Hermann Bahr
Himmelfahrt
Hermann Bahr

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Viertes Kapitel

Oktober war in sanften Tagen langsam verblüht. Um diese Zeit kann man hier kaum glauben, auf deutscher Erde zu sein. Die Klarheit der Luft, die Kraft der Farben, die Entschiedenheit der Formen gibt der Landschaft eine Ruhe, eine Würde, die für den darin wandelnden Menschen in seiner kleinen Hast etwas Vernichtendes hat. Er verschwindet darin, sie löst ihn auf. Bei hellem Tage hatte Franz oft das erdrückende Gefühl, das ihn sonst nur unter dem Sternenhimmel zuweilen überkam: ein Gefühl völliger Nichtigkeit, seiner eigenen nicht nur, sondern aller Menschen, des menschlichen Wesens. Er sehnte sich nach Nebel, aus dem uns der Mensch, dem wir begegnen, groß und gleichsam als der Kern der Natur entgegentritt. In dieser unbarmherzigen Klarheit wurden die Menschen zu Punkten, wesenlos verloren im Raum, der sie nur hervorzubringen schien, um an ihnen sich selber in seiner ganzen Allmacht zu fühlen. Franz erinnerte sich dieses zerstörenden Gefühls von der Campagna her, aus der er sich aber dort doch immer in den Schutz des fröhlich lärmenden Stadtgewühls hatte flüchten können. Hier aber schien die Stadt, von den Sommergästen verlassen, jetzt selber auch zur Landschaft zu werden, in den schweigenden Steinen der Kirchen setzten sich die Berge fort und drangen auf den Menschen ein, der zunichte wurde. Hier war alles stärker als der Mensch und alles wies ihn in seine Kläglichkeit zurück. Franz wunderte sich nur, daß die Leute dies ertrugen: sie müssen von einer ungeheuren Kraft sein, oder blind. Er empfand die Gleichgültigkeit der Natur gegen den Menschen, an den hier sozusagen gar nicht gedacht zu sein schien, oft so stark, daß er manchen Tag lieber ganz im Schlößl blieb.

Er hatte wieder zu malen angefangen, zunächst nur so Notizen des Augenblicks, von Luftstimmungen und Beleuchtungen. Die Freude, die er daran fand, das Zutrauen, das er allmählich wieder zu sich gewann, die Empfindung, nichts verlernt zu haben, sondern fast eher im geheimen gereift zu sein, machten ihm Mut, sich wirklich an ein Bildnis des Blasl zu wagen. Es war auch der Wunsch dabei, dem mürrisch verstockten Alten allmählich beizukommen, der ihn seltsam anzog, aber nicht dazu zu bringen war, sich mit ihm einzulassen. Franz, der gern mit Dienern auch ein menschliches Verhältnis suchte, fand dafür gar kein Verständnis bei ihm. Je freundlicher er sich um ihn bemühte, je nachsichtiger er war, je mehr er ihn schonte, desto stärker wurde der Widerstand, auf den er stieß, ein lautloser, Ergebenheit heuchelnder, tückischer Widerstand, der nirgends zu fassen war, weil er sich immer auf eine Vergeßlichkeit, auf irgendein Mißverständnis ausreden konnte. Wenn Franz den Alten brauchte, war er nie da, wenn er ihn rief, schien er taub, was er ihm auftrug, vergaß er, der Ungehorsam war nie nachzuweisen, und die Hilflosigkeit des erloschenen blöden Gesichts entwaffnete den Zorn. Es war, als ob er wirklich, wie der Verwalter behauptete, ein Bedürfnis hätte, angeschrien und mißhandelt zu werden. Dann ging es, dem Verwalter war er auf den Wink gehorsam. Franz aber wollte, konnte nicht schreien; wenn er es einmal versuchte, war er den ganzen Tag davon fast krank, es rieb ihn auf, weil er dabei nämlich wirklich in Zorn geriet, während der Verwalter, so laut er tobte, selber ganz ruhig und unbeteiligt blieb. Vielleicht, dachte Franz, war das überhaupt das Geheimnis, sich an den äußeren Gebärden des Lebens innerlich nicht zu beteiligen; aber das wird er nie lernen! Und er wollte sich auch nicht so leicht geschlagen geben, er konnte nicht glauben, daß Güte nicht zuletzt doch stärker sein und den albernen Trotz des verprügelten Menschen nicht besänftigen sollte. Er warb um den Alten und ließ sich nicht abschrecken, selbst auf die Gefahr hin, dafür noch ausgelacht zu werden. Er gestand sich, daß es auch nicht bloß Teilnahme war, und nicht bloß der Wunsch nach Behagen um sich herum, ein wahres Unvermögen, fremd neben Menschen hinzuleben, sondern schließlich auch ganz gemeine Neugierde: der Alte schien ihm ein Geheimnis zu verbergen, hinter dieser stupiden Versunkenheit lag noch etwas, ein Abenteuer, ein Verbrechen, von ihm oder an ihm begangen. Er wollte versuchen, ob er ihm nicht die Maske sozusagen wegmalen und sein wahres Gesicht darunter aufdecken könnte. Doch kam der Alte gleich am ersten Tage zur angegebenen Stunde nicht und war nirgends zu finden. Es blieb Franz nichts übrig, als ihn jeden Morgen vom Verwalter vorführen zu lassen. Unversehens kam Anton einmal dazu, hörte von der Widersetzlichkeit des Knechts, und so sehr Franz sie zu beschönigen, den Bruder zu beschwichtigen, es heiter zu nehmen suchte, fuhr der auf den Delinquenten los, daß das Haus dröhnte von seiner Wut. Franz wäre am liebsten davongerannt, es war ihm unerträglich, er blieb nur, um zu verhindern, daß Anton tätlich wurde, der aber, nachdem er sich ausgebrüllt, plötzlich ohne Übergang ganz ruhig und als ob eigentlich nichts geschehen wäre, dem Alten sagte: »Merk dir das, denn wenn's noch einmal vorkommt, kriegst einen Tritt und fliegst hinaus, dann kannst wieder Eicheln fressen, verstanden?« Und indem er von neuem zu brüllen begann: »Verstanden? Mach dein ungewaschenes Maul auf, Kerl! Verstanden?« Der Alte hatte sich die ganze Zeit nicht geregt und erwiderte jetzt: »Ja, Euer Gnaden! Vergelt's Gott!« Anton nickte nur und sagte: »Schon gut, setz dich hin, daß es losgehen kann!« Und er hatte schon wieder sein lustiges, liebes Kindergesicht und seine fröhliche, helle Stimme, als er Franz bat: »Darf ich ein biß'l zuschauen?« Franz mußte sich Gewalt antun, ihm zitterte noch die Hand, sein Herz schlug, er konnte nicht sprechen, konnte kaum sehen vor Aufregung über die häßliche Szene, die sein heiterer Bruder und der demütig beflissene Knecht beide schon wieder vergessen zu haben schienen. Anton fuhr wahrscheinlich jeden Tag ein paarmal so los, ohne weiter was dabei zu spüren, darum fand er leicht gleich wieder in den angenehmen Edelmann zurück. Franz hatte den ganzen Tag Kopfschmerzen davon. Und die Lust, Blasl zu malen, war ihm vergangen, obwohl der gar nicht gekränkt schien, sondern fortan ungerufen sich jeden Morgen einfand. Franz wollte sich überwinden, nötigte sich zur Arbeit, kam aber nicht weiter, fing immer von neuem an, gab es immer wieder auf und ließ es endlich ganz, froh, ein anderes Modell zu haben, das sich unvermutet angeboten hatte, seine dicke Schwägerin nämlich, die erst auch nur aus Neugierde gekommen war, ihm bald aber den Wunsch gestand, selbst gemalt zu werden, zur Überraschung für Anton. Die Verlegenheit, in der sie schwerfällig mit ihrer Bitte herausrückte, die Verwirrung, ja Beschämung, fast als ob es sich um etwas Unerlaubtes gehandelt hätte, war so lieb, daß Franz es ihr nicht abschlagen konnte, und warum sollte er sich nicht zur Abwechslung einmal an einem so ganz offenen und unproblematischen Gesicht versuchen? Es war recht ein Gesicht zum Ausruhen. Und die Heimlichkeit vor Anton, der nichts ahnen und eines Tages das fertige Bild über seinem Bette finden sollte, gab ihren Zusammenkünften noch einen besonderen Reiz. Sie mußte tausend Ausreden und Vorwände ersinnen, um sich wegzustehlen, und freute sich auf jede Sitzung, als wär's ein Stelldichein. Auf einem böhmischen Gut erzogen, mit vielen Geschwistern aufgewachsen, der großen Welt fremd, lange Kind geblieben, dann gleich Frau geworden, da wieder in einen engen Kreis gebannt, in feste Pflichten gestellt, nun dem Gatten untertan wie früher den Eltern, ganz von der Wirtschaft, bald auch noch von den Kindern eingenommen, immer beschäftigt, niemals mit sich selbst, hatte sie noch in ihrem ganzen Leben nichts so Aufregendes mitgemacht, es war das erstemal, daß sie etwas auf eigene Faust unternahm, und die Wollust der Angst, erwischt zu werden, des Lügens, der Scham vor Mitwissern und Verrätern lernte sie nun erst kennen. Wenn sie morgens kam, immer zu spät, atemlos vor Eile, stolz auf die Gefahr, glücklich, ein Geheimnis zu haben, erschreckt, selbst zu handeln, war ihr breites böhmisches Gesicht mit dem ungeratenen Näschen, das in den Wangen unterzugehen schien, so glühend von Hast, Übermut und einer kindischen Schadenfreude, daß sie um zwanzig Jahre jünger und fast hübsch schien. Allmählich verlor sich auch der Respekt vor dem heiß bewunderten Schwager, sie wurde zutraulich, und seit sie nicht mehr vor jedem Wort erst überlegte, ob es seiner auch würdig sei, konnte sie ganz allerliebst plauschen. Franz entdeckte, daß sie nicht so dumm war, wie sie glaubte. Sie schien nur immer selber zu erschrecken, wenn sie etwas Gescheites sagte. Da er aber nichts dergleichen tat und gar nicht auf sie zu hören, sondern mit seiner Arbeit beschäftigt schien, faßte sie Mut und fuhr zu zwitschern fort. Es war angenehm, arbeiten zu können, ohne hinhören zu müssen, und dabei von einem lieblichen Geräusch ermuntert zu werden. Die Frauen, die Franz bisher gekannt hatte, muteten einem immer Anstrengungen zu. Diese verlangte nichts, es war ihr genug, da sein zu dürfen. Und er wieder fühlte sich nicht allein und war es doch. Es tat ihr wohl, ihre Gedanken fließen zu lassen, während sie sonst gewohnt war, vor jedem Wort, das sie sprach, immer erst Anton anzusehen, um sich zu vergewissern, ob und was sie zu sprechen hätte. Übrigens entfernte sich auch jetzt das Gespräch selten von Anton, der für sie der merkwürdigste Mann der Welt war, wie sie für ihn die beste Frau; sie kannten sich seit zwanzig Jahren und konnten sich noch immer nicht erholen von dem Erstaunen übereinander. Es setzte sich an den Kindern fort, die von den Eltern auch wieder jedes als Wunder empfunden wurden. Daß sie Zähne bekamen, gehen lernten, reden konnten, das waren diesen Eltern ebenso viele Gnaden, die sie sich eigentlich doch nur aus einer übernatürlichen Kraft erklären konnten. Franz dachte, daß sie ja schließlich in einem gewissen Sinne recht hatten: mit jedem Kinde wird ein Wunder geboren, und kein Verstand kann uns sagen, wie das geschieht, daß Zähne wachsen, Hände greifen, Zungen reden. Nur vergaßen Gabsch und Anton, daß es an allen Kindern geschieht. Aber vielleicht ist das noch die einzige Art, des Lebens froh zu werden, wenn man auch das Allgemeinste daran als ein besonderes Verdienst, als ein persönliches Glück ansieht!

