Hermann Bahr
Himmelfahrt
Hermann Bahr

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Siebentes Kapitel

Franz hielt es doch nicht aus. Er hatte sich gelobt, der schönen Unbekannten nicht mehr aufzulauern, aber das schloß doch nicht aus, ihr einmal zufällig zu begegnen, und er hatte ja nicht gelobt, einem solchen Zufall nicht etwas nachzuhelfen; er konnte sich immerhin um die Zeit der Dämmerung vor dem Dom ergehen, er war doch nicht verpflichtet, den ganzen Bereich zu meiden. Der Zufall zögerte denn auch nicht. Franz stand, die Statuen der Heiligen betrachtend, an den Stufen zum Dom, als sie rasch aus dem dunklen Tore trat und, ihn erblickend, nur die Wahl hatte, wieder umzukehren oder sich ihm zu zeigen. Einen Augenblick schien sie zu zögern, überwand es aber und ging nun fast auf ihn zu, ohne ihn anzusehen, doch auch ohne wegzusehen, über ihn hin ins Leere blickend, mit einem fest zugeschlossenen Gesicht, an dem nur ein leises Zucken der hochmütigen Lippen eine Regung von Unwillen oder doch Ungeduld verriet, so daß er nicht stehen bleiben konnte, sondern ihr lieber entgegenging, die Stufen hinauf, als ob er eintreten wollte. Sie war größer, als er sie sich gedacht hatte, von schlanker, sehr feiner, zierlicher Gestalt und schien mehr zu schweben als aufzutreten. Von dem schmalen, in die Länge gezogenen Gesicht, das hart und starr war, sah er eigentlich nur die scharf vorspringende Nase. Irgend etwas Fremdländisches war an ihr, er wußte nicht gleich, was ihm auffiel, und erst als sie schon vorüber war, bemerkte er das tiefe Schwarz ihrer nicht großen, glühenden Augen im Widerspruch mit dem sanften aschblonden Haar, das sie sehr brav mädchenhaft geflochten trug. Er trat nicht ein, sondern kehrte um und folgte ihr, sie entfernte sich sehr rasch, er verfolgte sie, sie sah sich nicht um, doch glaubte er zu fühlen, daß sie sich verfolgt fühlte, sie wäre vielleicht gern davongelaufen, hielt aber aus Stolz an sich, und es schien eher, daß sie jetzt trotzig langsamer ging, und auch er schämte sich, ihr nachzurennen, obwohl es ja kein Mensch gesehen hätte; die beiden waren auf dem großen weiten dunklen Platze ganz allein. Sie bog in ein enges Gäßchen und verschwand in ein finsteres altes Haus, eines jener hohen starren Häuser, die sozusagen kein Gesicht haben, sondern nur Wand sind; man ahnt ihre Tiefe nicht, eine ganze Welt kann dahinter sein, vielleicht aber auch nichts. Franz, ihr folgend, mußte seine Augen erst an das Dunkel gewöhnen. Er stand unentschlossen. Und wenn auch schließlich jemand kam, nach wem sollte er fragen? Der gewölbte Gang, in dem er stand, ließ in einen Hof sehen. Franz hoffte da vielleicht eine Magd zu finden, mit der er unauffällig ein Gespräch anfangen könnte. Er trat in den Hof, der an drei Seiten auch wieder von solchen hohen starren unerforschlichen Wänden eingeschlossen war, an der vierten aber in einen wilden, wie verwunschenen, jetzt gar winterlich traurigen Garten ging. Und hinter den kahlen Bäumen fand Franz ein einstöckiges Häuschen versteckt, das auch etwas verwahrlost schien, aber in seiner klaren Gliederung, die drei runden Fenster in zierlichen Kartuschen zwischen feinen Pilastern, sich immer noch ein festlich heiteres Wesen bewahrt hatte. Wenn die paar Obstbäume blühten, mußte das sehr lieb sein in seiner artig spielenden Pracht, mit den bösen starren Wänden drüben und einem Stückl blauen Himmel droben. Zögernd trat Franz ein, fand gegenüber ein anderes Tor offen und stand da plötzlich am Ufer des dunklen Flusses. Er sah zu den drei kleinen Fenstern empor; es schimmerte hinter weißen Gardinen. Hier zu wohnen würde gut zu ihr passen. Er kam sich aber schließlich doch lächerlich vor, da wie ein verliebter Student zu stehen. Und niemand weit und breit, den er hätte fragen können. Eben schlug's jetzt von einer Kirche nach der anderen sechs, hier aber schlief schon alles tief. Und so oft er in den nächsten Tagen um das verwunschene Schlößchen schlich, immer schlief es. Und vielleicht wohnte sie ja auch gar nicht hier, sondern doch drüben, zum engen Gäßchen hin.

Bei der nächsten Begegnung sagte Anton: »Du führst dich schön auf! No ich gönn dir's ja, nur könntest du dich ein anderes Mal lieber doch erst erkundigen, wen du mit deinen Huldigungen beehrst!« Und er las dem Bruder einen Brief vor, worin mit Humor der unfreiwillige Hausarrest geschildert wurde, zu dem die Schreiberin genötigt sei, aus Furcht vor Aufmerksamkeiten, die vielleicht in der großen Welt draußen üblich, hierzulande aber meistens doch nur Ladenmädchen oder Kellnerinnen erwiesen würden, einem sicherlich höchst ehrenwerten Stande, dem aber die Schreiberin dieses nun einmal leider nicht angehöre, was seinem weitgereisten Bruder gefälligst erklären zu wollen Anton hiermit freundlichst gebeten wurde. Die Handschrift, groß, fest und rund, hatte einen reinen und entschiedenen Zug. Franz sah nach dem Namen: Klara Bucek. Anton erzählte, sie sei die Witwe eines vor zwei Jahren bei einem Flug, der einen von ihm erfundenen Eindecker erproben sollte, verunglückten Hauptmanns und lebe seitdem mit ihrer alten Mutter und einem Töchterchen in recht bescheidenen, ja fast dürftigen Verhältnissen, und ganz einsam, obwohl es ihr an Beziehungen ja nicht fehle, als einer geborenen Baronin Gigern, der Enkelin des einst allmächtigen Finanzministers, der Nichte des Senatspräsidenten, dessen jüngerer Bruder, ihr Vater, freilich mit der Familie zerfallen und von dem eigensinnigen Alten enterbt worden, weil er gegen das väterliche Verbot eine damals um ihrer Schönheit und ihrer Kunst willen sehr umworbene Tänzerin von übrigens tadellosem Rufe geheiratet hatte, eine Venezianerin, mit der er dann die kleine Erbschaft seiner Mutter abenteuerlich auf Löwenjagden und Forschungsreisen durchgebracht, um sie, jung verstorben, mit ihrem Kinde fast im Elend zurückzulassen. Seit dem Todessturz des Hauptmanns, dem bei seiner ungemeinen technischen Begabung eine große Zukunft gewiß gewesen wäre, sind sie jetzt auf die karge Pension und einen Zuschuß angewiesen, den ihnen der alte Bucek, ein Zahnarzt in irgendeinem kleinen böhmischen Nest, schickt, und lieber, als sich bemitleiden zu lassen, halten sie sich von allen fern. »Ich muß gestehen,« sagte Anton, »daß ich das sehr bewundere, mir imponiert die stolze kleine Frau, die mit dem Leben abgeschlossen hat und der ihre tiefe Frömmigkeit alles ersetzen muß. Sonst wär's mir auch gar nicht eingefallen, dir dreinzureden. Denn nicht wahr, du wirst mich doch nicht für zimperlich halten? Im Gegenteil: Wenn du hier irgendeine Bandelei hast, hätt ich die größte Freud, weil du dann desto sicherer hier bleibst. Aber erstens möcht ich nicht, daß du dich umsonst abzappelst, und ich fürcht, da wird nicht viel anzubandeln sein. Hauptsächlich aber tut mir leid, daß sie das mißverstehen wird, die kleine Frau ist empfindlich, sie hat einen wunderschönen Hochmut, und es tät mir sehr leid um sie – sie weiß ja nicht, daß du das alles ja gar nicht weißt, aber jetzt weißt du's und kannst natürlich machen, was du willst, du wirst schon das Richtige treffen! Also nimm mir's nur nicht übel, und – es gibt ja schöne Frauen genug bei uns, in allen Farben, mir ist gar nicht bang, da wäre zum Beispiel . . .!« Er hatte Lust, gleich mit einer ganzen Liste dem Bruder aufzuwarten, der ihn aber unterbrach, ungeduldig, wie er es denn am besten gut machen könnte, ob er ihr schreiben sollte, ob er sie besuchen dürfte. Sie beschlossen, daß ihr Anton antworten und den Besuch des Bruders ankündigen würde.

Sie wohnte wirklich in dem verwunschenen Schlößchen, öffnete selbst und ließ es gar nicht dazu kommen, daß sich Franz erst entschuldigte, sondern sie waren gleich im heitersten Gespräch, das sie mit Sicherheit anmutig zu steuern verstand, allerdings für sein Gefühl etwas künstlich; es schien ihm sozusagen ein bloßes Lippengespräch, an dem sie selbst nicht teilnahm, ihr hartes blasses Gesicht blieb unbewegt, ihre heißen Augen waren nicht dabei, eine Puppe sprach mit ihm. Er hätte sich gern entschuldigt, doch sie vermied das geschickt. Er kam nicht dazu, viel zu sagen, plötzlich aber schwieg auch sie und sah auf, nicht gerade nach der Uhr hin, aber so, daß Franz unwillkürlich hinsah. Die Frist eines ersten Besuches war vorbei. Er empfahl sich. Sie sagte: »Schönen Dank, daß Sie kamen! Und nun ist Ihre Neugierde befriedigt und Sie lassen mich künftig auf der Gasse hoffentlich ungestört.«

»Unter einer Bedingung,« erwiderte Franz.

