Berthold Auerbach
Das Landhaus am Rhein / Band I
Berthold Auerbach

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Viertes Capitel.

Am Morgen kam der Architekt und holte Roland ab, da er unter seiner Leitung Zeichnungen von der Burgruine machen sollte.

Herr Sonnenkamp erinnerte Erich, daß er den Pfarrer besuchen solle. Noch ehe Erich kundgeben konnte, daß er examinirt sei, gab ihm Sonnenkamp zu verstehen, daß man mit den Geistlichen ein Wohlvernehmen bewahren müsse; man sei aber doch nie sicher, was sie eigentlich denken und welche Ziele sie haben. Es war ein vertraulich Schleichendes in Ton und Wesen Sonnenkamps und vielleicht wollte er, daß Erich den Pfarrer auskundschaften solle. Arglos entgegnete Erich, daß er es für Pflicht halte, mit dem Pfarrer in gutem Einvernehmen zu stehen.

Bald nachdem Fräulein Perini aus der Messe gekommen war, machte sich Erich auf den Weg.

Das Pfarrhaus lag hinter einem Vorgarten, im stillen Dorfe noch still abseits. Hätte nicht die Thürschelle so laut geklungen und zwei weiße Spitzhunde gebellt, man hätte glauben mögen, daß in dieser saubern Ordnung, die sich sofort auf dem Hausflur erkennen ließ, kein Geräusch laut werden könnte. Die Hunde waren zum Schweigen gebracht, die Haushälterin hieß Erich die Treppe hinaufgehen; er schien bereits erwartet zu sein.

Droben fand Erich den geistlichen Herr in seiner sonnigen, schmucklosen Stube; er saß vor dem Tische, hielt ein Buch in der Linken und die Rechte lag auf einer Weltkugel, die auf einem kleinen Postamente vor ihm stand.

»Sie treffen mich in der weiten Welt,« sagte der Geistliche und hieß Erich vertraulich willkommen. Er bat ihn, auf dem Sopha Platz zu nehmen, über welchem ein Farbendruckbild hing, das den heiligen Borromäus darstellte.

Eine anheimelnde Friedsamkeit war in dieser Stube; eine Anspruchslosigkeit und Bescheidenheit, die nichts wollte, als im stillen Denken die Tage und Stunden zu beschließen, schien aus Allem zu sprechen. Zwei Canarienvögel in ihren Käfigen schienen wie drunten die Hunde hier über den Fremden sich lebhaft auslassen zu wollen. Der geistliche Herr hieß sie ruhig sein, und wie durch einen Zauber verstummten sie und schauten nun Erich neugierig an.

Der Pfarrer erzählte, daß er eben die Reise eines Missionärs auf der Weltkugel verfolgt habe; er drehte dabei den Globus mit seiner feinen rechten Hand im Kreise.

»Sie sind wol kein Freund des Missionswesens?« fragte er sofort.

»Ich will nicht auf den religiösen Zweck eingehen,« entgegnete Erich, »ich glaube nur, es gibt kein zweites Buch, das so zur Weltverbreitung geeignet ist, wie die Bibel, und auch sprachlich ergibt sich da die erste Stufe der Cultur.«

»Sprachlich?«

»Es ist ein großes Culturmoment, daß die Missionäre durch das heilig verehrte Buch die Schriftsprache überall hin verbreiten. Die Nationalsprachen der ungebildeten Völker werden dadurch gewissermaßen aus dem Unorganischen zum Organischen erlöst.«

Der Geistliche schloß das Buch, das vor ihm aufgeschlagen war, dann sagte er, indem er die Fingerspitzen der beiden Hände an einander legte, er hege eine Vorliebe für Diejenigen, die aus innerem Entschluß ihren Beruf geändert. Allerdings bewege oft Leichtsinn und Unbefriedigung dazu, die sich in keiner bemessenen Thätigkeit wohl fühle; wo dies aber nicht der Fall, dürfe man einen tiefen Grundzug der Wahrhaftigkeit voraussetzen. Erich entgegnete:

»Ich habe im Soldatenstande nicht das Auszeichnende gesucht; ich suche nur das allgemein Menschliche und dieses ist es doch, was jedem Beruf allein die Würde geben kann.«

»Allerdings,« erwiderte der Geistliche, »meine Familie hatte mich ebenfalls zu einem andern Berufe bestimmt, ich aber wählte den geistlichen, weil er nicht Gewinn, nicht Genuß, nicht Ruhm, sondern das allein bietet, was Sie das allgemein Menschliche nennen, während es doch einfach das Göttliche genannt werden muß.«

Eine Scheu vor Widerspruch kam über Erich, da er den Geistlichen reden hörte. Die ganze Umgebung versetzte ihn in eine andächtige Stimmung; es war, als dürfe man die heilige Ruhe nicht stören, die hier herrschte.