Sie saß erzählend, er hörte mehr auf den Klang ihrer ruhig fließenden Stimme als auf den Sinn ihrer immer um dieselben kleinen Freuden, dieselben kleinen Sorgen kreisenden Rede, der Vormittag verflog, bevor sie es bemerkten. Dann durfte sie zuweilen sehen, wie weit er mit der Arbeit war. Anfangs sagte sie nichts dazu. Bald erriet er, daß sie gar zu gern etwas hübscher gewesen wäre. Sie gefiel sich nicht, besonders das in den Wangen verlorene Näschen machte sie unglücklich, das er, als ein richtiger Schüler Höfelinds auf das Charakteristische dringend, vielleicht, wie er lächelnd zugestand, noch ein wenig übertrieben oder wie man hier eher sagen mußte, untertrieben hatte. Wie Dilettanten oft, geriet er aus lauter Ehrlichkeit leicht in die Karikatur. Sie machte ihm keinen Vorwurf, sie fand es nur »gar zu ähnlich«. Das rührte ihn, und es war ja wirklich nicht nötig, daß die Gräfin Flayn, aus dem fürstlichen Geschlecht der Uldus, auf die Nachwelt in der Gestalt einer böhmischen Köchin kam; er hatte sich nur gerade durch die Volksweise dieses Gesichts, dessen Reiz es war, daß alles Persönliche darin noch zu schlafen schien, verlocken lassen, was ja seiner breiten Manier auch sehr willkommen war. Um sie zu trösten, tat er selbst unzufrieden damit und begann ein neues Bild, es machte ihm Spaß, einmal einen rechten Kitsch zu malen, über den sie denn auch in helles Entzücken geriet. Nur als unversehens eines Tages Höfelind dazu kam, der, längst angekündigt, niemals eingetroffen war und nun nicht mehr erwartet wurde, was mußte der von ihm denken! Auch Gabsch war verlegen, aus Angst, daß er es Anton verraten würde. Sie begrüßte den Gast sehr umständlich, indessen hatte Franz Zeit, seine Schande zu verbergen, die Leinwand wurde weggetan, ein lebhaftes, gleichgültiges, förmliches Gespräch half ihnen aus ihrer Befangenheit, und erst als die Gräfin fort war, fragte Höfelind: »Sie malen noch?«

»Nein,« sagte Franz. »Seit Jahren nicht mehr. Und ich kann nicht einmal sagen: ich male wieder. Meine Schwägerin hat den Einfall gehabt, mir durchaus sitzen zu wollen, und mir macht's Spaß, mich der schönen Zeiten zu erinnern, da ich mir noch einbildete Talent zu haben.«

»Malen Sie nur!« sagte Höfelind. »Warum nicht? Wenn es Ihnen Spaß macht! Denn – Talent? Wer hat Talent, wer hat keines? Das weiß ich längst nicht mehr! Daß es einem Spaß macht, darin allein besteht ja das Talent! Ob was dabei herauskommt, ist die dümmste aller Fragen. Es kommt nämlich nie was heraus dabei. Die das erkannt und doch die Kraft noch haben, weiter zu malen, das sind die Meister. Wozu? Ja, wer so fragt, hat schon das Recht verwirkt zu malen. Wer denkt denn an das Kind, wenn er es zeugt? Die besten kommen unerwünscht zustande. Wer sein Mädchen küßt, plant nichts, es schmeckt ihm halt. Wem's schmeckt, der male! Alle wahren Künstler sind eigentlich Dilettanten gewesen. Kunst ist unverzeihlich, nur durch einen unwiderstehlichen Trieb läßt sie sich allenfalls entschuldigen. Oder wenn man wie ich leider gar nichts gelernt hat, um sich anders irgendwie zu beschäftigen, und sonst aus Langweile stürbe. Vor einem Jahr begann ich den Domherrn zu malen, aber nur so lange, bis mein Ekel davor so stark war, daß ich ihm doch lieber die Langweile noch vorzog. Ich ließ das unfertige Bild und verschwand. Jetzt ist wieder die Langweile so stark, daß ich ihr den Ekel noch vorziehe, bis in drei, sieben oder vierzehn Tagen doch der wieder der Stärkere sein wird. Angenehmes Dasein, was? Ich hoffe nur, mich schließlich mit der Langweile doch noch abzufinden, mit dem Ekel nie. Hätte ich einen Sohn, ich würde ihn von klein auf planmäßig daran gewöhnen, sich mit Anstand gut langweilen zu lernen. Wer das kann, ist geborgen. Alles Unglück kommt aus unserem Bedürfnis, daß etwas mit uns vorgehen soll. Zu spät erkennen wir, daß das ein Wahn ist. Denn wie wir es auch anstellen mögen, es geht mit uns doch nichts vor. Wir sind dazu da, das unbekannte, schlecht schmeckende Ding, das man Leben nennt, hinabzuschlucken, das bleibt keinem erspart, und was wir auch treiben, es schmeckt dadurch nicht besser!«

