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Fünfzehntes Capitel.


Drei Tage und Nächte lag Frau Artefeld sprachlos, fast ohne sich zu regen, ihre Augen meist geschlossen; aber daß nicht der Schlummer sie zudrückte, sah man an dem unruhigen Zucken der Lider, hörte man an dem leisen Stöhnen, das sich zuweilen ihrer Brust entrang.

Es war ein verzweiflungsvoller Zustand, der Tod hielt Wache an ihrem Lager, er scheuchte Genesung zurück, aber er erlöste sie nicht von einem Leben, das ihr nicht nur Alles entrissen, was für sie Ziel desselben gewesen, das ihr nun auch noch das Wort geraubt hatte, über ihre verletzten Ansprüche, ihre gebrochene Kraft, ihr nutzloses Streben zu klagen. Es tobten Stürme durch ihre Seele, für die es kein Entrinnen gab. Stillhalten mußte sie ihnen mit bebendem Herzen; sie, die sich die Herrschaft über das Schicksal angemaßt, lag jetzt, eine wehrlose Beute der eigenen, nicht zu bannenden Gedanken.

In der Fülle der Gesundheit, angeregt durch das Leben, ja durch dasselbe zu äußerster Thätigkeit angespornt, vermag man es kaum, die bösen Geister der Erinnerung zu bannen, die aus dem eigenhändigen Thun, uns verfolgend, emporsteigen, aber zu müßiger Ruhe verurtheilt, an das Krankenbett gefesselt und ihnen preisgegeben, empfindet man doppelt ihre Macht über die Seele. Das Auge, das nicht mehr durch wechselnde Bilder der Gegenwart zerstreut wird, muß sich der Wahrheit öffnen und drückt es die geschlossenen Lider noch so tief in die verhüllenden Kissen.

Was half es da der unglücklichen Frau, daß sie die ihren gewaltsam verschlossen hielt, daß sie nicht sehen wollte, was zu ihrem Leben gehörte? dem Leben selbst konnte sie doch nicht entfliehen. Es kämpfte mit dem Tode um die Beute, um sie, die ein willenloses, ohnmächtiges Opfer beider Mächte war. Fieberträume waren es nicht, die, sie verfolgend, ihr die tiefen Seufzer entlockten, vor denen sie so angsthaft die Hände zusammenpreßte, ihre Stirn brannte nicht, ihr Puls schlug matt und schwer, aber für ihre Gemüthsart mußte ein immer wiederholtes, gezwungenes Durchleben der Wirklichkeit viel qualvoller sein, als selbst die schreckhaften Bilder, mit denen eine gestörte Phantasie unsere Sinne verwirrt.

Zu dem tiefen Verstummen des Todes verurtheilt, während das Leben in ihr zuckte und bebte, an die äußerste Grenze ihres Handelns gekommen, von der Gegenwart zerbrochen, vor der Zukunft zurückbebend, war sie der Vergangenheit verfallen. Wie sollte sie es da machen, sich dem tiefen Hineinschauen in sich selbst zu entziehen, das Auftauchen aller bedeutungsvollen Lebensmomente zu verhindern; wie es anfangen, Gedanken und Handlungen nicht strenger abzuwägen, als es im vollen Genuß der noch ungestörten Lebenskräfte zu geschehen pflegt?

Nicht einmal, nein tausendmal zog in den drei Tagen und Nächten ihr Leben an ihr vorüber, und jedesmal mit verstärkter Qual und richtigerem Verständniß. Sie schaute zurück auf ihre Kindheit ohne das Herzklopfen und die wehmüthige Freude, mit der man im Allgemeinen an diese selige Zeit unbewußten Glückes und flüchtigen Kummers zurück zu denken pflegt, denn in nüchternster Umgebung war sie verflossen und das Gemüth schon damals zu künftiger einseitiger Bestimmung vorbereitet worden.

Sie dachte an ihre, weltlichen Interessen geopferte Liebe, ihre aus denselben Rücksichten geschlossene, freudenarme, liebeleere Ehe, dachte an ihre Kinder, denen sie nichts gegeben als das Leben, und die den äußersten Kampf mit demselben dem Druck ihrer Herrschaft vorzogen, die gestorben waren, ohne ein warmes Wort der Liebe, der Verzeihung empfangen oder gewährt zu haben, von deren Gräbern sich in Gedanken ihr Blick in kaltsinnigem Zorn abgewendet hatte.

