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Zehntes Capitel.


Wendula blieb die Nacht im Freien. Sie saß so lange in Gedanken an Georg verloren, den Gefühlen des Kummers, der Sehnsucht und der Hoffnung hingegeben, bis die erschöpfte Natur ihr Recht forderte. Ihrer überwältigenden Müdigkeit nachgebend, sank sie auf der Stelle, auf der sie saß, zusammen, und den Kopf auf den Armen ruhend, entschlief sie, schlief tiefer, sanfter, ungestörter als Rosette und Frau Wallner, denen Willfried keine Ruhe ließ, den immer noch die entfesselten bösen Geister seiner Einbildungskraft verfolgten, dem immer noch der Schein des längst bewältigten Feuers, das Angstgeschrei der umgekommenen Thiere die Nacht des Irrsinns grausam erhellte und belebte.

Wendula's Schlummer wurde nicht einmal durch Träume gestört, und der Himmel, der über ihrem Haupt im königlichen Schmuck der Sterne prangte, sah auf ein Antlitz herab, auf dessen kindliche Züge zwar der Kummer seinen unverkennbaren Stempel drückte, das aber in der Vergessenheit des Schlafes zugleich die beste Linderung dieses Kummers gefunden hatte.

Als sie mit dem Morgengrauen erwachte, ach! leider zu demselben Leid, fühlte sie sich doch mit neuen Kräften, dasselbe zu tragen, ausgerüstet, und so begann sie denn ihren Tag wieder, wie sie ihn gestern beschlossen hatte: mit Hoffen und Harren und jener von Minute zu Minute steigenden Sehnsucht, die das Warten oft zu einer der unerträglichsten Qualen der Seele macht.

Immer noch war die Försterei der Zielpunkt der allgemeinen Wallfahrt. Die Neugier war noch nicht befriedigt, die Theilnahme für die armen Abgebrannten noch lange nicht erschöpft, und das unter dem Schutt und den Trümmern stumm und still dasitzende Mädchen, das heut nicht die Augen gesenkt, sondern mit dem Ausdruck ängstlichen Suchens in die Ferne gerichtet hielt, erhöhte nur das Interesse an dem Schauplatz der Begebenheit.

Wie ein Bild saß sie da, und wie ein solches wurde sie angesehen. Ein Bild kann durch Blicke ja nicht beleidigt werden, ein Jeder hat ein Recht, seine Meinung darüber zu sagen, es zu bewundern, zu tadeln, ob es nun eine Brandstifterin, oder ein unschuldiges junges Mädchen darstellt..

Welch eine Pein für ein solches Bild, zu leben und die Blicke zu sehen und die Kritik zu hören!

Wendula duldete die Pein. Sie hatte zwar Rosettens dringenden Bitten, etwas Nahrung zu sich zu nehmen, nachgegeben, oder vielmehr nachgeben wollen, denn sie versuchte vergeblich den Kaffee hinunter zu zwingen, den diese ihr dienstfertig brachte, aber zu jedem Versuch, sie von dem Platz zu entfernen und in das Haus zu kommen, schüttelte sie ernst den Kopf und sagte zuletzt, zwar nicht unfreundlich, aber so entschieden und fest: »Ich komme nicht, ich muß hier bleiben,« daß Rosette sich wohl überzeugte, wie unerschütterlich ihr Entschluß sei. Dennoch blieb sie noch vor ihr stehen.

»Ich muß zu meinem Jungen,« sagte sie zögernd und in Thränen ausbrechend, »er ist todkrank und leidet sehr, das arme Kind, aber es martert mich, Dich hier so verlassen und bekümmert zu sehen. Ich bin wohl nicht immer gut gegen Dich gewesen, es ärgerte mich, daß Friedrich Dich mir vorzog, und ich dachte auch, Du wärst zu freundlich gegen ihn, aber Schlimmeres habe ich nicht von Dir gedacht, kannst Du das nicht verzeihen?«

Wendula sah sie gerührt an und gab ihr dann schweigend, aber mit einem Blick, der mehr sagte als Worte, die Hand.

»Nun, so vergiß doch unser Unrecht und komm mit, gieb den Leuten nicht das Schauspiel, ich kann's nicht ertragen, daß sie Dich so ansehen.«

Wendula lächelte verächtlich.

»Laß sie doch, was gehen sie mich an!« sagte sie.

»Wenn Du nicht zu uns kommen willst,« fuhr:Rosette« fort, »so geh zum Vater Reimer. Er ist Dein Freund. Er kann zwar nicht daheim sein, denn sonst wäre er schon gekommen, aber was thut's? Ein Nachbar öffnet Dir seine Hütte, wenn sie überhaupt verschlossen sein sollte, und bei ihm bist Du geborgen.«

»Ich danke Dir, liebe Rosette,« entgegnete Wendula, »Du bist gut, ich werde es Dir nicht vergessen, aber laß mich, ich muß hier bleiben, hier,« – sie sah Rosetten mit einem sprechenden Blick an, und fügte dann leise hinzu: »bis er kommt!«

Da gab Rosette denn ihre Ueberredung auf und ging seufzend in's Haus zurück, aus dem Willfried's wüste Reden ihr entgegenschallten und ihren leicht beweglichen Geist bald wieder von Wendula abgelenkt hatten.

»Er muß seine Schritte zuerst hierher lenken,« dachte Wendula, »er wird hören, was vorgefallen ist, so wie er kommt, hereilen – wenn er mich nicht fände! Gerade von der Stelle fort soll er mich holen, von der Stelle, an der mir eine so tiefe Herabwürdigung zu Theil wurde, das soll meine Genugthuung sein. An seiner Hand will ich von hier fortgehen und über sie Alle triumphiren, die mich jetzt mit scheuen, mißtrauischen Blicken betrachten.«

Der Gedanke gab ihr Kraft, diesen Blicken zu trotzen, und dennoch wurde es von Minute zu Minute schwerer, sie zu ertragen.

Sie zählte die Stunden bis zu der Ankunft des Dampfschiffes in Swinemünde, sie bildete sich ein, den Kanonenschuß, der das Einlaufen in den Hafen verkündet, von dorther zu vernehmen; nun berechnete sie, wann Georg in den Wagen steigen, wann dieser die Fahrt zurückgelegt haben könne.

Sie verfolgte im Geist den Wagen, rasch rollte das leichte Fuhrwerk durch den Sand an der Küste, jetzt bog es in den Buchenwald ein, hielt vor Pahl's Hôtel – er stieg aus, es dauerte länger als gewöhnlich, denn er hatte der Mutter herauszuhelfen, sie in das Zimmer zu führen, dann erzählte ihm der Wirth oder der Kellner die Geschichte von dem Feuer, er hörte das Ende nicht mehr, er stürzte fort, auf dem nächsten Wege, in wenigen Minuten mußte er bei ihr sein.