Diese Wut, in der Höfelind herumfuhr wie ein böses Tier durch seinen Käfig, war ja Franz aus alten Zeiten her zu gut bekannt, um ihn zu erschrecken. In Paris, hoch oben auf der Butte, dann wieder in dem verwunschenen Olbrichhäuschen an der Mauer des Tiergartens von Sankt Veit, wie oft war der Meister damals auf Gott und die Welt, gar aber die verhaßte Kunst so losgestürzt, alles mit seinem Hohn zermalmend, nur irgendein Opfer suchend dem unbekannten, wesenlosen Zorn! Seine Schüler kannten das schon, sie wußten, er wurde dann wieder windstill, ging gelassen an seine Leinwand zurück und sprach wochenlang kein Wort. Radauner, der alte Kleemaler, sein einziger Freund, pflegte zu sagen: »Jeder hat beim Malen seine Marotte, einer sauft Kognak, der andere jodelt, der dritte muß einheizen, bis er schwitzt, wir sind keine natürlichen Menschen, also laßt ihn in Gottes Namen die Kunst lästern, er braucht's und ihr wird's ja weiter nichts schaden!« Wenn es vorüber war, konnte Höfelind ja wieder arglos zutraulich wie ein Kind sein. Er schien freilich in den Jahren, seit ihm Franz zum letztenmal begegnet, noch seltsamer geworden. Ein Knabe, den er bei sich gehabt hatte und der, weil er sich bloß von Früchten nährte, der Nußmensch genannt wurde, ein wunderliches Geschöpf, der Natur ganz nahe, eine Art von heidnischem Heiligen, war ihm gestorben, Radauner, mitten im Malen, während er ganz ruhig vor seinem geliebten Kleefeld an der gewohnten Arbeit saß, plötzlich toll geworden, verdämmerte in einer Anstalt. Mit gleichgültigen Menschen obenhin zu verkehren war Höfelind immer unfähig gewesen, er hatte keine Geduld, und wem er nicht ganz vertrauen konnte, den mied er lieber ganz. Mittlere Verhältnisse waren ihm unerträglich, und wenn er alle durch sein Talent, seinen Ruhm, seinen Reichtum anzog, stieß er sie bald durch seinen Hochmut, bald durch Launen, von denen gerade wer ihm gefiel, am wenigsten verschont blieb, wieder ab. Er schien es darauf anzulegen, einsam zu werden, und prahlte mit der Einsamkeit noch, an der er litt. Wer versuchte, sich ihm zu nähern, war ihm verdächtig, und wem es nicht der Mühe wert schien, sich um ihn zu bemühen, dem gab er zu verstehen, er habe es nicht nötig, einem nachzulaufen. Dazu kam, daß er sich unverstanden, ja verkannt fühlte. Er verachtete den Ruhm, den er ja mit Leuten teilen mußte, denen er nicht die Hand gereicht hätte, und selbst sie zog er noch den sogenannten Kennern vor, die sich an ihn drängten, aber beim ersten Wort verrieten, daß sie von seiner Kunst nichts ahnten; er hätte jeden Spott, jeden Schimpf noch eher ertragen als falsche Bewunderung. Vielleicht war es aber auch bloß, daß er sich nicht daran gewöhnen konnte, älter zu werden. Ein leidenschaftlicher Reiter, ein glänzender Fechter, viel auf Reisen, mäßig in allen Genüssen, als Mensch so nüchtern wie ausschweifend als Künstler, war er lange jung geblieben. Schlank, eiligen Wesens, von behender Anmut, schien er es auf den ersten Blick auch jetzt noch, aber Franz fand, daß diese Jugend nun doch schon etwas künstlich wirkte, gewaltsam und gewollt. Überhaupt konnte sich Franz, als sie jetzt durch den Wald gingen, der Meister ungeduldig voran, fast laufend, steil bergauf, einer traurigen Empfindung kaum erwehren: es war, als ob ihm der bewunderte Höfelind vorgespielt werden sollte. Um es ihm zu erleichtern, fragte Franz auf einmal: »Und die Zwölf?« Die Zwölf, so nannten die Schüler Höfelinds das Werk, dem sein ganzes Leben galt. Was er früher gemalt hatte, schien ihm seitdem alles nur Vorarbeit, Versuch, Entwurf. Was er daneben noch malte, war Zeitvertreib, Fingerübung, Broterwerb. Zwölf Bilder aber sollten, wenn er längst dahin und diese ganze Zeit verweht war, nach Jahrhunderten noch von ihm sagen und seine Kraft fortwirkend bis zu den fernsten Geschlechtern bringen. Er nannte sie gern das »Personal der Menschheit,« die, wie sie sich auch verkleiden mag, in allen ihren Verwandlungen doch immer nur jene zwölf Grundformen abwandle und durchwandle. Oder er nannte sie auch die »Arche Noah«: wie in dieser von jedem Geschöpf ein Exemplar vorhanden gewesen, so hier die Reihe von Urexemplaren, auf die die ganze Schöpfung zurückdeute. Oder er nannte sie »die zwölf Ideen«. Wenn er, wozu er selten zu bewegen war, einmal ernst davon sprach, rief er platonische Gedanken oder auch wohl Goethes Urpflanze zu Hilfe. Meistens erging er sich lieber in lustigen Schmähungen der Natur, die ja zwar die besten Einfälle hätte, leider aber nicht Kraft genug, auch nur einen davon ordentlich auszuführen, weshalb ihr schließlich in ihrer Not nichts übrig geblieben, als zuletzt den Künstler zu schaffen, der nun ihre wohlgemeinten, aber mißratenen Skizzen vollenden soll; und natürlich ist es ihr mit dem Künstler auch wieder nicht besser gegangen, auch der Künstler hat ihr erst einige tausend Mal mißlingen müssen, bis sie ihn doch endlich traf, in Höfelind nämlich, der jetzt ihre Verfehlungen gutzumachen, ihre Versäumungen nachzuholen hat, der arme Kerl! Das Hochgefühl, das sich in derlei Scherzen verbarg, wurde begreiflich vor den Bildern selbst. Ganz phantastisch waren sie, doch von höchster Realität. Sie schienen aus einer anderen Welt, aber die doch erst die wahre wäre. Zu dem einen war ihm die Schauspielerin Rahl gesessen. Sie kam einst zu ihm, um alle sieben Bilder zu sehen, von den zwölf waren damals erst sieben fertig. Als sie davor stand, erschrak Franz, wie schwach, wesenlos und schattenhaft sie selbst schien gegen ihr Bild! Er erinnerte sich noch so deutlich des unheimlichen Eindruckes, den es allen machte, eine lebende sprechende Gestalt vor einer gemalten so verblassen und gleichsam zergehen zu sehen. Und wenn er seitdem den Namen der Schauspielerin hörte, erschien ihm im Geiste immer jenes Bild, nie, so gut er sie kannte, sie selbst, um so viel stärker war es!

Franz hatte seit Jahren von den zwölf Ideen nichts mehr gehört. Er wußte nicht einmal, ob inzwischen die ganze Reihe vollendet war. Er freute sich vor allem darauf, wie die bloße Frage schon den Meister gleich verwandeln würde. Doch schien dieser sie zunächst gar nicht zu verstehen und mußte sich erst besinnen, bevor er mit großer Gleichgültigkeit erwiderte: »Ach so! Ich war lange nicht daheim. Aber sie werden sich ja kaum viel verändert haben.«

»Wieviel sind's jetzt?« fragte Franz.