Verrath und Betrug, deren Opfer sie gewesen, standen noch einmal vor ihr auf, sie an die erlittene Schmach zu mahnen. Noch einmal empörte sich ihr verwundetes Herz gegen diese härteste Erfahrung vergangener Tage, dann wogen ihre Gedanken das erlittene Unrecht ab gegen das, was sie verübte. Sie sträubte sich dagegen, sie wollte es nicht zugeben, daß ihre Schuld an jene hinanreiche, und dennoch konnte sie es nicht wehren, daß mit jener auch die ihre wuchs und das »Vergieb uns unsere Schuld, wie wir vergeben unseren Schuldigern« mit tiefem Vorwurf an ihr Gewissen schlug.

Sie sah sie vor sich stehen die betrübte, gekränkte, gebeugte Tochter, sie hörte noch einmal die flehende Bitte derselben, ihrem Vater zu verzeihen.

Sie hatte es nicht gethan, sie hatte der Bitte ihr Ohr verschlossen, hatte sich verschworen, lieber nie wieder die Lippen zu einem Wort zu öffnen, als zu dem der Vergebung.

Nun waren ihre Lippen geschlossen, sie hatte das Wort nicht gesagt, sie rang auch vergeblich darnach, es auszusprechen. Sie riß ihre Gedanken los von der Betrachtung, aber was bot sich ihr dar, um dabei mit Liebe, mit Genugthuung zu verweilen? Im Rückblick auf vergangene Tage gewahrte sie nichts, was ihr Herz und Seele zur Ertragung gegenwärtigen Leides hätte stärken können. Von jeder That ihres Lebens wendete sie sich gedemüthigt ab. Die Mittel, die sie im Gefühl ihrer Kraft ergriffen, Alle die von ihr abhingen zu knechten, richteten sich jetzt gegen sie. Jedes Ziel war ihr entrückt jede Hoffnung vernichtet, jede Arbeit vergeblich; ihre Kraft dahin, ihre Größe zu unsaglicher Kleinheit zusammengeschmolzen. Sie lag da, den Tod vor Augen oder ein Leben, das sie in völliger Hülflosigkeit dem guten Willen, der Barmherzigkeit Anderer überwies, ein Leben, das ihr als Resultat entschwundener Jahre nichts bot als Täuschung. Kann es eine größere Pein, eine härtere Strafe geben, gleichviel ob ihre Dauer nach Tagen oder nach Monaten zu rechnen ist, während die Schuld sich durch Jahre dahinzog? Frau Artefeld hatte sich nie gedemüthigt, weder vor Gott noch Menschen – that sie es jetzt?

Wer konnte es dem stillen, kalten Antlitz ansehen, wer wagte es die Zeichen zu deuten, mit denen sie unwillkürlich ihr zerrissenes Gemüth verrieth!

Es sind nicht alle die reuige Sünder, die sich vor den Menschen demüthigen, Gott aber sieht die Reue und Demuth auch da, wo sie vor menschlichen Blicken, ja vielleicht vor der eigenen Erkenntniß verhüllt wird. Menschliches Urtheil richtet nach allgemeinen Grundsätzen, Gott legt den Maßstab an den Einzelnen, und eine starre und stolze Natur, die auch nur mit einem Zucken der Wimper eine Schuld eingesteht, ist ihm vielleicht ein so vollgültiges Bild der Demuth, als der in Thränen zerfließende, weichherzige Sünder.

Mit unsaglicher Langsamkeit schlichen die Tage und Nächte dahin, der Arzt schüttelte bedenklich den Kopf, sprach von geistigen Leiden, gegen die menschliche Hülfe nichts vermöge, und stellte seine Besuche ein, da seine Patientin eine zwar stumme, doch entschiedene Opposition gegen seine Mittel an den Tag legte. Da senkte sich endlich ein barmherziger Schlummer auf die starren Augen nieder und wurde zum tiefen, lang dauernden, erquickenden Schlaf.