Das Herz klopfte ihr zum Zerspringen, sie mußte sich zusammennehmen, die Arme nicht nach der Richtung hin auszubreiten, in der er kommen mußte – aber er kam nicht.

Die Morgenstunden gingen vorüber, die Mittagssonne stand über dem Walde, der Nachmittag kam und mit ihm zahlreiche Gäste – Georg nicht.

Aber es kamen ja zweimal täglich Dampfschiffe von Stettin, dieses zweite konnte ihn bringen – sie zählte abermals die Stunden, die Minuten, sie war wie auf der Folter, der Platz wurde ihr zur Richtstätte, nur die Unschuld vermochte es, auszuharren, nur die tiefe, innere Seelenpein machte sie unempfindlich gegen die Dolchstiche, die sie trafen.

Was kümmerten sie kränkende Reden, was halfen ihr mitleidige Blicke, sie war zu unglücklich, um Kränkung zu empfinden, sie bedurfte der Bettlergabe des Mitleids nicht.

Ihre Gedanken wurden zu einem lautlosen Schmerzensruf nach Georg. Für ihn allein litt sie diese Marter, mein Gott, kam er denn nicht sie zu erlösen?

Im Schneckengange schlich die Zeit, und jede Secunde barg tagelange Marter.

»Er wird, er muß kommen,« dachte Wendula, »seine Mutter wird ihn nicht lassen wollen, aber er wird es dennoch thun. Er kann mich nicht verlassen! Sie wird ihn bewachen, und er wird sie täuschen, er wartet nur bis es Abend wird. Dort, wo er mir zuerst Liebe geschworen, wird er mir sagen, daß er den Schwur erfüllen will. Ich werde ihn dort erwarten, ich werde hingehen, sowie es dunkel wird!«

O, wie ersehnte sie nun den Abend, wie freute sie sich, als die Dämmerung ihren grauen Schleier über den Wald warf, als die Spaziergänger sich nach und nach verloren und es still auf dem Platze wurde.

Ihre Gedanken eilten der Zeit voraus; von dem nahen Wiedersehen träumend, bemerkte sie es kaum und beachtete es noch weniger, daß noch ein später Gast in der Försterei erschien: eine ältere, sehr stattlich aussehende Dame, die an einem der Tischchen Platz nahm und sich trotz der späten Stunde noch eine Tasse Kaffee geben ließ.

Frau Wallner, die auch an diesem Tage Wendula's Obliegenheiten hatte verrichten müssen, brachte ihr dieselbe mit den üblichen Bemerkungen über das Wetter im gegenwärtigen Moment und die Wetteraussichten für den folgenden Tag. Die alte Dame schien geneigt, auf ein Gespräch einzugehen, und spann also den Faden weiter fort, aber in jener eigenthümlichen, Rede wie Gegenrede beherrschenden Weise, die jeden Augenblick der Unterhaltung eine Grenze zu setzen und müßiges Geschwätz von sich abzuwehren versteht.

»Ist das dort das junge Mädchen, das im Verdacht der Brandstiftung steht?« fragte sie, nachdem sie sich die näheren Einzelnheiten der Begebenheit hatte erzählen lassen, die, nach den vielfachen Wiederholungen, die sie erfahren, kaum noch sich selbst ähnlich sah. Die Frage war zugleich von einem forschenden Blick auf Wendula begleitet, der aber eindruckslos von dieser abglitt; dann folgten einige weitere Erkundigungen: ob das junge Mädchen denn gar keine Anverwandten habe, die sich seiner annehmen könnten, warum man sie so trübselig unter dem Schutt und den Trümmern sitzen lasse, ob sie aus dem Hause verstoßen sei &c.

»Wenn ihr böses Gewissen sie nicht vertreibt, von uns geschieht es nicht,« antwortete Frau Wallner. »Wir haben ihr mehr gute Worte gegeben, als sie verdient, denn wenn sie auch das Feuer nicht angesteckt hat, so ist doch ihre Nachlässigkeit an demselben schuld. Man ist aber einmal mitleidig, und so haben wir ihr wahrhaftig gute Worte genug gegeben. Sie spielt aber die beleidigte Unschuld und will sich als solche vor den Leuten zeigen. Sie setzt nicht einen Fuß über die Schwelle, und wenn mein Schwiegersohn nicht bald nach Hause kommt und sie zur Vernunft bringt, so weiß ich nicht, was daraus werden soll. Die ganze Nacht hat der Trotzkopf im Freien zugebracht, da wo sie jetzt sitzt, fanden wir sie heut früh fest eingeschlafen.«

»Dann muß sie aber wirklich unschuldig sein,« bemerkte die Dame, »nur ein abgehärteter Bösewicht würde im Stande sein, an der Stelle, wo er ein Verbrechen begangen hat, zu schlafen. Sie muß unschuldig sein, und ihr Trotz ist vielleicht nur Stolz.«

Die Logik der Dame mochte Frau Wallner wohl nicht sehr gefallen, noch weniger sagte ihr der gebietende Ton zu, mit dem sie ihr auftrug, das Kaffeegeschirr in's Haus zu tragen.

Dennoch gehorchte sie ohne weitere Bemerkung.

Als sie fort war, stand die Dame auf und ging auf Wendula zu, vor der sie eine Secunde mit prüfendem, forschendem Blick stehen blieb, ehe sie, zwar in strengem, aber doch nicht ganz unfreundlichem Tone sagte:

»Ich bin die Mutter des jungen Mannes, mit dem Sie, wie ich durch ihn selbst erfuhr, leider ein Liebesverhältniß angeknüpft haben, und bin hier, die Sache auf eine glimpfliche Weise und nicht zu Ihrem Schaden, mein Kind, in Ordnung zu bringen, ohne daß gleich die ganze Badegesellschaft erfährt, um was es sich handelt.«

Bei den ersten Worten der Dame war Wendula aufgesprungen. Obgleich tödtlich erschrocken über diesen plötzlichen und mit so eisiger Ruhe auf ihr Herz gezielten Schlag, verlor sie doch die Fassung nicht und setzte der stolzen Haltung der Dame eine nicht weniger stolze entgegen. Zu sprechen vermochte sie nicht, wie hätte sie dem überwältigenden Gedanken, der sie fast zu Boden schlug, auch Worte geben können, dem Gedanken: diese harten, kalten Worte spricht Georg's Mutter zu dir, Georg's Mutter, die wahrscheinlich zugleich die deines Vaters, deine nächste Verwandte, deine natürlichste Beschützerin auf Erden ist. An's Herz sollte sie dich nehmen, und sie tritt dich unter die Füße.

Es war seltsam, daß bei dem Anblick Frau Artefeld's Wendula auch nicht einen Augenblick mehr an den nahen Beziehungen zweifelte, die zwischen ihnen Beiden stattfanden. Diese Ueberzeugung panzerte ihr Herz mit dreifachem Harnisch.