»Sieben.«

»Noch immer nur die sieben?«

»Um sechs zuviel,« sagte Höfelind. »Wenn schon, denn schon! Es war eine Kateridee.« Als Franz den bewunderten Meister das sagen hörte, kamen ihm seine eigenen Leiden lächerlich vor. Höfelind aber, den Schritt mäßigend, fuhr fort: »Ich brüstete mich, als ich so weit war, die ganze Menschheit auf zwölf Typen zu bringen. Jetzt bin ich so weit, daß mir ein Bild, ein einziges, genug für sie scheint. Denn die gute Menschheit ist noch viel ärmer, ich hatte sie doch sehr überschätzt. Aber wozu dieses eine Bild malen, da ich doch morgen vermutlich so weit sein werde, auch das eine noch übertrieben zu finden? Wenn man an der Menschheit den Verputz wegkratzt, kommt zum Vorschein, daß sie nichts ist als Verputz! Ich fürchte, es langt nicht einmal für das eine Bild, auch da müßte man schon schwindeln. Vielleicht ist sie nur ein Gespenst. Und Gespenster malen? Das heißt: Sie mag das ja reizen, ich höre doch, daß Sie jetzt –?« Er hielt ein, blieb stehen und sah sich nach Franz um, mit einem Blick, der zwischen Hohn und Neid unentschieden blieb.

Bevor aber Franz noch antworten konnte, dem der Ton des Meisters wehe tat, merkte dieser das Mitleid und lehnte den Trost ab: »Nur kein Mißverständnis, lieber Graf! Ich bin nicht klein geworden, und wenn ich es wäre, bloß aus Hochmut. Es gibt Menschen, die jedes Vierteljahr einen neuen Weg suchen. Ich nicht. Denn ich bin schon auf dem richtigen. Ich bin immer schon auf dem richtigen Weg gewesen. Auf dem Weg zu nichts! Falsch sind nur, die zu etwas führen. Man hat die Wahl zwischen Wahrheit und Lüge. Nur darf man sich dann aber über die Wahrheit auch nicht beklagen, wenn sie wahr ist! Auch steht mir ja frei, nachdem ich sie jetzt gefunden habe, noch immer zu sagen: Nein, da dank ich lieber! Und da das Leben doch einmal so niederträchtig lang ist, bleibt mir ja Zeit genug, mich auch einmal drüben umzusehen, auf der anderen Seite, bei den Lügen. Womit ich also dann am Ende vielleicht doch noch glücklich in der Kunst gelandet wäre, freilich anders, als wir damals meinten! Erinnern Sie sich, Graf, was ich euch immer predigte? Es waren schöne Zeiten über dem schummernden Paris, man glaubte noch. Was stand dort an der Wand groß von mir geschrieben? Malen ist Weglassen! Erinnern Sie sich? Darin schien mir das ganze Geheimnis der Kunst enthalten. Malen ist Weglassen! Woraus ihr denn mit deutscher Gründlichkeit schließen mußtet: je mehr weggelassen, desto besser gemalt, und ihr ließt euch das auch erst nicht zweimal sagen. Wir bauten eine ganze Philosophie darauf, denn wirklich besteht ja zuletzt auch alles Erkennen nur im Weglassen. Sehr einfach also: man läßt alles weg, was sich weglassen läßt, und was einem dann noch in der Hand bleibt, ist die Wahrheit. Schade nur, daß einem aber eben – nichts in der Hand bleibt! Ja darauf waren wir freilich nicht gefaßt gewesen! Ich wollte der Natur ihren Schleier entreißen. Ich kann mich auch gar nicht beklagen, es ist mir ja gelungen. Nur zeigte sich da, daß sie ja sonst nichts hat: mit dem Schleier war auch sie selbst weg. Gut, sagte ich mir, du hast dich zwar damit ums Malen gebracht, aber der Mensch muß ja nicht malen, du kannst dir wenigstens sagen, daß die Natur kein Geheimnis mehr vor dir hat, sie hat dir alles verraten, zuletzt auch das, daß sie nichts zu verraten hat, du wolltest ihren Sinn belauschen, sie hat keinen, du wolltest ihr Gesetz erkennen, es zeigt sich, daß sie auch das Gesetz erst borgen muß, nämlich von dir, du schreibst es ihr vor, du findest in ihr überall nur dich, es gibt nichts als dich, ein schmeichelhafteres Ergebnis kannst du dir ja doch auch gar nicht wünschen! Die zwölf Bilder waren auf ein einziges zusammengeschrumpft: auf mein Selbstporträt. Sie können nicht leugnen, Graf, daß das nur konsequent gedacht ist!« Er warf sich ins Moos. Auf einmal begann er wieder: »Mit dem Malen wär's also dann vorbei, und mit dem Erkennen ja auch. Sobald die völlige Sinnlosigkeit der Natur dargetan ist, hört's auf. Es hört genau dort auf, wo es angefangen hat. Denn eben diese völlige Sinnlosigkeit der Natur muß ja den Urmenschen erst erweckt haben. Vor ihr flüchtet er in sich selbst. Erst als er da, in sich, eine Kraft, den verborgenen Sinn der Natur und ihr Gesetz aufzufinden, erwachen zu fühlen meint, faßt er wieder Mut, nähert sich ihr wieder, lernt die Erscheinungen sammeln, ordnen, einteilen, und was sich so willig seinem Geiste zu fügen scheint, glaubt er nicht mehr fürchten zu müssen, hofft er noch einst beherrschen zu können. Die Hoffnung wächst, er wird verwegen, wenn er gar, auf einer Höhe, die schon die höchste scheint, staunend gewahrt, daß sein eigener Geist es ist, von dem die Natur ihr Gesetz erhält. Jetzt kann er Gott absetzen, er braucht ihn nicht mehr, Gott war ja bloß zum Schutze vor der Übermacht der Natur entstanden, aber jetzt regiert der Mensch! Bis herauskommt, daß auch diese Höhe noch nicht die höchste war, der Mensch muß noch einmal empor, und da schwindelt ihn, denn mit Entsetzen erkennt er, daß zwar er es ist, der der Natur das Gesetz gibt, aber nicht nach seiner Willkür, sondern selbst genötigt, zwar ihr Herr, selbst aber wieder einem Unbekannten untertan: er schreibt es ihr vor, aber so, wie er muß, er gebietet ihr, aber nur, indem er selbst gehorcht, er regiert, aber selbst unfrei, sie haben beide denselben unbekannten Feind. Nun wendet sich des Menschen Furcht nach innen: Wer schützt ihn da? Vor der drohenden Natur hat sich der Urmensch verkriechen können, aber in welche Höhlen flüchten wir vor der unsichtbaren Macht in unserer eigenen Brust? Und kein Weg zu dem Unbegreiflichen in uns selber! Keiner? Gott in mir? Da hilft er mir aber ja nichts, denn der in mir erlöst mich nicht von mir, draußen brauch ich ihn, aber da haben wir ihn vertrieben, und so sind wir jetzt alle rettungslos in uns gebannt!« Er sprang auf und sagte hart: »Da Sie nach meinen Bildern fragten, wollt ich Ihnen erklären, warum ich nicht mehr male. Nicht aus Faulheit, einer sehr schätzenswerten, aber mir leider noch versagten Eigenschaft, sondern weil ich mich bis ans Ende durchgemalt habe, wo dann von der Natur wie vom Menschen nichts als ein bloßer Punkt übrigbleibt. Es können also höchstens allenfalls noch meine Hände malen, mir selbst ist es unmöglich geworden. Aber lassen Sie sich dadurch ja nicht stören! Es gibt Menschen, denen das Malen ein Vergnügen macht, damit ist es nicht bloß entschuldigt, es ist berechtigt. Ich habe gegen das Malen gar nichts, nur gegen das Gemalte! Das Kunstwerk ist ein Selbstbetrug. Aber die Kunst in allen Ehren! Nämlich als Verrichtung einer Notdurft. Verstehen Sie, was ich meine? Das Kunstwerk ist ein Exkrement. Aber lassen Sie sich dadurch in Ihrer guten Verdauung nicht stören!« Er trat an Franz heran und fragte kurz: »Sie haben mit Spiritisten verkehrt?«

Franz, auf diese Frage jetzt am wenigsten gefaßt, geriet in Verlegenheit und sagte, halb entschuldigend: »Meine Erfahrungen waren nicht eben die besten, aber ein einzelner Fall beweist ja noch nichts.«

»Mich interessiert auch nicht,« sagte Höfelind, »was Sie dort gefunden, sondern was Sie gesucht haben.«

»Das könnt ich eigentlich kaum sagen. Ich suche so herum –,« Franz hielt ein und wußte nicht weiter. Diese ganze Zeit mit den Spiritisten war ihm entsunken.