Das Gespräch ging in Persönliches über, auch der Pfarrer hatte den Vater Erichs gekannt.

»Und nun lassen Sie mich geradezu fragen,« wendete der Geistliche plötzlich. »Was würden Sie Roland als Bestes und vor Allem geben?«

Wieder nahm jene heilige Stille Besitz von dem Raume, in dem zwei Menschen athmeten, die Jeder in seiner Weise dem Höchsten dienen wollten.

»Wenn ich es kurz zusammenfasse,« entgegnete Erich, »so möchte ich Roland Freude an der Welt geben. Hat er diese, wird er der Welt Freude bereiten, ich meine, Gutes und Schönes thun wollen; lehre ich ihn die Welt verachten, das Leben geringschätzen, so kommt er dahin, daß er die Welt und die ihm in derselben verliehene Kraft mißbraucht.«

»Sie sind auf dem Wege zum Heil,« sagte der Pfarrer mild, »aber Sie lenken ab in einen Irrweg. Ich warne Sie, junger Mann. Ich glaube, Sie wissen nicht, wem Sie dienen wollen. Wissen Sie, wie der Herr heißt und wer er ist?«

»Herr Sonnenkamp.«

»Nein, Reichthum heißt der Herr und Meister. Und wissen Sie, was Reichthum ist?«

Da Erich schwieg, fuhr er fort:

»Vielleicht sehen wir, die wir das Gelübde der Armuth abgelegt, am unbefangensten, was Reichthum ist; er ist die größte Versuchung unserer Zeit, und doch steht der Reichthum unter dem Thierischen, denn kein Thier hat mehr Kraft, als es mit sich herumträgt. Der Mensch allein kann haben, was seine Kinder und Kindeskinder nicht verzehren können. Da liegt das Elend! Wer so viel von der Welt gewinnt, erleidet Schaden an seiner Seele. Glauben Sie, daß dieser bewußt reiche Knabe und das ganze Haus in anderer Weise eine sittliche Regulirung bekommen kann als durch die Religion? Auf der Tafel dieser Reichen prangt täglich ein duftender, farbenprächtiger Blumenstrauß – was hilft es? Auf dem ärmlichen Tisch des dürftigsten Häuslers stellt sich ein schönerer, duftreicherer Blumenstrauß aus höherem Reiche durch die Worte des Gebets und es tritt eine Sättigung in die Seele, die erst die Sättigung des Körpers zu einer gedeihlichen macht. Doch das ist nur Eins. Am Oberrhein nennen sie die bewegliche Habe Fahrniß, und so ist es! Der Reichthum der heutigen Welt ist nichts als Fahrniß, fahrende Habe, und sie wird dahin fahren. Glauben Sie mir,« rief der Geistliche und legte seine Hand auf die Hand Erichs . . . »glauben Sie mir, die Staatspapiere sind das Unglück der heutigen Welt.«

»Die Staatspapiere? Ich verstehe nicht.«

»Ja, es ist auch nicht so leicht zu verstehen. Wem kann man Millionen borgen? Niemand als dem Staat. Ehedem konnte ein Mensch nicht so viele Millionen haben, denn wo sollte er sie anlegen? Jetzt aber sind die Staatspapiere da. In alten Zeiten hatte der reiche Mann große Liegenschaften, viel Feld und Wald, da war er erstlich von Gottes lieber Sonne abhängig, und wenn Alles zeitig und gereift dalag, spendete er der Kirche den Zehnten. Nun aber steckt der Reichthum in feuerfesten, diebessichern Kasten, nicht von Sonne, nicht von Wind und Wetter abhängig, hat sich nicht vor der Welt zu zeigen und keinen Zehnten vom Ertrag zu geben; die Ernte des Staatspapier-Mannes ist Couponsschneiden. Wenn der Herr heut wieder kommt, findet er keinen Tempel mehr, aus dem er die Wechsler und Händler austreibe; sie haben sich ihre eigenen Tempel gebaut. Die heutige Burg Zion, in deren Schutz sich die Reichen wie die Fürsten begeben, ist die englische Bank! Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, was aus der Menschheit, aus den Staaten werden soll, wenn diese Vermehrung der Staatsschulden so fortgeht?«