Ihre sichtliche Erregung, ihr tödtliches Erbleichen, der Stolz auf ihrer Stirn und die Würde ihrer Haltung, vielleicht auch ihre Schönheit und der vornehme Charakter derselben, blieben nicht ohne Eindruck auf Frau Artefeld.

Sie empfand unwillkürlich eine Art von Wohlgefallen und milderte ihre Stimme, als sie fortfuhr:

»Ich hatte Sie zu mir entbieten wollen, da wir aber hier so ungestört sind, da Niemand in der Nähe ist uns zu stören, kann ich Ihnen auch gleich sagen, was Sie hören müssen. Es thut mir leid, Ihnen die harte Wahrheit nicht ersparen zu können. Ihr unschuldiges Gesicht widerspricht der schlimmen Meinung, die ich von Ihnen hegte, deshalb bedauere ich es, Ihr Unglück nicht lindern zu können, Ihre sichtliche Betrübniß noch erhöhen zu müssen. Dennoch hoffe ich, Ihnen in Wahrheit Gutes zu thun, wenn auch nicht in der Weise, in der Sie es wünschen werden«

Frau Artefeld hielt inne, vielleicht selbst überrascht von der milderen Empfindung, die wider ihren Willen ihr Herz zum Mitleid mit ihrem Opfer bewegte und sie fast verlegen nach Worten suchen ließ, die weder ihrer Absicht, unnachsichtlich streng, noch dem unwillkürlichen unverstandenen Wunsche, mild zu sein, widersprachen.

Da Wendula kein Wort sagte, sondern in derselben Stellung verharrte, die Augen, aus denen eine bis in den Tod betrübte und gekränkte Seele sprach, nicht abwendend, sagte Frau Artefeld:

»Sie leiden unter einer falschen Anklage. Daß Sie mit den Leuten, die sie ersonnen, nichts mehr zu thun haben wollen, beweist einen gesunden Stolz, um dessentwillen ich Sie achte. Dasselbe Gefühl wird Sie verhindern, in eine Familie einzutreten, in der man Sie nicht willkommen heißen kann, ja, in die Sie unmöglich eintreten können. Sie sind sehr hübsch, mein Kind, wahrhaftig, es ist nicht unnatürlich, daß der arme Junge sich in Sie verliebte.«

Wendula zuckte zusammen. Ihr war zu Muthe wie Einem, den die Fluth ereilt, der nur noch einen Fuß breit Land unter sich hat und mit jeder Secunde die Wellen näher kommen sieht, und von diesen kalten Schauern ergriffen, mußte sie es mit anhören, wie man die Schönheit ihres sterbenden Antlitzes mit einer Kaltblütigkeit lobte, die wie ein Hohn auf ihre verzweifelte Lage klang.

Frau Artefeld fuhr fort:.

»Mein Sohn ist ein junger, unerfahrener, sehr reizbarer Mensch. Von seinen Kinderjahren an krank und seit Kurzem erst der Genesung entgegenschreitend, bedarf er jetzt noch derselben Schonung, die ich ihm Zeit seines Lebens habe müssen angedeihen lassen. Ich bin nie so schwach gewesen, ihm ein Spielzeug zu gestatten, das ihm schädlich war. Wenn er sich dessen bemächtigte und in krankhafter Laune sein Eigenthumsrecht wahren wollte, so habe ich es ihm zwar nie, wie ich es bei gesunden Kindern gethan, rücksichtslos fortgenommen und vor seinen Augen zerbrochen, aber ich vertauschte es geschickt mit einem unschädlichen und hielt ihn hin, bis er es vergessen hatte.«

»Bis er es vergessen hatte,« wiederholte Wendula leise und fügte dann mit plötzlich erwachter Energie und unverkennbarem Selbstgefühl hinzu: »Ich bin aber kein Spielzeug, und mich wird er nicht vergessen!«

»Er ist noch sehr jung,« sagte Frau Artefeld, »eine lange und glückliche Zukunft liegt vor ihm, wenn er der Führung seiner Mutter vertraut, die noch immer besser gewußt hat wie Andere, was ihm gut war.«

»Auch besser als der liebe Gott, der uns doch sichtlich zusammengeführt hat?« fragte Wendula.

Frau Artefeld lächelte.

»Er hat mir die kindische Geschichte erzählt,« sagte sie; »Verliebte mögen es sich einbilden, daß die Vorsehung aus ihrer großen Weltordnung heraus so kleine Schritte in's Wunderbare macht, um die Fußtritte eines hübschen Mädchens, die, im Sande abgedrückt, einem jungen, müßigen und zu Abenteuern geneigten Menschen durch ihre Kleinheit in's Auge fallen, zu einem Schicksalszeichen für sie zu erheben. Die Welt wäre reich an Zeichen und Wundern, glaubte man an solche Abgeschmacktheiten.«

»Gewiß,« sagte Wendula, »so hatte ich es auch nicht gemeint. Das Wunder liegt in seinem und meinem Herzen, die bei der ersten Begegnung zu einander flogen, um sich nie wieder zu trennen. Mag es der Zufall sein, der ihn auf meinen Weg geführt, und mag die Welt wimmeln von solchen Zufälligkeiten, ich denke mir, kein Zufall ist zu klein, zu unbedeutend, zu gering, als daß Gott ihn nicht zu seinen Zwecken brauchen könnte. Kennen Sie jene rührende Geschichte von der armen Frau nicht, die man aus ihrer Hütte vertreiben wollte, weil das Papier verloren war, das ihr Eigenthumsrecht beweisen sollte? In stummer Ergebung hatte sie alle Hoffnung auf Hülfe aufgegeben, bis ein Leuchtkäferchen, dem ihr Knabe nachjagte, sich in die einzige undurchsuchte Ecke des Zimmers verkroch, in der das vermißte Papier lag, und so zum Himmelslicht für sie wurde, während Tausende von Leuchtkäfern bedeutungslos in der Welt umherschwirren. So kann auch unter Millionen Fußstapfen, die der Sand verwischt, einmal einer etwas bedeuten für diesen oder jenen Menschen, so kann auf einen ein Licht fallen, dessen Strahl von Oben kommt und den Zufall zum Willen der Vorsehung erhebt. Es kann Keiner wissen, was er verscherzt, wenn er vermessen den Blick von einem solchen Lichtstrahl abwendet.«

»Sie sind romantisch, das liegt in Ihrer Jugend, Ihrer Verliebtheit,« entgegnete Frau Artefeld mit halb mitleidigem Lächeln und doch unwillkürlich gerührt, »aber Sie werden nicht erwarten, daß eine alte, erfahrene Frau Ihre Anschauung theilt. Also kommen wir zur Sache. Es handelt sich darum, ob der thörichten Leidenschaft meines Sohnes auf Kosten seines Glückes nachgegeben werden muß, ob Sie mir helfen wollen, das einzig wirksame Mittel zur baldigen Heilung anzuwenden. Wollen Sie ihn heirathen, und nützen meine Bitten und Vorstellungen nichts, Sie und ihn von einem solchen Vorhaben abzubringen, so mag es geschehen. Er bricht dadurch das Wort, das in seinem Namen und mit seinem Wissen einer ihm in jeder Beziehung gleichstehenden jungen Dame gegeben wurde.«

»Georg ist verlobt; ist das wahr?« unterbrach Wendula die Redende heftig.