»Ja,« sagte Höfelind, nickend. »Was, wär Ihnen gleich, Sie suchen nur zu finden. Ich kenn das! Manche tun noch groß damit, man nennt es die voraussetzungslose Wissenschaft. Und so haben wir eine voraussetzungslose Kunst getrieben. Wie wenn einer eine Maschine baute, man fragt ihn wozu, und er antwortete: Ja das weiß ich nicht, es ist mir auch gleich, das wird sich dann schon zeigen, zunächst will ich sie nur einmal fertig machen! Aber wie denn, bevor er weiß, was sie soll? Mein lieber Graf, gestehen wir doch ein, daß wir uns bloß vorlügen, nichts zu suchen, aus Bequemlichkeit, weil es freilich leichter ist, durch die Welt zu spazieren, auf das gute Glück hin, das uns doch vielleicht einmal zufällig begegnen wird, was wir einfach zu faul sind, zu uns herzuzwingen.«

»Was denn?« fragte Franz. »Was suchen wir also?«

»Wir wissen, daß der Menschheit etwas abhanden gekommen ist, und das suchen wir.«

Franz fragte wieder: »Was ist der Menschheit abhanden gekommen?«

Und zum erstenmal an diesem Tag sah er wieder den listigen Zug in Höfelinds Gesicht, an den er sich so gern erinnerte. Es wurde dann auf einmal ganz jung, der Meister war plötzlich in einen Gassenjungen verwandelt, die Schüler wußten, daß er damit stets das Zeichen zum Ernst gab; er schämte sich, feierlich zu behandeln, was ihm auf dem Herzen lag. Und so sprach er jetzt mit schlauer Miene und tat geheimnisvoll: »Die Uhr, Herr Graf! Die Uhr muß es gewesen sein! Die Uhr ist ihr gestohlen worden! Denn bis auf unsere Zeit wußte die Menschheit wenigstens stets, wieviel's geschlagen hat, wir aber sind uns nicht einmal darüber klar, ob wir uns guten Morgen oder gute Nacht sagen sollen!« Aber schon erlosch sein Lächeln, er wechselte den Ton und sagte kurz: »Nein, sicherlich ist es mit dem Spiritismus auch nichts. So wenig als mit den anderen Propheten. Lauter betrogene Betrüger. Es spukt ja jetzt überall, ein neuer Glaube geht um, oder doch Sehnsucht nach ihm, wir haben einen starken religiösen »Betrieb«, ich fürchte, daß das Angebot schon größer als die Nachfrage ist, auch wird so schnell produziert, daß dabei ja nur Pofel herauskommen kann, die neuen Religionen werden bald im Ausverkauf zu haben sein, wegen Räumung des Geschäfts! Ich habe mir verschiedenes vorlegen lassen, aber meine Nummer war nicht dabei. Die gottbeflissenen Herren mögen es ja nämlich sehr gut meinen, aber sie beißen sich doch alle nur in den eigenen Schwanz, ihr Gott gleicht nur zu sehr dem berühmten Zopf, an dem sich der selige Münchhausen aus dem Sumpfe zog!« Und er schrie: »Zwei Jahre meines Lebens hab ich mit dem neuen Sport vertan! Sie ziehen sich Würmer aus der Nase und wundern sich noch, daß der Paraklet nicht darunter ist! Bei einigem Nachdenken hätt ich selber wissen müssen, daß nur ein Gott, den ich in mir finde, nicht helfen kann, da er mich doch immer nur noch tiefer in mich verstrickt, in mich, dem ich ja gerade entkommen will. Der mich retten soll, muß draußen sein!«

»Den hätten Sie ja ganz nahe,« sagte Franz. »Sie sind doch Katholik!«

»Ja daran hab ich auch schon gedacht,« erwiderte Höfelind kleinlaut. »Nur setzt das eben schon voraus, was ich mir ja so wünsche, dennoch aber nicht vermag: dazu müßte ich ja schon über mich hinaus, müßte zuerst schon mir entkommen sein, dazu müßte ich erst diesen Salto mortale schon getan haben, zu dem eben doch mein Geist offenbar zu kurze Beine hat!« Er hielt einen Augenblick ein, als hätte er schon zuviel gesagt, und fuhr dann fort: »Wir sprechen doch ganz akademisch, nicht wahr? Es wandert sich leichter im Gespräch. Worüber, ist ja schließlich gleich. Und das ewige Fachsimpeln kriegt man über.«

»Auch mich beschäftigen diese Fragen,« sagte Franz. »Ich habe das nur wieder aufgegeben, weil man sich doch nur immer in demselben Kreise dreht.«

»Diese Drehkrankheit ist aber protestantisch,« sagte Höfelind. »Der Katholik tritt aus dem Kreise.«

»Und steht still,« sagte Franz, überlegen lächelnd.

»Und ist er nicht zu beneiden?« fragte Höfelind heftig. »Was wollen wir denn mehr, als endlich wieder stehen können? Gib mir zu stehen und ich werde die Welt bewegen, hat der Weise gesagt. Stillstehen, feststehen, das allein wär es ja doch!« Er besann sich und wie um seine Worte zurückzunehmen oder doch abzuschwächen, fuhr er achselzuckend in einem leichtsinnigen Ton fort: »Ich meine nur, da wir doch einmal auf das Thema geraten sind, das mich übrigens bloß insofern interessiert, als es mit dem Malen zusammenhängt, ich bin ja weder Philosoph noch Theolog – malen möcht ich! Es muß aber anderen auch nicht besser ergangen sein als mir, wenigstens beklagt sich schon Goethe über den Eigensinn des Genius, der ihn jetzt nach Italien, jetzt zu dem optischen Unternehmen treibt, ungerufen erscheint und wieder, gerade wenn er ihm am nötigsten wäre, verschwindet, und Goethe, mit seiner wunderbaren Unbefangenheit, spricht davon, als müßte das so sein! Mir ist, als ich das neulich einmal zufällig las, dadurch erst klar geworden oder ich bekam dadurch erst Mut, mir einzugestehen, daß ich eigentlich an meiner Malerei ja ganz unschuldig bin. Nach genauer Selbstuntersuchung muß ich nämlich sagen, daß mein Anteil an meinen Bildern, mein eigener Beitrag dazu, nicht größer ist, und auch von keiner anderen Qualität, als der Anteil, der Beitrag der Leinwand, des Pinsels und der Farben. Ich bin zu meinen Bildern verwendet worden wie Leinwand, Pinsel, Farben, aber das eine Tätigkeit von mir zu nennen, wäre doch anmaßend. Freilich gilt das nicht bloß von meinen Bildern, sondern von jeder Tat. Für alle seine Taten ist der Mensch nur das Werkzeug. Sie geschehen durch ihn, ja. Doch nur in dem Sinn, daß sie durch ihn hindurch geschehen, die Tat nimmt ihren Weg durch ihn, sie passiert ihn, er ist der Apparat, der Kanal, das Rohr, der Stromleiter, der Telegraphendraht, aber selber darf er gar nicht tätig sein, sein Geräusch stört nur. Ich kann Ihnen an meinen Bildern ganz genau die Stellen zeigen, die von mir sind – es sind die, wo's ausläßt! Also gut, mir kann es ja nur recht sein, wenn ich dafür nicht verantwortlich bin. Was ich aber an Goethe nicht begreife, das ist die Geduld, mit der er sich die Launen des Genius gefallen ließ, vielleicht in dem sicheren Gefühl, sehr alt zu werden. Ich habe dieses Gefühl nicht, ich kann nicht mehr so lange warten, bis es dem Genius wieder gefällig sein wird! Ich habe nichts dagegen, bloß ein Werkzeug in einer unbekannten Hand zu sein, vorausgesetzt, daß sich diese Hand aber ihres Werkzeugs nun auch wirklich bedient – das muß ich verlangen können! Verstehen Sie, was ich meine? Nicht ich male, sondern es malt meine Bilder, irgendein ewig verborgenes Es! Einverstanden, da sich ja gezeigt hat, daß es sie viel besser malt als ich! Einverstanden, aber nur, wenn es mich nicht im Stiche läßt! Es scheint mich aber vergessen zu haben, was nun? Gibt es irgendein Mittel für mich, es an mich zu erinnern, den Genius zu mir herzubeten, herzulocken, herzuzwingen, und welches? Mir ist jedes recht, ich will mich dem Teufel verschreiben, wenn ich nur dafür den Teufel mir verschreiben kann! Sagen Sie nicht, daß ich Himmel und Hölle bemühe, bloß weil mein Talent nicht reicht, denn so lange ein Mensch selber auskommt, hat noch keiner nach Gott gefragt, alle Religion ist ein Versuch, uns Gottes zu bemächtigen. Darauf allein kommt's uns an! Ob Gott lebt oder nicht, ist mir ganz gleich, wenn ich ihn nicht erreichen, nicht benutzen kann. Nur wer irgendwie die Hilfe Gottes einmal gefunden und dann wieder verloren hat, sucht sie fortan. Uns der Hilfe Gottes zu versichern, durch die wir erst unserer eigenen Tat fähig werden, darum wenden wir uns an die Religion. Die katholische ist die einzige, die wenigstens noch weiß, was Religion soll: uns Gott herbeischaffen, wenn wir allein uns nicht erfüllen können. Die anderen, die ihn irgendwo an den Anfang oder irgendwo an das Ende setzen, statt mitten in meine Gegenwart hinein, wo ich ihn brauche, was helfen mir die? Was soll ich gar mit einem, der nur in mir selber wohnt, da ich doch, solang ich von selber weiter kann, keinen nötig habe? Der Mensch fängt erst zu glauben an, wenn er keine Wahl mehr hat als: verzweifeln oder glauben! Vernunftreligion, das Wort widerspricht sich selbst: wer mit der Vernunft auskommt, braucht keine Religion, und wer Religion braucht, bekennt damit schon, daß ihm die Vernunft versagt, was er braucht. Das tiefste Wort über den Glauben bleibt das quia absurdum. Nur was stärker als meine Vernunft ist und mir dies dadurch beweist, daß es mir das Absurde selbst aufzuzwingen vermag, kann mich erretten.«