Liebend und sorgend und mit stummen, flehentlichen Bitten für ihre Genesung wurde ihr Schlummer bewacht. Georg und seine Schwester saßen an ihrem Lager, als sie die Augen wieder öffnete.

Verwundert, als kehre sie aus einer andern Welt zurück und müsse sich in dieser erst wieder zurechtfinden, sah sie von Einem zum Andern, ihre Lippen öffneten sich, als wolle sie sprechen, aber der Laut wurde zum tiefen Seufzer, und wieder irrte ihr Blick fast ängstlich fragend von Georg zu Flora und wieder zu diesem zurück.

»Mutter, kennst Du mich nicht?« sagte Georg leise, »ich bin ja Dein Sohn, Dein Georg, und hier ist Flora, meine Schwester Flora, die Dich liebt und die mit uns den Himmel bittet, Dich uns zu erhalten.«

Ein schmerzliches Lächeln, von einem Blick des Erkennens begleitet, flog über die Züge der Kranken, dann richtete sie sich halb auf, winkte Flora näher zu kommen, und als diese sich über ihr Bett gebeugt, sagte sie leise aber mit klarer, deutlicher Stimme:

»Lege einen Kranz auf Deines Vaters Grab, mein Kind.«

In Thränen ausbrechend, stürzte Flora neben dem Lager auf die Kniee, und ihrer Mutter Hand mit Thränen und Küssen bedeckend, stammelte sie:

»Dank, Dank, Mutter, Gott segne Dich und schenke Dir ein volles Maß der Liebe für dies volle Maß des Verzeihens!«

Frau Artefeld entzog ihr die Hand, Flora's Bewegung schien sie zu ängstigen, und sie legte sich wieder zum Schlummer zurecht. Georg blieb bei ihr, sie vor jeder Störung zu bewachen, Flora eilte den Anderen die Freudenbotschaft zu bringen, daß der Leidenden die Sprache wiedergekehrt, daß sie dem Leben wiedergegeben sei.

Wie ein Sonnenstrahl oft plötzlich ein Gewölk verscheucht und klaren Himmel schafft, so wirkte Flora's mit sicherer Ueberzeugung ausgesprochenes: »Sie ist gerettet!« Eine helle Hoffnung leuchtete aus Aller Augen, in stiller Beglückwünschung drückten sie einander die Hände, aber ganz schattenlos blieb die Freude nicht. Wie wird sie sein, wenn sie erst wirklich dem Leben zurückgegeben ist? Das war die Frage, die sich einem Jeden aufdrängte. Wird mit den wachsenden Körperkräften die ehemalige Strenge und Härte zurückkehren, kann je biegsam werden, was so schroff und spröde war? Wird sie nicht auf's Neue nach dem Scepter greifen, das ihr in der Schwäche des Todes entfallen, wird sie es wegwerfen, um sich auf die Liebe zu stützen, diese allein durch nichts zu besiegende Macht?

»Ich bin unabhängig von ihrem Einfluß,« sagte Flora Eisenhart zu Wendula. »Gottlob, ich habe den Reichthum nicht mehr, der meiner Person Werth verlieh. Mein Weg kreuzt den ihren nicht, sie hat weder einen Grund mich zu halten, noch mich gehen zu heißen, aber Du, wie wird es mit Dir werden?«

»Ich stehe in Gottes Hand!« entgegnete diese ruhig.

»Ohne seinen Willen kann sie mir kein Leid zufügen, was er zuläßt, werde ich tragen, hoffentlich –« fügte sie leise hinzu, »ohne Zorn und Groll. Als sie sterbend vor mir dahinsank, hat sie Beides für immer entwaffnet.«

Frau Artefeld schlief lange und fest, und der Schlaf brachte ihr völlige Genesung. Der Arzt mochte recht gehabt haben. Der Geist mochte kränker gewesen sein als der Körper, und nun er die heftige Krisis überstanden, war ihm jener wieder dienstbar.

Als eine vom Schicksal Bezwungene erstand Frau Artefeld von ihrem Krankenlager, aber wie weit ihre Unterwerfung ging, ließ sich nicht gleich entscheiden.