Zwischen ihren Augen erschien eine liebe kleine Falte, als sie fragte: »Nämlich?«

»Daß ich wiederkommen darf,« antwortete Franz.

»Wozu?« fragte sie hochmütig.

»Wozu?« wiederholte Franz achselzuckend. »Ja! Wozu verkehren denn Menschen miteinander.«

»Wir haben keinen Verkehr, meine Mutter und ich, mit niemand,« sagte sie, »und wir wünschen uns keinen!«

Er war einen Augenblick verlegen, begann aber dann wieder: »Ich fürchte, gnädige Frau, Sie mißverstehen mich. Sie haben mein etwas törichtes Benehmen in der Kirche mißverstanden, und Sie deuten auch meinen Besuch wieder falsch. Ich bin Ihnen nicht, verzeihen Sie den Ausdruck: nachgestiegen, um ein Abenteuer zu haben, und ich bin auch wieder nicht gekommen, bloß um der Form zu genügen. Sie ziehen mich an, mir selbst unerklärlich stark, ich hätte den Wunsch, mich Ihnen nähern zu dürfen.«

Sie schüttelte den Kopf: »Dazu wäre nun aber notwendig, daß auch ich diesen Wunsch hätte.«

Er sagte bittend: »Wenn Sie mich erst ein bißchen kennen lernen, wird's schon gehen.«

»Ich wünsche keine Menschen mehr kennen zu lernen,« sagte sie.

»Sind sie Ihnen so widerwärtig?« fragte er.

»Sie sind mir höchst gleichgültig,« antwortete sie.

Er verneigte sich und schien sich schon entfernen zu wollen, fragte dann aber noch: »Auch wenn es sich um einen Menschen handelt, dem Sie helfen könnten?«

Sie richtete zum erstenmal ihre schwarzen Augen auf ihn. »Ihnen? Ich?«

»Ja,« sagte Franz leise. »Vielleicht ist es kein Zufall, daß wir uns in einer Kirche trafen. Ich bin seit Jahren in keiner mehr gewesen. Erst hier wieder, ich wüßte selbst nicht zu sagen, warum. Eines Tages zog es mich in eine hinein. Auch das wird wohl kein Zufall gewesen sein. Und dann kam ich wieder, kam öfter, ging die Kirchen der Stadt ab. Weiß nicht, warum, aber es tat mir gut, ich gewöhnte mich daran. Ich will Ihnen nichts vormachen, und auch mir nicht. Ich kann nicht sagen, daß ich fromm bin, sondern nur, daß ich es gern wäre. Ich beneide die Leute, die's sind. Vielleicht ist nur im Glauben das zu finden, was ich mein ganzes Leben lang gesucht habe. Aber wie gesagt, ich bin noch nicht so weit, noch lange nicht. Da sah ich Sie! Das wird mir immer unvergeßlich sein. Und es war auch wieder Neid, vor allem Neid, was ich empfand, denn so ganz von sich weg sein, von sich erlöst, wie Sie mir damals schienen, ja, das wär's! Und so bin ich Ihnen nach, halb aus Neid und halb in einem dumpfen Gefühl, Ihren Weg zu gehen, auf den rechten Weg zu kommen. Mir ist das freilich selbst erst später nach und nach bewußt geworden.«

Sie wendete sich von ihm ab. Er sagte leise: »Ich hatte nicht vor, Sie zu belauschen in Ihrer Andacht. Bitte, glauben Sie mir das! Es war für mich wie eine Erscheinung, ich erschrak fast, als Sie sich bewegten, aufstanden und ein lebendiger Mensch waren. Und dann kam mir der Gedanke, Sie könnten mich vielleicht retten. Aber viel später erst, und eigentlich war's auch gar kein fester Gedanke, sondern eher ein ungewisses Gefühl, ein kleines Licht in meiner Finsternis. Und retten ist auch wohl nicht das richtige Wort, es sagt zu viel und auch doch wieder nicht genug. Ich müßte halt ein anderer Mensch werden, von Grund aus. Und durch Sie oder in Ihrer Nähe, mit Ihrer Hilfe könnt ich das vielleicht!«

Er wartete lange. Sie schwieg. Er verbeugte sich und sagte förmlich: »Ich bin ungebührlich lange geblieben, und für einen ersten Besuch war es ein etwas ungewöhnliches Gespräch, aber da es ja auch der letzte sein soll, müssen Sie schon entschuldigen, wenn ich den Wunsch hatte, Ihnen halbwegs in guter Erinnerung zu bleiben.«

Sie sagte hart: »Sie sind aber an der falschen Adresse, Graf Flayn! Ich darf mir nicht anmaßen, Ihnen zu helfen. Sie sind auf dem rechten Wege, aber nicht ich kann Sie führen.« Er wollte noch einmal antworten, da wurde sie fast heftig: »Ich möchte nicht an Ihren Worten zweifeln müssen, und Sie wollen ja doch gut in meiner Erinnerung bleiben. Wenn das alles Ihr Ernst war, dann macht es mich sehr glücklich, aber dann müssen Sie selbst ja wissen, an wen Sie sich zu wenden haben. Oder Sie hätten eine Komödie mit mir gespielt, was ich durchaus nicht glauben will, Graf Flayn!« Und sie sagte noch: »Grüßen Sie mir Ihre Schwägerin und Ihren Bruder!«

 

Auf dem Heimweg dachte Franz darüber nach, ob er eigentlich gelogen hätte. Das wäre ihm jetzt unerträglich gewesen. Er hatte doch aber auch nicht gelogen. Es war ihm nur das alles freilich früher noch niemals so bewußt gewesen, er hatte, während er mit ihr sprach, selbst sein eigenes Gefühl erst erkannt, in dem er die ganze Zeit, wie in einem tiefen Traum, ihr nachgegangen war. Auf Abenteuer stand sein Sinn niemals, und Anton hatte ja recht, er hätte das doch auch wirklich bequemer haben können, er hatte bloß die Hand auszustrecken. Und war sie so schön? Sie war eigentlich schön in ihrer Art, aber fast eher ein schöner Knabe. Er konnte sich des Bildes nicht entsinnen, an das er durch sie dunkel erinnert wurde: Tobias, von einem Engel geleitet; er mußte es irgendwo in Venedig einmal gesehen haben. Diesem Engel glich sie. Ihre Züge waren zu hart, das Gesicht zu starr, um schön zu sein. Ihre Schönheit lag gewissermaßen hinter dem Gesicht, das nur einen schwachen Schein davon durchließ, freilich noch immer genug, um das ganze Zimmer hell zu machen. Der innere Mensch mußte wunderschön sein, das spürte man so stark durch, daß es fast auch zum äußeren Reize wurde. Nein, sie war sicherlich keine Frau, in die man sich verliebte. Er konnte sich denken, sie leidenschaftlich zu lieben, wenn er nämlich überhaupt jemals einer Leidenschaft fähig gewesen wäre, was er sich nun aber wieder gar nicht denken konnte; er hatte sich's früher zuweilen gewünscht, aber eigentlich niemals zugetraut, und in seinen Jahren holt man das wohl kaum mehr nach. Nein, was ihn zu ihr zog, war nicht Lust noch Laune noch Leidenschaft. Er hatte sie nicht angelogen. Es war der tiefe Wunsch nach einem Menschen, dem er sich anvertrauen könnte, der Mitleid mit ihm hätte, der selbst einmal aus Not und Verzweiflung emporgefunden hat und so den Weg kennt. Er hatte nicht gelogen, er hatte sich nur vielleicht sozusagen ein bißchen stilisiert, ganz unwissentlich. Das geschah ihm zuweilen. Neulich ja auch auf dem Gang mit dem Domherrn. Er sprach dann zu seiner eigenen Verwunderung aus, was offenbar schon längst in ihm da war, aber freilich ihm selbst noch unbewußt. Es ging heimlich in ihm vor und blieb ihm unbekannt, bis irgendein Gespräch es ihm unversehens entlockte. Er hatte bisher nur bemerkt, daß es ihn jetzt seit einiger Zeit in Kirchen zog. Er dachte aber darüber weiter nicht nach. Nachdenken half ihm auch nicht, dadurch fand er nichts. Es wuchs im stillen, um dann bei irgendeiner Gelegenheit, gerade wenn er am wenigsten darauf gefaßt war, laut zu werden! Er war dann, während er sprach, selbst auf sich neugierig, er hörte sich selbst staunend zu. Das war immer schon so gewesen. Er wird sich jetzt wohl kaum mehr ändern. Und eigentlich war er dann stets sehr froh, wenn er so wieder einmal sein inneres Programm erfuhr. Nein, er glaubte nicht verliebt zu sein, sondern diese Frau war offenbar nur die Gestalt seiner eigenen Stimmung. Er fand an ihr, was ihn schon, bevor er sie noch kannte, mit so seltsamer Gewalt sanft unwiderstehlich ins Dunkel geheimnisvoller Kirchen trieb. Er wußte keinen Grund dafür, er konnte sich's nicht erklären, es tat ihm nur wohl. Alles war still, und er hatte nur den Wunsch, selber auch so still zu sein. Am ehesten ließ es sich noch mit dem Gefühl in einem tiefen Wald vergleichen: Rings ist der Wald, und überall geht es noch tiefer hinein und man sitzt, weiß nichts, will nichts, und eigentlich geradeso saß er doch auch vor einer Stunde noch in ihrem Zimmer, sie sprach, er hörte kaum, was sie sprach, er hörte nur ihre flirrende Stimme, draußen schien der Tag, unten floß der Fluß, er aber saß und das alles war sehr schön, es tat ihm halt wohl. Er versuchte jetzt, sich des Zimmers zu erinnern, er hatte sich aber nichts gemerkt als ein gutes altes Bild einer verlarvten Dame, die sich von einer Alten wahrsagen ließ; es war vielleicht ein Pietro Longhi. Die Biedermeiermöbel waren alle dicht an die Wand gerückt, die Mitte frei, so daß das Zimmer vollgeräumt und doch geräumig, traulich und zugleich feierlich schien, was gut zu dem schlichten und doch auch wieder irgendwie künstlichen Wesen dieser in ihrer Anmut so strengen Frau paßte. Sie war schwarz gekleidet, halb Dame, halb Nonne. So einfach sie sich trug, sie hatte doch gar nichts Bürgerliches. Es roch in dem Zimmer seltsam, er erinnerte sich eines dalmatinischen Klosters, in dem ihm alte Spitzen, Meßgewänder und Stickereien gezeigt worden waren, seit vielen hundert Jahren aufbewahrt, schon fast gelb und einen eigenen Atem aushauchend, von einer gewissermaßen abgestandenen Süßigkeit. So lag auch auf diesem Zimmer etwas Verblichenes. Jetzt fielen ihm auch erst noch die beiden großen silbernen Lorbeerkränze mit ihren verschossenen bunten Schleifen ein, die sich die Frau Mama vor Jahren ertanzt haben mochte. Für das verwunschene Schlößchen hätte man sich das alles gar nicht besser ausdenken können. Und bei jedem Schritt schien das ganze Zimmer leise zu zittern. Und das alles zusammen hatte ihm halt sehr wohl getan. Jetzt ging ihm auch jene Kunst des schönen Seins erst auf. Er hatte sich, als ihm neulich der Domherr davon sprach, eigentlich dabei nichts Rechtes denken können. Jetzt fing er es zu verstehen an. In diesem Zimmer, wo er nicht den Mut gehabt hätte, auch nur einen Sessel umzustellen, konnte er sich denken, daß hier schön dazusitzen, mit geneigtem Haupt und gesunkenen Händen, während draußen der Tag schien und unten der Fluß floß, wirklich vielleicht ein Leben auszufüllen genügte. Er hätte sich das gewünscht. Ob es sich aber lernen ließ? Und eigentlich tat ihm nicht einmal leid, daß ihm verboten war, wiederzukommen. Er hatte ja die Erinnerung. Wenn er die Augen schloß, saß er doch immer gleich wieder bei ihr.