»Georg ist seit seinen Kinderjahren mit der Tochter seiner Schwester, mit meiner Enkelin Flora Eisenhart verlobt,« wiederholte Frau Artefeld mit fester Stimme. »Heirathet er Sie, so bricht er sein Verlöbniß, er setzt seinen Namen, seine Ehre auf's Spiel, er schätzt sein Glück höher, als die Pflicht, ein Haus zu erhalten, zu dessen Vertretung in Ansehen und Ehren er nicht vom Zufall, sondern von Gott durch die Geburt und Erziehung berufen ist. Er mag es thun, aber er muß zugleich seiner Mutter entsagen, und dafür, Sie können es glauben, wird und kann die Liebe ihn nie entschädigen. Heirathet er Sie, so sieht er mich nie wieder. Ich schwöre es ihm zu und ich halte Wort. Das wird ihm das Herz in Reue und Scham brechen, denn Alles, was er ist und hat, dankt er mir, ebenso wie er allein mich noch an das Leben fesselt. Versuchen Sie es, das Band zwischen uns zu zerreißen, und tragen Sie die Folgen. Ich habe keins meiner Kinder so geliebt wie ihn, vielleicht weil ich fast sein ganzes Leben hindurch mit dem Tode um sein Dasein kämpfen mußte. Es steht bei Ihnen, mir, die ich dem Ziel nahe war, den Preis zu entreißen.«

Wendula hatte mit athemloser Spannung zugehört.

Frau Wallner erschien wieder auf dem Platz, sichtlich erstaunt über die lange Unterredung der fremden Dame mit Wendula, aber die Erstere, die sie bemerkte, rief ihr zu, sie habe dem jungen Mädchen, das ihr gefiele, Vorschläge in Betreff ihrer Zukunft zu machen; wenn sie einig würden, solle ihr Alles mitgetheilt werden, sie wünsche aber jetzt ungestört mit dem Mädchen verhandeln zu können, worauf Frau Wallner sich mit freundlichem Gesicht und leisem Murren zurückzog.

Als sie aus dem Gesicht war, sagte Wendula:

»Es mag wahr sein, daß Sie Georg für eine Andere bestimmten und er es auch gewußt hat, aber verlobt, bindend verlobt, ist er nicht. Das hätte er mir gesagt. Er liebt mich, wie soll er mich denn da aufgeben und vergessen können?«

»Er liebte als Kind leidenschaftlich Musik,« entgegnete Frau Artefeld, »liebte sie mehr, als mir angenehm war und für seinen künftigen Beruf taugte. Ich verbot ihm nicht das Spielen, aber ich führte ihn auf das Land, und in rasch erwachter Begeisterung für die Natur vergaß er die Violine, mit eigener Hand warf er sie später in's Feuer. Das Landleben aber gab er auf, als ihm die Lockung winkte, auf Reisen die Welt zu sehen. Halten Sie es noch für unmöglich, daß er Sie vergißt, wenn man ein anderes Bild an Ihren Platz gestellt hat?«

Wendula preßte die Hände fest ineinander.

»O,« sagte sie, »es ist entsetzlich, die Schwäche eines Menschen zu seinem Schaden, ja zum Schaden seiner Seele zu benutzen, statt es zu versuchen, ihn auf dem schwachen Punkte zu kräftigen. Weiß Georg, was Sie von mir verlangen?« fragte sie dann auf einmal hastig.

»Ich werde Ihnen Alles offen sagen,« antwortete Frau Artefeld, der diesmal ein merkwürdiger Instinct zuflüsterte, auf welche Weise Wendula am besten zu behandeln und für ihren Zweck zu gewinnen sei. »Kräftigen Naturen thut Wahrheit gut, schwachen muß man sie verhehlen. Als wir heut Nachmittag hier ankamen, als wir von allen Seiten die Geschichte von dem Brande und der Rolle, die man Ihnen dabei ertheilt, hörten, da wollte er wie ein Unsinniger fortstürzen, Sie zu mir zu führen, muthete es mir zu, mich eines Mädchens öffentlich anzunehmen, das von der allgemeinen Meinung als Verbrecherin gebrandmarkt war, es gerade in einem Augenblick, in dem die Welt mit Fingern darauf wies, für meine Tochter zu erklären.«

Wendula maß Frau Artefeld mit einem Blick stolzester Verachtung. Die harten, rücksichtslosen Worte derselben, berechnet, sie zu Boden zu schlagen, hatten gerade die entgegengesetzte Wirkung, wenn sie auch dem Hauptzweck der unbeugsamen Frau, dem, Wendula's freiwilliges Zurücktreten zu veranlassen, vollständig entsprachen. Der geführte Schlag hätte aber leicht auf ihr eigenes Haupt zurückfallen können, denn sie ahnte nicht, welche bösen Geister ihr rücksichtsloser Hochmuth entfesselte. Wendula hatte das Wort schon auf den Lippen: »Ich, die Brandstifterin, die von der öffentlichen Meinung gebrandmarkte Verbrecherin, auf welche die Welt mit Fingern zeigt, ich bin Deine Enkelin, ich trage Deinen Namen, ich heiße Artefeld, aber wie mein Vater will ich nichts von dem Namen wissen, hinter dessen Klang sich nichts verbirgt als Hochmuth, Härte, Grausamkeit, Verrath. Der Name ist mir zu schlecht, ich will ihn nicht, will nichts von Dir, nichts von – –« da riß die Gedankenkette in Wendula's arbeitendem Gehirn, nein, das konnte sie nicht sagen, daß sie nichts von Georg wolle, obgleich sie fühlte, daß der nächste Augenblick ihr die Entsagung aufzwingen würde. Sie schwieg, sie preßte die Lippen fest zusammen, sie hielt mit Gewalt die Thränen zurück, die sich hervordrängen wollten, den Krampf in ihrem Herzen zu lösen. Sie stand da wie eine Bildsäule, nur das Auge schien noch zu leben, aber es war eine Angst, eine Qual und Pein in dem Blick, der um nichts mehr zu flehen, nichts mehr zu erwarten schien, als ein baldiges Ende.