Ihre Handlungen sprachen von einem besiegten Willen, ihre Miene war unverändert, ihre Sprache gemessener als je. Die Weichheit oder Aufgeregtheit der Gefühle, die ihr als Frucht tiefer Einkehr in sich selbst, vielleicht auch nur als Folge tagelanger Todesangst oder der noch größeren peinlichen Befürchtung, mit geschlossenen Lippen, wie eine Todte, unter den Lebenden wandeln zu müssen, jenes versöhnende Wort gegen Flora entlockte, diese Stimmung schien dahin.

Es kam kein Wort der Reue und Zerknirschung über ihre Lippen, sie bat weder Wendula um Verzeihung, noch fand eine Versöhnungsscene mit Richter statt, noch wurde ihre Enkelin Flora mit jenen Segensworten begrüßt, mit denen eine alte Frau wohl das Kind ihrer einzigen verstorbenen Tochter an's Herz zu nehmen pflegt.

Sie sagte nur: »Gottlob, auch Du bist da!« Das war Eingeständniß genug.

Sie ließ es sich aber gefallen, der Gegenstand allgemeiner Liebe und Sorge zu sein. Mit unwillkürlichem Wohlgefallen verweilte ihr Auge zuweilen auf den beiden schönen Enkelinnen, wenn auch meist ein schmerzlicher Seufzer den Blicken folgte. Als sie Wendula's und Georg's Verlobung ausgesprochen, errang die dankbare, wenn auch stille Freude der Beiden und der Jubel der Anderen einen Sieg über die Förmlichkeit, mit der sie sich gewaffnet hatte, und einen Augenblick drückte sie Wendula mit so unverkennbarer, nur gewaltsam zurückgehaltener Innigkeit an ihr Herz, daß der Augenblick viel vergangene Härte und noch drohende Schroffheit auslöschte.

Weichere Regungen kamen nur wie einzelne Lichtblicke, aber sie stieß weniger ab, als daß sie passiv war. Flora Richter's Aufmerksamkeiten duldete sie schweigend, sie warf auch den Kopf nicht in den Nacken, wenn ihr Mann sie mit seiner unzerstörbaren Naivetät »Mutterchen« nannte, und wies die Liebkosungen seiner Töchter nicht zurück, aber sie kam auch Keinem ein Haarbreit entgegen, und Niemand konnte sagen, ob sie sich nur der Nothwendigkeit füge oder ob ihr Herz wirklich bezwungen sei.

Aber es fragte auch Keiner darnach. Liebe mißt nicht Geben und Empfangen. Nur Verachtung ihrer Gabe macht sie arm.

Natürlich war eine der ersten Aufgaben, mit denen das wiedergeschenkte Leben an sie herantrat, die, nun auch mit dem abzuschließen, was bisher die Haupttriebfeder aller ihrer Handlungen gewesen war.

Noch war ihr Bankerott nicht erklärt, noch hatte sie die Ehre ihres Namens zu vertreten.

Wie der Feldherr, der die Schlacht gehalten, so lange er konnte, in Ehren das Feld verlassen will, das er in Ehren behauptete, so rüstete auch sie sich zum Rückzug. Sie wäre auch vielleicht lieber gestorben, denn Rückzug ist für den stolzen Ehrgeiz schlimmer als Tod, aber wenn Gott spricht: Du sollst leben, da hilft doch aller Widerstand, alle Verzagtheit und Verzweiflung nichts, da muß man die Last auf sich nehmen, da bricht die Spitze des Schwertes ab, in das der überwundene Kämpfer sich stürzen möchte, da entsteht der Kranke vom Todtenbett, auf das die geschlagene Seele ihn geworfen.

Mit einer Ruhe, als handle es sich um die alltäglichsten Angelegenheiten der Welt, aber zugleich mit einer so schwer bekämpften Bitterkeit, daß sie noch unwillkürlich durch jedes Wort hindurchbrach, verlangte Frau Artefeld die augenblickliche Abreise ihres Sohnes nach Breslau und gab ihm Vollmacht, gänzlich nach eigenem Ermessen und als Herr der Handlung zu handeln.

Alles oder Nichts, war auch hier wieder der leitende Grundsatz, der, wie früher ihr Thun, jetzt ihre Entsagung bestimmte.