Franz sagte nachdenklich: »Wenn Ihnen keine Wahl bleibt als zwischen der Verzweiflung und dem Glauben, und zwar nach Ihrer Denkart dem katholischen, dann sind Sie ja in einer beneidenswerten Lage. Den können Sie ja haben!«

»Nein,« sagte Höfelind, »in der allerseltsamsten Lage vielmehr bin ich, weil ich ganz genau weiß, was mir fehlt, weiß, was mir helfen könnte, weiß, wer diese Hilfe hat, und er bietet sie mir an, drängt sie mir fast auf, und ich nehme sie nicht! Vielen Tausenden geht es so, aber das ist ein schlechter Trost. Man meint immer, es sei das Gefühl, auf das die katholische Kirche jetzt wieder so stark wirkt. Nein, es ist der Verstand, der mir und vielen Tausenden sagt, daß nur sie uns helfen kann. Aber dabei bleibt's! Der Verstand führt uns bis an ihre Tür, doch nicht hinein.«

»Ja,« sagte Franz, »wäre die Kirche so klug, wie man ihr nachsagt, so könnte sie jetzt vielleicht mit einem Schlag wieder die Macht haben. So klug ist sie aber doch nicht, der Zeit auch nur einen Schritt entgegenzukommen.«

»Sie könnte nichts Dümmeres tun!« sagte Höfelind heftig. »Es ist ihr höchster Ruhm, nicht mit sich handeln zu lassen, in einer Zeit, wo jeder mit sich handeln läßt! Die Fürsten, statt zu herrschen, bedienen die Menge, die Künstler, statt den Geschmack zu bestimmen, laufen ihm nach, jeder dreht sich nach dem Winde, wer bläst denn noch? jeder tanzt, wer spielt denn noch auf? alle gehorchen, aber wem denn, wenn keiner mehr befiehlt? Die Menschheit verdurstet nach einem Befehl! Gott, Genius, Empfindung, nennen Sie's, wie Sie wollen, gemeint ist immer eine Macht außer uns, über uns, die uns selbst verstummen macht, gemeint ist immer ein Befehl! Aber das sieht uns gleich: wir möchten befohlen sein, aber vorher doch erst um unsere Zustimmung befragt! Nein: ein Befehl, der nicht weh tut, ist keiner, denn eben nur dadurch, daß er weh tut, tut uns der Befehl so wohl!« Er fuhr achselzuckend fort: »Es ist schon mein Los, stets paradox zu scheinen, gerade wenn ich glaube auf den Grund zu kommen, aber nicht ich bin paradox, die Wahrheit ist es.«

»Aber Sie sagten doch selbst,« erwiderte Franz, »daß Sie und mit Ihnen, wie auch ich glaube, Tausende, von der Kirche mächtig angezogen, dennoch nicht hinein können. Ist es klug von ihr, Tausende draußen zu lassen, und von den besten?«

»Ist es klug von mir,« fragte Höfelind, »Bilder zu malen, die nicht auf zehn unter Tausenden wirken? Soll denn alles immer nur an dem Beifall gemessen werden, den es findet, am Erfolg, an der Brauchbarkeit? Können Sie sich denn nichts mehr denken, auch Sie nicht, was seinen Wert in sich selbst hätte? Wenn ich und die Tausende von den besten unfähig sind, in die Kirche zu kommen, so ist das ein Unglück oder, ich weiß es ja nicht, vielleicht auch ein Glück für uns, ihr aber sicherlich höchst gleichgültig, sie hat da zu sein, wie die Sonne zu scheinen hat, und der Wind zu wehen und Feuer zu brennen, damit es scheint und weht und brennt in der Welt, nicht damit wir warm haben oder segeln oder uns unsere Zigarren anzünden.«

»Und doch würden Sie sich Ihre Zigarre gern an ihr anzünden?« sagte Franz.

»Das ist aber dann meine Sache, nicht ihre! Ich will hinein, also muß ich den Schritt tun, nicht sie zu mir. Ja vielleicht ist das die Bedingung, unter der allein sie wirken kann, daß ich erst diesen Schritt getan habe, vielleicht vermag sie, was sie vermag, alles erst, wenn er getan ist, sie kann ihn uns nicht entgegenkommen, weil unser Heil eben darin besteht, daß wir ihn selber tun.«

»Und?« fragte Franz nach einer Weile.

»Und?« wiederholte Höfelind. Er sah auf, sann nach und fuhr achselzuckend fort: »Ich kann nicht. Ein Blinder wird sich vielleicht nach Schilderungen eine Vorstellung von Farben, ein Tauber eine Vorstellung von Tönen machen, aber damit noch nicht sehen oder hören. Dazwischen liegt eben noch etwas. Genau so geht es mir mit dem Glauben. Ich stelle mir ihn vor, vielleicht richtiger als mancher, der ihn hat, ich erkenne seine Notwendigkeit, ich wünsche mir ihn, ich will ihn und – bleibe blind und taub. Es muß noch etwas dazwischen liegen. Ein großer Schmerz? Ein großes Glück? Ich weiß nicht. Es wird halt die Gnade sein, die mir fehlt.«

»Wenn Sie nun den Domherrn malen werden,« sagte Franz spöttisch, »da sitzen Sie ja dann an der Quelle!«

»Das ist eigentlich wahr!« erwiderte Höfelind lachend. »Ich hatte gar nicht daran gedacht! Mich interessiert an dem Gesicht mehr, wie durch Verfettung ein Antinous zum Antonius werden kann, nämlich den Antonius der Kleopatra mein ich! Der Kopf wirkt so antik, daß mir nie eingefallen wäre, da Beziehungen zum heiligen Geist zu vermuten.«

»Er steht doch aber in dem Ruf,« sagte Franz.