Frau Artefeld fuhr fort:

»Georg's Gemüthserschütterung ließ mich Alles für ihn fürchten, drohte die namenlosen, zahlreichen, ihm von mir gebrachten Opfer mit einem Schlage zu vernichten. Mich hat das Leben, mich haben meine Kinder daran gewöhnt, starke Nerven zu haben, so behielt ich denn den Kopf oben, hielt meine Ruhe fest, um ihm die seinige wiederzugeben. Ich habe meiner Zeit hart und unerbittlich sein können, wo es nöthig war, denn es giebt höhere Pflichten als die Liebe, und schonungslos müssen sie erfüllt werden. Georg ist wie ein schwaches, zartes Rohr, Gewalt zerbricht ihn, vorsichtig und sanft berührt, biegt er sich nach jeder beliebigen Richtung. Mir lag daran, Zeit zu gewinnen, wenn auch nur vierundzwanzig Stunden, denn mehr kann ich ihm nicht gewähren, aber damit werde ich auch Alles gewinnen, denn, der Augenblick beherrscht ihn, nicht zwei Augenblicke im Leben sind sich gleich, und der Wunsch, den der eine erregt, wird im nächsten von der Vernunft verworfen.

Ich machte meinen Sohn darauf aufmerksam, daß die Heirath mit Ihnen in einem Augenblick, in dem eine so schmachvolle Anklage auf Ihnen lastet, Ihren Ruf hoffnungslos und für alle Zeit untergraben müßte, selbst wenn die Anklage sich als ungerecht erwiese. Ein so auffallender Schritt müsse die Neugier reizen, und das heimliche Liebesverhältniß, die wider alle Sitte, alle Wohlanständigkeit gehabten nächtlichen Zusammenkünfte, würden bald an den Tag kommen und ausgebeutet werden, eine so unpassende Heirath zu erklären. Von Dir, sagte ich meinem Sohn, wird man es sehr edelmüthig finden, daß Du dem Mädchen eine solche Genugthuung geben willst, mich wird man tadeln, daß ich es zugebe, und Deine Frau ist gezeichnet vor aller Welt, für alle Zukunft. Willst Du ihr das ersparen, so laß erst Gras über der Geschichte wachsen, laß sie vergessen werden, rette von dem Schein, so viel noch zu retten ist. Willst Du die Ehre Deiner Frau retten, so sei Deiner Braut jetzt ein Fremder, willst Du eine Verbindung möglich machen, so trenne Dich jetzt freiwillig von ihr. Er sah es ein, daß ich recht hatte, und gab vertrauend sein Schicksal in meine Hand.

Es steht nun bei Ihnen, meine Pläne zu fördern oder zu hindern. Ich wiederhole es noch einmal, ich habe meinen Sohn nur hinhalten wollen, ich gebe meine Einwilligung zu der Heirath nie, und halten Sie an dem Verlangen fest, sich in meine Familie eindrängen zu wollen, so trennen Sie ihn für immer von mir und mögen die Reue verantworten, der Sie ihn dann hoffnungslos überliefern.

Ich kam hierher in der Absicht, meines Sohnes Freiheit Ihnen abzukaufen, so hoch sie dieselbe auch immer veranschlagen wollten, ich hatte eine andere Idee von Ihnen; so wie Sie mir jetzt erscheinen, paßt der Vorschlag nicht. Unter hundert Fällen verirrt sich die Unschuld, die ihren sichern Instinct hat, nur einmal zu unwissentlichem Unrecht, und ich rechnete nicht auf den einen Fall. Mein Plan war auf den Eigennutz einer leichtsinnigen Dirne, nicht auf den Stolz eines irre geleiteten, unschuldigen Mädchens berechnet. An diesen wende ich mich jetzt. Willigen Sie ein, sich zu entfernen, so bin ich gern bereit, für einen passenden Aufenthaltsort, für alle Kosten desselben, für Ihre Zukunft, Ihr ferneres Glück Sorge zu tragen, aber Sie müssen gleich fort, denn das Wiedersehen, das ich ihm zu morgen, der Abschied, den ich als Ersatz für die längere Trennung versprach, darf nicht stattfinden. Er muß es morgen wissen, daß Sie gegangen sind, weil Sie das Band lösen wollen, aus welchem Grunde, gilt gleich.

Sie haben ja Ihre Zusammenkünfte immer unter dem Schutz der Nacht gehalten, es wird ihm nicht auffallen, wenn Sie ihm erst die morgende Nacht zu einem letzten derartigen Wiedersehen gewähren. Im Lauf des Tages entfernen Sie sich dann, und findet er Sie am Abend nicht, so überlassen Sie mir die Erklärung. Ein paar Tage mag er noch in dem Wahn bleiben, er bringe dem Urtheil der Welt nur ein vorübergehendes Opfer. Mit der Nothwendigkeit dieses Opfers hat er sich bereits befreundet, er ist bereit, es als eine Buße für die Leichtfertigkeit anzusehen, mit der er sich hinter meinem Rücken, meine Absichten und sein bereits verpfändetes Wort kennend, in so schwierige Verhältnisse gestürzt hat.«

»Und das Ende von all' diesen Opfern, dieser Buße?« fragte Wendula bitter.

»Das Ende wird sein,« erwiderte Frau Artefeld mit einer Bestimmtheit, als wäre sie die Schicksalsgöttin selbst und habe allein die Marionetten zu führen, mit denen sie der Welt ein moralisches Stück vorspielen wollte, »das Ende wird sein, daß Sie und er die Täuschung überwinden, daß Sie und er, Jeder in seiner Sphäre, glücklich werden. Es für ihn zu diesem Schluß zu bringen, liegt in meiner Macht, auch für Sie werde ich gern das Meinige thun.

Für's Erste muß ich für Ihr Fortkommen sorgen. Erwarten Sie mich morgen früh hier auf dieser Stelle, ich werde Ihnen dann sagen können, wohin Sie sich zu wenden haben, ich werde Ihnen das nöthige Reisegeld bringen.«

»O, ich danke Ihnen, es bedarf dessen nicht,« unterbrach Wendula die Redende, stolz zurücktretend, »morgen werde ich schon fort sein.«

»So haben Sie also Freunde?« fragte Frau Artefeld theilnehmend.

»Jeder Unglückliche hat wenigstens einen sichern Freund,« entgegnete Wendula fest.

»Sie meinen dort Oben,« sagte Frau Artefeld, bewegt durch des Mädchens mühsam zurückgehaltenen Schmerz, »aber das genügt nicht immer, wir müssen auch hier unten Freunde haben.«

»Auch hier unten,« wiederholte das Mädchen in demselben Tone. »Gott verläßt Keinen, der sich nicht selbst verläßt.«

Frau Artefeld blieb noch zögernd vor ihr stehen, endlich sagte sie:

»Da Sie so schnell entschlossen sind, meinen Wünschen zu willfahren, so möchte ich Sie noch zu einem weiteren, die Wohlfahrt meines Sohnes betreffenden Schritt veranlassen. Wo Sie auch hingehen, schreiben Sie ein paar Worte an Georg, aber so, daß er nicht weiß, woher der Brief kommt. Sagen Sie ihm Lebewohl für immer und erfinden Sie einen triftigen Grund für diesen Entschluß. Am besten wäre es, Sie sagten, daß Sie Ihre Liebe bereueten.«

»Nein,« unterbrach sie Wendula fest, »das Lügen und Erfinden und Täuschen, ob zu guten oder schlechten Zwecken, ist nicht meine Sache, das überlasse ich klügeren und schlechteren Menschen. Ich kann nichts als gehen.«

»Aber wohin wollen Sie gehen?« fragte Frau Artefeld.