 

Daheim kam ihm der Verwalter aufgeregt entgegen. Das Bild seiner Schwägerin, das zu vollenden er auf einmal die Lust verloren hatte, war besudelt, ein Stück mit einem Messer abgekratzt worden. Der Verwalter, von der Magd gerufen, hatte gleich den Blasl verdächtigt, der auch gar nicht leugnete. Anton wußte noch nichts. Franz befahl, es ihm auch nicht zu melden. Der Schaden war nicht groß, er hätte das Bild doch auch jedenfalls noch ändern müssen. Er ließ den Alten holen. Er war neugierig. Er fragte den Alten in einem gleichgültigen, eher heiteren Ton: »Was hat Ihnen denn das arme Bild getan? Schön war's ja grad nicht, aber das ist doch noch kein Grund! Also?« Der Alte blieb stumm, seinen erloschenen Augen konnte man nicht einmal ansehen, ob er überhaupt verstand. Franz wurde verlegen. Anton hätte den einfach angebrüllt und, wenn er nicht antwortete, geprügelt. Franz fühlte, daß auch er nicht übel Lust dazu hatte, das verdroß ihn, er überwand sich, wußte nun aber nicht weiter, er konnte das doch schließlich nicht hingehen lassen, auch war er ja neugierig, er konnte sich's ja gar nicht erklären, er fragte wieder, der schweigende Trotz des starren Alten erbitterte ihn so, daß er sich nur gerade noch so weit beherrschen konnte, ihn fortzuschicken, er spürte, daß er sonst im nächsten Augenblick auf ihn losgeschlagen hätte. Er geriet immer mehr in Wut, und eigentlich am meisten darüber, daß er in Wut war. Warum denn? An dem Bilde lag ihm nichts. Daß es zerstört war, ließ ihn gleichgültig, zunächst war er nur neugierig gewesen, was den Alten dazu getrieben haben konnte. Bloß daß der Alte schwieg, aus Trotz, aus Angst oder vielleicht auch nur, weil es in irgendeinem plötzlichen dumpfen stupiden Zorn oder Wahn geschehen war, den sein Opfer selbst nicht verstand, brachte ihn auf. Also doch eigentlich nur, daß seinem Befehl nicht gehorcht wurde. Sein Herrengefühl also? Seltsam! Er glaubte sich davon ganz frei. War da doch noch ein Rest übrig? Und er wußte nicht, ob er sich schämen oder sich darüber freuen sollte.

Der Verwalter sagte: »Ich weiß nicht, was mit dem Kerl jetzt wieder ist. Seit einiger Zeit hat's ihn gar wieder arg. In der Nacht liegt er oft stundenlang auf den Knien, und wir hören ihn heulen. Und grad in solchen Zeiten packt's ihn dann oft, alles Beten nutzt ihm offenbar nix, er hat keine Ruh, bis er was zusammhaut. Nachher geht's dann wieder eine Zeit, da laßt er sich alles ruhig gefallen und sagt noch danke, wenn er geprügelt wird. Es ist grad, als wär ihm nicht gut, wenn er nicht von Zeit zu Zeit ordentlich Prügel kriegt, dann geht's wieder, und er arbeitet für drei. Weiß der Teufel, was das mit ihm ist! Wie's Quartalsäufer gibt, so hat er seine Zeiten, wo ihn die Wut packt!«

Abends kam der blasse feine Mönch, den Franz damals beim Domherrn gesehen hatte. Er schien erst etwas verlegen, entschuldigte sich demütig, den Herrn Grafen zu stören, und bat dann dringend für den Alten, der seine böse Tat gewiß von Herzen bereue, ja vielleicht gar nicht daran schuld oder doch damit keiner bösen Meinung oder aber sich seines eigenen Willens jedenfalls nicht oder doch nur dunkel bewußt sei. Der junge Franziskaner sprach sehr schnell, nahm in jedem Satze wieder halb zurück, was er im vorigen gesagt hatte, schien noch mehr sagen zu wollen, zugleich aber in Angst zu sein, er hätte schon zu viel gesagt. Franz beruhigte ihn und versprach, es seinem Bruder zu verschweigen, wollte dafür aber wissen, wie sich denn der Mönch ein so lächerliches, sinnloses Attentat auf ein unschuldiges Bild erklärte. Der antwortete zögernd, schien durch die Frage verwirrt, ja fast bestürzt, und Franz hatte den Eindruck, er wisse mehr, als er sagen dürfe, er fürchte vielleicht, irgendein Geheimnis zu verraten oder lügen zu müssen, um es nicht zu verraten. Wie diese Furcht, der heftige Wunsch, den Alten zu schützen, und eine fast leidenschaftliche, doch scheue Verehrung für diesen wunderlichen Mann in dem blassen reinen durchscheinenden Gesicht des erregten frommen Knaben durcheinander spielten, das fand Franz so wunderschön, daß der Maler in ihm stärker als seine Neugierde war, er vergaß den Alten fast, um sich nur immer der unbeschreiblichen Zartheit dieser so stillen, andächtigen, offenen und doch ängstlichen, bekümmerten, ratlosen Miene zu freuen. Im Eifer dachte der Mönch oft sichtlich gar nicht mehr daran, daß er einen Zuhörer hatte, schrak zusammen, wenn er sich darauf besann, und schwieg plötzlich, mit einem unsicheren Blick auf den Grafen, wie um sich erst zu vergewissern, daß er nichts Unrechtes gesagt hätte. Eine solche Pause benutzte Franz, um ihn zu fragen, ob er sich denn für den Alten interessiere. »Sehr,« antwortete der junge Mönch rasch, um aber gleich, als ob er es abschwächen wollte, hinzuzufügen: »Ich interessiere mich ja für alle Menschen sehr.«

»Nun ja,« sagte Franz lächelnd, »das sollen wir freilich.«

»Nein,« widersprach der Mönch mit artiger Entschiedenheit, »nicht das meine ich. Wir sollen alle Menschen lieben, aber ich will noch mehr, ich möchte förmlich in jeden Menschen hinein, das ist so furchtbar interessant, wie es in den Menschen drin aussieht!«

»Interessant schon,« sagte Franz, »aber meistens nicht sehr schön.«

»O doch!« beteuerte der Mönch. Er sah fragend auf, sah Franz verwundert an und fuhr kleinlaut fort: »Ich meine doch! Ich weiß es ja nicht, ich bin noch jung, ich kenne die Menschen vielleicht noch zu wenig, das ist wahr, aber bisher waren alle noch so schön, so wunderschön, man bemerkt es nur nicht immer gleich, die meisten können es nicht zeigen, man muß sie sich erst gut anschauen, drum sag ich ja, daß ich in jeden hinein möcht, denn drin ist es in jedem schön, ganz gewiß!« Er schwieg, besann sich und sagte dann, in Angst, ob er nicht doch vielleicht zu viel behauptet hätte: »Ich glaub schon. Es kann aber ja sein, daß es noch andere Menschen gibt. Die muß ich halt erst kennen lernen.« Seiner Stimme wurde bang.