»Das ist ja das Unheimliche am Katholizismus,« entgegnete Höfelind, »daß diese größte geistige Macht zugleich auch eine politische ist, oder sich mit einer politischen verknüpft, oder eigentlich nicht verknüpft, sondern eine schiebt sich über die andere und auch wieder unter die andere, in die andere – vermischen sie sich oder vermengen sie sich bloß? das weiß man nie, man weiß deshalb auch eigentlich nie, mit welcher man es zu tun hat. Schon Bismarck, mit seinem Blick für den wahren Sinn der Erscheinungen, hat erkannt, daß eine Macht unüberwindlich ist, die, geschlagen, nichts davon spürt, weil ihr aus dem Geiste ja gleich wieder ein neuer Leib wächst. Als politisches Phänomen ist die Kirche so stark, daß sie sich zur Not auch einmal ohne Geist durch ein Jahrhundert bringt, und wieder als geistiges Phänomen von einer solchen Unerschöpflichkeit, daß ihr auch der politische Tod selbst nichts anhaben kann. Geistigen Angriffen setzt sie den Widerstand ihrer realen Macht entgegen, und alle Waffen der Welt können ihren Geist nicht treffen. Gottes Wahrheit ist in ihr so mit Menschenlist durchsetzt, daß sie sich auf alle Fälle sicher weiß, aber freilich auch auf alle Fälle wieder jeder Frage die Antwort schuldig bleibt: man fragt nach einem Heiligen und findet einen Diplomaten, man will diplomatisch mit ihr verhandeln und sie versinkt ins Gebet! Nein, ich schätze den Domherrn sehr, er ist klug, kennt die Welt, verachtet die Menschen zu sehr, um enttäuscht werden zu können, und achtet sie doch gerade noch genug, um sie benutzen zu können, und um Rat in Welthändeln, wenn ich meinen Ehrgeiz befriedigen, mich aus einer Klemme ziehen oder mein Geld gut anlegen will, wüßt ich mir keinen besseren, an mir aber muß ein Wunder geschehen, alles andere besorg ich mir selbst, das Wunder aber – nein, er würde mich auslachen, glaub ich! Durch Verstand ist mir nicht zu helfen, den hab ich selbst, und zuviel. Durch Verstand bin ich nicht zu heilen, weil ich ja gerade vom Verstande geheilt werden soll. Der Domherr und ich würden uns nur immer ausgezeichnet miteinander unterhalten, ja ich vermute, daß ich noch eher ihn belehren kann als er mich. Er ist kein Mensch, aus dem der Blitz fährt. Wahrscheinlich muß unsere Zeit erst in Sehnsucht vergehen, bis aus uns allen so viel Sehnsucht rings aufgehäuft ist, daß sie sich entladen wird. Und ist dann der Verstand vom Blitz getroffen – aber davon hab ich ja nichts mehr, für mich wird es zu spät sein, dann geschehen Wunder, aber nicht mehr an mir, ich brate dann schon längst in der tiefsten Hölle, vielleicht mit dem Domherrn zusammen! Das werden aber ganz andere Menschen sein, die dann kommen, Menschen, wie ich einen brauchen würde, Menschen von einer ganz anderen Art als der Domherr, der sicher noch einmal ein vortrefflicher Erzbischof und ein glänzender Kardinal sein wird, Menschen der Einfalt, des tiefen Schweigens, einer fruchtbaren Wildheit, taumelnd unter ihrer eigenen Wucht, irre vor Wahrheit, gelähmt durch ihre rasende Kraft, dunkle, schwere, sprachlose Menschen, dumpf des Augenblicks in Demut gewärtig, wo das lebendige Wort in ihr erstorbenes Herz fahren wird, Menschen eher wie der alte Trottel, den Sie da bei sich haben – schon als ich das letztemal hier war, fiel mir der Kerl auf! Ich an Ihrer Stelle würde lieber ihn malen als das Golatschengesicht Ihrer übrigens ja scharmanten Schwägerin!«

»Ich hab's versucht,« sagte Franz, »es scheint ihm aber kein Vergnügen zu machen.«

»Das glaub ich, daß er sich wehrt! Er wird wissen warum. Er sieht toll aus!« Franz schüttelte nachdenklich den Kopf: »Er sieht nur so aus. Die Maske ist gut, aber nichts dahinter. Er hält nicht, was er verspricht. Er ist ein gutmütiger, argloser, einfältiger Mensch, der nicht weiß, wie er zu diesem unheimlichen Gesicht kommt.«

»Wer weiß denn, wie er zu seinem Gesicht kommt?« sagte Höfelind lachend. »Und da die bedeutenden Menschen unserer Zeit wie Leimsieder aussehen, ist es nur billig, wenn einmal ein Dorftrottel einem Hidalgo gleicht! Die Natur ist von Kräften gekommen, es reicht nicht mehr, einen ganzen Menschen auszustatten, sie muß sparen: wenn sie sich innen übernimmt, zieht sie's draußen ab, und wenn ihr die Visage gelingt, ist fürs Gehirn nichts mehr übrig. Wirtschaft, Horatio! Gerade darum sind doch aber wir Maler da, wir sollen ihr ja nachhelfen! Und übrigens glaub ich das gar nicht, das von der Maske. Die Masken, die wir tragen, sind noch das einzige Wahre an uns. Nur unser Gesicht lügt nicht. Wenn's nicht stimmt, ist immer der innere Mensch der Betrüger, nicht der äußere. Sagen Sie das aber nicht weiter! Sie verderben uns sonst das Geschäft, denn wer hätte dann noch den Mut, sich malen zu lassen? Der Alte ist ganz schlau, wenn er sich vor Ihnen versteckt.«

Sie traten aus dem Wald, die Arnsburg lag vor ihnen, die Schlote der Himmelbrauerei rauchten. Höfelind blieb stehen und hatte wieder jenen arglistigen Zug in seinen schnellen Augen, als er sagte: »Sie denken nun wohl, ich hätt Ihnen mein ganzes Herz ausgeschüttet? Ich bin selbst erstaunt, was da alles herauskam, es müssen rein mehrere meiner Herzen gewesen sein! Na, Sie kennen mich doch, nicht? Sie waren lange genug bei mir, hoffentlich wissen Sie da noch, daß meine Worte nichts mit mir zu tun haben. Ich bin unzurechnungsfähig, sobald ich nicht male. Sie würden auch über einen Prediger nicht nach seinen Bildern urteilen, also über mich nicht nach meinen Predigten, bitte! Es mag wahr sein, was ich sage, oder falsch, jedenfalls werd ich bei der nächsten Gelegenheit wieder das Gegenteil sagen, es ist ja höchst gleichgültig, was gesagt wird, ändern tut's doch nichts, das ist noch das Glück! Es war sehr lieb von Ihnen, mich so freundlich angehört zu haben, danke schön!« Er zog artig den Hut und verließ Franz, wie wenn sie einander eben auf der Gasse begegnet und nur einen Augenblick stehen geblieben wären, um sich höflich zu begrüßen und nach ihrem Befinden zu fragen. Die Eile, mit der er sich, ohne nur auch einmal zurückzublicken, entfernte, war eigentlich komisch. Franz stand, ihm nachsehend, und empfand es fast als eine Art Trost, daß auch dieser bewunderte, beneidete, vom Glück verfolgte Mann des reinsten Willens, der höchsten Kraft und eines unerschütterlichen Vertrauens zu sich selbst am Ende nichts wußte, nichts! Er kennt sich schließlich auch nicht aus, dachte Franz, fast schadenfroh. Hatte der Mensch wirklich nur die Wahl, in der Enge zu stocken oder im Weiten zu zerrinnen? Gab es wirklich nur ein Behagen im Augenblick? Trog die Stimme, die doch niemals in uns verstummen will, ewig nach Wahrheit verlangend, nach einer Antwort, nach einem Sinn? Sie zum Schweigen zu bringen wäre dann das einzige, uns einzuschläfern, wie die meisten es ja schon instinktiv tun, und doch gibt das aber keiner zu, doch geben alle dann wieder vor anzustreben, was sie verleugnen und noch mit demselben Atemzug doch wieder anzuerkennen durch eine geheime Macht genötigt sind! Die Vernunft trügt, das Gewissen führt irre, hör nicht auf sie, sondern laß dich von deinen Trieben treiben, aber was hilft mir der Rat, da mich doch auch die Vernunft, auch das Gewissen treibt? Solange die beiden nicht kastriert sind, ist uns nicht zu helfen, es wäre denn, wir lernten uns über uns hinweglügen, denn sonst haben wir, ob wir uns von den Sinnen oder von der Vernunft oder vom Gewissen steuern lassen, doch immer wieder Gegenwind aus uns selbst!