»Das geht Keinen etwas an und ist ganz gleichgültig, wenn Georg mich nur nicht wiederfindet,« entgegnete Wendula.

»So leben Sie denn wohl, mein Kind; es thut mir leid, daß ich Ihnen weh thun mußte,« sagte Frau Artefeld und reichte dem Mädchen die Hand.

Es war viel von ihr, daß sie ein solches Bedauern aussprach. Sie hatte bisher noch nie Mitleid mit den Opfern ihrer Willkür empfunden. Erregte Wendula's stiller, aber trostloser Schmerz, im Contrast zu ihrer Jugend und Schönheit, dies Gefühl, war es die geheimnißvolle Stimme der Natur, die sich in dem harten Herzen Frau Artefeld's regte, oder war sie weicheren Empfindungen zugänglich, weil sie geistig wie körperlich erschöpft von Sorgen mancherlei Art war, weil sie sich innerlich gedemüthigt fühlte, sogar zur Intrigue ihre Zuflucht nehmen zu müssen, um die drohenden Schläge des Schicksals abzuwenden? Gleichviel was es war, aber mit einer unwillkürlich warmen Empfindung reichte sie dem armen jungen Mädchen, das so widerstandslos den Todesstreich empfing, ihre Hand hin und fühlte sich nicht einmal beleidigt, als Wendula keine Bewegung machte, die Freundlichkeit zu erwidern.

»Leben Sie wohl,« wiederholte Frau Artefeld noch einmal, »und seien Sie getrost, denn Sie erfüllen Ihre Pflicht, und wer das thut, stellt sich über das Schicksal.«

Sie wendete sich zum Gehen, sie sah den Blick der Anklage nicht mehr, den Wendula ihr nachsandte. Am Försterhause vorübergehend, blieb sie einen-Augenblick auf der Schwelle desselben stehen und sagte zu der eilfertig ihr entgegenstürzenden Frau Wallner:

»Ich werde das Kind für eine meiner Bekannten in Dienst nehmen. Wir sind so ziemlich einig geworden. Ich werde morgen kommen, auch mit Ihnen das Weitere zu besprechen. Ich ersuche Sie, die Kleine, die ich für unschuldig halte, freundlich zu behandeln.«

Dann setzte sie, ohne eine Antwort zu erwarten und sich mit einem vornehmen Kopfnicken verabschiedend, ihren Weg fort.

 

Ihr Werk war gethan, ihr Vorhaben geglückt; Wendula war beseitigt, der thörichten Liebesgeschichte ein Ende gemacht, Georg auf den Weg geführt, den er gehen mußte, unabweislich mußte.

Frau Artefeld athmete tief auf, denn es war noch immer viel zu thun, und nur eine Spanne Zeit war ihr gegeben, das große Werk zu vollenden, eine flammende Leidenschaft auszulöschen und einen häuslichen Altar aufzubauen.

Frau Artefeld verließ sich aber auf die Kenntniß von ihres Sohnes Charakter, dem sie eine ungemessene Nachgiebigkeit zutraute, von dem sie glaubte, daß er nur nach augenblicklichen Impulsen handele, und daß Alles, was man ihm geschickt aus den Augen bringe, ihm auch aus dem Sinn zu bringen sei.

Die Trennung von Wendula mußte ihn zur Mutter zurückführen, die Zeit, die er jener entzog, gehörte dieser. Zuerst sollte sie dazu benutzt werden, ihn mit Flora zusammenzuführen, das Andere mußte sich dann finden

Flora war schön, anmuthig und geistvoll, wie sie durch Mr. Thomson gehört, Georg würde sie täglich sehen, und Wendula war fort. Dazu die drängenden Verhältnisse, die Betrachtung, daß ihr, der Mutter, Schicksal in seiner Hand liege, der Anspruch an sein kindliches Herz, an seine Dankbarkeit, endlich noch im richtigen Moment als Hauptschlag die Nachricht, daß Wendula für immer das Band gelöst: das waren ihre Hülfsmittel, und sie zweifelte kaum an dem richtigen Erfolg derselben, wollte sich wenigstens keine Zweifel eingestehen. Hatte sie doch heut schon in einem schweren Kampf den Sieg erfochten.

Es war nicht leicht gewesen, Georg von seinem Vorsatz abzubringen, augenblicklich zu Wendula zu eilen und ihr offen und vor aller Welt Hülfe zu bringen, ihr den Schutz zu gewähren, den sie von seiner Liebe zu erwarten berechtigt war. Die Vernunftgründe der Mutter wirkten nur halb. Er sah es zwar ein, daß eine Verlobung in einem so kritischen Moment wirklich der Verleumdung Thor und Thür öffnen, daß er seine Frau für immer den zweifelnden Mienen und mißtrauischen Blicken aussetzen würde, führte er gewaltsam eine Entdeckung ihres Liebesverhältnisses herbei und gebe er seiner Verheirathung mit ihr den Anschein einer ihr schuldigen, ehrenhaften Genugthuung, er sah es ein und war dennoch entschlossen, Allem zu trotzen.

»Was gilt mir alles Gerede, alle Verleumdung der Welt gegen eine Stunde, die sie vergeblich auf meine Hülfe wartet, gegen eine Secunde, in der sie an mir zweifeln müßte! Will es die Welt nicht glauben, daß sie rein und unschuldig ist, mag sie es lassen. Gott weiß es und ich weiß es, das ist genug,« sagte er fest.

»Und ich?« fragte Frau Artefeld. »Diese Heirath vernichtet alle meine Wünsche, sie macht mich wortbrüchig, macht mich aller Wahrscheinlichkeit nach zur Bettlerin, giebt mein Alter der Sorge, der Entbehrung preis, bringt mich um den Lohn eines arbeitsvollen, mühseligen, an Opfern reichen Lebens, gerade in dem Augenblick, wo ich auf Ruhe, auf Ersatz hoffte. Das will ich Alles tragen, aber bringe nicht noch den Schimpf in mein künftiges Elend, ein Mädchen als Tochter umarmen zu müssen, dem man ein Recht hat, schlechte, unehrenhafte Handlungen zuzutrauen, ein Mädchen, das von dem Verdacht der Brandstiftung nur dadurch gereinigt werden kann, daß man ihre Abwesenheit von dem Schauplatz des Verbrechens durch ein nächtliches Stelldichein mit ihrem Liebhaber erklärt.