Erich verneinte und der Geistliche fuhr fort:

Die ganze Erde wird eine einzige große Hypothek, und bei wem verpfändet? Bei dem, der lange borgt, aber doch einstmals Zahlung einfordert. Ein Weltbrand wird kommen, gegen den keine feuerfesten Kasten sichern, und eine Sündfluth, die die Millionen und aber Millionen Staatsschulden auslöscht. Ich bin kein Mann der Schadenfreude, aber ich möchte wohl den Bankerott der englischen Bank erleben. Denken Sie sich: die Nachricht kommt an, es ist Alles verloren. Da werden Tausende von Männlein und Weiblein sehen, wie nichtig sie sind, wenn sie so auf einmal all ihrer Herrlichkeiten beraubt auf die nackte Erde sich versetzt sehen.«

Erich lächelte. Jeder einsam gestellte Mann ohne entsprechenden gleichberechtigten Umgang kommt zu Absonderlichkeiten; das schoß ihm schnell durch den Sinn, und er sagte, daß allerdings die Erde mit höheren Schulden belastet, als sie an sich werth sei, wenn man sich einen Käufer dafür denken könne. Aber der eigentliche Besitz der Menschen sei größer als der materielle Werth der Erde, denn der größte Besitz sei ein ideales Sein, die Arbeitskraft, und während früher alles Besitzthum in der Scholle bestand, sei es eben die Aufgabe der neuen Welt, den idealen und den beweglichen Besitz zur Geltung zu bringen.

Erich wollte noch hinzusetzen, daß auch bei den Römern, selbst noch zu Zeiten der Republik, der Reichthum Einzelner so unverhältnißmäßig war; der Geistliche schien ihn aber in seiner gewaltsamen Erregung kaum noch zu hören, er ging nach seiner Bücherei, nahm eine große Bibel, schlug eine Stelle auf und reichte das Buch Erich hin.

»Da lesen Sie, das ist die einzige Art, wie Roland erzogen werden kann. Lesen Sie vor.«

Erich las:

»Und da er hinausgegangen war auf den Weg, lief Einer vorne vor, kniete vor ihn und fragte ihn: Guter Meister, was soll ich thun, daß ich das ewige Leben ererbe? Aber Jesus sprach zu ihm: Was heißest Du mich gut? Niemand ist gut, denn der einige Gott. Du weißt ja die Gebote wohl: Du sollst nicht ehebrechen. Du sollst nicht tödten. Du sollst nicht stehlen. Du sollst nicht falsch Zeugniß reden. Du sollst Niemand täuschen. Ehre deinen Vater und Mutter. Er antwortete aber und sprach zu ihm: Meister, das habe ich Alles gehalten von meiner Jugend aus. Und Jesus sahe ihn an und liebte ihn und sprach zu ihm: Eins fehlt Dir. Gehe hin, verkaufe Alles, was Du hast, und gib es den Armen, so wirst Du einen Schatz im Himmel haben, und komm, folge mir nach und nimm das Kreuz auf Dich. Er aber ward unmuths über der Rede und ging traurig davon, denn er hatte viele Güter. Und Jesus sahe um sich und sprach zu seinen Jüngern: Wie schwerlich werden die Reichen in das Reich Gottes kommen! Die Jünger aber entsetzten sich über seine Rede. Aber Jesus antwortete wiederum und sprach zu ihnen: Liebe Kinder, wie schwer ist es, daß die, so ihr Vertrauen auf Reichthum setzen, ins Reich Gottes kommen. Es ist leichter, daß ein Kameel durch ein Nadelöhr gehe, denn daß ein Reicher ins Reich Gottes komme.«

»Und nun sagen Sie mir,« rief der Pfarrer, »sagen Sie mir ehrlich, ist das nicht das Einzige?«

»Aufrichtig gestanden: nein! Ich liebe und verehre den, von dem diese Geschichte erzählt, vielleicht mehr als mancher Kirchengläubige, und rührend ist mir besonders und in diesem Augenblicke wundersam ergreifend der Satz, wo es hier heißt: Und Jesus sahe ihn an und liebte ihn. Ich sehe den schönen reichen Jüngling vor dem erhabenen Meister, der Jüngling glüht und ist voll wirklichen Eifers, und der Meister gewinnt ihn lieb, indem er in sein Antlitz schaut. Es ist kein Zug in Homer . . .«