»Aber beim Blasl drin ist's also schön?« fragte Franz mit leisem Spott.

»Ja den kenn ich, da weiß ich's genau,« rief der arglose Knabe, hielt aber gleich wieder ein, als ob er Angst hätte, dem Grafen zu mißfallen, und sagte: »Freilich war das nicht recht von ihm, abscheulich war's, das mit dem Bild! Aber nicht wahr, das ist doch etwas anderes, das hat ja damit nichts zu tun, ein Mensch kann schlecht sein und doch kann es in ihm schön sein, das heißt, ich meine, daß oft, was ein Mensch tut, mehr bloß über ihn kommt und er halt selbst dagegen nur nicht stark genug ist, dann aber, wenn das wieder vorüber ist, wird es gleich wieder schön in ihm, und eigentlich ist es also schön in ihm, wenn das auch oft verdeckt wird, wie doch der Himmel immer blau bleibt, nur sieht man's nicht immer, weil oft Wolken vor sind, da sind aber die Wolken schuld, und wie die Wolken weg sind, ist der Himmel wieder da, genau so denk ich mir das bei den Menschen, ich weiß es aber ja nicht und es kann vielleicht auch falsch sein, ich weiß noch sehr wenig, und schon oft war das, was ich mir denk, ganz falsch, also bitte, glauben Sie mir lieber nicht, bestimmt kann ich es ja nicht sagen, und es wär mir sehr leid, wenn sich zeigen sollte, daß ich falsch bin!« Er hatte sich heiß geredet, immer schneller und schneller, immer in Angst um das rechte Wort. Jetzt sah er Franz mit seinem lieben Lächeln an und bat: »Verzeihen Sie mir, Herr Graf!«

»Ich danke Ihnen,« sagte Franz. »Ich denke, Sie haben recht.«

»Ich habe gewiß nicht recht,« sagte der Mönch eifrig. »O, da fehlt's noch weit bei mir! Ich muß noch viel lernen!«

»Sie meinen es jedenfalls gut,« sagte Franz. Der Mönch dachte erst eine Zeit nach, bevor er langsam antwortete, jedes Wort überlegend: »Ich möchte gern es gut meinen. Und auch das genügt aber ja noch nicht, man muß auch gut tun! Denn den guten Willen hätte ja jeder. Mich tröstet nur, daß ich ja noch jung bin. Ich darf halt die Geduld mit mir nicht verlieren. Mir fehlt noch viel, hauptsächlich geistig. Ich habe nichts gelernt. Ich möchte gern mehr wissen, womöglich alles. Das muß schön sein!«

»Aber gefährlich,« sagte Franz.

»Glauben Sie, Herr Graf?« fragte der Mönch. »Ich glaube nicht. Man darf sich nur vom Wissen nicht stören lassen. Manche lassen sich stören, denen wird's gefährlich, das weiß ich schon. Aber ich würde mich nicht stören lassen, ich glaub sicher nicht. Ich würde nie vergessen, daß das Wissen doch nur auf der einen Seite gilt, hinüber reicht es nicht. Natürlich wer das vergißt, für den ist es besser, wenn er lieber gleich unwissend bleibt. Zum richtigen Wissen gehört doch auch, zu wissen, daß alles, was der Mensch weiß, doch nur vorderhand gilt.«

»Was soll mir aber ein Wissen,« fragte Franz, »das doch wieder aufhört?« Der Mönch antwortete lachend: »Da könnt ich auch fragen, was mir mein Leben soll, denn das hört ja auch gleich wieder auf! Das werden wir alles schon einmal erfahren. Wir müssen halt warten. Und eigentlich ist das ja auch sehr schön. Auch herüben schon. Und wenn man denkt, daß es dann noch schöner sein wird, besser kann man sich's doch eigentlich gar nicht wünschen!« Er sah plötzlich auf und sagte eilig: »Jetzt muß ich aber fort. Es ist schon die höchste Zeit.«

»Wohin denn?« fragte Franz. Listig sah der junge Mönch ihn an und sagte dann, indem er eine Flöte behutsam aus seiner Kutte zog: »Ich hab im Himmelbräu ein paar Freunde, denen ich einmal in der Woche, wenn Feierabend ist, was vorblasen muß. Es ist ihr einziges Vergnügen. Eigentlich gehört sich's ja nicht, es paßt sich nicht recht für mich, nicht wahr? Aber der Herr Graf Anton hat mir ausgewirkt, daß ich die Erlaubnis bekommen hab. Der Herr Graf Anton sagt, daß man jedem Menschen ein kleines Laster schon gönnen muß. Und es ist ja weiter nichts Schlechtes, nicht wahr?« Er bat noch einmal für den Alten, dankte demütig und glitt aus dem Zimmer.

 

Am nächsten Tag kam abends ein Bote mit einem Brief. Franz erkannte gleich die runde, feste, reine Schrift Klaras. Er freute sich so, daß er zögerte, den Brief zu lesen. Daß sie ihm schrieb, war ihm ein solches Glück, daß ihn alles, was immer sie schrieb, enttäuschen mußte, es wäre denn, sie hätte sich besonnen, das Verbot aufzuheben, aber das wagte er ja nicht zu hoffen, es sah ihr gar nicht gleich, und wenn er sie doch aber nicht wiedersehen durfte, dann war ihm selbst ihr Brief kein Trost! Eben in diesem Augenblick empfand er an seiner Freude, seinem Schrecken, seiner Angst erst, was ihm die kleine Frau war. Der Gedanke, ihr so nahe und doch von ihr verbannt zu sein, war ihm einfach unerträglich. Lieber abreisen, und wieder in die weite Welt!

Der Brief war schon gestern geschrieben, gleich nach seinem Besuch, dann aber nicht abgeschickt, heute früh fortgesetzt, nachmittag noch mit einer langen Nachschrift versehen und schließlich eilends bestellt worden. Franz mußte ihn zweimal lesen und war dann erst noch ungewiß, ob er wiederkommen durfte. Der erste Teil enthielt eine Art Abbitte. Sie habe ihm unrecht getan, bedauere das und danke ihm, daß er sich die Mühe genommen, sie darüber aufzuklären. Er müsse nur doch auch verstehen, daß sein eigenes Betragen Anlaß zu jener falschen Deutung gegeben, die ihr jetzt von Herzen leid sei, und er dürfe doch ja nicht ihre Weigerung, ihn wiederzusehen, mißverstehen und etwa gar dahin auslegen, daß darin noch ein Rest ihres Mißtrauens gegen ihn sei. Sie habe nach dem Tode ihres Mannes den festen Entschluß, ja fast ein Gelöbnis völliger Einsamkeit getan. Hätte sie die Mutter und das Kind nicht, sie wäre längst im Kloster. Es sei durchaus keine Laune von ihr, auch nicht etwa bloß die Rücksicht auf ihre äußeren Verhältnisse, nicht irgend ein falscher Stolz oder eine falsche Scham, wie man in der Stadt von ihr glaube. Sie bat ihn fast flehentlich, das nicht von ihr zu denken, und beklagte sich, es ihm nicht erklären zu können, weil sie da doch ihr ganzes Leben erzählen müßte. Nicht notgedrungen habe sie sich der Einsamkeit ergeben, oder jedenfalls nicht aus äußerer Not. Und nichts könne sie von einer Wahl abbringen, die zu treffen ihr wahrlich nicht leicht gewesen, leider selbst der Wunsch nicht, ihm zu helfen. Er dürfe sie doch aber auch nicht überschätzen, was vermöge sie denn für ihn? Beim besten Willen nichts, was nicht auch andere könnten, und wirksamer als ein selbst so schwaches, hilfloses, unberatenes Geschöpf wie sie, der es hart genug geworden, sich selbst halbwegs in Ordnung zu bringen, und die, selbst wenn sie wollte, ja gar kein Recht mehr hätte, über ihr Leben zu verfügen.

