenbar ein Anarchist ist. Darauf hat er gesagt: ›Vielleicht!‹ Und hat noch frech gelacht. Also das genügt wohl, nicht? Dann scheint ihm aber die Sache doch nicht recht geheuer gewesen zu sein, und er hat sich auf eine andere Taktik verlegt, es war auf einmal überhaupt kein Wort mehr aus ihm herauszubringen.«

»Seltsam,« sagte Franz, der schon wieder in den Heften las.

»Also willst du? Nimm dir's mit! Aber ich muß mich darauf verlassen können?« sagte der Onkel.

Franz versprach es. Die paar Seiten, die er gelesen hatte, verrieten einen so hohen Geist, die Fragen, die hier gestellt wurden, kamen aus einer solchen Tiefe, daß er neugierig geworden war. Ja, er pries den glücklichen Zufall, der ihm eine Schrift einhändigte, die wie eigens für ihn, ja förmlich an ihn geschrieben schien. Was er seit so vielen Jahren in der Wissenschaft, in der Kunst, auf Reisen, bei Frauen, in Abenteuern, und immer vergebens, sein ganzes Leben lang gesucht, eben das suchten auch diese Hefte! Das beseligende Gefühl seiner ersten Jugend, in einer unsichtbaren Hand zu sein, und eine, seitdem fast verlernte Zuversicht, schon noch den rechten Weg zu finden, kehrten wieder, und er belustigte sich an dem Gedanken, daß hier am Ende das sonst überall verschwiegene Wort der Wahrheit stand, in diesen Heften eines stupiden Landstreichers, mit dem er jetzt schon bald ein Jahr ahnungslos unter einem Dache hauste. Noch immer schien es ihm unmöglich, daß sie dem Blasl gehörten. Der war gewiß nur das Werkzeug jener tief verborgenen Macht, die Franz so oft schon rings um sich gefühlt, gar in diesem letzten Jahr, aber freilich noch nie so nahe wie jetzt, in diesem Augenblick. Noch niemals war er so gewiß gewesen, noch aller Dinge gewiß zu werden. Er mußte selbst über sich lachen. Was war denn geschehen, daß er jetzt auf einmal wieder ein Jüngling von zwanzig Jahren war? Er sollte sich doch schon besser kennen! Schwieg denn die Sehnsucht, so oft enttäuscht, noch immer nicht, diese dumme Sehnsucht nach Gewißheit? Er konnte es kaum erwarten, endlich daheim und über den Heften zu sein.

Als er ins Schlößl kam, fand er auf seinem Tisch einen Strauß von Almrosen, mit einer Karte, darauf von Klaras Hand geschrieben stand: Auf Nimmerwiedersehen! Aber in seiner Stimmung war ihm jetzt alles ein gutes Zeichen. Er schloß sich mit den Heften ein und begann zu lesen, und las die ganze Nacht, und las bis tief in den anderen Tag.


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