»Das ist nebensächlich – das ist nebensächlich,« unterbrach der Geistliche. »Gehen Sie auf die Sache.«

»In der Sache muß ich bekennen,« erwiderte Erich, »daß nach meiner Ansicht diese Lehre zu einer Zeit entstand, in der man alle reale Macht, die Staatsmacht, den Reichthum und alle Lebensgüter verachten und verwerfen mußte als Dinge, die der ewigen Idee gegenüber keine Bedeutung haben. Das mußte in einer Zeit der Unterdrückung durch Fremdherrschaft die edlen Gemüther allein aufrecht erhalten und in einer Seele aufleben, die alle Werthe der Welt verschwinden sieht und eine Neugestaltung auferbauen will, in der nur der reine Gedanke herrscht. Und warum ist denn diese Lehre, daß man nichts besitzen soll, nicht zum allzeit und für Alle geltenden Kirchengebote geworden?«

»Sie treffen einen richtigen Punkt,« entgegnete der Pfarrer. »Unsere Kirche hat Gebote, die nicht allgemein gelten, sondern nur für den, der vollkommen sein will, so: das Gebot der Keuschheit und das Gebot der Armuth. Nur wer vollkommen sein will, muß sich dem unterwerfen.«

»Wie aber kann die Kirche selbst Reichthümer besitzen?« fragte Erich.

»Die Kirche besitzt nicht, sie verwaltet nur,« antwortete der Pfarrer scharf.

»Da wir nun nicht erwarten können,« lenkte Erich ein, »daß Herr Sonnenkamp und sein Sohn Roland all ihr Gut hergeben, so fragt es sich, wie gewinnen wir die rechte Führung?«

Der Geistliche erhob sich, ging mit starken Schritten das Zimmer auf und ab und sagte:

»Nun sind wir am Punkte. Hören Sie mich getreu an. Sehen Sie, es hat sich etwas Neues gebildet in der Welt, ein in der höheren sittlichen Ordnung noch heimatloser Stand, und das ist die haute finance. Sie sehen mich staunend an.«

»Zunächst fragend.«

»Und ich kann antworten. Diese haute finance steht zwischen Adel und Volk, und ich frage, was soll sie? Muß ein reicher bürgerlicher Jüngling, wie Roland, in den Strudel des Lebens geworfen, nicht unbedingt zu Grunde gehen?«

»Warum muß er es mehr,« fragte Erich, »als die adelige Jugend in der Militär- oder Civil-Uniform? Glauben Sie denn, daß die Religion diese vom Untergange rettet?«

»Nein, aber ein Anderes, Positives; die historische Institution des Adels rettet sie. Der Adel hat das Glück, die Flegeljahre des Lebens mit dem geringsten Nachtheil durchzumachen. Der Adelige zieht sich dann auf seine Güter zurück, wird ein braver Ehemann und füllt seine Stellung mit Anstand aus; selbst in der Stadt mitten im tollen Getriebe hält ihn die Stellung zur höheren Gesellschaft und zum Hofe doch in gewisse Schranken. Was aber hat der reiche bürgerliche Jüngling?«

»So wäre es also,« fragte Erich, »vielleicht für Roland das größte Glück, wenn sein Vater den Adel erwerben könnte?«

»Ich weiß nicht,« entgegnete der Pfarrer. »Ich wollte sagen, der Adel hat die Ehre, die geschichtliche, sich forterbende Verpflichtung, der Adel hat den großen Grundsatz gefunden und hat ihn zu bewähren: noblesse oblige, Adel verpflichtet. Welchen großen Grundsatz hat der Reichthum gefunden? Den brutalsten aller Sätze, den rein Thierischen. Und wissen Sie, wie dieser heißt?«

»Ich weiß nicht, wohin Sie zielen.«

»Der Satz, den diese Erwerbssucht als ihr Höchstes ausstellt, lautet: Hilf Dir selbst! Das thut das Thier, jedes hilft sich selbst. Also der papierne Reichthum ist jener sittlich heimatlose, pflichtlose Stand. Was wollen diese papiernen Herren der Welt? Geld . . . Was wollen sie mit dem Gelde? Genuß . . . Wer sichert ihnen diesen? Der Staat . . . Was thun sie für den Staat? . . . Da liegt's! So lange sie in der Erwerbshetze sind, haben sie keine Zeit für etwas Anderes, und haben sie ausgespannt, wollen sie nichts als Ruhe – Ruhe im Landhaus oder in einer großen Stadt.«