Aus seiner Lehrzeit bei Höfelind, in Paris und später in Sankt Veit, erinnerte sich Franz, daß der Meister oft wochenlang unsichtbar blieb. Wenn er dann endlich wieder unter den Schülern erschien und gar, wenn er gesprächig wurde, war ihnen das immer ein Zeichen, daß er einen leeren Tag hatte. In Zeiten der Fülle, der Bewegung, der Kraft schwieg er, und je beredter er wurde, desto verlassener war er. Wenn er selbst von sich sagte, malen könne er eigentlich nur in seiner Abwesenheit, so schien sein wunderliches Betragen dies zu bestätigen. Sobald er zu sich kam und wieder anwesend war, stand er vor seinem eigenen Werke fassungslos, es entweder anstaunend, mit einer naiven Bewunderung, die den sonst so klugen Mann fast lächerlich werden ließ, oder auch geradezu kindisch darüber spottend. Dann war er wieder wochenlang der große Lehrer, mit allen Problemen seiner Kunst, ja des Lebens vertraut, aber in solchen Zeiten der Besinnung selbst ganz unfähig zu malen. Es schienen wirklich zwei Menschen in ihm abzuwechseln, der schaffende verschwand, wenn sich der betrachtende meldete. Er konnte nur malen in einer tiefen inneren Dämmerung, sobald er aber wach und bei Bewußtsein war, geriet er in Aufregung, der Glanz seines Verstandes flackerte, es war die Klarheit von Angstzuständen, in denen auch alle Sinne schärfer, die Gedanken von einer ungeheuren Schnelligkeit sind, aber bei gelähmtem Willen. Das Merkwürdige war für Franz, daß Höfelind malend, obwohl er da den Eindruck eines Nachtwandlers machte, in seinem natürlichen Zustand, wachend aber, so ruhig, klug beherrscht und spöttisch überlegen er sich dann gab, immer in einer Art Wundfieber schien. Seinen Schülern galt es denn auch für ausgemacht, daß alle Kunst aus dem Unbewußten kommt. Dies hatte Franz ja schließlich auch bestimmt, das Malen wieder aufzugeben, nachdem er einige Jahre das Unbewußte vergeblich erwartet; so geduldig er war, es regte sich nichts. Je mehr er aber an Kenntnis des Lebens zunahm, desto mehr wurde er allmählich geneigt zu vermuten, daß nicht bloß der Künstler, sondern jeder Mensch, nur wenn sich das Unbewußte regt, in seinem natürlichen Zustande, wenn er aber seiner wachen Überlegung folgt, in einer Art Scheinexistenz ist. Er wehrte sich gegen diesen Gedanken: es war ihm schon schwer genug geworden, aus Ehrlichkeit das Malen aufzugeben, aber man konnte doch nicht gut von ihm verlangen, auch noch das Leben aufzugeben. Er war allmählich immer bedenklicher gegen unsere Bildung geworden. Alles was wir Bildung nennen, des Geistes oder des Willens, zielt darauf, uns zu lehren, daß wir über uns wachen und uns selbst bestimmen können. Unsere Wünsche sollen wir durch unser Urteil, das Gefühl durch die Vernunft ordnen, die Leidenschaften lenken, jede Regung, bevor wir uns ihr überlassen, erst prüfen lernen. Uns zu Herren unseres Schicksals, ja zu Baumeistern unseres eigenen Lebens zu machen, ist der Sinn aller sittlichen Bildung. An wem sie gelingt, der ist gesichert vor dem Unbewußten. Sie kann nur gelingen auf Kosten des Unbewußten. Ihre ganze Kraft beruht auf der Schwäche des Unbewußten. In einer Welt dieser Bildung muß der Künstler von vornherein verdächtig sein, und dämonische Menschen sind darin unstatthaft. Sozusagen aus Selbsterhaltungstrieb hatte Franz, an dem ja die Bildung gelungen war, eine Zeitlang, nachdem er das Malen aufgegeben, sich wirklich einzureden versucht, daß der Künstler und jede dämonische Menschenart nur sozusagen Atavismen sind, die die Menschheit bald ganz überwunden haben wird. Er war doch aber ein zu rechtschaffen denkender Mensch, um sich länger in diesem Heu zu wälzen; es roch auch zu sehr nach dem alten Aufkläricht, den die braven Deutschen immer noch von Geschlecht zu Geschlecht wieder aufwärmten. Nein, aus der eigenen Mittelmäßigkeit das Weltgesetz und jede Begabung zur Sünde wider die Natur zu machen, darauf ließ er sich nicht ein, obwohl er wahrscheinlich dabei selbst im Vorteil gewesen wäre, denn er konnte sich ja kaum mehr verhehlen, daß er unfähig blieb, aus dem Unbewußten zu schöpfen. Sein Abenteuer mit den Spiritisten war der letzte Versuch gewesen. Es gehörte für ihn eine Art von Heroismus dazu, sich dennoch wieder zur Anerkennung einer Welt durchzuringen, die nun ihm einmal verschlossen blieb. Daß er dazu die Kraft hatte, war ihm noch ein gewisser Trost, so hob er sich doch von dem grauenhaften Bildungsphilister ab, der in seinem Unvermögen noch schwelgt. Und vielleicht war den Menschen unserer Zeit auferlegt, zunächst nur erst endlich wieder Nachricht zu geben von jenem verschütteten Brunnen. Vielleicht sollte das jetzt lebende Geschlecht nur zunächst einmal erkunden, wo der Schatz vergraben liegt, den glücklichere Söhne, mutigere Enkel dann einst heben mögen. So machte er sich eine Entsagung zurecht, in der er sich immer noch überlegen fühlte, er entbehrte mit den anderen, die aber nicht einmal wußten, was sie entbehrten. Jetzt aber war er aus dieser angenehm durchwärmten Ergebenheit durch Höfelind aufgeschreckt worden! Denn was meinte denn Höfelind als die Möglichkeit, jene Quellen springen zu lassen auf unseren Ruf? Herzubitten, herzulocken, herzunötigen, hatte er gesagt. Wenn das möglich wäre! Wenn wir uns nicht mehr bescheiden müßten bei der Anerkennung jener unsichtbaren Welt, wenn wir sie beschwören, wenn wir die Mütter heraufholen könnten! Gab man jene Welt einmal zu, gab man zu, daß sie auf uns wirken kann, gab man also doch einmal eine Verbindung zwischen ihr und uns zu, warum soll es bloß ihr möglich sein, sich mit uns zu verbinden, auf uns zu wirken, und nicht auch uns, auf sie zu wirken, warum soll das Unbewußte zwar in uns emporsteigen können, nicht aber wir untertauchen ins Unbewußte? Und Höfelind hatte ja recht: dies war die Meinung jedes lebendigen Glaubens! Nicht Erklärung der Welt verlangt der Mensch, nicht nach Wahrheit blickt er aus, sondern um Hilfe. Und diese Sicherheit, mit der Höfelind von solcher Hilfe sprach, war das wieder nur eine seiner paradoxen Launen? Mit dieser Sicherheit mußte ein Mensch Wunder wirken können, selbst wenn er sie sich bloß eingebildet hätte! Aber wer hatte denn heute die Kraft, sie sich auch nur einzubilden? Die Frommen? Anton war fromm, Gabsch doch auch, der Domherr gar schon von Amts wegen, und doch konnte sich Franz nicht denken, daß sie wirklich glaubten, mit der anderen Welt verbunden zu sein, auf jeden Anruf. Er war entschlossen, von Höfelind noch mehr darüber zu hören.

Am anderen Morgen war Höfelind fort, er ließ einen Zettel an Franz zurück: »Ich nehme Reißaus. Sie können froh sein, es ist gar nicht nötig, daß ich Sie noch ganz verrückt mache. Mir fiel nachts ein, daß ich niemals in Indien war. Es wird auch wieder eine Enttäuschung sein, aber man hat sie dann wenigstens hinter sich. Hoffentlich kann ich auch Tibet gleich mitnehmen. Dann können wir ja weiter reden. Oder auch nicht. Es kommt auf dasselbe hinaus. Ihnen ist ja geradeso wenig zu helfen wie Ihrem schönstens grüßenden alten Höfelind.«


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