Hier hatte sie plötzlich eingehalten, vielleicht aus Angst, schon zu viel gesagt zu haben. Sie bemühte sich auch gleich, es wieder abzuschwächen. Sie machte sich ein wenig über sich selbst lustig und klagte sich einer törichten Eitelkeit an, so tragisch zu nehmen, was er sich ja hoffentlich längst aus dem Sinn geschlagen hat. Sie lege nur aber doch Wert darauf, nicht in einem falschen Lichte zu stehen. Irgendeinem Menschen, wer es auch sei, eine Bitte abzuschlagen, sei ganz gegen ihre Natur, und deshalb habe sie sich streng geprüft, ob sie sich nicht vielleicht doch übereilt hätte, im ersten Schrecken, denn das könne sie ja nicht leugnen, die Begegnung mit ihm hätte sie verwirrt, sein unerwartetes Bekenntnis und gar seine Bitte geradezu fast erschreckt. Nach reiflicher Überlegung müsse sie doch aber sagen, daß es ungebührlich von ihr wäre, ihm helfen zu wollen. Nichts Schöneres könne sie sich wünschen, aber ein solches Glück dürfe sie sich nicht anmaßen. Es sei gewiß das höchste Glück auf Erden, einem, der das Rechte sucht, die Hand zu reichen. Doch müsse das eine starke Hand sein, und sie habe nicht die Vermessenheit, sich diese Kraft zuzutrauen. Sie würde freveln und hätte Furcht vor der Strafe, deren Opfer ja dann vielleicht auch er werden könnte, als der wenn auch schuldlose Mitschuldige. Sie wisse doch aus eigener Erfahrung, wie in solchen Augenblicken einer inneren Wandlung oft ein einziges Wort alles entscheiden und, zu spät oder zu früh, zu laut oder nicht stark genug ausgesprochen, alles gefährden, ja wieder vernichten, Trost in Verzweiflung, Zuversicht wieder in Ungewißheit umkehren und den Geretteten, der sich schon erlöst glaubt, wieder in die Finsternis stürzen kann. Der beste Wille genüge da nicht, es fordere den reifsten Verstand, eine tiefe Kenntnis des ach so verderbten und arglistigen menschlichen Herzens und ein Vertrauen auf die eigene Sicherheit, was alles ihr doch fehle, ja was man von ihr doch eigentlich auch gar nicht verlangen könne. Kaum eine Woche vergehe, wo sie nicht selbst noch Rat und Trost in ihrem Schuldgefühl, in ihrer Schwäche brauche. Welche Vermessenheit von ihr, die selbst kaum erst recht gehen gelernt, gleich andere führen zu wollen!

Hier schien sich die Schreiberin wieder besonnen zu haben. Franz hatte den Eindruck, daß sie niemals dazu kam, das auszusprechen, was sie eigentlich sagen wollte, und daß sie das, was sie sagte, dann gleich wieder eigentlich lieber nicht gesagt hätte, doch aber auch wieder fast froh war, daß es jetzt ausgesprochen war. Und sie schien immer Angst zu haben, zu viel zu sagen, zugleich aber auch wieder Angst, noch immer nicht genug gesagt zu haben. Merkwürdig war an dem Brief auch die strenge Schönheit der gelassenen, gleichmäßigen, stolzen Schrift, die nirgends Unruhe oder Eile verriet und der sichtlichen Verwirrung oder doch Unordnung der Gedanken und Gefühle widersprach. Der Brief schien in höchster Aufregung von unbewegter Hand geschrieben. Hätte Franz nicht ihre Hand gekannt, er hätte vermutet, es sei diktiert oder von einem anderen gleichgültig abgeschrieben worden.

Es folgte dann eine Liste von Priestern, unter denen sich Franz einen Berater auswählen sollte. Manchen kannte er vom Sehen, und er bewunderte die kleine Frau, wie gut sie jeden zu schildern wußte, ganz unbefangen, nicht immer gerade schmeichelhaft, bisweilen mit einem leisen Spott von seltsamer Art, weil nämlich darin eine naive Lust an den kleinen menschlichen Lächerlichkeiten sich von einer tiefen Ehrfurcht und der reinsten Demut doch nicht ganz bändigen ließ. Auch der Domherr war auf der Liste, von dem sie mit besonderer Herzlichkeit sprach; ja Franz glaubte durchzuhören, daß sie diesem ihn am liebsten anvertraut hätte, so sehr sie das auszusprechen geflissentlich vermied, ja ihn eher fast vor ihm zu warnen schien. Ein Beiwort, das sie dem Domherrn gab, fiel Franz auf. Sie nannte ihn den allgerechten. Zweimal nannte sie ihn so, an ganz verschiedenen Stellen. Und jedesmal paßte das Wort eigentlich nicht recht, es kam gerade hier unerwartet und sagte gerade hier nicht viel. Sie schien nur gewohnt, in Gedanken unwillkürlich seinen Namen stets damit zu verbinden. Franz dachte lange darüber nach. Ihm wäre nie eingefallen, gerade dieses Wort auf den Domherrn anzuwenden. Aber er mußte sich auch gestehen, daß gerade dieses Wort ihm eigentlich überhaupt nichts sagte; er konnte sich dabei nichts denken. Dagegen fand er vortrefflich, daß sie, nachdem sie die Tugenden des, wie sie behauptete, arg verkannten Priesters der Reihe nach aufgezählt und seine hohe Geisteskraft, seine Herzensgüte, seine Macht über die Seelen mit Leidenschaft gerühmt, doch am Ende hinzuzufügen nicht unterließ, er verberge diese Tugenden gern und zeige sie nur, wenn es ihm dafür steht.

So weit hatte sie, wie Franz aus der Nachschrift sah, noch gestern geschrieben, tief in die Nacht hinein, und es war ihm ein lieber Gedanke, sie sich dabei vorzustellen, an dem schmalen Tischchen in dem stillen entlegenen Raum, um sie die schlafende Stadt, unten der Fluß. Und indem er sie sich auf dem feinen zierlichen Sesselchen dachte, fiel ihm zu fragen ein, wie sie dabei denn wohl gekleidet gewesen sein mochte. Er konnte sie sich in einem Nachtgewande nicht denken. Er versuchte, worin Maler ja eine gewisse Übung haben, in Gedanken sie zu entkleiden. Es gelang ihm nicht. Er entdeckte, daß er eine seltsame Vorstellung von ihr hatte, als ob gleichsam unter ihrem Gewand gleich die Seele sein müßte. Sie schien ihm, wie sie da jetzt in seiner Erinnerung erschien, gewissermaßen entleibt. Seltsam war das. Und er erschrak, als er gewahrte, daß gerade das ihn sinnlich erregte. Die Vorstellung, ihre Seele zu besitzen, an sich zu drücken, zu genießen, gewann eine betörende, wild lockende Gewalt über ihn, der er sich schwelgend überließ, in einer glühenden, von Grauen und Ekel geschüttelten Trunkenheit, dabei ganz wach, ganz kalt, fiebernd und frierend zugleich, sich selber zusehend, als ob gleichsam bloß sein Blut vergiftet, sein Verstand aber verschont wäre; er riß das Fenster auf, die Nacht war kalt und sternenhell, er fand sich wieder. Es fiel ihm ein, daß er als Knabe zuweilen im Stift, wenn er abends noch über einer Schularbeit saß, auch so plötzlich aufgesprungen war, in einer verlangenden Angst vor dem heißen Dunst, der ihm in züngelndem Spuk aus dem braven alten Livius oder Xenophon entgegenschlug.

Er beeilte sich die Nachschrift zu lesen. Sie sagte nur dasselbe noch einmal. Klara fühle sich unwürdig und unvermögend, ihm anders zu helfen als durch ihr Gebet. Beten wolle sie für ihn und auf Gott vertrauen, daß er es erhöre. Mehr könne sie nicht, sie könne nicht. Sie habe sich gewissenhaft geprüft, um Erleuchtung gefleht und immer wieder dieselbe Stimme gehört, sie dürfe nicht. Und sie bat ihn, beschwor ihn, um seiner selbst willen und ein wenig auch um ihretwillen, damit sie sich keine Vorwürfe machen müsse und doch wieder zur Ruhe komme, ja gewiß gleich einen der frommen Männer aufzusuchen die den Geist, die Macht und das Amt hätten, ihn auf den ewigen Weg zu bringen. Ihn da zu wissen und seines Heils sicher sein zu dürfen, wünsche sie sich von ganzem Herzen, keine größere Freude könne sie sich denken, und sie werde dann die Begegnung mit ihm segnen, die zuerst für sie so kränkend, verwirrend und ängstigend gewesen, aber durch die Gnade Gottes ihr zum reinsten Glück geworden. Und vielleicht könnte dann auch ja später einmal eine Zeit kommen, wo sie sich wiedersehen dürften. Sie wisse das nicht, sie wisse nur, daß es jetzt nicht sein könne. Sie bat ihn wieder, es sich jetzt nicht zu wünschen, und bat ihn immer wieder, ihr doch zu glauben, daß es keine Laune von ihr, daß es gar nicht ihr Wunsch, daß es wirklich nur für ihn besser sei, sie nicht zu sehen, außer wenn er ihr zufällig begegne, was sich ja vielleicht nicht immer werde vermeiden lassen, was er auch gar nicht ängstlich vermeiden müsse, so sei das ja doch auch gar nicht gemeint, er dürfe sie nur nicht aufsuchen, dies sei für ihn besser, und vielleicht auch für sie, jedenfalls aber jetzt, wenigstens die erste Zeit, er werde das selbst sehen, wenn er nur ihre Bitte erfülle und sich bemühe, es wenigstens einmal zu versuchen, denn mißlinge der Versuch, so sei sie ja noch immer da, sie fliehe ja nicht vor ihm, er wisse ja jetzt, wo sie wohne, sie werde sich immer freuen, ihn wiederzusehen, wenn es nämlich sein müsse, besser aber sei für ihn gewiß, sie nicht zu sehen, wenigstens in der ersten Zeit nicht, aber er könne ihr ja schreiben.