Heirathe sie, wenn Du nicht anders kannst, aber laß erst die Geschichte vergessen werden und bringe Deine Person jetzt nicht in Zusammenhang mit dem Vorgefallenen. Thu es um meinetwillen, wenn die eigene Ehre Dir gleichgültig ist. Für alle die Opfer, die ich Dir zu bringen bereit bin, bringe mir nur das eine: warte auf das Glück nur eine kurze Weile, begnüge Dich damit, nur mein Glück, nicht zugleich meinen unangetasteten Namen in den Staub zu ziehen.

Thust Du das, so gebe ich nie meine Einwilligung, läßt Du mich jetzt für Dich handeln, will ich mich in Alles fügen.«

Was sollte Georg thun? Er mußte nachgeben, aber er bat, er beschwor die Mutter, mild gegen Wendula zu sein, ein unschuldiges, schwer geprüftes Kind, ihre künftige Tochter in ihr zu sehen und sie in freundlicher Weise für das Opfer zu gewinnen, das sie von ihr verlange.

Er sprach die bestimmte Forderung aus, Wendula noch einmal zu sehen, ehe sie sich für die von der Mutter nöthig befundene Zeit trennten, und nahm dieser das Versprechen ab, ihm diese Zusammenkunft zu gewähren, ja zu vermitteln.

Unter diesen Bedingungen ergab er sich, und indem er der Mutter ein warmes Liebeswort für Wendula an's Herz legte, fügte er sich mit unbeschreiblicher Ueberwindung in die Nothwendigkeit, aus Rücksicht für die Hoffnungen der Zukunft das Recht der Gegenwart umstoßen zu müssen.

 

In zitternder Aufregung hatte er die Rückkehr der Mutter erwartet, er eilte ihr entgegen, als er sie kommen hörte, und seine Blicke nahmen ihr die Worte von den Lippen, noch ehe sie diese ausgesprochen hatte.

»Es ist Alles gut,« sagte diese kurz, »sie sieht ein, daß ich recht habe, sie willigt in eine einstweilige Trennung, und morgen Abend kannst Du Abschied von ihr nehmen. Bis dahin müssen wir überlegen, wo wir ihr einen Aufenthalt verschaffen.«

»Mutter,« unterbrach sie Georg lebhaft, »wir bringen sie zu Flora, zu meiner Schwester.«

»Das fehlte, eine so zarte Angelegenheit der Zunge eines Menschen anzuvertrauen, den ich wegen Geschwätzigkeit entlassen. Nein, mit Richters will ich überhaupt nichts zu thun haben,« entgegnete Frau Artefeld streng.

»Ich habe meinen Schwager, meine Schwester jetzt genau kennen gelernt,« erwiderte Georg, »ich vertraue ihnen unbedingt. Darf ich Wendula noch nicht in mein Haus führen, so will ich ihr doch eine Heimath geben, in der man sie mit Liebe aufnehmen wird. Unter Fremde laß ich das arme Kind nicht gehen. Ja, selbst Deinen Zwecken, liebe Mutter, wird ihr Aufenthalt dort dienlich sein, denn es wird Keinen befremden, wenn ich mir die Geliebte aus dem Hause so naher Verwandten, aus einem so geachteten Hause hole. So wie ich Wendula gesprochen habe, werde ich Flora um diesen Liebesdienst bitten.«

»Du trittst ja sehr entschieden gegen mich auf,« sagte Frau Artefeld bitter. »Du trittst ja ganz in Deines Bruders Fußstapfen. Gut, laß sie zu Flora gehen, aber das Eine bedenke: soll aus Deiner Heirath etwas werden, so darf kein Mensch die Beziehung ahnen, in der Du jetzt zu dem Mädchen stehst. Ich hoffe aber zu Gott, es wird nichts daraus, Du selbst wirst einsehen, welche Thorheit Du begehen willst.«

Georg schüttelte den Kopf.

»Mutter,« sagte er dann leise, »hilf mir doch aus gutem Herzen und nicht mit der Hoffnung, daß die Hülfe unnütz sein wird. Ich müßte ihr sonst mißtrauen.«

»Ich habe Dir wohl noch nie bewiesen, daß Dein Glück mir höher steht als das meine?« fragte sie vorwurfsvoll.

Georg küßte ihr die Hand;

»Du wirst mit uns glücklich sein,« sagte er zuversichtlich.

»Mit Euch!« – Frau Artefeld betonte das letzte Wort, sie dachte an Georg und Flora – »mit Dir und Deiner Frau, nun, wir wollen es hoffen!«

Georg sah die Mutter forschend an, dann drückte er ihre Hand, die er noch in der seinen hielt, auf's Neue an die Lippen und sagte, sie mit einem schönen, offenen Blick ansehend:

»Das ist doch nicht möglich, Mutter, daß Du zweideutig sprichst und handelst, das kannst Du auch zu meinem Besten nicht thun wollen!«

Eine Entgegnung wurde ihm nicht zu Theil, nur ein Kuß auf die Stirn beantwortete die Frage oder wies vielmehr den Fragenden ab, denn mit kalten Lippen und einem angstvollen Herzen gegeben, schien Frau Artefeld eher damit sagen zu wollen: »Geh und laß mich in Ruhe,« als das einfache Wort: »Ich habe Dich lieb,« dessen Bestätigung ein Kuß ist, gleichviel welche Tiefe der Leidenschaft, welchen Grad der Empfindung das Wort bezeichnet.

Mit einem Kuß ward einst der Herr verrathen, und noch heute ist ein Kuß, der etwas Anderes ausdrückt als ein in der Seele wiedertönendes: »Ich habe Dich lieb,« ein Verrath am Herrn. –

 

Nachdem Frau Artefeld Wendula verlassen, sank diese wieder auf den Balken zurück, von dem sie aufgestanden war, als Georg's Mutter sie ihrem verzweiflungsvollen Hinbrüten entrissen hatte. Es möchte schwer sein, die Gefühle des armen Mädchens zu schildern. Sie war wie vernichtet. Die Zuversicht, das offene Vertrauen der Jugend, die Hoffnung auf Glück, Lebensmuth und Lebenskraft, der Glaube an die Menschen war auf's tiefste in ihr erschüttert.

Fand doch Georg selbst es angemessen, einen verhüllenden Schleier über die schöne, unschuldige Liebe zu werfen, die sie für einander gehegt, und die süßen Stunden reiner Glückseligkeit zu verleugnen; hielt er es doch auch für nöthig, ihre jetzige Existenz und Alles, was mit derselben zusammenhing: ihre dienstbare Stellung, das Unrecht, das man ihr angethan, der Vergessenheit zu übergeben, ehe er sie der Welt würdig fand, die ihn umgab. Sie wußte, er folgte den Einflüsterungen seiner Mutter, sie hielt ihn nicht für treulos, für verrätherisch, aber schwach mußte er sein, und es bedurfte einer starken Hand, sie aus ihrem Elend emporzuziehen.