»Betrachte mich von jetzt an als eine Todte,« sagte sie zu ihm, »es ist ja auch nicht viel besser. Der zur Unthätigkeit verurtheilte, seines Lebensziels beraubte Geist wird nur noch wie ein Schatten unter den Lebenden wandeln, oder vielmehr, er wird Grabeseinsamkeit suchen, da das Grab ihm versagt ward. Du bist also mein Erbe, so tritt denn die Erbschaft an. Sie überschüttet Dich nicht mit Glanz und Reichthum, wie ich einst gehofft. Ich habe das Meinige gethan, aber wenn Keiner mit mir ist, wenn Alles wider mich auftritt, Menschen und Schicksal, da wird auch der Stärkste überwältigt. Sieh zu, ob Du besser fertig wirst. Wäre ich es nicht müde, Rath zu geben, und wüßte ich nicht, daß er doch nicht befolgt wird, so würde ich sagen: wandere aus, denn Du bist zu jung, um der Welt und dem Leben zu entsagen wie ich, aber hier in der Heimath bleiben mit dem geächteten Namen –« Sie hielt inne, sah Georg an, als dieser nichts erwiderte, und fuhr seufzend fort:

»Die Handlung wirst Du aufgeben müssen, das Haus verkaufen, der Name wird von der Liste commerzieller Größen, an deren Spitze er geprangt, so lange ich denken kann, gestrichen werden. Ich bringe der Nothwendigkeit das Opfer. Nur Eins mußt Du mir versprechen. Laß es Deine erste Sorge sein, alle mit Recht an mich gestellten Forderungen zu berichtigen. Ich habe wohl unzählige Male in meinem Leben Schulden erlassen, aber in diesem Punkt möchte ich nicht Vergeltung üben. Ich will Keinem etwas schuldig bleiben, Keinem etwas nehmen. Hierfür wirst Du in meinem Namen jedes Opfer bringen, das ist das letzte Verlangen, was ich an Dich stelle. Ich mache auf nichts mehr Anspruch, was zur Handlung gehört, ich nenne nichts von all' dem früheren Reichthum mehr mein, ich habe mich immer nur als den ersten Diener der Firma betrachtet und will in ihrem Dienst auch das Letzte dahingeben, wenn es sein muß. Gottlob, ich brauche nicht viel, aber ich brauche das Bewußtsein, daß Keiner durch mich sein Vermögen einbüßt. Kannst Du mir das erhalten, werde ich es Dir danken. Im Uebrigen thue, was Du willst, mache aus Deinem Schicksal, was Du kannst, Du hast zu Allem meinen Segen. Heirathe Wendula, wann Du willst, werde das, wozu Dein Herz Dich treibt. Ich gebe alle meine Rechte auf und würde es sogar, glaube ich, ertragen, Deinen Namen auf einem Anschlagzettel prangen zu sehen wie den Victor König's, wenn ich auch freilich lieber wünschte, Dein Stolz wäre wie der meine und begrübe in Vergessenheit, was nicht mehr da zu halten ist, wo Glanz und Ehre es bisher umgaben.«

Es lag unsaglich viel Schmerzhaftes für Georg in der Art und Weise, wie seine Mutter ihn von ihrem Einfluß emancipirte und ihn zu selbstständigem Handeln ermächtigte, aber es war nicht der Augenblick, darüber mit ihr zu rechten.

Sie war vom Unglück getroffen, sie gab dem zwingenden Schlage nach, aber sie hatte zu lange in Wehr und Waffen gestanden, um sich dem Himmel auf einmal völlig zu ergeben. Sie ging nicht weiter, als sie mußte. Sie konnte die empfangene Wunde nicht verbergen, aber sie wollte den Schmerz niederkämpfen, denn Theilnahme und Mitleid waren ihr verhaßt. Der Schmerz war aber stärker als sie, und jeder niedergehaltene Schrei wurde zu einem verletzenden Wort für Andere.

Georg begriff den Schmerz und fügte sich mild und sanft den Wirkungen desselben.