 

Wieder und wieder las Franz den Brief, als ob er ihn hätte zerlesen können, um dahinter zu sehen, durchs Dickicht der umspinnenden Reden. Er las und las, sie sprach und sprach, aber nicht, was er las, und nicht, was sie sprach, war's, was ihn beseligte, sondern ihre Furcht um ihn, vor ihm, für ihn und was der Brief gestand, indem er es verschwieg, und wovon der ganze Brief lichterloh brannte! Sie liebte ihn. Er sagte sich nur immer wieder vor: Sie liebt dich. Er war so vielen Frauen begegnet, hatte sich lieben lassen, hatte selbst zu lieben vermeint und schämte sich jetzt, diesen edlen Namen so weggeworfen zu haben, an bloße Hautempfindungen. Jetzt zum erstenmal empfand er die Seligkeit einer selbstlosen Liebe. Alle hatten doch auch in dem Geliebten immer wieder nur sich selbst gesucht, in dieser war jeder eigene Wunsch erstickt. Sie wollte nichts für sich, sie wollte nur sein Heil. So stark war ihre Liebe, daß sie sich in jedem Wort verriet, und doch ahnte sie selbst sie nicht. Sie hatte keinen Gedanken mehr für sich, nur an ihn. Die Liebe war ihm bisher ein erwiderter Selbstbetrug auf Gegenseitigkeit gewesen: man suchte sein Vergnügen und log sich dabei vor, man suche das des anderen. Ihn ekelte jetzt vor allen Frauen, ihn ekelte vor sich selbst. Er war ein anderer geworden. Er war wieder jung. Er hatte seinen Glauben an die Menschheit wieder, und an das Leben, an ein Glück, an einen tief verborgenen, alles erfüllenden, unschuldigen Sinn der Schöpfung. Er hätte niederknien mögen und die Hände falten, um den gnädigen Göttern zu danken, die ihn das noch hatten erleben lassen! In diesem Augenblick aber kam er wieder zu sich und mußte lachen. War das nicht merkwürdig, daß er in seiner Seligkeit den Göttern dankte, statt Gott? Und stand es einem solchen Heiden, dem unverbesserlichen Heiden, der er blieb, überhaupt an, die Hände zu falten, statt lieber einen lächelnden Eros mit Rosen zu kränzen? Aber war es der alle beglückenden, alles verzeihenden, alles vereinenden Gottheit in ihrer ewigen Höhe nicht gleich, unter welchem Namen, in welchem Zeichen, mit welchem Opfer sie der beseligt, entsündigt Dankende pries? Er hätte jetzt in seiner überströmenden Empfindung alle Götter aller Völker aus allen Zeiten auf dem ganzen Erdenrund anrufen mögen, um ihnen in allen Sprachen zu danken und ihnen ein Freudenopfer von allen Geschöpfen, Gestirnen, Gewässern, Gesteinen, Getieren, Gewächsen und Gewürzen auf und in und unter der Erde darzubringen, und seinem vermessenen Glücksgefühl wäre das alles noch viel zu wenig gewesen! Und in seinem Übermut sprach er da plötzlich laut vor sich hin: »Die arme Klara!« Da schrak er auf, vor seiner eigenen Stimme. Was war mit ihm? Es mußte spät geworden sein. Da lag noch ihr Brief. Wenn sie wüßte! Er schämte sich. Wenn sie sein unreines Verlangen, seine wilde Lust, die gierigen Flammen in seinem bösen Herzen erblickt hätte! Und er fragte sich: Wer bin ich denn eigentlich also? Bin ich der, dem sie diesen Brief schrieb, arglos seinen Worten vertrauend? Oder bin ich der sinnliche Schwärmer, der in der Erwartung von Liebeslust schwelgt? Log ich, als ich ihr gestern meine himmlische Sehnsucht gestand? Oder lüg ich jetzt? Oder bin ich so durch und durch verlogen, daß beides wahr ist und ich selber zuletzt nicht mehr weiß, wer ich bin, wohin ich will, was aus mir werden soll? Und bin ich im Gefühle meiner Schwäche schon so feig, daß ich, wenn mich eine Frau reizt, mich, statt sie mir ehrlich zu nehmen, in ihr Herz stehlen muß, mit Listen und Lügen, unter dem scheinheiligen Vorwand, mich belehren zu wollen? Und wenn der Begierde schon jeder Betrug für erlaubt gilt, entschuldigt das, daß ich ja nicht bloß sie, sondern in einemfort auch mich selber anlüge? Wenn ich nämlich überhaupt lüge! Was ich aber eben ja selbst nicht weiß! Ich habe doch weder sie noch mich anlügen wollen. Ich meine vielmehr die ganze Zeit auf dem Wege zu mir zu sein, zu meinem wahren Ich. Das will ich finden und finde mich – in einem Liebesabenteuer. Umgekehrt wie der in der Bibel, der auszog, seines Vaters Eselinnen zu suchen und ein Königreich fand! Da hielt er ein und prallte vor sich selbst zurück, denn er bemerkte, daß er in seiner blinden, ziellosen Wut daran war, auch sie nicht zu schonen; es fehlte nicht viel und er hätte sie verdächtigt, der Falschheit, eines listigen Spieles mit ihm, der widerlichsten Koketterie, aus deren frömmelnd niedergeschlagenen Augen feige Lüsternheit schielt! Er wußte nun wirklich nicht mehr, ob sie die reinste Frau, der er jemals begegnet, oder vielleicht eine verschmitzte kleine Heuchlerin war, der allerdings die Maske demütiger Entsagung allerliebst stand. Es ging ihm ja mit dieser ganzen klerikalen Gesellschaft so, alle blieben ihm doch immer eigentlich verdächtig! War der Domherr der weiseste, gerechteste, gütigste Mensch oder nur ein sehr kluger, kalt berechnender, ehrgeiziger Geschäftsmann, schlauer als sieben polnische Juden? Und sogar die Bettler, in der dumpfen Andacht ihrer stier betenden Augen so rührend, schienen ihm, wenn sie dann an der Kirchentür grinsend und speichelnd vor ihm buckelten und wedelten, auf einmal hämische Halunken. Alle diese Menschen hatten etwas Künstliches, sie hielten etwas versteckt, sie waren jedenfalls auch noch anders, den einen Menschen trugen sie zur Schau, sie hatten aber insgeheim irgendwo noch einen. Sie gingen, saßen oder standen wie jemand, der sich in einemfort beobachtet glaubt und sich aber nicht erwischen lassen will, am komischsten war das an den kleinen Ministranten, wenn sie heimlich in der Nase bohrten, aber dazu dreinblickten wie Engel Murillos. Und eigentlich hatte selbst sein Bruder Anton davon etwas, der ja geistliche Gespräche lieber vermied, aber wenn er sich doch einmal darauf einließ, in all seiner Treuherzigkeit und Geradheit auch auf einmal zurückhaltend oder doch irgendwie befangen und unsicher wurde, sein lustiges offenes Kindergesicht verschwand. Warum ließen diese Frommen Gott ihr natürliches Gesicht niemals sehen? Denn Anton war doch unfähig und auch viel zu stolz, sich vor irgendeinem Menschen zu verstellen; aber vor Gott gab er sich diese Mühe. Jedenfalls eine merkwürdige Art, Ehrfurcht zu beweisen! Aber so viel war Franz schon klar, daß man das ja nicht Heuchelei nennen konnte. Wie wenn jemand von Natur Locken hat, sie sich aber dann vom Friseur noch brennen läßt, so ungefähr war das vielleicht. Eigentlich lügt der ja nicht, er hilft bloß noch ein wenig nach. So logen vielleicht auch diese Menschen nicht, sie genügten sich bloß noch nicht, sie wollten, was sie waren, noch mehr sein, oder wollten vielleicht auch, was sie bloß in ihren guten Stunden waren, zu jeder Stunde sein können, so halfen sie sich ein wenig nach. Man konnte geradeso gut sagen, daß sie schwindelten, wie daß sie sich idealisierten. Ihm war jedenfalls nicht ganz behaglich dabei. Und ein solches leises Unbehagen empfand er doch auch an ihrem Brief, den er jetzt zum drittenmal las, jeden Satz überlegend: irgendwie hatte dieser Brief doch auch gebrannte Locken. Er konnte nur lange nicht entdecken, wo die Verlogenheit stak. Was sie schrieb, klang ergreifend wahr, auch nicht um einen halben Ton über oder unter der Empfindung. Er hatte nur den Eindruck, daß sie nicht alles schrieb. Sie log nicht, aber sie verschwieg. Und dann fiel ihm ein, daß zwar ihre Worte gewiß nicht logen, aber vielleicht log ihre Schrift? Ja, das war's, jetzt hatte er's, jetzt verstand er sein Unbehagen! Die Schrift, die doch gewissermaßen das Gesicht eines Briefes ist, stimmte nicht. Was sie schrieb, war voll Untiefen und stürmisch, aber sie schrieb es spiegelglatt und windstill. Wie war sie nun selbst? Wie ihr Wort oder wie ihre Hand? Wenn er sich erinnerte, wie sie gestern vor ihm saß und mit ihm sprach, das stimmte genau mit ihrer Schrift. Beide wie Mondlicht, sanft leuchtend, nicht wärmend. Wenn sie sprach, war man nicht ganz sicher, ob sie selber wußte, was ihr Mund sprach, und diese Schrift wußte sicher nicht, was darin geschrieben war, wie hätte sie sich sonst auch in solchem Sturm so zierlich halten können!