Die Lippen Erichs zitterten und er erwiderte:

»Wenn der Adel sich berechtigt und verpflichtet fühlt, sagen wir zunächst für die Führerschaft im Heere, für den Krieg, so soll die Jugend des Reichthums sich zu Officieren verpflichtet fühlen im Heere des Friedens; sie soll eine unbesoldete und in voller Hingebung sich zu Gebote stellende Thatkraft bewähren für die Gemeinde, für den Kreis, für die Genossenschaft, bis hinauf zur Vertretung des Staatsganzen und zum Opfer in allen Werken der Wohlthätigkeit.«

»Halt!« fiel der Geistliche ein, »das Letzte ist unser. Ihr werdet das nie organisiren können ohne die Religion. Eure Weltweisheit kann die Gleichmäßigkeit nicht erzeugen, die Gemüthsruhe, die opferbereite Verfassung, da unser Leben nichts ist als ein Opfer. Ihr werdet es nie dahin bringen, daß die Menschen aus ihrer Wohlhäbigkeit, aus ihrem Luxus heraus sich, wie Ihr es nennt, aus rein menschlicher Bewegung in die Hütten der Armen, der Hilflosen, der Kranken, der Verlassenen, zu Sterbenden begeben wie wir.«

Als hätte der Geistliche diese seine hohe Pflicht angerufen, so erschien jetzt der Küster und sagte, daß ein alter Weingärtner die letzte Oelung verlange. Der Geistliche war schnell bereit, er wendete sich nochmals kurz und feierlich zu Erich und warnte ihn, in die Stelle einzutreten; er jage einem falschen und darum unerreichbaren Ideal nach. Erich entfernte sich.

Als er auf die Straße kam, athmete er frei auf in der frischen Luft. Kam er nicht aus der Atmosphäre des Weihrauchs? Nein, hier war mehr, hier war eine starke Kraft, die sich Angesicht gegen Angesicht dem großen Räthsel des Daseins stellt. In Sinnen versunken wandelte Erich dahin; wol kam ihm nochmals der Gedanke, wie viel leichter es Diejenigen haben, welche fest dogmatische Gesetze, die nicht aus ihnen kommen, die sie vielmehr empfangen, weiter geben können, während er Alles aus sich, aus seiner Erkenntniß schöpfen mußte.

Auf halber Höhe des Berges am Wege, der zum Major führt, blieb er stehen und schaute hinab nach der Villa, die den stolzen Namen Eden trug, und die Geschichte aus der Bibel trat ihm in die Erinnerung: Im Garten Eden sind zwei Bäume, der Baum des Lebens und der Baum der Erkenntniß von Gut und Böse; das Eden hört auf für den, der vom Baume der Erkenntniß genießt. Ist das nicht noch immer so?

Da stand es plötzlich vor ihm wie eine Offenbarung; dreierlei ist dem Menschen auf Erden gegeben: Genuß, Entsagung und Erkenntniß.

Dort Sonnenkamp; was will er für sich und seinen Sohn? Genuß. Die Welt ist eine gedeckte Tafel und man hat nur so viel zu lernen, um die rechten Wege, die rechten Maße des Genusses zu finden. Die Erde ist ein Vergnügungsort und sie läßt wachsen, damit wir uns dessen ergötzen. Wir haben auf der Welt keinen andern Beruf als spazieren zu fahren, zu essen, trinken und zu schlafen und wieder spazieren zu fahren. Und dafür soll die Sonne scheinen?

Was will der Pfarrer? Entsagung. Diese Welt hat nichts zu bieten, ihre Genüsse sind nur verwirrender Schein, zerren Dich nur hin und her, drum wende Dich ab von ihnen.

Und was willst Du? Und was sollen Die wollen, die Du Dir gleich wünschest? Erkenntniß. Denn das Leben zerfällt nicht in Genuß und Entsagung, die Erkenntniß schließt vielmehr Beide in sich, ist die Einheit Beider, sie ist die Mutter der Pflicht und der schönen That.

Wie in alten Zeiten die Kämpfer aus unerforschlicher Höhe einen Schild erhielten aus Götterhand, der sie sicherte, so geborgen und gedeckt gegen Alles fühlte sich Erich, und er war so selig in sich, daß er nach keinem Menschen, nach nichts mehr verlangte, er war getragen von der Erkenntniß.

Beruhigt und in sich begnügt trat er beim Major im nächsten Dorfe ein. Hier, wußte er, hatte er kein Examen zu bestehen.


 << zurück weiter >>