War sie ihm nicht gut genug, so wie sie jetzt vor Gottes Augen dastand: ein armes, verwaistes, von der Welt geächtetes Mädchen, nur glücklich durch seine Liebe, nur lebend in ihr und unschuldig an jedem Unrecht, das auch nur den leisesten Schatten auf seinen Namen werfen könnte, war sie ihm so nicht gut genug, vermochte er es, sie in ihrer bittern Noth elender weltlicher Rücksichten halber zu verlassen, dann – sie richtete sich stolz auf – dann war er nicht gut genug für sie, denn sie würde ihn noch geliebt, würde ihn nicht verleugnet haben, hätte er wirklich gethan, was man ihr fälschlicher Weise vorwarf. Dann mochte er sich begnügen mit der kalten, selbstsüchtigen Liebe seiner Mutter, mit der auf Aeußerlichkeiten gegründeten Anerkennung der Welt, mit den Vorzügen der Verhältnisse, in denen der Schein mehr gilt als ein makellos vor Gott bestehendes Recht. Er verdiente den Schmerz nicht, der mit Todesschauern durch ihre Seele zog. Es war auch kein Schmerz, sollte keiner sein. Verachtung nannte sie das Gefühl, kalte, erbarmungslose Verachtung der Welt, die sie ausstieß. Der Schmerz hat Thränen, aber ihre Augen waren ja trocken, ganz trocken. Sie wollte auch nicht weinen, um keinen Preis. Ihr Vater hatte auch nicht geweint, sie wollte ihr Schicksal tragen, wie er das seine getragen hatte, kraftvoll, muthig, ohne Klage.

Dennoch, als sie jetzt nach einem letzten langen Blick auf die Stelle hin, wo Georg in zahllosen heiteren, schönen Morgenstunden im Grase unter der Buche gelegen, als sie nach diesem letzten Abschiedsgruß langsam, dem Walde zuschritt, von Niemand bemerkt, von Niemandem gefolgt, nichts auf der Welt ihr Eigenthum nennend als die Kleider auf ihrem Leibe und die Bibel in ihren Händen, da war ihr, als hätte sie mit Allem abgeschlossen, was dem Leben eines Menschen Bedeutung zu geben im Stande ist, war ihr, als schritte sie in ein leeres Nichts hinein.

Aber sie trug den Kopf hoch, und weithin schweifte das Auge, als müsse es das Nichts durchdringen können mit der ihm verliehenen göttlichen Kraft lebendigen Schauens. Alles, Alles warf sie hinter sich: ihre Kindheit, ihre Jugend, ihre Lebensansprüche, ja, selbst ihre Liebe, über Alles hinweg mußte sie schreiten, in die dunkle Zukunft hinein.

Aber wie und wohin, das wußte sie noch nicht. Der Wille war da, aber noch fehlte die Klarheit.

Die kleine Bibel des Vaters hielt sie umschlossen, sie besaß nichts weiter auf der Welt als diese, mit diesem Gedanken ging sie langsam weiter.

Ein paarmal begegnete sie Leuten und wurde gefragt, wohin sie so spät noch ginge. Sie antwortete auch ganz freundlich, einmal: sie ginge nach Aalbeck, ein anderes Mal nach Swinemünde, zuletzt: nach dem Fangel, wo ihre Eltern begraben lägen. Sie schlug auch den zuletzt genannten Weg ein.

Eine unbeschreibliche Sehnsucht zog sie dorthin, wo sie ihre Kindheit verlebt, wo ihre Heimath war, wo Vater und Mutter in so ungetrübter Glückseligkeit miteinander schliefen Sie wollte an den Gräbern beten, sie wollte das Haus noch einmal sehen, noch einmal in den See schauen, der ihr so oft ihr glückliches Kinderantlitz entgegengespiegelt. Dort, meinte sie, würde ihr auch einfallen, was sie thun, wohin sie gehen könne, um ihn nicht wiederzusehen, um von ihm nicht gefunden zu werden, sollte Reue und Angst ihn treiben, sie zu suchen.

Sie hatte bald den kleinen Kirchhof im Walde, auf dem ihre Eltern schliefen, erreicht, aber sie betrat ihn nicht. Die Stätte war nicht einsam, die Bank, die unter den die Gräber beschattenden Bäumen stand, war besetzt, wahrscheinlich müden Spaziergängern Ruhe bietend. Sie wendete sich leise ab und schritt dem See zu, der nur wenige Schritte von ihrer väterlichen Heimath sein schönes, tiefes, klares Bett hatte, an dessen Rand sie jetzt stehen blieb, die Blicke tief hineinsenkend in die klare Fluth

Da ging der Förster, der Nachfolger ihres Vaters, vorbei, sah sie stehen, winkte ihr einen freundlichen Gruß zu und fragte sie, was sie hier so spät noch mache und ob sie nicht in's Haus kommen wolle. Sie dankte aber und sagte, sie müsse gleich wieder zurück. Dann machte er noch einige Bemerkungen über das Feuer und den Schreck, den sie Alle gehabt haben müßten, und wie schwer es sei, im Walde Hülfe zu haben.

»Wir sind besser daran, wir haben das Wasser wenigstens gleich zur Hand,« schloß er und nahm keine weitere Notiz davon, daß sie, die Hand auf ihr Herz legend, gedankenvoll sagte:

»Ja, aber das Wasser löscht nicht jedes Feuer, nicht?«

Sie wiederholte die Worte noch einmal, als der Förster schon fort war, und trat näher an den Rand des Sees, die Augen in die Tiefe versenkend und beide Arme ausbreitend, als wolle sie die Wellen umarmen

Bei dieser Bewegung entfiel ihr die Bibel. Sie merkte es nicht, ihre Gedanken waren ganz wo anders.

»Ach,« seufzte sie, »hätte mich Vater Reimer doch nicht herausgezogen, als ich dort unten lag, Dann wäre ich todt jetzt, und nun muß ich leben. Leben!« fuhr sie fort, und plötzlich einen kraftvolleren Ton annehmend, sagte sie: »Ich will auch leben, will auch vergessen, will auch wieder froh werden, aber wie?« – Sie bedeckte das Gesicht mit den Händen.

»Gott hilf mir!« rief sie plötzlich aus, und wieder breitete sie die Arme aus und bog sich weit, weit vor, als könne sie aus der stillen, klaren, sanft dahinwogenden Fluth auch Stille und Klarheit für die eigene Seele schöpfen. Da fühlte sie sich plötzlich von einem starken Arm umfaßt, und eine Stimme, bebend vor Schreck und zürnender Erregung, sagte:

»Holla, Mädchen, schämst Du Dich nicht? Denkst Du, Gott hat das Wasser nur über die Erde gegossen, damit wir uns Hals über Kopf hineinstürzen, wenn es uns einmal quer geht? Haben sie Dir unrecht gethan und Du kannst es nicht bessern, nun, so trag es. Aber in den See stürzen, mir nichts dir nichts, das fehlte noch! Hast Du Gottes Angesicht noch nie in den Wellen gesehen?«


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