»Ich werde hinreisen, wie Du es befiehlst, liebe Mutter,« sagte er, »und ich werde mich über den Stand der Angelegenheit orientiren und dann Deinen Willen über das, was zu thun ist, einholen.«

»Nein,« entgegnete sie entschieden. »Ich will nichts mehr darüber hören, als das Eine, daß mein Fall wenigstens keinen Andern in den Abgrund zieht. Es ist meist so, wenn einem Großen Wunden geschlagen werden, müssen Kleine daran verbluten, Gott schütze mich davor!«

Dabei blieb es, und Georg mußte sich entschließen, ihr in ihrem Sinne zu dienen und in einem Augenblick sein Herrenrecht anzutreten, wo ihm jegliche Macht geraubt schien, es zu behaupten.

»Ich werde hier das Ende der Angelegenheit erwarten,« schloß sie, »weiß ich erst, was Du über Dich beschlossen hast, dann wird es Zeit sein, auch über meine letzten Tage zu bestimmen. Sieh, daß Du schnell Alles zum Abschluß bringst, ich sehne mich nach Einsamkeit, ich bin das Treiben nicht gewohnt, das mich jetzt umgiebt.«

»Sollen sie Dich verlassen, Mutter?« fragte Georg, »Dein Wohlbehagen geht jeder andern Rücksicht vor, und es kann Keinen kränken, sehnt ein Genesender sich nach Ruhe. Ueberlaß es mir, Dir Beides zu verschaffen. Wendula bleibt zu Deiner Pflege bei Dir.«

»Nein, o nein,« unterbrach Frau Artefeld ihn hastig, »laß Alles so wie es ist, laß Jeden thun, was er will, und laß mich leiden, was ich kann, auch das Schwerste muß ein Ende haben.«

Georg wendete sich seufzend ab. Er sah wohl, was die Mutter in diesem Fall zu der Duldsamkeit bewog: sie scheute sich, mit Wendula allein zu bleiben.

Er begriff den Kampf in ihrer Seele, er paßte zu ihrer Natur, aber obgleich er ihn begriff, that er ihm doch unsaglich weh.

Auf seinem Liebesglück lagerten tiefe Schatten, und doch kam von daher allein alles Licht, was im Augenblick in sein Leben hineinleuchtete. Auch gab ihm Wendula den Muth wieder.

»Sei getrost,« sagte sie, »ihr innerer Widerstand ist gebrochen, laß uns den äußeren schonen, dann bezwingen wir auch diesen.«

Die Abreise wurde ihm dennoch unendlich schwer, aber eine große Erleichterung gewährte es ihm, als sein Schwager sich erbot, ihn zu begleiten.

»Es ist nicht nöthig, daß Mutterchen etwas davon erfährt,« sagte er in seinem gutmüthigen Eifer, »sie mag denken, ich gehe nach Elbing zurück. So wie ich sie kenn', wird sie sich nicht durch unnützes Fragen einer mißliebigen Antwort aussetzen. Du armes Männchen kannst unmöglich die Last allein auf Dich nehmen, ich weiß besser mit solchen Krisen Bescheid, ich bin älter, erfahrener. Ich habe ja auch Aehnliches durchgemacht, und gerad' aus meinem damaligen Elend ist mein Glücksstern aufgegangen. So wird's auch mit Dir sein. So laß mich Dir helfen mit Rath und That und Hand und Geld, so viel ich davon hab' und geben kann, und vergiß nicht, Herzensjung', daß ich mit dem Capital Deiner Schwester und durch die Güte Deines Vaters wohlhabend geworden bin und daß Du ein so gutes Recht auf mein Vermögen hast, wie irgend Einer.«

Wie hätte Georg ein so gutgemeintes, so aus der Fülle des Herzens gemachtes Anerbieten wohl anders als mit warmem, innigem Dank aufnehmen können? Nimmt man ja doch ohne Besinnen das Höchste an, was sein Mensch dem Andern zu geben im Stande ist: sein Herz, seine Liebe; Rath und That sind aber nur die Früchte an dem aus dem Herzen emporgesprossenen blühenden Zweige warmer Zuneigung.

»Reise mit Gott,« sagte Frau Artefeld, als Georg von ihr Abschied nahm, »beeile Dich und trage schnell meinen Namen zu Grabe. Ich wollte, es wäre mein Begräbniß, zu dem Du reisest. Je schneller ein Mensch unter die Erde kommt, um so eher ist und hat er vergessen.«


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