 

Wichtiger war ihm aber jetzt, ob er ihr und was er ihr antworten sollte. Höflich danken und dann gelassen warten, bis sie der Zufall ihm zuführt? Oder vielleicht auch ihren Rat befolgen, sich an einen der frommen Männer wenden und dies dann zum Anlaß nehmen, darüber wieder an sie zu schreiben? Zunächst aber mußte er sich doch vor allem erst darüber klar werden, was er selbst denn eigentlich wollte. War er einfach verliebt und also seine Neigung, fromm zu werden, auch nur der verkappte Wunsch, ihr zu gefallen? Er hatte sicherlich nicht bewußt gelogen, aber es konnte sein, daß ihn sein alles verklärendes Gefühl für sie jede ihrer Eigenschaften, ihrer Gewohnheiten begehrenswert erscheinen ließ. Dem geliebten Wesen möchte man unwillkürlich gleichen, und was ihm lieb und wert ist, wird es dem Liebenden auch. Aber das stimmte hier ja gar nicht! Er war doch schon auf dem Wege zum Glauben, bevor er sie noch kannte. Er hätte sie kaum je kennen gelernt ohne jenen seltsamen, ihm selbst ganz unerklärlichen inneren Drang, der ihn auf einmal sanft in die Kirchen zog und sie vor der Heiligen, selbst fast einer Heiligen gleich, finden ließ. Er hätte sie sonst gar nicht bemerkt, er liebte vielleicht auch gar nicht sie, sondern an ihr doch bloß die Erscheinung seiner eigenen Sehnsucht. Und es war gar nicht Liebe, nicht was ihm bisher Liebe geheißen hatte, es war die Seligkeit, fromm zu sein, die er empfand! War er denn aber fromm? Er wußte nur, daß er es sich wünschte, aber es gleichsam noch immer nicht wagte, vielleicht aus Furcht, sich wieder zu betrügen, wie ja noch jeder Wunsch ihn immer wieder betrogen hatte, und wenn er auch jetzt wieder enttäuscht würde, dann blieb ihm ja keiner mehr! Er wäre gern fromm gewesen, aber die Frage war freilich, ob er es konnte. Fromm wie jene Bettler, die er um das stiere Glück ihrer dumpfen Andacht so beneidete? Kaum. Er hatte dazu doch vom Baume der Erkenntnis schon zu viel genascht. Fromm wie Klara? Er war nicht mehr im Stande der geistigen Unschuld. Aber gab es nicht vielleicht eine Art zweiter Unschuld, wiedergewonnener Unschuld? Gab es nicht eine Frömmigkeit des seine Grenzen erkennenden, des gedemütigten Verstandes, einen Glauben der Wissenden, eine Hoffnung aus Verzweiflung? Lebten nicht in allen Zeiten einsame verborgene weise Männer, der Welt abgewendet, einander durch geheime Zeichen verbunden, im Stillen wunderbar wirkend mit einer fast magischen Kraft, in einer höheren Region über den Völkern, über den Bekenntnissen, im Grenzenlosen, im Raum einer reineren, Gott näheren Menschlichkeit? Gab es nicht auch heute noch, überall in der Welt zerstreut und versteckt, eine Ritterschaft des heiligen Grals? Gab es nicht Jünger einer vielleicht unsichtbaren, nicht zu betretenden, bloß empfundenen, aber überall wirkenden, alles beherrschenden, Schicksal bestimmenden weißen Loge? Gab es nicht immer auf Erden eine sozusagen anonyme Gemeinschaft der Heiligen, die einander nicht kennen, nichts voneinander wissen und doch aufeinander, ja miteinander wirken, bloß durch die Strahlen ihrer Gebete? Schon in seiner theosophischen Zeit hatten ihn solche Gedanken viel beschäftigt, aber er hatte offenbar immer nur falsche Theosophen kennen gelernt, vielleicht ließen sich die wahren nicht kennen lernen. Und plötzlich fiel ihm ein, ob nicht vielleicht der Domherr einer von diesen wahren Meistern wäre, von den verborgenen geistigen Weltregenten, von den geheimen Hütern des Grals? Er wurde sich jetzt erst bewußt, daß ihn der Domherr immer schon gleichsam durch ein Versprechen großer Offenbarungen angezogen, als ob da die Worte des Lebens aufbewahrt sein müßten. Das Ansehen, in dem dieser Priester stand, die Scheu, ja Furcht, mit der man von ihm sprach, der Gehorsam, den ihm auch Widerwillige bezeigten, die tiefe Einsamkeit, die ihn umgab, die rätselhafte Macht, Freunden helfen, Feinden schaden zu können, die man ihm nachsagte, wenn er auch lächelnd bedauerte, weder den Dank der Freunde noch den Groll der Feinde zu verdienen, das alles ging doch weit über die Bedeutung, über die Kraft, über die Würde seines Amts, seiner äußeren Stellung, und wenn es die einen mit den »guten Beziehungen, die er halt hat,« die anderen gar mit dem Gerücht seiner Abstammung von einem hohen Herrn erklärten, so blieb noch immer die magische Gewalt seines Blickes, seiner Gegenwart, ja seines bloßen Namens unerklärt. Es gab ein Dutzend Domherren in der Stadt, er aber war der Domherr. Wer vom Domherrn sprach, meinte ihn. Wer um die Exzellenz fragte, wurde gar nicht gleich verstanden. Sie konnten sich noch immer nicht daran gewöhnen, ihn so zu nennen, er blieb ihnen der Domherr. Er schritt im Zuge bescheiden hinter dem rotprangenden Kardinal, aber alle blickten nur auf ihn. Wenn er zur bestimmten Stunde seinen gewohnten Gang unterließ, gleich hieß es in der Stadt: Der Domherr ist verreist! Und wenn es dann wieder hieß: Der Domherr ist zurück, so schien das von der größten Wichtigkeit für die ganze Stadt. Franz erinnerte sich eines Gesprächs, vor Jahren in Rom, mit einem Engländer, der, nachdem er die ganze Welt durchreist, sich in der heiligen Stadt niedergelassen hatte, weil er behauptete, nichts Geheimnisvolleres gefunden zu haben als die Monsignori. Wer sie verstehen könnte, hätte den Schlüssel zum Schicksal der Menschheit. Es war ein kluger Mann in reifen Jahren, von guter Familie, reich, unabhängig, Junggeselle und ein richtiger Engländer, nüchtern, praktisch, unsentimental, ganz unmusikalisch, unkünstlerisch, ein derber, vergnügter Sinnenmensch, Angler, Ruderer, Segler, starker Esser, fester Zecher, ein Lebemann, den in seinem Behagen nur eine einzige Leidenschaft störte, die Neugierde, alles zu sehen, alles kennen zu lernen, überall einmal gewesen zu sein, eigentlich in keiner anderen Absicht als um schließlich, von welchem Ort immer man sprach, befriedigt sagen zu können: O ja!, das Hotel zu wissen, in dem ihn dort Cook untergebracht, und die Sehenswürdigkeiten, die er aufgesucht, die Menschen von Rang oder Ruhm, mit denen er verkehrt hatte. Um bequemer zu reisen und überall Zutritt zu haben, war ihm geraten worden, Freimaurer zu werden. Er lobte die Nützlichkeit dieser Verbindung, bis er entdeckt zu haben glaubte, es müsse noch eine ähnliche, doch besser geleitete, mächtigere Verbindung höherer Art geben, der er nun durchaus beitreten wollte, wie er ja, wenn irgendwo noch ein anderer, besserer Cook aufzufinden gewesen wäre, sich natürlich an diesen gewendet hätte. Er ließ sich nicht ausreden, die Welt werde von einer ganz kleinen Gruppe geheimer Führer beherrscht, die sogenannte Geschichte von diesen verborgenen Männern gemacht, die selbst ihren nächsten Dienern unbekannt seien, wie diese wieder den ihren, und er behauptete, den Spuren dieser geheimen Weltregierung, dieser wahren Freimaurerei, von der die andere bloß eine höchst törichte Kopie mit unzulänglichen Mitteln, folgend, ihren Sitz in Rom gefunden zu haben, eben bei den Monsignori, von denen aber freilich auch wieder die meisten ahnungslose Statisten wären, deren Gedränge bloß die vier oder fünf wirklichen Herren der Welt zu verbergen hätte. Und Franz mußte heute noch über die komische Verzweiflung seines Engländers lachen, der nun das Pech hatte, niemals an den richtigen zu kommen, sondern immer wieder bloß an Statisten, aber sich dadurch nicht irremachen ließ, sondern immer nur noch mehr Respekt vor einer so wohlbehüteten, undurchdringlichen Verbindung bekam, in die er schließlich doch noch eingelassen zu werden wettete, und wenn er bis ans Ende seines Lebens in Rom bleiben und wenn er die Kutte nehmen oder etwa gar sich beschneiden lassen müßte, denn da er überall den unsichtbaren Fäden einer über die ganze Welt gesponnenen Macht nachgespürt hatte, war er nicht abgeneigt, auch die Juden sehr zu schätzen, und er sprach gelegentlich stockernst den Verdacht aus, ob nicht vielleicht im letzten innersten Kreise dieses verborgenen Weltgewebes Rabbiner und Monsignori höchst einträchtig beisammen säßen, was ihm übrigens gleichgültig gewesen wäre, wenn sie nur auch ihn mitzaubern ließen. Franz hatte sich damals schon zuweilen gefragt, ob nicht in der Narretei des Engländers doch vielleicht irgendeine Wahrheit versteckt sein könnte. Das Leben, das der einzelnen wie das der Völker, auf den ersten Blick so sinnlos, aus der Nähe nichts als ein Wust von Zufällen, zeigt sich, aus einiger Entfernung von der Höhe gesehen, doch stets wohl geplant und fest gelenkt. Wenn wir nicht annehmen wollen, daß Gott selbst unmittelbar eingreift, um mit eigener Hand den Unsinn, die Tollheit der menschlichen Willkür seinen Zwecken anzupassen, sind wir genötigt, uns gewissermaßen ein Zwischenreich, durch das sein Wille vermittelt wird, einen Kreis von still waltenden Menschen, durch den er auf die Welt einwirkt, sozusagen Stationen der göttlichen Kraft und Weisheit, zu denken, von denen aus ihre Strahlen in die dunkle Menschheit gehen und zuletzt doch alles immer wieder ordnen. Diese Linsen Gottes, den schaffenden Geist sammelnd und in die Welt zerstreuend, diese geheimen Ordner, diese verborgenen Könige wären es, durch die zuletzt doch aller Wahnsinn immer wieder zur Vernunft, die Leidenschaft zum Schweigen gebracht, Zufall zur Notwendigkeit, Chaos Gestalt, Finsternis hell wird, und wer wäre nicht in seinem Leben Menschen begegnet, die wirklich eine merkwürdige Hoheit und Entfernung haben, in dem Rufe stehen, durch ihren bloßen Blick verwünschen oder beglücken zu können und, so still sie sich halten, doch weit zu wirken scheinen? Es sind meistens gerade ganz einfach lebende Menschen, Hirten, Landärzte, Dorfpfarrer, oft auch alte Frauen oder auch frühreife Kinder, die bald sterben, und alle haben etwas, was sie den anderen unheimlich macht und was ihnen eine große Gewalt über Mensch und Vieh, ja, wie man immer wieder versichern hört, über die ganze Natur, auf Quellen, Erze, Wetter, Sonnenschein und Regen, Hagelschlag und Trockenheit gibt. Wenn wir ihren Weg kreuzen, haben wir, oft im selben Augenblick gleich, manchmal nach Jahren erst, das bestimmte Gefühl, daß dadurch über unser Leben entschieden worden ist. Sie selbst empfinden, scheint's, ihre Kraft eher als eine Last, vielleicht fast als einen Fluch, jedenfalls aber als eine Pflicht. Sie leben abgewendet und sind froh, wenn sie verschont werden. Es ließe sich schon denken, daß sie alle durch die weite Welt hin miteinander in Verbindung sind, sich Zeichen geben oder vielleicht auch die Zeichen noch mächtigerer geheimer Fürsten weitergeben, alles vielleicht ganz unbewußt, oder doch nur halb bewußt, mehr sozusagen inneren Aufträgen erliegend, triebhaft gehorchend, als sich selbst entschließend, wie sie denn überhaupt ihrer eigenen Kraft nicht mächtig zu sein, sondern selbst von ihr überwältigt zu werden scheinen; alle diese Fähigkeiten finden sich fast stets nur bei getrübtem oder vielleicht aussetzendem Bewußtsein. Franz hatte schon in jungen Jahren solche Menschen gekannt, in den Bergen sind sie ja nicht selten. Er erinnerte sich ihrer wieder bei den schwärmerischen Schrullen des Engländers. Und viel später erst war er auf den Gedanken gekommen, ob denn nicht vielleicht auch jemand, dem derlei Fähigkeiten nicht angeboren wären, ihrer teilhaft werden, ob man sich zu solchen Kräften erziehen, ob man sie durch Training erlernen könnte. Aber die theosophischen Übungen hatten ihn bald enttäuscht, und erst durch den Anblick der verzückten Beter in den dunklen Kirchen war er wieder daran erinnert worden. Diese Menschen hatten es durch Übung dahin gebracht, sich in einen Zustand versetzen zu können, wo das Leid, die Not, der Neid schwiegen; sie kamen vom Gebet beschwichtigt, getröstet und gestärkt zurück. Autosuggestion? Vielleicht. Wodurch und wie, war ja schließlich gleichgültig. Sie fanden im Gebet Rat. Auch sein Bruder Anton hatte ja die Gewohnheit, vor wichtigen Entschließungen zu beten, um, wie er sagte, sicher zu gehen. Das Gebet gab also manchen Menschen, vielen Menschen eine Sicherheit, die der Verstand keinem Menschen gab. Auch das Gefühl gab Sicherheit, auch Leidenschaft gab Sicherheit, aber Leidenschaften und Gefühle ließen sich nicht kommandieren, während der Fromme sich zum Gebet kommandieren konnte. Und diese Sicherheit war es, nach der Franz hungerte. Wenn er gemeint hatte, Erkenntnis zu suchen, so war das ein Mißverständnis. Er wollte nur wissen, was er zu tun hätte, also eigentlich gar nicht wissen, sondern gewiß sein! Gewiß sein, nicht mehr bei jedem Schritte wieder ängstlich werden, wieder fragen, wieder zweifeln, immer wieder wählen, immer wieder sich entscheiden und auch nach der Entscheidung sich erst recht wieder bedenken müssen, ob er denn nicht vielleicht falsch entschieden hätte! Auch er wollte, wie sein Bruder, sicher gehen. Er wollte keine Verantwortung mehr haben, er wollte nicht erst immer wieder wollen, er wollte müssen, er wollte gezwungen werden, er wollte getrieben sein. Irgendeinen inneren Befehl deutlich vernehmen zu können und diesem treu gehorchen zu müssen, wissentlich oder unwissentlich, willig oder unwillig, aber ohne zu fragen und ohne gefragt zu werden, ohne zu zweifeln, unabänderlich, wie der Fluß fließt, wie die Sonne steigt und sinkt, wie die Zeiten kommen und gehen. Ob er dieses sein Gesetz, diesen seinen Befehl unmittelbar von Gott oder etwa von jenem vermuteten Senat geheim wirkender, in einer unsichtbaren Loge verborgener Weltregenten oder vielleicht aus seiner eigenen Tiefe, aus dem Unterbewußtsein, also durch Inspiration oder durch Suggestion oder schließlich durch Autosuggestion erhielt, war ihm gleich, aber woher der Befehl auch immer kam, es hörten ihn nur die Frommen. Um sicher zu sein, gab es kein Mittel, als fromm zu werden. Dieser Wunsch, sich um jeden Preis in Sicherheit zu bringen, war vielleicht feig. Es war heroisch, in Ungewißheit zu leben, sie stolz zu tragen, auf Antwort zu verzichten, die wir uns nicht selber geben können. Er bewunderte Helden, die die Kraft zu dieser ewig blinden, ewig tauben, ewig stummen, ewig unbewegten und doch ewig ruhelosen Entsagung hatten, aber er war kein solcher Held, er wollte zu solchem Heldentum nicht länger verdammt sein. So blieb ihm nichts übrig, als fromm zu werden. Es war sein letzter Versuch, leben zu lernen. Er hatte sich offenbar übernommen, als er von der Vernunft zu leben versuchte. Seine reichte jedenfalls nicht, und sein Gefühl auch nicht. Wissenschaft und Kunst hatten ihn leer und kalt gelassen, in Sinnenlust war er immer traurig geworden, und eine Tat, zu der er sich aufgefordert gefühlt hätte, fand er nirgends. Er sehnte sich immer nach Ruhe und langweilte sich aber in der Ruhe zu Tode. Es blieb ihm wirklich nichts übrig, als fromm zu werden. Nach welcher Methode, darauf kam es wohl nicht so sehr an. Daß man glaubt, macht stark, nicht, was man glaubt, so dachte er und wäre mit demselben Vertrauen ein frommer Türke oder Jude geworden, nur daß es ihm, der nun einmal katholisch geboren war, albern anmaßend schien, sich einer exotischen Frömmigkeit zu bedienen, die heimische wird es auch tun.

 

Nein, er hatte Klara nicht angelogen, es war ihm ernst. Nur empfand er wenig Lust, ihrem Rat zu folgen und sich einem der Pfaffen anzuvertrauen. Die Erfahrung, die er mit dem Domherrn gemacht hatte, war ja auch nicht gerade sehr ermutigend. Und wozu denn? Sie konnten ihm nichts sagen, was er nicht selber wußte. Er wollte sich lieber der geheimnisvollen Macht der dunklen Kirchen anvertrauen, die sprach stärker als irgendein Menschenmund. Und gar, wenn er wieder hätte Klara beten sehen dürfen, nur ein einziges Mal noch!

 

Er hatte versprochen, ihren Frieden nicht mehr zu stören. Er war entschlossen, sein Wort zu halten. Er wird ihr für ihren Brief danken und sie nur bitten, daß er ihr schreiben darf, wenn er sich in seiner inneren Not selbst gar nicht mehr zu helfen weiß. Und er gelobt sich, wenn sie seine Bitte gewährt, das niemals zu mißbrauchen. Sie sich in ihrem stillen Zimmer vorzustellen, um ihn besorgt, an ihn denkend, für ihn betend, beglückt ihn tief, und er wünscht sich das mit der Zeit zu verdienen.


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